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Margot Käßmann bezieht Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen – ein Plädoyer für ein engagiertes Christsein im Alltag. In dieser vollständig überarbeiteten Neuausgabe ihres Erfolgstitels beleuchtet Margot Käßmann Themen wie Krieg und Frieden, Rechtsradikalismus, Hass und Hetze. Die renommierte Theologin ermutigt zu Zivilcourage und aktivem Einsatz für Gerechtigkeit, Solidarität und Bewahrung der Schöpfung. Ob Klimawandel, Sterbehilfe oder die Aufnahme von Flüchtlingen – Käßmann bezieht klar Stellung und zeigt, wie sich christlicher Glaube im täglichen Leben und gesellschaftlichem Handeln bewährt. Neben ausgewählten Texten, Reden und Predigten enthält der Band auch aktuelle Beiträge der Publizistin.Ein Buch, das dazu anregt, Verantwortung zu übernehmen und das Zusammenleben aktiv mitzugestalten – ganz nach Käßmanns Motto: "Glaube gehört mitten ins Leben". Mit Illustrationen von Martin Glomm.
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Seitenzahl: 318
Margot Käßmann
Glaube gehört mitten ins Leben
Mit Messerschnitten von Martin Glomm
Knaur eBooks
»Christinnen und Christen in diesem Land brauchen eine Haltung, die mehr zur Lage sagt als Ja und Amen. Ich wünsche mir viele Menschen, die dazu den Mut haben, damit wir den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen.« Margot Käßmann beleuchtet in dieser überarbeiteten Neuausgabe ihres SPIEGEL-Bestsellers gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Sie schreibt über das, was viele aktuell beschäftigt: soziale Ungerechtigkeit, Hass und Hetze, Rechtsradikalismus, Krieg und Frieden. Eine Ermutigung, selbst Position zu beziehen und sich einzusetzen für Menschlichkeit und Zusammenhalt.
Mit Illustrationen von Martin Glomm.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.bene-verlag.de
Widmung
Vorwort
Die Perspektive wechseln
Die Bibel als Quelle
Kleine Schritte
Ermüdung angesichts der Herausforderungen?
Gutmensch oder reflektierender Bürger?
Gewissen bestimmt Handeln
Fazit
1. Freier, als du denkst
Sich auflehnen
Befreiende Sichtweisen
Gebildeter Glaube
Sinnsuche
2. Von der Last der Erwartungen
Schaden an der Seele
Seelenfrieden finden
Die Jahreszeiten feiern
Christliche Fest- und Feiertage
Entschleunigung
Prioritäten setzen
3. Der Bauplan der Welt
Gottesbild und Gotteserfahrung
Alles ist vergeben
Wertschätzung
Segenskreislauf der Barmherzigkeit
Kultur des Vertrauens
Ökonomie der Barmherzigkeit
Du sollst Vater und Mutter ehren – das vierte Gebot
Ehrenamt oder Freiwilligendienst
4. Gerechtigkeit als Leitbild
Gerechtigkeit als Beziehungsgeschehen
Mehr als Geld: Beteiligung!
Gerechtigkeit zwischen den Generationen
Gerechtigkeit im weltweiten Kontext
Gerechtigkeit als Leitbild
Was wirklich frei macht
Wirtschaften mit allen
Ethik der Grenze
5. Mut zum Frieden
Gerechter Friede
Welche Optionen haben wir?
Gerechter Krieg
Konzil des Friedens
Konziliarer Prozess
Vereinte Nationen
Rüstungsausgaben
Mahnung für den Frieden
Ringen in den Institutionen
6. Respekt vor der Schöpfung
Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft
Schöpfung und Spiritualität
Nachhaltigkeit
Atomkraft
Klimakatastrophe
Ethik für das Leben
Nachhaltiger Lebensstil
Politik mit dem Einkaufskorb
7. Jedes Kind ein Wunder
Ein Kind ist ein Segen
Der tägliche Kraftakt
Netzwerke
Ermutigung zur Erziehung
Gewaltfreie Erziehung
Alleinerziehende
Jesus und die Kinder
Machbarkeit
Vergewaltigung
Verhütung
Babyklappen
8. Von der Würde des Sterbens
Lebensklugheit
Anonymer einerseits, individueller andererseits
Wir brauchen Rituale
Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Palliativmedizin und Hospiz
Herausgefordert durch den Tod
Reden über Sterben und Tod
Belastungen
Wenn Kinder sterben
Sterben tut weh
Suizid
Offenheit statt Tabuisierung
Abschied in Frieden und Würde
9. In guten wie in schweren Tagen
(Ehe-)Paare
Kinder
Freundschaft
Beziehungen – oder nicht
Sexualität
Prostitution
Mut zur Beziehung
10. Das ist unser Land
Teil einer Gemeinschaft
Recht
Gemeinsames Ethos
Dialog der Religionen
Miteinander in Freiheit
Zehn Ermutigungen für Weltverbesserer
Zuletzt
Für meine Enkelkinder
© Martin Glomm
Ich freue mich, dass sich der bene!-Verlag entschieden hat, dieses Buch nach dreizehn Jahren noch einmal neu als Taschenbuch herauszugeben. Für diese Ausgabe wurden einzelne Stellen bearbeitet, weil beispielsweise Zahlen aktualisiert werden mussten. An einigen Punkten wurden neuere Entwicklungen ergänzt. Schließlich mussten etliche Passagen für das Taschenbuchformat gekürzt werden. Ich danke vor allem Stefan Wiesner für seine Unterstützung dabei.
Bei der erneuten Lektüre des Textes ist mir deutlich geworden: Im Grundsatz hat sich nichts geändert. Eher haben die Bedrohungen und Belastungen zugenommen, sodass es noch klarer ist: Christinnen und Christen in diesem Land brauchen eine Haltung, die mehr zur Lage sagt als Ja und Amen. Ich wünsche mir viele Menschen, die dazu den Mut haben, damit wir den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen.
