Mein geheimnisvoller Lord - Elinor Holm - E-Book

Mein geheimnisvoller Lord E-Book

Elinor Holm

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Beschreibung

Anne Winston ist es leid, an den rauschenden Bällen Londons und den sonstigen gesellschaftlichen Verpflichtungen teilzunehmen. Sie befindet sich am Ende ihrer zweiten Saison und hat bereits drei Heiratsanträge abgewiesen. Die Schönheit gilt mittlerweile als unnahbar. Dabei verspürt sie im Inneren Sehnsucht nach einem Mann, der nicht nur ihre Äußeres und ihre Erbschaft, sondern auch ihren Geist zu schätzen weiß. Ausgerechnet in einem geheimnisvollen Fremden, der sich selbst nur "Kit" nennt, scheint sie all das zu finden, wonach sie sucht. Als sie herausfindet, wer er wirklich ist, stürzt ihre Welt zusammen. Doch für einen Rückzug ist es zu spät, denn ihr Herz ist längst verloren.   Kurzweiliger Liebesroman, der in die Zeit von Jane Austen und Bridgerton entführt.   Dies ist der 2. Band der Regency Romance Serie »Die Winston Schwestern«. Jeder Band ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.   Um Spoiler zu vermeiden, sollte die Lektüre in folgender Chronologie erfolgen: - »Mein geheimnisvoller Duke – Verlorene Sehnsucht« (Charlotte Winston) - »Mein geheimnisvoller Lord – Verlorenes Herz« (Anne Winston)

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Elinor Holm

Mein geheimnisvoller Lord

Verlorenes Herz

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Familie Winston

1. Anne

„Mama, Mama ... was ist denn? Bitte, sag es uns!“

Die Sonne schien hoch am Himmel, es versprach ein wundervoller Tag zu werden.

Dabei hätte es doch regnen sollen ... gewittern ... stürmen. So hätte es viel besser zu dem gepasst, was in dem Leben der Familie Winston an diesem Morgen zugestoßen war.

Mama war nicht in der Lage gewesen, etwas zu sagen. Sie wurde geschüttelt von heftigen Weinkrämpfen und war inmitten des Salons auf die Knie gesunken, gestützt von ihrer Zofe. Währenddessen hatte Vater bereits das Anwesen Richtung London verlassen.

So blieb Anne nichts anderes übrig, als ihre kleinen Schwestern zu trösten, die sich verstört an sie drückten.

„Was ist mit Mama?“, flüsterte Sylvie mit zittriger Stimme.

„Ich weiß es nicht“, gestand Anne und tätschelte ihrer jüngsten Schwester über das karamellfarbene Haar, das ihrem eigenen so sehr glich.

„Es hat mit dem Brief zu tun“, vermutete Charlie, ihre zweite Schwester, in erstaunlich gefasstem Ton. „Dem Brief aus London.“

„Ist etwas mit Roger?“, fragte Sylvie weinerlich.

„Alles wird gut“, murmelte Anne, um sie zu trösten.

Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass nichts gut werden würde.

Nie wieder.

 

Der Frühling hatte in London Einzug gehalten und der Tag versprach so sonnig und warm zu werden wie jener verhängnisvolle Tag vor vier Jahren, an dem Roger starb.

Ich saß auf der Bank in meinem Gemach und sah hinaus in den blühenden Garten. Obschon ich versucht hatte, diesen Tag aus meinem Gedächtnis zu streichen und mir nur die schönen Erinnerungen an meinen Bruder zu bewahren, gab es Momente, in denen die dunklen Stunden zurückkehrten und von meinen Gedanken Besitz ergriffen.

Ich nahm kaum wahr, dass Sylvie im Garten Gänseblümchen von der Wiese pflückte. Genauso wenig bemerkte ich, dass es an der Tür klopfte und unsere Zofe Mary in Begleitung zweier Mägde hereintrat.

„Verzeihung, Miss Winston. Ihre Mama bittet darum, dass wir Sie einkleiden für den Ball.“

Müde lächelte ich. „Natürlich, der Ball der Baroness.“

„Geht es Ihnen nicht gut, Miss Winston?“ Meine Zofe musterte mich besorgt, während sie aus dem mitgebrachten Eimer dampfendes Wasser in die Wanne schüttete, welche die Mägde in mein Zimmer getragen hatten.

