Mehr als fromme Wünsche - Margot Käßmann - E-Book

Mehr als fromme Wünsche E-Book

Margot Käßmann

4,6

Beschreibung

Fußballfest und "Entlassungsproduktivität", Krankheit, Krieg und Sommersegen. Das Leben ist eine Achterbahn von Wunsch und Wirklichkeit. Mehr als fromme Wünsche hat die bekannteste Theologin Deutschlands, Margot Käßmann. Für die Welt, das Leben und für uns. Was das Leben bewegt, worüber wir nachdenken sollten, was trägt und was wirklich wichtig ist.

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Margot Käßmann

Mehrals fromme Wünsche

Was mich bewegt

Für Sarah

Originalausgabe

3. Auflage 2010

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und –gestaltung:

R·M·E Eschlbeck / Botzenhardt / Kreuzer

Umschlagmotiv: IPON Photography, Stefan Bones

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-33635-5

ISBN (Buch) 978-3-451-05852-3

Vorwort

Als ich gebeten wurde, ein Jahr lang die Samstagskolumne im Niedersachsenteil einer deutschen Tageszeitung zu schreiben, habe ich mich gefragt, ob mir dafür wohl jede Woche etwas Neues einfallen würde. Bald aber wurde klar: Es gibt mehr als genug Themen! Jede Woche bewegen uns Nachrichten aus Welt und Gesellschaft, die uns auch im Glauben herausfordern. Oder Kirche und Glauben bringen durch Rituale und Feste Nachdenkenswertes in die Gesellschaft ein. Themen liegen im Spannungsfeld zwischen „BILD“ und Bibel sozusagen auf der Straße.

Nun ist es nicht so, dass die Bibel eine Antwort auf alle gesellschaftlichen Fragen hat, und der Glaube weiß nicht in jedem Fall mehr als die Vernunft. Aber vom christlichen Glauben her gilt es, finde ich, sich einzumischen in die Welt. Wir müssen doch immer wieder, Tag für Tag überlegen: Wie sehe ich das als Christ, wie beurteile ich das als Christin? Die Kolumnen wurden so im Laufe der Zeit entweder zu einem Kommentar zum Tagesgeschehen aus christlicher Sicht oder sie haben Menschen im säkularen Umfeld aufmerksam gemacht auf ein Ereignis im Kirchenjahr. Solche Versuche, Glauben und Welt aufeinander zu beziehen, werden leicht als fromme Wünsche abgetan. Ich meine, sie sind mehr als das. Wir können aus einer Glaubenshaltung heraus mitten in der Welt leben, als Bürgerinnen und Bürger, die das Geschehen kritisch begleiten und mitgestalten, die aber auch immer wieder aufmerksam machen auf die Bedeutung von christlichem Glauben in unserem Land.

Aufgrund einer Erkrankung konnte ich das Kolumnenjahr nicht ganz vollständig werden lassen. Auf den folgenden Seiten finden sich daher neben den in der Zeitung erschienenen Texten Kolumnen, die eigens für das Buch geschrieben wurden. Das Jahr wurde sozusagen aufgefüllt. Zudem wurden aktuelle und lokale Bezüge aus einigen Texten herausgenommen, etliche wurden erweitert, weil die für eine Kolumne notwendige Kürze von 2800 Zeichen in der Buchfassung überschritten werden konnte. An einigen Stellen wurden biblische Zitate oder auch ausführlichere theologische Bezüge an den Text angefügt, um klar zu machen, von welchem Standpunkt her reflektiert wird. Andere Texte blieben für sich stehen, weil der biblische Bezug in der Kolumne selbst klar benannt ist.

Entstanden sind Texte, die – so hoffe ich – exemplarisch zeigen, wie aktuell christlicher Glaube ist. Sie sollen dazu anregen, die Bibel neben die Zeitung zu legen, den Glauben nicht in eine besondere Ecke zu drängen, nicht auf den Sonntag oder den Notfall zu reduzieren, sondern alltagsrelevant zu verstehen. Als Christinnen und Christen leben wir mitten in der Welt. Wir können das Weltgeschehen, mit dem wir konfrontiert sind, immer wieder aus unseren Grundüberzeugungen heraus bedenken. Oft gibt uns der Glaube Maßstäbe zur Beurteilung. Vor allem aber sind die Bibel, die christliche Tradition und die Rituale des Glaubens Orientierungsmarken in einer oft unübersichtlichen Welt.