Hannover im Juli 2024
Margot Käßmann
© Martin Glomm
© Martin Glomm
In vielen Regionen der Erde herrscht Krieg: Im Osten der Ukraine gibt es kaum noch Orte, die nicht zerstört sind. Die monatelangen Kämpfe im Gazastreifen haben eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Das Gesundheitssystem in Afghanistan steht vor dem Zusammenbruch. Im Jemen, in Myanmar, der Sahelzone, Somalia und dem Sudan herrschen blanke Not.
Am 31. Mai 2024 attackiert ein religiöser Fanatiker sechs Menschen auf dem Marktplatz von Mannheim mit einem Messer. Der Angriff geschieht an einem Infostand der islamkritischen Bewegung »Pax Europa«. Ein Polizist, der den Täter stoppen will, wird tödlich verletzt. Anfang Juni sterben infolge eine Starkregenkatastrophe mehrere Menschen in Bayern – und es entsteht ein Milliarden-Sachschaden. Täglich erreichen uns weitere Schreckensnachrichten. Unglück, Unfrieden und Leid bleiben Begleiter des Lebens.
Wie können wir damit umgehen? Da gibt es diejenigen, die resignieren: Es wird sich nie etwas ändern, was soll’s? Andere ignorieren alles und sagen: Hauptsache, mir geht es gut, der Rest interessiert mich nicht. Vielleicht ist der allerbeste Vorsatz, sich die Hoffnung nicht nehmen zu lassen, dass wir etwas verändern können.
Keiner von uns kann einen Flugzeugabsturz oder ein Hochwasser gigantischen Ausmaßes verhindern – aber wir können Mitgefühl zeigen, andere trösten, wenn sie Trost brauchen. Niemand kann allein Frieden schaffen – aber wir können für den Frieden eintreten. Dies gilt auch in besonderer Weise mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Die gewaltsamen Fantasien von »Remigration« haben Massenproteste ausgelöst. Wie gut! Aber wir müssen wachsam bleiben.
Wer im Hinterkopf hat, was die Bergpredigt beschreibt, nämlich dass die Barmherzigen, die Armen, die mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Friedenstifter »selig« gepriesen werden, wer ein Bewusstsein dafür hat, dass wir Salz der Erde und Licht der Welt sein sollen, gestaltet die Dinge anders, hat besondere, durch lange Tradition bewährte Maßstäbe, die ihn oder sie leiten. Da geht es nicht zuerst um Sicherung, Wachstum, Mehrheiten, sondern um Solidarität, den Blick auf die Schwachen, die Suche nach Zukunftschancen für die Jungen. Die biblischen Texte zeichnen das Bild einer Kontrastgesellschaft.
Glauben findet nicht im Abseits statt. Wie wir leben, im Alltag, in der Familie, Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, darin bewährt sich unser Christsein. Wir fühlen uns aufgefordert, den Mund aufzumachen für diejenigen, die ins Abseits gedrängt werden, deren Würde infrage gestellt wird, und uns einzusetzen für Gerechtigkeit, Frieden, die Bewahrung der Schöpfung. Deshalb kann die Kirche auch kein vom Alltag abgeschotteter Raum sein, in dem es vermeintlich um »das Eigentliche« geht. Das Eigentliche ist das Leben der Menschen, das sie aus dem Glauben leben und verantworten. Dafür schöpfen sie Kraft in Bibellektüre, Gottesdienst und Gebet, aber es findet mitten in der Welt statt.
Das Evangelium weist auf die Sorge für die Schwachen, Witwen und Waisen hin, auf Fremde, die unter uns wohnen, die zu schützen sind. Gerechtigkeit und Frieden sind in großen Bildern der Hoffnung gemalt. Diese Texte können nicht gelesen, über diese Texte kann nicht gepredigt werden ohne Bezug zur Realität unserer Zeit. Das gilt zuallererst für den einzelnen Christen und die einzelne Christin. Wir sehen diese Welt als Gottes Schöpfung an, als sein Haus. Darin sind wir gemeinsam Haushalterinnen und Haushalter, verantwortlich in der einen Familie der Kinder Gottes. Deshalb können wir uns nicht zurücklehnen, solange wir nicht betroffen sind von all der Not und Zerstörung.
Als Christin kann ich nicht einfach resignieren, nach dem Motto: Ich kann doch ohnehin nichts tun, also halte ich mich aus allem raus und richte mich in meinem Leben so bequem wie möglich ein. Das ist einfach, macht weniger angreifbar und verschont uns vor Verletzungen. Es geht aber um eine Frage der Haltung! Wenn ich als Christin die Welt als Gottes Schöpfung und mich als sein Geschöpf betrachte, trage ich auch Verantwortung für diese Schöpfung. Wenn Gott jeden Menschen zum eigenen Bilde geschaffen hat, kann es mich nicht unberührt lassen, wie es anderen Menschen ergeht. Wenn Gerechtigkeit biblisch gesehen der Maßstab für gelingendes Zusammenleben ist, muss ich mich fragen, was ich für die Gemeinschaft tun kann. Wenn Leben in Fülle verheißen ist, werde ich darum ringen, mein Leben sinnvoll und in Fülle zu leben und dabei auch Sorge dafür zu tragen, dass genau das anderen in meinem Umfeld, aber auch darüber hinaus möglich ist.
Der bewegendste Bibeltext zum Thema findet sich im Gleichnis vom Weltgericht beim Evangelisten Matthäus: »Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.« (Mt 25,35–36)
Jesus stellt klar: Wo wir Fremde aufnehmen, Armen beistehen, Kranke besuchen, Gefangene unterstützen, da begegnen wir ihm selbst! Das ist letzten Endes eine sehr überraschende Antwort für Menschen, die heute nach Gott fragen. Geh hin zu denen, die am Rande stehen, da findest du Gott!