„Es ist wohl die Frühjahrsmüdigkeit ... keine Sorge.“

„Die Saison erreicht nun ihren Höhepunkt, Sie müssen sehr aufgeregt sein.“ Mary griff in ihre Schürze und holte eine kleine Karaffe hervor, die ich sehr gut kannte. Sie enthielt wohlduftendes Rosenöl, das sie selbst anmischte. Mary war wirklich eine gute Seele und ich war froh, sie an meiner Seite zu haben.

„Tatsächlich sind es auch die Bälle, die mich ermüden“, gestand ich. „Ich liebe das Tanzen, aber die Konversationen sind sehr anstrengend und gleichzeitig wiederholen Sie sich stets.“ Ich stand von der gepolsterten Bank auf und schritt zu meinem Tisch, auf dem meine Schmuckschatulle stand. „O Madam, Sie sehen heute wunderschön aus“, äffte ich die Herren der Gesellschaft nach. „Miss Winston, wie viele Kinder möchten sie gebären?“

Mary kicherte und gab den Mädchen Anweisungen, weiteres Wasser für die Wanne zu holen.

Ich räusperte mich und bemühte mich um eine möglichst tiefe Stimme. „Mein Anwesen in Yorkshire ist das schönste im ganzen Land. Mein Haus das größte, meine Pferde die besten, meine Abstammung die reinste Perle unter allen Stammbäumen der Society. Madam, könnten Sie mich Ihrem Schwager vorstellen? Der Duke und ich haben so viel gemeinsam. Madam, wie steht es mit Ihren Nähkünsten? Meine Mutter bestickt jedes meiner Taschentücher und ich wünsche, dass meine Gemahlin ihr in nichts nachsteht.“

Nun konnte Mary ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. „O Miss Winston, aber gibt es nicht einen, der Ihr Interesse zu wecken vermag?“

Ich seufzte tief. Es hatte mal jemanden gegeben. Aber Benedict Milton hatte eine andere geliebt. „Nein, sie sind alle gleich. Und glaube mir, Mary, mittlerweile kenne ich sie alle.“

Nach eineinhalb Jahren gesellschaftlicher Aktivitäten kannte ich wirklich jeden verfügbaren Junggesellen beim Namen. Mehr noch, ich kannte ihre Familiengeschichten, ihre Vorlieben hinsichtlich der Freizeitgestaltung und ob sie lieber das Theater oder die Oper besuchten. Ich wusste, mit wem ich besser nicht tanzte, weil er mir ganz gewiss auf die Füße treten würde und wer absolut ungeeignet für eine entspannte Konversation bei einem Spaziergang war. Drei Heiratsanträge hatte ich bereits abgelehnt.

Bei dem ersten war es mir noch schwergefallen, denn der Herr war etwa dreimal so alt wie ich und ich mochte ihn, weil er so liebenswürdig über seine älteste Tochter sprach, die im Übrigen ebenfalls älter war als ich. Aber eine Ehe mit einem Mann zu führen, der so viel älter war, bereitete mir Unbehagen und ich lehnte ab.

Der zweite Heiratskandidat hatte lediglich einen einzigen Tanz mit mir am Vorabend getanzt. Er hatte den ganzen Tanz über von seiner Mama gesprochen, die uns sehr genau beobachtete, mit einem Blick in den Augen, der Vulkane hätte einfrieren lassen können. Ich hatte nie herausgefunden, weshalb er nach nur einem Tanz der Meinung war, ich sei die perfekte Partnerin für ihn. Jedenfalls lehnte ich auch diesen Antrag ab, mit dem Hinweis, dass ich ihn zunächst besser kennenlernen wollte. Fortan hatte er jedoch bei gesellschaftlichen Anlässen meine Nähe gemieden. Also konnten seine Gefühle nicht so leidenschaftlich gewesen sein, wie er glühend behauptet hatte.

