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Dieses Buch zielt darauf ab, individuelle und gesellschaftliche Zwei- und Mehrsprachigkeit als Normalität und Herausforderung für Bildungsinstitutionen zu verstehen. Es sensibilisiert pädagogische Fach- und Lehrkräfte für diese Anforderungen und vermittelt ihnen wichtige Grundlagen und relevante Forschungsergebnisse aus Linguistik, Pädagogik und Didaktik. Dies geschieht in zwei separaten Themenblöcken, um der Spezifizität der jeweiligen Lebens- und Lernphase und den Besonderheiten des pädagogischen Alltags in KiTas und Grundschulen gerecht zu werden. Für die Neuauflage wurde der Band umfassend aktualisiert und um neue Themen wie die Rolle von KI ergänzt.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2025
Elke G. Montanari / Julie A. Panagiotopoulou
Mehrsprachigkeit und Bildung in KiTas und Schulen
Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen
Umschlagabbildung: Robert Kneschke, Hände mit Sprechblase als Social Media Konzept. © AdobeStock.
2., überarbeitete Auflage 2025
1. Auflage 2019
DOI: https://doi.org/10.36198/9783838564111
Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
utb-Nr. 5140
ISBN 978-3-8252-6411-6 (Print)
ISBN 978-3-8463-6411-6 (ePub)
Prof. Dr. Elke G. Montanari hat an der Stiftung Universität Hildesheim die Professur für Deutsch als Zweitsprache am Institut für deutsche Sprache und Literatur inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeitsforschung, Translanguaging und Spracherwerb der deutschen Sprache im Kontext von Mehrsprachigkeit.
Prof. Dr. Julie A. Panagiotopoulou ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung in früher Kindheit an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Sprachenpolitik und Sprachpraxis in Familien, Kindertagesstätten und Schulen; Translanguaging und pädagogische Professionalisierung vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheiten in Migrationsgesellschaften.
Mit diesem Buch wenden wir uns an Dozierende und Studierende in den Einführungsveranstaltungen in der Frühen Bildung und im Studium mit dem Abschlussziel Lehramt. Das Ziel ist es, angehende pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte für Mehrsprachigkeit und Translingualität zu sensibilisieren, wichtige Grundlagen und relevante Forschungsergebnisse transparent zu machen und die Verzahnung von Linguistik, Pädagogik und Didaktik aufzuzeigen.
Aus der Entwicklung Europas zu einer der weltweit bedeutenden Zielregionen internationaler Migration resultieren laut Michael Bommes „kulturelle Pluralisierung und Mehrsprachigkeit, auf die die europäischen Staaten nicht mehr in der Weise reagieren, dass sie diese für ein Übergangsphänomen halten, das durch forcierte kulturelle und sprachliche Assimilation aufgehoben werden kann“ (Bommes 2011:149). Der Erwerb der „Schrift- und Verkehrssprache[n]“ heutiger Mehrheitsgesellschaften wird zwar nach wie vor als notwendige Voraussetzung „für soziale Teilnahmekompetenz“ angesehen, aber dies geschieht „im Kontext einer im Übrigen sozial weitgehend freigegebenen Mehrsprachigkeit“. Angestrebt wird damit Inklusion „und nicht kulturelle Homogenisierung“ (ebd.). Aus diesen Gründen rechnen heute Einrichtungen frühkindlicher und schulischer Erziehung und Bildung in den meisten europäischen Ländern einerseits mit einer mehrsprachigen Klientel, mit Eltern und Kindern, die ein vielfältiges Sprachenrepertoire mitbringen, unabhängig davon, ob und unter welchen Umständen und wie genau sie die sogenannten nationalen Sprachen verwenden.
Andererseits und obwohl „keine gewaltsamen nationalstaatlich kulturellen Homogenisierungsprogramme mehr zur Herstellung einer nationalen Gemeinschaft“ umgesetzt werden, „wie dies noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall war“ (ebd.), wird auch in Bildungseinrichtungen die mehrsprachige familiale Alltagspraxis von jungen Kindern, Schülerinnen und Schülern heute oft noch als Abweichung von einer monolingualen Norm betrachtet. Die Förderung von Mehrsprachigkeit ist zwar ein explizites sprachenpolitisches Ziel der Europäischen Union, die national verfassten Bildungssysteme und so auch die deutsche Bildungspolitik haben aber bis heute – beispielsweise in curricularer Perspektive – weder in Bildungsempfehlungen für Kindertageseinrichtungen, noch in schulischen Lehrplänen auf diese Realität adäquat reagiert.