Ich kann diesen Text, die Zehn Gebote, die Seligpreisungen, die Prophetenworte, die Gleichnisse Jesu nicht lesen, ohne sie auf meinen Kontext zu beziehen. »Die Kirche«, das sind Christinnen und Christen, die miteinander leben, ihren Glauben bekennen und feiern wollen. Jeder Einzelne ist gefordert, auf der Grundlage des eigenen Glaubens Entscheidungen zu treffen – für das persönliche Leben wie für das Zusammenleben in der Gesellschaft, in der Welt. Und als Gemeinschaft wirken sie füreinander und nach außen. Das hat eine politische Dimension. Glaube gehört nicht, wie es manchmal von Kritikern gefordert wird, nur ins Privatleben oder hinter Kirchenmauern! O ja, die Gebote, die biblischen Texte waren und sind politisch. Und: Ja, ich will in dieser Tradition die Welt verbessern, immer noch! Und ich begreife nicht, warum das Wort »Weltverbesserer« zum Schimpfwort geworden ist.
Auch wenn nicht jeder Einzelne von uns Experte auf einem bestimmten Gebiet ist, auch wenn nicht jede Einzelne alle Zusammenhänge beschreiben kann: Wir können eintreten für das Leben, für ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden. »Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen«, heißt es in der Bibel (vgl. Ps 85,11). Eine solche Vision können wir nicht abschaffen, indem wir sagen, das sei zu komplex oder allein mit Blick auf Gottes Zukunft nach dieser Zeit und Welt gemeint! All die Machbarkeitsexperten, Realitätsfanatiker und Bedenkenträger entwerfen doch keine Bilder der Zukunft, die wir dringend brauchen, um Mut zum Handeln zu finden in großen wie in kleinen Schritten.
Ein Sprichwort der Xhosa im Süden Afrikas lautet: »Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern.« Und viele gehen solche Schritte: das Auto abschaffen, bewusst einkaufen, Unterschriften gegen Rüstungsexporte sammeln, sich bei der »Tafel« ehrenamtlich engagieren, im Hospizdienst tätig sein. Das ist nicht nichts, sondern viel. Dein kleiner Schritt ist Teil einer großen Veränderung, darum geht es.
Unsere Welt wird von Menschen gestaltet, nicht von »Systemen«. Es sind nicht anonyme Institutionen, die Entscheidungen treffen, sondern Menschen in diesen Institutionen, in Politik und Kultur, Wirtschaft und Kirche. Sie übernehmen Verantwortung, und deshalb lässt sich etwas ändern – jeder und jede an dem Ort, an dem wir leben und arbeiten. Da wird von »gierigen Banken« gesprochen. Aber eine Bank kann doch nicht gierig sein, es sind Menschen, die dahinterstehen. Es ist die Rede von »der Wirtschaft«, aber Wirtschaft ist kein Subjekt, es sind einzelne reale Personen, die sie gestalten. Wir können uns nicht ständig als Ausgelieferte in einem anonymen System betrachten. Wir sollten genau hinsehen und hinhören, selbst Verantwortung übernehmen und diejenigen zur Rechenschaft rufen, die für Fehlentwicklungen und Unrecht verantwortlich sind, sich bereichern, handeln und entscheiden, was nicht der Zukunft dient. Das ist beispielsweise bei jeder Wahl in einem demokratisch verfassten Staat möglich.
Das Evangelium ist eine Ermutigung angesichts der scheinbar um sich greifenden Ermüdung oder auch Überforderung durch globalisierte Komplexität. Viele, die sich jahrelang engagiert haben – beruflich, gesellschaftlich, kirchlich, politisch –, erscheinen erschöpft und überlastet. Oder sind die Probleme so vielfältig und verwoben, prasseln derart wuchtig im Stundentakt auf uns ein, dass der Rückzug ins Private als die einzig sinnvolle Lebensstrategie erscheint?
Eine Freundin sagte mir: »Ein Blick auf tagesschau.de, und ich bin völlig deprimiert, weil ich nicht sehe, was ich am Zustand der Welt ändern könnte.« Wo sind sie geblieben, die hoffnungsvollen Aufbrüche der Achtzigerjahre, als für viele in den christlichen Kirchen der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung ein Zeichen dafür war, dass wir alle an unserem Ort etwas tun können, um die Welt zu verbessern?
Eigentlich hätte diese Bewegung doch zu einer ganz großen Ermutigung führen müssen. Christinnen und Christen in der DDR haben ungeheuren Mut bewiesen, als sie diese Themen auf die Tagesordnung setzten. O ja, das war politisch – und umstritten. Am Ende drang aus den Kirchen von Leipzig, Dresden und Ostberlin der Ruf »Keine Gewalt« auf die Straßen. Eine friedliche Revolution, die die Welt verändert hat, ist aus kleinen Friedensgebeten entstanden! Es ist merkwürdig, wie unterschiedlich das wahrgenommen wird. Auf einen Artikel hin, den ich über Rüstungsexporte im Magazin Chrismon veröffentlicht habe, schrieb mir der Präsident eines Landessozialgerichts, er sei aus der Kirche ausgetreten, da ihn störe, »dass sich immer wieder Repräsentanten der evangelischen Kirche zu politischen Themen äußern, die mit Kirche, Glauben, nichts zu tun haben«. Genau das ist für mich das Missverständnis, habe ich ihm zurückgeschrieben. Wie könnten denn die Produktion von Waffen, die Investition in Gewalt und Krieg Christinnen und Christen unberührt lassen? Wie könnten wir sagen, wir folgen Jesus Christus nach, der die Friedensstifter selig genannt hat, und gleichzeitig erklären: Zu Waffen und Krieg wollen wir lieber nichts sagen?