Hannover, im März 2007

Margot Käßmann

Gewalt an Schulen

Die Berliner Rütli-Schule ist auf traurige Weise berühmt geworden. Lehrer, die nicht mehr weiterwissen, eine Schulleiterin, die kapituliert vor den Schülerinnen und Schülern. Dazu kam der Amoklauf in Emsdetten, Drohungen von Amokläufen, die zu Schulschließungen und Polizeieinsätzen führten. Heftig wird seither diskutiert über Gewalt an Schulen. Viele glauben mitreden zu können, denn Schülerinnen und Schüler waren wir alle mal. Und es hagelt nur so Lösungsvorschläge von pädagogischen Maßnahmen bis zur Ausweisung besonders gewalttätiger Schüler aus Deutschland. Fast scheint es, als wären die Schulen in Deutschland Orte der Gewalt in einer ansonsten friedlichen Welt.

Das ist aber ein Irrtum. Zuallererst wird Gewalt in der Familie erfahren und gelernt. Wie sind denn diese Jugendlichen aufgewachsen, die prügeln und Pornos auf dem Handy verschicken, die keinen Respekt vor Erwachsenen haben und bei alledem ihre eigene Zukunft verspielen?

In den ersten drei Lebensjahren werden entscheidende Weichen für die Beziehungsfähigkeit gestellt. Da lernen Kinder den Umgang von Menschen miteinander: Zuwendung und Geborgenheit, Rücksichtnahme und Achtung vor dem anderen. Sie lernen Grenzen anzuerkennen und dass ihre eigene Verletzbarkeit eine Bedeutung in der Familie hat. Oder sie lernen es eben nicht und erfahren gar nicht, dass sie eine eigene Würde haben. Ihre Gefühle und Empfindsamkeiten werden mit Füßen getreten. Das wirkt sich dann dramatisch in ihrem Verhalten gegenüber anderen aus.

Vom dritten bis sechsten Lebensjahr nimmt das Lernen dann eine entscheidende Rolle ein. Wenn Kinder in dieser Zeit nicht gefördert werden, wenn sie keine Anregungen erfahren, wird keine Neugier am Lernen geweckt.

Deshalb muss die Lösung der Probleme viel früher ansetzen als in der Schule. Junge Eltern brauchen Hilfe und Unterstützung. Ihnen muss klar werden, dass ihre Kinder anderen nur Respekt und Achtung entgegenbringen, wenn sie das selbst durch ihre Eltern erfahren. Wir müssen ihnen Angebote machen und sie ermutigen, solche Angebote auch wahrzunehmen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Engagement! Horte und Kindertagesstätten könnten Orte werden, an denen Erziehungsberatung geleistet wird. Wir brauchen tatsächlich ein Bündnis für Erziehung, auch wenn viele das gleich skeptisch beäugen! Die nachwachsende Generation sollte uns jede Investition wert sein. Auch damit an Schulen wieder gelernt werden kann. Übrigens sind die Zehn Gebote auch heute noch ein guter Leitfaden für Erziehung, für Nächstenliebe, Respekt und Grenzen.

„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar.“ (Matthäus 5, 39)

Was Jesus da mit auf den Weg gibt, löst immer wieder Empörung aus – oder die Reaktion, das sei ja grenzenlos naiv. Der Mensch muss sich doch wehren. Ist das nicht völlig wirklichkeitsfremd, was Jesus da vorschlägt?

Aber wie soll der Kreislauf der Gewalt anders durchbrochen werden? Geschlagen werden und schlagen, das ist eine einzige Eskalation, wie wir sie bis hin zu Kriegen erleben. Die Kettenreaktionen von Gewalt zu durchbrechen ist viel schwieriger. Das Matthäusevangelium macht deutlich: Diejenigen, die der Gewalt widerstehen, sind die wahren Helden der Gesellschaft. Dazu gehört viel mehr Mut als zum simplen Zurückschlagen. Solches Verhalten kann gelernt werden durch Mediation, durch Schulinitiativen wie „Schritte gegen Tritte“ oder durch die Ausbildung von Schülerlotsen.