So wird in aktuellen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz ein geeigneter Umgang mit kultureller und sprachlicher Vielfalt in Kindertageseinrichtungen und Schulen hauptsächlich in der Würdigung der Herkunftssprachen gesehen, während aber – insbesondere migrationsbedingte – Mehrsprachigkeit nach wie vor außerhalb von Bildungsinstitutionen gelebt bzw. praktiziert werden soll (vgl. KMK 2013). Frühkindliche und schulische Bildungsangebote werden heute in vielen Fällen noch kompensatorisch ausgerichtet, sie zielen eher auf Einsprachigkeit und tradieren damit monolinguale Strategien und Praktiken. Die Förderung eines mehrsprachigen Repertoires bleibt somit meistens eine Angelegenheit der Familien. Gleichzeitig bleibt die Forderung nach Einsprachigkeit in deutschen Kindertageseinrichtungen und Schulen für mehrsprachig lebende Familien und deren Kinder eine große Herausforderung. Darüber hinaus kollidiert diese Forderung mit dem Anspruch, Mehrsprachigkeit von Anfang der Bildungskarriere an zu fördern. Insbesondere für Neuzugewanderte ist diese Sprachenpolitik und -praxis als eine Bildungsbarriere zu betrachten.
Mit unserem Buch möchten wir die Konzepte „Mehrsprachigkeit“ und „Bildung“ systematisch verbinden und dabei den Schwerpunkt auf die (frühe) Kindheit in Kindertageseinrichtungen und in Grundschulen setzen. Wenn alle Kinder in ihren Möglichkeiten als potentielle Mehrsprachige gesehen werden können, dann sind die Unterstützung ihres Sprachenerwerbs und die Förderung einer grundlegenden Bildung von Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit wichtige Aufgabenbereiche der Bildungsinstitutionen. Dieses Buch soll die angehenden pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte darauf vorbereiten, diese Aufgabenbereiche wahrzunehmen und umsetzen zu können.
Wir sehen die beiden Bildungsbereiche Elementar- und Primarbereich als Forschungsfelder und als Praxisfelder unserer Studierenden bzw. der angehenden pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte eng verknüpft. Unter Berücksichtigung der Sprach- und Lernbiographien von Kindern und Jugendlichen sind die langfristigen Verläufe und die Übergänge von der Familie in die KiTa und von der KiTa in die Grundschule bedeutsam. Jedoch haben wir uns für dieses Buch für eine inhaltliche Aufteilung entschieden, weil wir auf diese Weise die spezifischen Besonderheiten des pädagogischen Alltags in KiTas und Grundschulen in den Mittelpunkt stellen wollen. Dieses Buch ist daher in ein gemeinsam verfasstes einleitendes Kapitel mit dem Titel „Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit“ (Abschnitt A.: Montanari/Panagiotopoulou) und in die Abschnitte „Mehrsprachigkeit und Bildung in der KiTa“ (Abschnitt B.: Panagiotopoulou) sowie „Mehrsprachigkeit und Bildung in der Schule“ (Abschnitt C.: Montanari) eingeteilt.
Im ersten Kapitel diskutieren wir zentrale Grundbegriffe. Dabei wird Mehrsprachigkeit auf mehreren Ebenen dargestellt und mit den zentralen Begriffen Heteroglossie und Translanguaging in Verbindung gebracht.
Die Kapitel zwei, drei und vier behandeln – in Anlehnung an den Translanguaging-Ansatz – grundlegende Themen frühkindlicher Erziehung und Bildung im Zusammenhang mit der Frage nach neuen Konzepten und Methoden zur Mehrsprachigkeitsförderung von Anfang an.
Im zweiten Kapitel wird auf den dynamischen Mehrspracherwerb im Kindesalter sowie auf entsprechende Ansätze einer Didaktik der Mehr- und Quersprachigkeit eingegangen. Kapitel Drei widmet sich den frühkindlichen Erfahrungen mit Mehrschriftlichkeit, problematisiert den auf Einsprachigkeit basierenden Terminus Bildungssprache und verweist auf die Bedeutung der Förderung von Pluri- und Multiliteracy im Kontext der KiTa. Bezugnehmend auf den grundlegenden Begriff angehende Mehrsprachigkeit werden im vierten Kapitel Methoden zur Beobachtung und Dokumentation kindlicher Sprachbiographien im KiTa-Alltag und beim Übergang in die Grundschule diskutiert.