Als Christin fühle ich mich dem Erbe Jesu verpflichtet: »Selig sind, die Frieden stiften!« (Mt 5,9) Aus seiner Botschaft lässt sich keine Legitimation von Gewalt herauslesen. Stattdessen hat er mit dem Satz »Liebet Eure Feinde« eine ungeheure Provokation hinterlassen. Sie bringt mich dazu, Feindbilder, die alle Russen zu bösen Menschen degradieren, zu widerstehen. Ich trauere um jeden Menschen, der im Krieg getötet wird.
Als Großmutter von sieben Enkelkindern denke ich an ihre Zukunft. Für sie ist nicht Geld für noch mehr Rüstung sinnvoll, sondern allein Abrüstung. Und eine Investition in Klimaziele, Bildung und Entwicklung.
Immer wieder heißt es, die Probleme seien viel zu komplex, als dass die normalen Bürger sie durchschauen könnten. Das empfinde ich als arrogant. Und als eklatant undemokratisch. Wer noch etwas verändern will, wird heute gern und schnell belächelt. Es geht nicht um Besserwisserei oder gar moralische Zeigefinger, die so schnell und gern unterstellt werden. Ich verstehe das Evangelium nicht als Instrument der Moralisierung, sondern als großen Erfahrungsschatz und als offen für Prozesse, in denen wir in aller Freiheit fragen können und um Antworten ringen; es geht um Schuld und Vergebung, Streit und Versöhnung, Beharren und Irren. In meinem Leben habe ich oft genug erlebt, dass sich meine eigene Haltung verändern kann, denn durch das Gespräch mit anderen und durch Reflexion der überlieferten und der eigenen Erfahrung entstehen neue Sichtweisen. Hehre Positionen und in Marmor gemeißelte Werte sind nicht dynamisch genug, um den Herausforderungen des Lebens zu begegnen.
Sehr deutlich wurde mir das erneut bei einem Seminar, das ich im Rahmen meiner Max-Imdahl-Gastprofessur an der Universität Bochum zum Thema »Gewissen schärfen« angeboten habe. Wir haben für jede Sitzung ein sozialethisches Thema vorbereitet und versucht, die gegensätzlichen Positionen zu argumentieren. Den Studierenden wurde bewusst: Bei vielen Fragen gibt es kein einfaches Ja oder Nein beziehungsweise kein Ja und Amen, sondern sie müssen bewegt, bedacht werden, es geht um individuelle Wahrnehmung und notwendiges Recht, das für alle gilt. Eine offene Diskussion ist notwendig, um eine eigene Position zu finden. Das braucht Interesse, Zeit, Bildung und eine Debattenkultur. Christinnen und Christen können unterschiedlicher Meinung sein, das hält unsere Kirche aus! Aber sie können nicht einfach Ja und Amen sagen, das ist zu wenig. Da mutet uns das Evangelium mehr zu.
Leitend bleibt für mich als Christin, das eigene Gewissen an der Bibel zu schärfen und in meinem Alltag danach zu handeln, im Bewusstsein des eigenen Versagens, so gut ich es vermag, in Bezug auf Gott, meine Mitmenschen und mich selbst. Auf diese Weise setzt sich um, was Jesus als das höchste Gebot bestätigt hat: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.« (Lk 10,27) Das ist ein Dreieck von Liebe, in dem ich mein Leben verantworten und gestalten kann. Wenn ich das befolge, kann ich mein Gewissen erspüren, in mich hineinhören. Ich werde mich nicht ständig ablenken oder einschläfern lassen, sondern in dem Bewusstsein handeln, dass ich nicht perfekt bin und immer wieder an den eigenen Ansprüchen scheitere. Aber ich kann in Freiheit handeln, ohne Angst vor der Meinung anderer, vor Häme und Spott, vor Blogeinträgen oder Twitter-Schmähung. Mir scheint, dass viele Menschen heute mit Blick auf die mögliche Kommentierung handeln – bei Politikern ist es vielleicht der gefürchtete negative Kommentar in der Zeitung, bei anderen im Blog oder bei Facebook. Das bedeutet: Die mögliche Reaktion anderer bestimmt das Handeln und nicht meine innere Überzeugung.
Die Seligpreisungen können für mein Reden und Tun ein entscheidender Maßstab sein, der auch unabhängig davon macht, wie andere es beurteilen. Für mich sind sie einer der schönsten und eindrücklichsten Texte der Bibel:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen. (Mt 5,3–11)
Wie anrührend, aufrüttelnd diese wenigen Sätze nach 2000 Jahren noch sind! Selig, ja, glücklich sind also alle, die noch etwas anderes denken können als das Vorhandene, das, was immer schon so war. Selig, wer andere Maßstäbe hat und nicht Leistung, Durchsetzungsvermögen, Gewinn und Ellenbogen an die erste Stelle setzt. Das Bild, das hier gezeichnet wird, steht im Kontrast zu dem, was wir aktuell sehen und vorfinden. Eine Gesellschaft, die lieben und trösten kann, Rücksicht nimmt, sich verständigen will.
»Eine andere Welt ist möglich« – für mich beschreibt diese Aussage die Freiheit des Glaubens, über die Zwänge des Alltags, über meine Gewohnheiten hinauszudenken, Fragen zu stellen, nicht alles als gegeben hinzunehmen.
Mir geht es um eine Ermutigung zur Einmischung: An meinem Ort – deshalb führe ich möglichst viele Beispiele aus der eigenen Erfahrung an. Auf der Grundlage meines Glaubens – daher verweise ich immer wieder auf biblische Zusammenhänge. Im Kleinen wie im Großen – aus diesem Grund versuche ich, Alltagsgeschichten zu erzählen, die beides verbinden. So kann Widerspruch entstehen gegen das landläufige »Es ist nun mal so und lässt sich nicht ändern«.