Der letzte Gentleman hatte mir erst letzte Woche einen Antrag gemacht. Auch in diesem Fall war es eine absurde Situation gewesen. Der junge Mann war erst achtzehn, also drei Jahre jünger als ich. Er studierte in Oxford und versprach mir, er würde mich auf Händen tragen, wenn ich doch nur seine Gemahlin würde. Leider hatten wir so gar nichts gemeinsam und so lehnte ich auch diesen Mann mit Bedauern ab.

Während ich mich in das angenehm heiße, wohlduftende Wasser begab und Mary meine Garderobe zurechtlegte, fragte ich mich, warum es nicht einen Mann auf dieser Welt gab, mit dem mir die Konversation leicht fiel, mit dem ich lachen und diskutieren konnte ... Ich wünschte mir einen Mann, der genauso gern tanzte wie ich, der mit mir ausritt, sich wirklich für mich interessierte und nicht nur für mein Äußeres oder meinen wertvollen Namen. Da nahm ich es in Kauf, dass man mich zwischenzeitlich hinter vorgehaltener Hand als unnahbar bezeichnete.

Nun, es konnte wohl nicht jede Lady so viel Glück haben wie meine Schwester Charlotte, die eineinhalb Jahr zuvor den Duke of Rochester geheiratet hatte. Die beiden hatten wahres Glück gefunden.

Lächelnd dachte ich daran, dass ich sie morgen besuchen würde. Charlotte und George hielten sich derzeit in Alsey House auf und ich konnte sie so oft besuchen, wie ich wollte. Charlotte fehlte mir, besonders, wenn es um gesellschaftliche Ereignisse wie den heutigen Ball ging. Aber da meine Schwester ihr erstes Kind erwartete und die Geburt kurz bevorstand, hatte sie sich in ihr Haus zurückgezogen. Umso mehr würde sie sich freuen, wenn ich sie morgen besuchte und alle Details des Balls erzählte. Unsere kleine Schwester Sylvie würde mich gewiss begleiten und dann war es wie früher, als wir noch junge Mädchen gewesen waren und unsere Erlebnisse austauschten ...

 

„Bist du nervös?“, fragte Mama, als wir in der Kutsche auf das herrschaftliche Haus der Baroness zufuhren.

Papa und Mama schauten mich aufmerksam an.

Ich zupfte an den spitzenbesetzten Ärmeln meines Ballkleides. „Ich hoffe nur, dass ich nicht über den Saum dieses Kunstwerkes stolpere.“

Es war nicht wie die üblichen Kleider, die derzeit modern waren, sondern war der Mode des letzten Jahrhunderts entlehnt. Das Korsett war sehr eng geschnürt, vermutlich würde ich zwischen den Tänzen längere Pausen einlegen müssen. Und überhaupt: Wie sollte man sich in einem solchen Kleid frei bewegen? Es schien mehr dazu geschaffen, am Rande zu stehen und hübsch auszusehen. Wenigstens trug ich keine Perücke. Mary hatte mein braunes Haar zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt, die ihrer erfahrenen Meinung nach sicher den ganzen Abend halten würde. Ein Kristalldiadem zierte mein Haupt und ein breites Seidenband meinen Hals, was jedoch nicht wirklich das tiefe Dekolletee kaschierte. Sicher war es noch hoch genug, um nicht anrüchig zu wirken, aber ich hatte das Gefühl, dass mir sämtliche Organe abgeschnürt wurden.

Die Baroness hatte einen wirklich exklusiven Geschmack und ihre gesellschaftlichen Anlässe waren stets besonders. Letztes Jahr hatte sie einen Ball veranstaltet, auf dem wir alle weiße Kleider trugen, während die Herren in Schwarz gekleidet waren, wie Figuren eines Schachspiels. Sehr passend, wenn man bedachte, dass die Regeln und Normen unserer Gesellschaft durchaus mit einem Spiel vergleichbar waren.

Ein vehementer Verstoß gegen die Regeln bedeutete den Ausschluss aus diesem Spiel. So wie es uns beinahe geschehen wäre, nach Rogers Tod.