Die Kapitel fünf, sechs und sieben widmen sich der Thematik Mehrsprachigkeit und Bildung in der Grundschule: Das fünfte Kapitel stellt die Diagnose in den Mittelpunkt. Dafür werden zunächst Eigenschaften mehrsprachiger Sprachbeherrschung und mehrsprachigen Handelns geklärt und mehrsprachige sowie einsprachige Modi thematisiert. Das Komplementaritätsprinzip (Complementarity Principle) wird ebenfalls dort vorgestellt. Im weiteren Verlauf werden mehrsprachige Diagnostikverfahren diskutiert. Das Kapitel sechs legt den Fokus auf Mehrsprachigkeit im Unterricht und zeigt Unterrichtsmöglichkeiten auf, die Translanguaging und mehrsprachige Unterrichtsdiskurse einbeziehen. Das letzte Kapitel widmet sich der Aneignung von Literalität in mehreren Schriften im Schulalter.
Alle Kapitel sind für die Hochschullehre konzipiert, sodass für jeden Themenbereich ein bis zwei Sitzungen verwendet werden können. Wir wünschen den Dozentinnen und Dozenten sowie den Studierenden viel Spaß und interessante Einblicke!
Hildesheim und Köln, im Februar 2019
Elke G. Montanari und Julie A. Panagiotopoulou
In den seit der ersten Auflage vergangenen sechs Jahren hat sich die Normalität der Mehrsprachigkeit weiter durchgesetzt. Pädagogische Praktiken und einfache Formen der Anerkennung von Familiensprachen in KiTas und Schulen gehören mittlerweile zum Alltag, obwohl gleichzeitig Sprachenverbote weiterhin zu beobachten sind. Punktuell wird Mehrsprachigkeit als Vehikel für einen besseren Zugang zur KiTa- und Unterrichtssprache genutzt. Die Anerkennung von Mehrsprachigkeit als legitimes Mittel sprachlichen Handelns in frühpädagogischen und schulischen Bildungseinrichtungen, ist jedoch noch sehr selten anzutreffen. Gleichzeitig sind Mehrsprachigkeitskonzepte wie Heteroglossie und Translanguaging sowie mehrsprachige Methoden wie Scaffolding inzwischen fester Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften. Die wissenschaftliche Debatte zu diesen Themen scheint uns stabil und kontinuierlich.
Allein im Jahr 2022 ergab eine Internetrecherche rund 23.000 Forschungspublikationen zum Begriff „Translanguaging“ im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung, wie Ofelia García und Li Wei in einer Publikation aus demselben Jahr bilanzierten. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, die für eine Überwindung monolingualer Sprachideologien im Kontext von Bildungspolitik und Bildungspraxis plädieren und dies mit der Realität mehrsprachiger Familien begründen (Stichwort Family Language Policy). Schließlich stehen im Kontext der deutschsprachigen Migrations- und Mehrsprachigkeitsforschung und des Bildungsdiskurses nicht mehr (isoliert) die sprachlichen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund, sondern ihre komplexen Sprachbiographien, ihre mehrsprachigen Sprachressourcen sowie ihre Praktiken im Familienalltag, aber auch in Kindertageseinrichtungen und Schulen.
In den Forschungsaktivitäten ist eine Hinwendung zu größeren Stichproben zu beobachten, die es erlaubt, komplexe statistische Modelle einzusetzen. Insbesondere der Einsatz von Sprachkorpora gewinnt an Bedeutung. Die theoretischen Modelle zur Mehrsprachigkeit werden differenzierter und gehen auf die Heterogenität mehrsprachiger Konstellationen besser ein. Waren in frühen Forschungen zur Mehrsprachigkeit vor allem zweisprachige Individuen sichtbar, wird jetzt die Bandbreite ein- bis n-sprachiger mit unterschiedlichen Dominanzen und Präferenzen betrachtet.
Vor diesem Hintergrund haben wir den Band entsprechend aktualisiert, dabei aber die bewährte Gliederung und die Themenwahl beibehalten, für die wir viele positive Rückmeldungen erhalten haben, wofür wir uns sehr bedanken. Es wurden insbesondere jüngste Veröffentlichungen aufgenommen, ältere Publikationen entfernt, um das Literaturverzeichnis handhabbar zu halten. Sehr viele dieser Quellen sind online verfügbar, so dass das Nachlesen einfach möglich ist. Die Möglichkeiten digitaler Medien und davon, was unter „KI“ gefasst wird, haben wir verstärkt berücksichtigt und damit den medialen Alltag der Kinder und Jugendlichen stärker in den Blick genommen.