Manchmal müssen wir mit der Vision der Bergpredigt einfach auf den Kopf stellen, was so pragmatisch und unveränderbar erscheint wie »Wachstum« und »Sicherheit«, damit neue Kreativität entsteht. Ja, diese Vision zeichnet eine Kontrastgesellschaft, die uns herausfordert, gegen den Strich zu denken. Das kann Kräfte freisetzen, froh und auch frei machen. Für jeden und jede von uns kann das nur ein kleiner Schritt sein, ein Einsatz, eine Entscheidung. Aber das kann beitragen zu einem großen Ganzen. Konstruktive Störfaktoren können Weltverbesserer sein, die offensiv nachfragen, mutig neue Wege gehen und sich durch Pragmatiker nicht irritieren lassen. Sie müssen nicht ermattet über all die »Du musst« oder »Du sollst« resignieren, sondern können fröhlich ihren Lebensweg gehen, weil sie von der Einladung wissen, bewusst zu leben. Dann macht Leben nicht nur Spaß, sondern auch Sinn. Und ist: mehr als Ja und Amen.
© Martin Glomm
Der Gedanke der Freiheit war und ist für die Kirche der Reformation von zentraler Bedeutung. In seinem Text »Von der Freiheit eines Christenmenschen« hat Martin Luther das auf bis heute bemerkenswerte und anregende Weise ausgeführt. Es gibt diese Schrift in zwei Fassungen: Eine ist auf Deutsch geschrieben und bis heute eindrücklich, klar und direkt. Die lateinische Fassung wirkt komplizierter. Mit ihr sollte Luther auf Bitten von Karl von Miltitz, dem sächsischen Kammerjunker des Papstes, auf die Bannandrohungsbulle aus Rom reagieren und dezidiert zeigen, dass er auf dem Boden des Glaubens seiner Kirche steht.
Der Konflikt eskalierte jedoch, und es kam zu jener Konfrontation auf dem Reichstag in Worms. Am 18. April 1521 stellte sich Martin Luther mit seiner im Bibelstudium gefundenen Glaubens- und Gewissensfreiheit auf dem Reichstag zu Worms in Widerspruch zu Kaiser und Papst und verteidigte seine Schriften. Er hatte Angst gehabt, Selbstzweifel, war voller Fragen. In der Nacht vor seinem Auftritt auf dem Reichstag in Worms hat Luther intensiv gebetet und gerungen. Doch dann gab es diesen Punkt, an dem für ihn klar war: »Doch, das ist meine Position! Ich bin mit mir innerlich im Reinen.«
Seine Rede beendete er mit den Worten: »Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.«1 Zusammengefasst wird das mit den Worten »Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.« überliefert.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass Martin Luther Schattenseiten hatte, dass seine Äußerungen über Juden ein fataler Irrweg waren.2 Er hat die Bauern auf schreckliche Weise verraten, eine sogenannte Hexenverbrennung befürwortet und die Täufer verachtet, ja, zu ihrer Verfolgung beigetragen. Aber jene innere Haltung, dieser Mut aufzustehen, sich aufzubäumen, anderer Meinung zu sein, den bewundere ich zutiefst. Es hätte ihn das Leben kosten können – das Risiko ist er eingegangen, weil sein Gewissen ihn dazu bewegt hat.
Wo regt sich mein Gewissen? Was kann ich verantworten in meinem Leben, Reden, Handeln? Wann muss ich mich einmischen und darf nicht länger schweigen? Wer verantwortlich leben will, wird sich diese Fragen immer wieder stellen und bei der Auseinandersetzung mit den alten überlieferten Glaubenserfahrungen und im Gespräch mit anderen Antworten und auch eine Freiheit zum Handeln finden.
»Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.« – Das ist eine Haltung aus der Freiheit eines Christenmenschen heraus. Und genau diese hat bis heute nichts von ihrer Aktualität, von ihrer Brisanz verloren. Mit ihr haben Christinnen und Christen aller Konfessionen in der Vergangenheit immer wieder angesichts von lebensfeindlichen Ideologien und brutaler Unterdrückung ihre innere Freiheit bewahrt. Manche haben aus Glaubensüberzeugung ihr Leben riskiert.
Solche Freiheit berührt zuallererst Glaubensfragen. Das zu denken, war ein ungeheurer Durchbruch. Niemand kann mir sagen, was »richtiger« Glaube ist, sondern ich selbst muss lesen, denken, fragen – das macht es manches Mal anstrengend, gewiss. Aber aus eben diesem eigenen Denken und Fragen, aus der Auseinandersetzung entsteht die Freiheit des Gewissens, die sich dann als verantwortliche Freiheit im persönlichen und öffentlichen Leben äußert. Wenn ich selbst eine Position errungen, vielleicht gar erlitten habe, dann finde ich auch den Mut, gegen Kritik und Anfechtung daran festzuhalten.
Vorgefertigtes nicht »schlucken« und vorgegebene Formeln nicht »nachbeten«, darum geht es. Freiheit im evangelischen Sinne ist nie der Libertinismus, mit dem Freiheit heute allzu oft verwechselt wird, sie ist nie die Trivialisierung von Traditionen, Werten und Standpunkten. Nein, zuallererst geht es um Freiheit in Glaubens- und Gewissensfragen, die sich entwickeln im Studium der Bibel, im Gespräch mit anderen. Daraus ergibt sich Weltverantwortung. Freiheit im evangelischen Sinne ist auch nie liberal im Sinne von absoluter Individualität, sondern sie weiß sich bezogen auf die gemeinsame biblische Grundlage und die Gemeinschaft, in der wir leben.