Aber der Ton war auch schnelllebig und so erinnerte sich nun kaum mehr daran, dass mein Bruder bei einem Duell ums Leben gekommen war. Es gehörte zumindest nicht mehr zum Tagesthema der Gespräche. Da war aktuell der Eklat um die Familie Hatherington aktuell. Die älteste Tochter war mit einem unpassenden Mann nach Gretna Green entflohen und hatte dort heimlich geheiratet. Während die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft diese Geschichte mit glühenden Wangen weitererzählten, als wäre es eine aufregende Abenteuergeschichte und es ginge um nichts Geringeres, als die ganz große Liebe, so machten die älteren Herrschaften ihrer Sorge kund, dieser Emporkömmling mochte das Mädchen nur wegen des Erbes geheiratet haben.

Jedenfalls würden die Hatheringtons an diesem Abend ganz gewiss nicht am Ball teilnehmen, was sehr bedauerlich war, denn ich mochte die Familie ganz gern.

Wir hatten das herrschaftliche Heim der Baroness erreicht und ich legte die Maske an, die Mary für mich angefertigt hatte. Sie war mit der gleichen cremefarbenen Seide bezogen, aus der die oberste Schicht meines Kleides gefertigt war. Mary hatte jedoch noch goldfarbene Rosen darauf gestickt. Diener in dunkelgrünen Livrees nebst grauen Perücken waren uns beim Aussteigen behilflich.

Ein Streichensemble begrüßte die Gäste mit schwungvoller Musik.

„Zauberhaft“, seufzte Mama. Wir durchschritten die mit goldenen Kandelabern erhellte Eingangshalle bis zum Ballsaal.

Papa war eher skeptisch. „Es ist eigentümlich, dass man niemanden erkennt.“

Ich hakte mich belustigt bei ihm unter. „Das ist wohl auch der Sinn eines Maskenballs. Findest du es nicht lustig, dass niemand weiß, wer wir sind. Womöglich können wir so ganz neue Kontakte knüpfen.“

„Lord Winston!“ Ein schmaler Herr in dunkelblauem Samt drängte sich zu uns durch.

Papa gab ein Grummeln von sich. „Na, der hätte mich nicht erkennen müssen.“

„Wer ist das?“, flüsterte ich. Es kam nicht oft vor, dass Papa den Kontakt zu anderen scheute. Er war ein tüchtiger Geschäftsmann und war der Überzeugung, dass jeder Kontakt eines Tages nützlich sein konnte. Was nicht bedeutete, dass er anderen Honig ums Maul schmierte. Im Gegenteil, er war ehrlich und offen. Genau deswegen schätzten ihn seine Geschäftspartner so sehr.

„Ein Mr. Hennings. Er möchte mir Anteile seiner Miene in Cornwall verkaufen. Meine ersten beiden Absagen hat er nicht hingenommen. Ich gehe davon aus, dass er nicht ablässt, bevor ich nicht nachgebe. Kommt, meine Damen, ich denke, wir sollten uns zunächst erfrischen.“

Mama hakte sich am anderen Arm ihres Gatten unter und wir bahnten uns den Weg zu den Getränken. Immer wieder spürte ich neugierige Blicke. Hinter den Masken schien es den Menschen leichter zu fallen, andere zu beobachten. Außerdem trieb auch mich die Neugier, wer wohl hinter dem ein oder anderen Kostüm steckte.

Erst als ich an einem Glas Zitronenlimonade nippte, erkannte ich eine junge Dame an ihrer zarten Gestalt und ihrem erdbeerblonden Haar, das zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt war. Sie musste mich im selben Moment erkannt haben, denn sie winkte mir zu, raffte ihren voluminösen Rock und kam auf mich zu.

„Victoria“, seufzte ich erleichtert über ihre Anwesenheit. „Du siehst wirklich zauberhaft aus.“

Ihr rosafarbenes Kleid war über und über mit Blüten bestickt und ihre Maske in der Form eines Schmetterlings gestaltet.

„Das kann ich nur zurückgeben, Anne. Diese Seide passt ganz hervorragend zu deinem karamellfarbenen Haar.“ Vergnügt griff sie ebenfalls nach einem Glas Limonade. „Hach, es ist schön, endlich wieder an einem Ball teilzunehmen. Ich gebe zu, dass ich die Aufregung vermisst habe.“

Ich lächelte ihr aufmunternd zu. Die Hochzeit ihres Bruders mit einer Schauspielerin war der Skandal der letzten Saison gewesen und hatte bis in diese Saison fortgewirkt. Die Einladungen waren nur spärlich bei meiner Freundin eingetroffen und es hatte mir im Herzen für sie leidgetan.