Wir wünschen viel Freude beim Lesen und Umsetzen!
Hildesheim und Köln, Februar 2025
Elke G. Montanari und Julie A. Panagiotopoulou
„In welcher Sprache denkst du, wenn du rechnest?“
„Auf Spanisch.“
„Und wenn du Notizen während des Unterrichts machst: In welcher Sprache machst du das?“
„Auf Deutsch, aber auf Spanisch auch.“
(Ausschnitt aus einem Gespräch mit einer jugendlichen neu zugewanderten Schülerin, Korpus Montanari)
„Also als ich das jetzt gehört habe, fiel mir ein, dass wir in meiner Schulzeit immer zwischen Sprachen geswitcht sind, besonders eben mit Kindern, mit Freunden, die auch beide Sprachen konnten, Deutsch und Türkisch. Da haben wir fast ausschließlich beide Sprachen benutzt, also nie, fast nie, durchgehend eine Sprache, einen Satz in einer Sprache fertiggebracht, würde ich sagen, wenn ich jetzt daran denke.“
Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Lehramtsstudierenden im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Universität zu Köln (Panagiotopoulou/Rosen 2016a:183)
In deutschen Bildungsinstitutionen finden sich vielfältige Bezüge zur Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen, wie es in diesen Interviewausschnitten aus zwei unterschiedlichen Forschungsprojekten deutlich wird. Das erste Zitat zeigt, dass neu zugewanderte mehrsprachige Schülerinnen und Schüler ihr gesamtes Sprachenrepertoire beim Lernen nutzen. Das zweite Beispiel wirft ein Licht darauf, wie angehende Lehrkräfte aus zugewanderten Familien rückblickend ihre Sprachpraxis in ihrer Schulzeit reflektieren, wobei sie berichten, dass sie fast immer mehrsprachig handelten bzw. „nie, fast nie, durchgehend eine Sprache“ verwendeten. Mehrsprachigkeit gehört zum Alltag von Bildungseinrichtungen in der deutschen Migrationsgesellschaft dazu. Was aber zeichnet Mehrsprachigkeit aus?
Es zeichnet sich eine neue Sichtweise auf die Sprachensituation von Individuen, Organisationen und Gesellschaften ab. Die Kategorien L1-Sprecherinnen und Sprecher, L2-Sprecherinnen und Sprecher, Einsprachige werden auf ihr Diskriminierungspotential reflektiert und zunehmend als überholt verstanden, als Bezeichnungen, welche die Vielfalt der Sprachenverhältnisse nicht ausreichend erfassen können (siehe auch Busse/Hardy 2023). Individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit folgen aus einer mehrsprachlichen Vielfalt in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen. Diese mehrsprachige Entwicklung von Migrationsgesellschaften wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem intensiv beforschten Gegenstand; u. a. werden seit mehr als zehn Jahren im Rahmen des multilingual turn (Conteh/Meier 2014) und des translanguaging turn (García/Li Wei 2014) unterschiedliche Arten, Formen, Ausprägungen von Mehrsprachigkeit und ihre Folgen im Kontext von Erziehung und Bildung beforscht. Damit geht endlich die lang geforderte Abkehr von Vergleichen scheinbar Einsprachiger mit Mehrsprachigen einher – scheinbar Einsprachiger, weil auch diese Personen, die vor allem mit einer einzigen Sprache in der Familie aufwuchsen, in der Kindertagesstätte, in der Familie ihrer Freunde, in der Nachbarschaft, im Urlaub und in der Schule mit weiteren Sprachen in Kontakt kamen. Diese Menschen haben schon immer Elemente aus weiteren Sprachen wahrgenommen, verstanden und entsprechende Ausdrücke verwendet und lernten mehr oder weniger gut die in der Schule unterrichteten Sprachen (z. B. in Deutschland: Englisch, Französisch, Spanisch oder auch Latein).