Dabei ist mir bewusst: Aus dem Zusammenhang gerissene biblische Verse können allenthalben benutzt werden, um dies oder das zu begründen. Es geht darum, sie im Kontext zu begreifen – im Kontext ihrer Entstehung, aber auch im Kontext unseres gegenwärtigen Lebens. Mir liegt daran, die Glaubenserfahrungen, die uns die Bibel überliefert, mit unserer Glaubenserfahrung heute in einen Dialog zu bringen, ohne biblische Texte zur »Moralkeule« mutieren zu lassen. Eine lebendige Auseinandersetzung ist das Ziel! Wie kann Glaube heute relevant werden, und wie helfen uns dabei die Zeuginnen und Zeugen des jüdischen Glaubens, wie die Erfahrungen der ersten Christinnen und Christen?
Für mich ist Luthers Haltung in Worms vor weltlicher und kirchlicher Macht das Symbol christlicher Freiheit. Es ist eine innere Grundüberzeugung, die sich vor Gott verantwortet, die eigenen Gewissensentscheidungen an der Bibel misst und sie dann konsequent umsetzt. Es ist eine Freiheit, die für Luther das Ergebnis eines Bildungsvorgangs ist. Er hat die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt, damit Menschen selbst lesen und verstehen dürfen, ihr Gewissen schärfen und nicht angewiesen sind auf Bilder und Übermittlung durch andere. In seinem Brief an »den deutschen Adel christlicher Nation« hat er Schulen für Jungen und – damals höchst innovativ – Mädchen aller sozialen Schichten gefordert, damit sie selbst lesen können, was uns überliefert ist. So entsteht christliche Verantwortung; an selbst errungenen Erkenntnissen orientiert sich christliche Haltung.
»Der Führer lebt«, meldete das Radio am 20. Juli 1944. Bei allen, die gebangt hatten, weil sie beteiligt waren an der Vorbereitung des Attentats auf Adolf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg oder davon wussten, breiteten sich Enttäuschung, Entsetzen und Angst aus. Mehr als zweihundert Beteiligte wurden hingerichtet. Auch Ehefrauen wurden inhaftiert, verloren Hab und Gut. Auch nach 1945 wurden die Kinder der Widerstandskämpfer noch lange als »Verräterkinder« stigmatisiert.
Das Attentat vom 20. Juli gilt heute als bedeutendster Versuch, sich aufzulehnen gegen das nationalsozialistische Terrorregime. Beteiligt waren vor allem Offiziere, die zunächst Hitlers Politik befürwortet hatten, aber angesichts der Gewaltverbrechen, die sie erlebten, entschlossene Gegner wurden. Ob der sogenannte Tyrannenmord gerechtfertigt war, darüber haben sie gestritten, und das bleibt eine aktuelle Frage bis heute. Einige wie Dietrich Bonhoeffer sahen die Tötung Hitlers als einzigen Weg, das Morden zu beenden. Andere wie Helmuth James Graf von Moltke wollten sich an das fünfte Gebot halten: »Du sollst nicht töten«. Hingerichtet wurden sie am Ende alle, weil sie sich klar gegen das Regime gestellt hatten.
Freya von Moltke und Helmuth James Graf von Moltke hatten den Mut, in Kreisau an ein Europa der Gerechtigkeit, der Demokratie und des grenzüberschreitenden Miteinanders der Nationen zu denken, während Vertrauen zerstört war und alles in Schutt und Asche fiel. Sie ließen sich weder von der Ideologie des Nationalsozialismus verführen noch von der Angst vor dem Terrorregime lähmen. Bis zuletzt: Da konnte ein Richter Freisler noch so tönen – Helmuth James Graf von Moltke fühlte sich gehalten von der Liebe seiner Frau, von der gemeinsamen Vision und von Gottes Zuwendung. Was ist das für eine Freiheit, sich nicht von dem lähmen zu lassen, was scheinbar unabwendbar ist, sondern darüber hinauszudenken!
Es war aber auch die Freiheit zu lieben, die sie sich bewahrten, als sie durch Verhaftung und schließlich Hinrichtung getrennt wurden. Die Lektüre des Briefwechsels der beiden ist sehr anrührend, und als Freya von Moltke 2007 beim Gottesdienst aus Anlass des 100.Geburtstages von Helmuth James Graf von Moltke in Berlin anwesend war, konnten wir alle etwas spüren von der tiefen Verbundenheit über all die Jahrzehnte, ja, über den Tod hinaus. Die Liebe zweier Menschen zueinander war spürbar, eine Liebe, die auch von gemeinsamem politischem Denken, geteilten Visionen, Hoffnungen und gesellschaftlichen Zielen geprägt war.
Es gab auch anderen Widerstand, sehr viel früher. Ich denke an Elisabeth Schmitz, eine Lehrerin in Berlin. Sie verfasste 1935 ein Memorandum, das ein beeindruckendes Dokument einer Frau ist, die hellwach beobachtet und erkennt, wie der nationalsozialistische Ungeist um sich greift. So schreibt Elisabeth Schmitz über »Die Lage der Kinder«: »In einer kleinen Stadt werden den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, wird ihnen das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten! Es sind christliche Kinder, die das tun, und christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die es geschehen lassen!«
Mich beeindruckt, wie sie mit einem glasklaren Blick auf die Lage der Juden, das Verbrechen, das an ihnen begangen wurde, und auf das Versagen der Kirchen hinweist – und schon drei Jahre vor der Reichspogromnacht! Das Unrecht konnte schon früh gesehen werden, das berührt mich an ihrem Text besonders.
Gedenktage wie der zur Reichspogromnacht führen uns immer wieder vor Augen, dass wir wachsam sein müssen. Dass wir aus der Vergangenheit lernen und überlegen sollten, wo es heute gilt, hellwach zu sein und Unrecht nicht zu übersehen. Natürlich lässt sich das Leben in einem demokratischen Staat nicht vergleichen mit der Situation zu Zeiten der nationalsozialistischen Diktatur. Allein: Sich nicht »in die Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen«, wie Friedrich Siegmund-Schultze das einmal formuliert hat, das ist auch heute geboten.