Glücklicherweise scherte sich die Baroness herzlich wenig um Skandale und so hatte ich endlich wieder eine Gefährtin an meiner Seite, um mögliche Heiratskandidaten auszusortieren und uns über dies und jenes zu unterhalten.

„Erkennst du jemanden? Diese Maskerade ist ungemein aufregend.“

Victoria schürzte die hübsch geschwungenen Lippen. „Ist das da drüben nicht Madame Chantelle?“

Ich sah in die Richtung, in die meine Freundin mit einem dezenten Nicken gedeutet hatte. Eine Frau mit schwarzer Perücke stand in einem scharlachroten Kleid vor der Flügeltür zur Terrasse. „Hmm, könnte sie sein.“

Die Dame lachte lauthals über einen Scherz, den ihr einer ihrer zahlreichen Verehrer gerade erzählt haben musste.

„Sie ist es“, sagten Victoria und ich gleichzeitig, sodass wir selbst kicherten.

Dann blieb mein Blick an zwei Herren haften, die etwas abseits standen, jeder ein Glas Punsch in der Hand. Sie hatten in unsere Richtung geschaut und verbeugten sich nun, da sich unsere Blicke trafen.

Ich nippte an meiner Limonade. „Wir werden beobachtet“, murmelte ich, sodass nur Victoria mich hören konnte.

Sie entdeckte die Männer ebenfalls. Einer von ihnen war recht muskulös und breitschultrig, was der Schnitt seiner weißen Hose und der figurbetonten grünen Samtjacke noch betonte. Der andere war etwas schmaler und kleiner, dunkle Locken umrahmten sein Gesicht, das von einer silberfarbenen Maske halb bedeckt war.

„Anne!“, keuchte Victoria und packte meine freie Hand. „Das ist Viscount Brightwell.“

Der Name sagte mir zunächst nichts. „Der kleinere Gentleman?“

„Nein, der größere. Er war auf Reisen, ich wusste gar nicht, dass er wieder in London ist!“ Sie japste erfreut nach Luft. „Wir wurden einander bereits vor zwei Jahren vorgestellt. Er ist ein vorzüglicher Tänzer und hat ein solides Vermögen zur Verfügung.“

Der Begeisterung meiner Freundin nach zu urteilen war Viscount Brightwell zudem nicht verheiratet ...

Noch ehe ich protestieren konnte, hatte sie mir das Glas aus der Hand genommen, es einem vorbeieilenden Diener auf das Tablett gestellt und zog mich am Rande der Tanzfläche entlang in Richtung der beiden Gentleman.

Mir war nicht ganz wohl dabei, denn wir hatten unseren Eltern nicht gesagt, was wir vorhatten. Andererseits waren sie in intensive Gespräche verwickelt und es wäre unhöflich gewesen, sie dabei zu stören.

Zielgerichtet steuerte Victoria auf die Herren zu, doch zu ihrer großen Enttäuschung kam uns eine Lady mit ihrer Tochter zuvor, die es offensichtlich eilig hatte, den Viscount von deren Vorzügen zu überzeugen.

Abrupt blieb Victoria stehen. „O nein, welch Jammer. Das ist Lady Morgan. Sie ist bekannt für ihre ausschweifenden Schilderungen. Es wird sicher zwei Tänze dauern, bis die Lady von dem Viscount ablässt.“

Ich musste kichern, obwohl mir Victorias Enttäuschung leidtat. Gerade wurde eine Quadrille angekündigt und die Tanzpaare nahmen Aufstellung. Da es keine Tanzkarten gab, herrschte eine aufregende Freizügigkeit und Spontanität, was die Partnerwahl betraf. Es wunderte mich nicht, dass einige der altehrwürdigen Familien der Society der Baroness eine Absage für diesen Ball erteilt hatten. Und doch schien es mir, als wäre der Ballsaal so überfüllt, dass kaum ein weiterer Gast Platz gefunden hätte.