Verantwortung

Es gibt Daten, die haben sich uns tief eingeprägt. Wie der 26. April 1986. Gut zwanzig Jahre ist das nun her – Tschernobyl! Ich erinnere mich an den 29. April 1986. Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus mit unseren neugeborenen Zwillingen war im Radio zu hören, irgendetwas sei wohl in der Sowjetunion passiert. Genauere Informationen gab es nicht, wie üblich in der UdSSR.

Am 1. Mai schien die Sonne, die Babys lagen friedlich auf einer Decke auf dem Rasen, die ältere Schwester spielte im Sandkasten. Abends in den Nachrichten hieß es, das sei das Schlimmste gewesen, was wir hätten tun können. Sand und Rasen waren verstrahlt. „Die Wolke“ war unsichtbar über das Land gezogen.

Wenn das schon bei uns dramatisch war, um wie viel grausamer waren die Ereignisse im Grenzgebiet zwischen der Ukraine, Russland und Weißrussland! Tausende von Einsatzhelfern wurden ohne Schutzkleidung und ohne dass sie sich der Gefahr bewusst waren, eingesetzt, um Grafitbrocken vom Dach des Reaktors zurück in die Halle zu werfen. Die Radioaktivität hat Tausende erkranken lassen, insbesondere in den Schilddrüsen hat das Jod seine Spur hinterlassen. Krebserkrankungen und Missbildungen sind bis heute die Folge bei Kindern. Die Cäsiumbelastung wird noch Jahrzehnte anhalten, Tier- und Pflanzenwelt wurden zerstört. Insgesamt starben 70000 Menschen unmittelbar oder an den Spätfolgen der Katastrophe. Mehr als 135000 Menschen wurden aus ihrer Heimat nahezu planlos umgesiedelt. Die Katastrophe hat auch offensichtlich gemacht, wie sehr in diesem Regime der Schein wichtiger war als die Menschlichkeit.

In Gottesdiensten haben wir 20 Jahre danach dieser Katastrophe gedacht und für die betroffenen Menschen gebetet. Tschernobyl mahnt uns, als Menschen nicht überheblich zu werden. Wir haben nicht alles unter Kontrolle. Wir dürfen nicht meinen, alles sei möglich – wie die Menschen beim Turmbau zu Babel. Tschernobyl galt als Vorzeigeobjekt der Sowjetunion. Aber Menschen machen Fehler, Material kann verschleißen. Als Christinnen und Christen können wir nur immer wieder zur Demut rufen. Die Katastrophe von 1986 mahnt uns, sehr darauf zu achten, wie und wofür wir Energie verwenden. Es ist längst bekannt, dass die Industrienationen ihren Energieverbrauch drastisch reduzieren müssen, zumal in Ländern wie China der Energieverbrauch dramatisch steigt. Wie können neue, erneuerbare Energiequellen erschlossen werden? Wie können wir unsere Welt insgesamt für kommende Generationen bewahren? Wird das Kyoto-Protokoll endlich in entschlossenes Handeln umgesetzt? Bei der Atomenergie geht es nicht nur um eine politische Frage, sondern auch um die Frage der Verantwortung für die Schöpfung.

„Und sie sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen.“ (1. Mose 11, 4)

Die Bibel zeigt die realistische Einschätzung, dass Menschen verführbar sind und oft größenwahnsinnig, wie schon beim Turmbau zu Babel und wie in Tschernobyl, dem Vorzeigeobjekt sowjetischer Leistungsfähigkeit. Das ist nicht neu, so sind die Menschen. Und trotzdem gibt es immer wieder einen Neuanfang, ist Vergebung möglich nach einem Scheitern, kann Versöhnung geschehen. Mir gefällt in diesem Zusammenhang der biblische Begriff der Haushalterschaft. Wir sind Haushalterinnen und Haushalter Gottes. Die Erde ist uns anvertraut, damit wir sie hegen und pflegen und weitergeben an kommende Generationen. Das stellt uns in eine verantwortliche Position. Auch ein Kind hat Verantwortung und wächst am Verantwortungsbewusstsein als ein Glied in der Reihe durch die Jahrhunderte und um den ganzen Erdkreis.