Eine dritte Freiheit sehe ich darin, das Vergangene hinter sich lassen, neu anfangen und in Frieden zurückschauen zu können. Freya von Moltke beschreibt in ihrer Biografie eine Freiheit, die sich nicht im Grämen erdrücken lässt. Eine Freiheit, die nicht durch Vergeltungsdrang eingeengt wird. Eine Freiheit zur Versöhnung – mit der eigenen Biografie und mit anderen Menschen. 1945 nach Südafrika zu gehen – das war kein leichter Schritt. Die Rückkehr in »Adenauers Deutschland«, wie die Biografie die Jahre von 1956 bis 1960 überschreibt,3war eine Enttäuschung, die Jahre in den USA aber waren offensichtlich ein Segen. Eine eigenständige Frau, die schließlich große Lebensenergie in ihr Anliegen steckte: die »Vergangenheit mit der Zukunft zu verknüpfen«. So entstand das neue Kreisau – ein Ort, an dem sich heute Jugendliche aus Deutschland und Polen und darüber hinaus begegnen.
Diese drei Dimensionen der Freiheit – die Unabhängigkeit vom Zeitgeist, die Grenzen überschreitende Liebe zu einem Mitmenschen und das Loslassen von Lebenslasten –, die ich bei den Moltkes sehe, können wir auch heute umsetzen. Da geht es zunächst um den unabhängigen Blick auf die Welt. Ein Blick, der sich nicht vom Zeitgeist beeinflussen lässt, sondern versucht, von der Bibel her zu schauen und auch zu beurteilen, was geschieht. Geht es um den Aufbau der Gemeinschaft oder um Selbstsucht? Bin ich bereit, Beziehungen ernst zu nehmen und mit anderen zu ringen – um Miteinander, Vertrauen, Liebe, Solidarität? Und schließlich ist entscheidend, ob ich loslassen kann und neue Wege zu gehen vermag, auch wenn es schwerfällt, alte zu verlassen.
Freiheit ist vielfältig und oft ein Wagnis, damals bei den Moltkes, aber auch heute. Ich denke an ein Paar in meiner ersten Gemeinde. Sie übernahmen den elterlichen Hof und entschieden sich, den Betrieb in ökologische Landwirtschaft umzuwandeln. Das war ein harter Weg! Eltern und Schwiegereltern meldeten Zweifel an, im Dorf wurde kritisch und kontrovers diskutiert, ökonomisch war es eine Berg-und-Tal-Fahrt. Aber sie waren überzeugt, so für ihre Kinder verantwortlich zu handeln, sie haben es in ihrer Beziehung durchgestanden, und am Ende konnten sie nach vielen schweren Jahren sagen: Es war gut so. Die emotionale, körperliche und ökonomische Belastung war schwer zu tragen. Nicht alle haben die Kraft, ja, auch die tiefe innere Freiheit und die gegenseitige Liebe, solche Herausforderungen durchzustehen!
Luthers Freiheitsbegriff hat in der Tat große Konsequenzen nach sich gezogen. »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« als Parole der Französischen Revolution hat im Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen durchaus Wurzeln. Am Ende ist der Bogen bis zur Aufklärung zu spannen: Wage es, selbst zu denken! Die Kirchen haben diese Entwicklung nicht gerade befürwortet; manche verstehen die Aufklärung bis heute als »Verfall«, so etwa die russisch-orthodoxe Kirche, die den Kirchen der Reformation immer wieder Liberalisierung und angebliche Anpassung an den Zeitgeist vorwirft. Aber selbst denken, selbst urteilen – das sind reformatorische Errungenschaften! Wir können sie befürworten, denn christlicher Glaube meint nicht Angst vor dem Denken, sondern Ermutigung dazu! Daraus folgen Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit, aber auch politische Freiheit, Meinungs- und Pressefreiheit.
Die Frage wird sein, ob Christinnen und Christen sich ihres Erbes bewusst genug sind, um energisch für die Freiheit einzutreten – für die eigene, aber auch für die Freiheit des anderen. Es geht zuallererst um die Freiheit des Glaubens, sich von den gesellschaftlichen Vorgaben zu lösen. Der Zöllner, zu dem Jesus kommt, kann die Angst um »das Haben« verlieren. »Der Ruf«, »die Beurteilung«, »der Status«, sie werden zweitrangig, weil Gott uns Status, Ruf und Lebenszusage gibt. Das ist Freiheit.
In der Konsequenz geht es um Freiheit des Gewissens. Sie bringt Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit mit sich, weil ich anderen zugestehen kann, dass sie anderer Meinung sind. Ich kann die Angst davor verlieren, dass »meine Wahrheit« von anderen nicht geteilt wird, und ihnen das Recht zugestehen, andere Wege zu finden. Für mich ist Jesus Christus »der Weg, die Wahrheit und das Leben«, aber ich habe die Freiheit zu sehen, dass andere Menschen andere Wege und Wahrheiten für sich sehen. Das lateinische Verb tolerare meint ertragen. Es geht um ein Aushalten von Verschiedenheit, um die Freiheit, meinen Glauben zu bekennen, ohne Angst, dass andere Überzeugungen meinen Glauben und mich selbst infrage stellen.
Heute gehe ich an einem jüdischen Kindergarten oder an einer Synagoge vorbei und sehe mit Schrecken, dass sie durch Polizei geschützt werden müssen. Das kann doch nicht wahr sein, dass wir noch immer nicht gelernt haben, in Frieden in unserem Land zusammenzuleben!
Als Christin ist mir bewusst, wie entsetzlich viele Christen in der Welt verfolgt werden, im Irak, in Indonesien, in etlichen Ländern Afrikas. Genau deshalb werde ich mich dafür einsetzen, dass Menschen anderer Religionen in unserem Land frei ihren Glauben praktizieren dürfen.