Die Terrassentüren waren weit geöffnet, um frische Luft hineinzulassen, aber die Temperatur im Saal stieg mit jeder Minute. Dezent fächelte Victoria uns beiden Luft zu. Dann grinste sie verschmitzt. „Ich weiß, wie ich des Viscounts Aufmerksamkeit auf uns lenke.“ Sie nahm mich an der Hand und führte mich weiter am Rande der Tanzfläche entlang.

Immer wieder musste ich entschuldigende Worte murmeln, weil wir jemanden anrempelten und einmal war ich sogar einer Lady auf den Zeh gestiegen. Nie war ich dankbarer, dass man mein Gesicht nicht erkennen konnte ...

Dann hatten wir das Objekt von Victorias Sehnsüchten erreicht. Schon traf uns ein vernichtender Blick von Lady Morgan, die uns im Augenwinkel bemerkt hatte. Doch Victoria ließ sich um nichts in der Welt von ihrem Vorhaben abbringen. Ich bewunderte sie für ihren eisernen Willen, während ich mich selbst lieber ein wenig im Hintergrund hielt.

„Oh, Anne, ich dachte wirklich, ich hätte meinen Bruder dort vorn gesehen“, säuselte sie und wandte sich zu mir um, ohne stehenzubleiben.

So stieß sie gegen Viscount Brightwell und ihr Fächer fiel zu Boden.

„Verzeihung!“, rief sie rasch aus und hielt eine Hand vor den Mund.

Der Viscount hatte sich zu ihr umgewandt. „Madam, geht es Ihnen gut?“

Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu und schürzte dabei ihre Lippen. „Verzeihen Sie bitte vielmals. Es ist nur so schrecklich voll hier. Die Hitze bringt einen noch um den Verstand, finden Sie nicht auch?“

Lady Morgan gab ein missbilligendes Schnalzen von sich, was den Viscount jedoch nicht davon abhielt, Victoria interessiert zu mustern. Dann entdeckte er den Fächer vor seinen Füßen und beugte galant das Knie, um ihn aufzuheben.

„Wie konnte ich nur so ungeschickt sein?“, hauchte Victoria.

O ja, meine Freundin spielte dieses Spiel zu gut.

Verlegen sah ich zur Seite und begegnete dem Blick dunkler Augen. Der Gentleman neigte leicht das Haupt und ich konnte ein Schmunzeln unter der silberfarbenen Maske erkennen.

„Sie kommen mir sehr bekannt vor“, meinte der Viscount nun an Victoria gerichtet. „Wir wurden einander sicher bereits vorgestellt.“

„In der Tat, Mylord“, antwortete sie keck. „Es bekümmert mein Herz, dass Sie sich nicht an meinen Namen erinnern.“

„Ihr Kostüm ist zu ausgefeilt, Madam, und gleichermaßen entzückend. Vielleicht kann ein Tanz meinen Gedächtnis auf die Sprünge helfen?“

Victoria lachte vergnügt. „Sicher, das sollten wir versuchen.“

„Aber ... aber“, stammelte Lady Morgan, sodass sie mir beinahe leidtat.

„Ich bin gleich wieder bei Ihnen“, versprach der Viscount, hatte jedoch nur noch Augen für meine bezaubernde Freundin Victoria.

Lady Morgans Tochter rümpfte die Nase. „Mir steht nicht der Sinn nach Warten“, brummte die junge Frau.

Ihre Mutter hob das Kinn. „Nein, mein Kind, wir werden auch nicht warten. Komm, ich habe dort vorn Sir Nigel gesehen. Ich muss ihn dir unbedingt vorstellen.“

Ohne sich weiter um meine Anwesenheit oder jener des dunkelhaarigen Gentleman zu kümmern, rauschten die beiden von dannen.

Ich presste fest die Lippen aufeinander und unterdrückte ein undamenhaftes Geräusch.

„Anscheinend sind wir Luft für die Ladys“, sprach der Fremde an meiner Seite und lächelte.

Seine Stimme war wohlklingend und warm. Ich erwiderte sein Lächeln. „Wir sind wohl nicht wichtig genug.“

„Oder ich nicht reich genug und Sie eine unwillkommene Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt.“