Karwoche

Passionszeit. Viele Christinnen und Christen haben seit Aschermittwoch gefastet. Manche haben auf Alkohol verzichtet, andere auf Zigaretten, Süßes oder auf Fernsehen. Es ist eine besondere Zeit.

Die Karwoche ist von vielen Ereignissen geprägt, an die wir uns in diesen Tagen erinnern werden. Da ist Palmsonntag. Nach Jahren des Wanderns und der Verkündigung kommt Jesus nach Jerusalem. Er zieht auf einem Esel ein und erfüllt damit eine Weissagung des Propheten Sacharja. Das Volk jubelt ihm zu und legt Palmzweige auf den Weg.

In Jerusalem selbst versammeln sich viele Menschen. Das Passahfest steht an. In den Evangelien wird erzählt, wie Jesus predigte, den Tempel reinigte, wie er gesalbt wurde von einer Frau. Schließlich feiert Jesus das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern. Am Gründonnerstag wird in den Gemeinden daran erinnert und das Abendmahl miteinander gefeiert.

Im Garten Gethsemane betet Jesus zu Gott, ob nicht Rettung möglich wäre. Still muss er geworden sein. Er hat geahnt, dass er seinen Weg gehen muss. Judas hat Jesus inzwischen verraten, Soldaten kommen und verhaften ihn. Als einer der Jünger ihn mit dem Schwert verteidigen will, sagt Jesus: Stecke dein Schwert an seinen Ort! Er will nicht mit Gewalt gerettet werden.

Sowohl die religiösen als auch die politischen Führer zögern, Jesus zu verurteilen. Aber das Volk, das eben noch „Hosianna“ gerufen hat, ruft jetzt „Kreuzige ihn!“. Und auch wenn Pontius Pilatus versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen, ist sein Name als römischer Statthalter bis heute mit diesem unschuldigen Tod verbunden. Am (Kar-)Freitag wird Jesus grausam gekreuzigt zwischen zwei Verbrechern, auch daran gedenken wir in Gottesdiensten. Das Kreuz bleibt bis heute das Zeichen des Leidens. Aber auch der Erlösung, denn wir glauben, dass dieser Tod nicht das Ende war, sondern der Beginn eines neuen Lebens. Aber das folgt erst Ostern. Die Karwoche endet mit dem Samstag des Schweigens. In Jerusalem damals war Feiertag. Viele Menschen weinten um Jesus und wussten nicht, wie es weitergehen soll.

An diese tief greifenden Tage erinnert die Karwoche die Gläubigen - und sie hat ja auch Weltgeschichte geschrieben.

„Und viele breiteten ihre Kleider auf den Weg, andere aber grüne Zweige, die sie auf den Feldern abgehauen hatten. Und die vorangingen und die nachfolgten schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Markus 11, 8f.)

Sie jubeln Jesus zu beim Einzug in Jerusalem. Aber in dieser dramatischen Woche wird der Jubel umschlagen in den Ruf: „Kreuzige ihn!“ Menschen sind nicht zuverlässig in ihren Sympathien und Zuneigungen. Sie lassen sich allzu leicht steuern von Populismus und Mitläufertum. Dagegen zu halten, das ist schwer. Nur wenige haben die Kraft, gegen eine frenetische Menge die eigene Position zu behaupten. Die Passionsgeschichte zeigt einzelne Menschen, die Jesus zur Seite stehen, sie sind zum Vorbild für Generationen geworden. Andere, wie Petrus, versagen – und können mit diesem Versagen zum Trost werden für diejenigen, die nicht mutig genug sind. Denn die Geschichte zeigt: Gott braucht die Starken – und Gott kann auch die Schwachen gut in die Heilsgeschichte einbauen. Wir alle haben unseren Ort.

Das Mitleiden aber, die Compassion, bleibt die größte Gabe. Bei denen bleiben, die leiden und sterben, sich nicht in die Mehrheit der Masse hinein ziehen zu lassen, sondern standhaft bleiben, dazu ermutigt der Glaube.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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