Mehrsprachigkeit kann als individuelle, als institutionelle oder als gesellschaftliche Mehrsprachigkeit verstanden werden. Bei der Betrachtung aus der Perspektive der individuellen Mehrsprachigkeit steht das Individuum, die jeweilige Person mit ihren Erfahrungen und Fähigkeiten, im Fokus. Es werden u. a. Fragen wie die folgenden gestellt:
In welchem Kontext und auf welche Weise hat sich die Person ihre Sprachen angeeignet?
In welchen Situationen wählt diese Person welche sprachlichen Elemente aus ihrem sprachlichen Repertoire aus?
Wie beeinflusst die Mehrsprachigkeit dieser Person andere individuelle Faktoren, z. B. die Intelligenz oder den Bildungserfolg in einem bestimmten Schulsystem, und umgekehrt?
Wie wird Mehrsprachigkeit kognitiv prozessiert, z. B. welche Sprachen sind aktiviert, wie gelingt es in Echtzeit, aus mehreren Sprachen angemessen die Sprache für die Antwort auszuwählen?
Wie ist das mentale Lexikon organisiert?
Wird Mehrsprachigkeit in (Bildungs-)Institutionen in den Mittelpunkt gestellt, werden oft die Praktiken der beteiligten Rollen und Agenten der Institution analysiert. Sind diese einsprachig orientiert oder beziehen sie Mehrsprachigkeit ein? Sind Merkmale institutioneller Diskriminierung sichtbar, werden Mehrsprachige benachteiligt? Beispiele für mehrsprachige Institutionen sind mehrsprachige Schulen und Kindertagestätten, z. B. die Staatlichen Europaschulen in Berlin oder die Internationalen Kindertagesstätten und Schulen, in denen pädagogische Fach- und Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler Mehrsprachigkeit als Grundlage ihrer Arbeit wählen. Nicht in allen Fällen sind alle Mitglieder gleichermaßen mit den in der Institution verwendeten Sprachen vertraut.
Die Europäische Union ist ein Beispiel für eine Institution, in der die Beschäftigten eine, zwei oder drei. Sprachen verwenden, innerhalb der Institution aber insgesamt viel mehr, aktuell 24, Amtssprachen gebraucht werden.1 Andererseits können Institutionen einsprachig agieren, auch wenn ihre Mitglieder zu großen Teilen mehrsprachig sind, indem sie die Mehrsprachigkeit der Akteurinnen und Akteure nicht einbeziehen. Dies Praxis kann in Schulen und Kindertagesstätten beobachtet werden, wenn trotz der mehrsprachigen Sozialisation der Eltern, Kinder, Schüler- und Lehrerschaft ein monolinguales Selbstverständnis gepflegt wird.
Für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ist das Verhältnis von Standardsprache(n), Varietäten und Regionalsprachen, Sprachen autochthoner Gruppen, Sprachen in Grenzregionen und migrationsbedingter Sprachvielfalt ein lebhaftes Forschungsfeld. Beispiele für Regionalsprachen sind z. B. in Deutschland: Berlinisch, Kölsch, Pfälzisch, Platt. Mehrsprachigkeit in Grenzregionen wird z. B. an den deutsch-französischsprachigen Grenzen und deutsch-polnischsprachigen Grenzen erkennbar. Als autochthone Minderheitensprachen sind u. a. Sorbisch, Friesisch und Dänisch anerkannt.
Nationalstaaten unterscheiden sich stark darin, ob sie Mehrsprachigkeit anerkennen und in ihrer Verfassung und ihrer Sprachen- und Bildungspolitik abbilden. Beispiele für Staaten mit offizieller gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sind die Schweiz mit den anerkannten Sprachen Rätoromanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch; Luxemburg mit den Amtssprachen Luxemburgisch, Deutsch und Französisch oder Südafrika mit zwölf offiziellen Amtssprachen. In anderen Staaten wird dagegen Mehrsprachigkeit nicht im Grundgesetz oder der Verfassung erwähnt, z. B. in Deutschland oder Frankreich.
Die sprachliche Vielfalt in Gesellschaften wird durch die Verwendung im öffentlichen Raum sichtbar. „Linguistic Landscaping“ ist das Stichwort für einen Forschungsansatz, der mittels Fotos von Schildern, Straßen, Läden u.v.m. die Bedeutung von Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum rekonstruiert.