Mich bedrückt, dass Religion immer stärker als Faktor der Konfliktverschärfung gesehen wird. Da zerstören Fundamentalisten, was über lange Zeit an Vertrauen aufgebaut wurde. Wir brauchen endlich eine Gemeinschaft der religiösen Menschen, die klarmacht: Wir lassen uns nicht missbrauchen für Macht, Gier und Gewalt! Wir stehen zusammen auf für Respekt und Menschenwürde.
Es gibt leider religiösen Irrsinn in der Welt. Aber es gibt auch viele Beispiele von Menschen, die sich über Grenzen hinweg die Hände reichen und gegenseitig für die Freiheit des anderen eintreten. Von denen sollten wir viel mehr sprechen.
Nicht im Perfekten, sondern im Verletzlichen sind wir Gott nah. In unseren schwersten Stunden können wir auf unser Gottvertrauen und auf das Vertrauen in Mitmenschen setzen. Nicht Karriere, Konsum und »Kohle« sind entscheidend, sondern Bindung, Beziehungen und Bibel. Wenn wir hier investieren, sind wir langfristig viel stabiler als alles, was irgendein Markt oder eine Börsennotierung uns vermeintlich an Sicherheit zusagen können. Salopp gesagt: Auf der »Drei-B-Basis« kann Vertrauen wachsen, in Gott und auch ins Leben.
Luthers Doppelsatz ist dafür besonders eindrücklich: »Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Über die Jahrhunderte hinweg ist das eine Kurzbeschreibung eines Spannungsverhältnisses. Da wird gerungen um die rechte Balance.
Die Freiheit eines Christenmenschen ist einerseits ganz ohne Voraussetzung, schlicht von Gott geschenkte Freiheit. Und doch ist sie nicht ohne Folgen. Niemandem untertan – wie wichtig ist das auch heute! Ganz gleich, was die Menschen sagen, egal, wo ich auf der Hierarchieleiter eingestuft werde – Gott sagt mir Lebenssinn zu. Der sterbende alte Mann ist nicht weniger wert als der millionenschwere Fußballprofi. Das schöne Model auf dem Laufsteg zählt nicht mehr als das schwerstbehinderte kleine Mädchen. In solcher Glaubenssicht der Welt zählt ein Mensch jüdischen Glaubens nicht weniger als ein Christ, und ein Muslim ist aus dem Blickwinkel des Glaubens betrachtet nicht weniger Geschöpf Gottes mit eigener Würde als ein Mensch ohne religiöse Überzeugung. Jeder Mensch hat eine eigene Würde, weil jeder einen Schimmer des Ebenbildes Gottes in sich trägt. Gott sagt mir Bedeutung zu, nicht die Erfolgskategorien dieser Welt. Das ist Luthers Erkenntnis. Und sie wirkt befreiend, auch heute!
Aber die Freiheit eines Christenmenschen beinhaltet eben auch, allen untertan zu sein. Nein, nicht duckmäuserisch und angepasst, sondern mit Empathie engagiert für den Nächsten und deshalb interessiert an der Welt. So können Christinnen und Christen heute an ihrem Ort wirken: klar und weltoffen, für Gerechtigkeit und Frieden und Schöpfungsbewahrung. Weil sie innerlich frei sind, können sie gegen den Zeitgeist handeln – sie wissen sich dennoch untertan der Sache des Reiches Gottes mitten in der Welt.
Christliche Freiheit, von der Paulus spricht, und reformatorische Freiheit, von der Luther redet, sie sind hochaktuell.
Es geht um errungene Freiheit! Dass Bibellesen heute die Ausnahme ist, ist vor allem im Heimatland der Reformation ein Trauerspiel! Luther hat die Tragweite von Selbstlesen und Hören erfahren und deshalb die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt, um allen die eigene Auseinandersetzung mit dem Text zu ermöglichen und nicht nur den Gebildeten, die der lateinischen Sprache mächtig sind. Manche seiner Universitätskollegen haben dies abschätzig als unwissenschaftlich angesehen. Aber lesen dürfen, nachfragen, andere um Rat bitten, miteinander um Antworten ringen – das ist die Grundlage christlichen Lebens seit jenem Reisenden, von dem die Apostelgeschichte berichtet.
Wenn mich jemand fragt, wo oder wie denn anzufangen sei, rate ich: Lesen Sie erst einmal das Markusevangelium. Dieses schildert kurz und knapp die Geschichte Jesu. Danach folgen am besten Matthäus und Lukas. Wer alle drei Evangelien gelesen hat, versteht: Hier wird die gleiche Geschichte berichtet, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Auf dieser Grundlage wird auch das Johannesevangelium dann mit seinem ganz eigenen Blick wahrnehmbar. Danach kann die Apostelgeschichte folgen, in der Lukas von den ersten Gemeinden erzählt, schließlich die Briefe des Paulus, teilweise schwere Kost. Und dann natürlich gern und mit Lust und Liebe die Vätergeschichten im ersten Buch Mose oder die Propheten des hebräischen Teils der Bibel. Fang an! Lies selbst. Und dann schau, was diese Texte in dir bewegen, welche Fragen sie aufwerfen, wer dir Rat geben könnte, mit wem du dich austauschen magst. Ich bin überzeugt, eine Frage löst eine andere aus, das können spannende Gespräche werden!
Mich fasziniert immer wieder, wie wichtig Bildung für alle Reformatoren war. Melanchthon war Lehrer aus Leidenschaft. Ulrich Zwingli lernte Griechisch, um das Neue Testament im von Erasmus von Rotterdam editierten Urtext lesen zu können. Er selbst besaß die für damals sehr große Zahl von 100 Büchern und gründete in seiner Glarner Pfarrei 1510