Auch wenn es manchmal scheint, Migration wäre ein aktuelles oder neues Phänomen: Das stimmt nicht, Wanderungsbewegungen und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit haben auf der ganzen Welt und so auch in Europa eine lange Tradition. Es gibt sie seit der Besiedlung des Kontinents. Einige Beispiele für die zahlreichen Migrationsbewegungen, die mehrsprachige Konstellationen in Europa befördert haben, sind in der jüngeren Vergangenheit die Einwanderung der Hugenotten aus Frankreich nach Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert, die Arbeitsmigration Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegend um die Ruhr aus dem ehemaligen Königreich Polen, aus Oberschlesien, den Masuren und der Kaschubei sowie die Auswanderung Deutscher nach Russland ab dem 12. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert. All dies erfolgte, lange bevor es die Anwerbeabkommen in den 1960er Jahren gab, welche die Arbeitsmigration der 1960er und 1970er Jahre aus u. a. der Türkei, Italien, Griechenland, Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien organisierten. Europäische Gesellschaften waren zu vielen Zeiten mehrsprachig und durch Arbeits- und Fluchtmigration bzw. durch transnationale Mobilität geprägt (Redder 2013).
Vom Mittelalter bis in die Gegenwart haben sich oft die Ansichten darüber geändert, für welche Sprachen welche Zwecke geeignet sind. So wurden im Mittelalter sakrale und wissenschaftliche Texte in Latein, Aramäisch, Hebräisch, Arabisch und Griechisch verfasst, regionale Varietäten wie Deutsch oder Italienisch wurden erst viel später als geeignet dafür angesehen, um Literatur oder Wissenschaft zu behandeln.
Trotz dieser tatsächlichen Mehrsprachigkeit entwickelte sich im Zuge der Gründung der Nationalstaaten ein großes Interesse an einer gemeinsamen nationalen Identität, die durch eine einzige Sprache, vermittelt durch ein nationales Schulsystem, wesentlich mitgeformt würde. Die Standardsprache entwickelte sich von einer nützlichen überregionalen Verkehrssprache zu einem identitätsstiftenden gesellschaftlichen Element (Ehlich 2001) und erfuhr eine herausgehobene Interpretation, sollte sie doch eine einsprachige Nationalstaatlichkeit unterstützen (Krumm 2003). Diese Idee wird als Einsprachigkeitsideologie kritisiert, z. B. von Li Wei (2011) in Anknüpfung an Cook (1992), siehe auch Becker-Mrotzek 2023.
Eine moderne Politik, die diesen Zwiespalt zwischen Einsprachigkeitsideologie und faktischer Mehrsprachigkeit überbrückt, ist daher dringend nötig. Eine grundlegende Voraussetzung für eine glaubwürdige Sprachenpolitik auf gesellschaftlicher Ebene setzt voraus, dass ein offener und vielfältiger Diskurs über Sprachen möglich ist und „dass Diskussionen über Sprachen zu einer Gesellschaft gehören wie Debatten über Kultur-, Sozial- oder Bildungspolitik“ (Marten 2016:11).
Die Trennung in individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist für systematische Zwecke hilfreich; natürlich beeinflussen sie sich gegenseitig, denn Individuen und Institutionen sind eingebettet in Gesellschaften. Auf gesellschaftlicher Ebene besteht eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Individuen: Individuen antworten auf ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse, während wiederum Gesellschaften auf individuelle Handlungen mit sprachpolitischen Maßnahmen reagieren (Brizić/Hufnagl 2016). Es gibt viele verschiedene individuelle und institutionelle Strategien und Maßnahmen zum „Erhalt“ von Sprachen (vgl. Cantone et al. 2024) wie z. B. mehrsprachige Elternaktivitäten: In vielen Städten reagieren Eltern und Erziehungsberechtigte (als Individuen) darauf, dass die Schule (als Institution) ihre Kinder zu wenig beim Erwerb der schriftlichen Kompetenzen in der Familiensprache unterstützt. Sie haben daher Elterninitiativen gegründet, die u. a. das Lesen und Schreiben in vielen Sprachen fördern. Somit antworten mehrsprachige Sprecherinnen und Sprecher auf eine im Bildungswesen institutionalisierte Begrenzung oraler und literaler Erziehung mit eigenen Literalisierungsaktivitäten (siehe dazu auch Kapitel drei und fünf). Darauf wiederum wird auf gesellschaftlicher Ebene reagiert, indem in einigen Bundesländern Prüfungen in Familiensprachen (Türkisch, Russisch z. B.) abgelegt werden können, die im Zeugnis aufgeführt werden.2
Der Kindertageseinrichtung als der frühesten Bildungsinstitution im Leben eines Kindes kommt eine sehr große Bedeutung zu, in der Kinder mit einer einsprachigen Realität konfrontiert werden (vgl. Panagiotopoulou 2016:18f.). Daran schließt sich die Schule an: sprachliche Kompetenzen werden in der Schulsprache weitgehend voraussetzt und dafür in anderen Sprachen, bis auf die gelehrten Fremdsprachen, nicht berücksichtigt. Einige Sprachen werden als prüfungsrelevant eingestuft und für Unterrichtsdiskurse eingesetzt, andere bleiben unbeachtet. Damit wird eine Vereinheitlichung von Sprachpraktiken und Sprachfertigkeiten unterstützt; die migrationsgesellschaftliche Realität wird nicht akzeptiert und die individuelle und institutionelle Mehrsprachigkeit werden nicht weiterentwickelt. Letztlich wird damit ein hegemonialer Anspruch der Schulsprache Deutsch formuliert und verfestigt, wie Dirim (2023) kritisiert. In der migrationspädagogischen Arbeit muss es daher um die
Frage der Reproduktion von machtvollen Zugehörigkeitsordnungen in der Migrationsgesellschaft gehen und darum, wie sie sich auf Bildungsprozesse auswirken, d. h. welche Bildungsprozesse durch die gegebenen Zugehörigkeitsordnungen ermöglicht und welche verhindert werden. In diesem Verständnis verweist der Begriff Bildung auf viel mehr als „nur“ die Ergebnisse von formalen Bildungsprozessen; es geraten Momente und Prozesse der Subjektbildung in den Blick, auch in formalen Bildungskontexten wie die der Bildungsinstitution Schule (Dirim 2023:380).
Bevor die Diskussion um mögliche Probleme aufgrund der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit der Gesellschaft Fahrt aufnahm, galt bereits die Mehrsprachigkeit der ortsansässigen Bevölkerung als Herausforderung für die Schule. Sieger im „Streit über die Mundarten“ (Krüger-Potratz 2011:57) war die an der Schriftsprache orientierte, standardisierte Varietät, die heute als ‚Bildungssprache Deutsch‘ bezeichnet, aber bisher nicht klar definiert und operationalisiert wurde (vgl. hierzu auch Kap. 3). „Bildungssprache (…) wird ganz wesentlich zur Kommunikation bei der Vermittlung oder Aneignung von Inhalten benutzt, aber als sprachliche Kompetenz auch verlangt, wenn Lernende unter Beweis stellen sollen, was sie erreicht haben“ (Becker-Mrotzek et al. 2023).
Die Diskussion um Dialekte hat eine lange Tradition: Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diskutiert, welche Rolle der Dialekt in der Schule einnehmen kann, z. B. in einem Aufsatz des Berner Landpfarrers Johann Rudolf Wyss aus dem Jahr 1827 (und Schmidlin 2018, Schaller/Schiesser 2023). Eine stigmatisierende und von der sogenannten „Sprachrichtigkeitsideologie“ geprägte Überzeugung, dass das „Hochdeutsch im Norden Deutschlands“ „das beste Hochdeutsch“ sei, sei weit verbreitet (Maitz 2014:14, Krüger-Potratz 2011). Dagegen können, wie am Beispiel einer Schweizer Schule argumentiert wird, die unterschiedlichen Werte und Stärken von Dialekt und Standardsprache deutlich gesehen werden. Auf der einen Seite fungiert die Standardsprache als Bildungssprache und Code für die weiträumige Kommunikation, auf der anderen Seite haben Dialekte ihren Wert als identitätsstiftende Codes mit ihrem regionalen Variantenreichtum (Schmidlin/Luginbühl/Christen 2024).
Ein weiteres Beispiel für marginalisierte und diskriminierte Sprachen ist die Gebärdensprache, die in Schulen nicht regelmäßig angeboten wird und deren Sprecherinnen und Sprecher die Standardsprache in Laut und Schrift erwerben müssen. Für Menschen, die früh oder seit Geburt ertaubt sind und für die eine adäquate technische Hörversorgung nicht möglich oder nicht erwünscht war, ist der Lautspracherwerb besonders schwierig, was sich auch auf den Schriftspracherwerb auswirkt (siehe dazu ausführlich Hennies 2019). Einschränkungen in der Verwendung von Gebärdensprache stellen daher eine große Diskriminierung dar.