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Der Leser wird auf eine Zeitreise entführt, beginnend mit einem Flug nach Belize, wo ein geschiedener Manager seinen einzig verbliebenen Besitz begutachten möchte: einen Felsen im Karibischen Meer. Sonst hat er nichts mehr. Das Leben vor dem Bürobildschirm ist beendet und ein völlig unbekanntes Land wartet auf ihn. Das Buch endet auch mit einer Reise, dazwischen wechselt man zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erst am Ende versteht man, was zu dieser waghalsigen Entscheidung führte. Kapitel wechselt man zwischen dem alten Leben, das ursprünglich von Hoffnung, Liebe, Glück und Familie geprägt war, dann aber in Depression, Suizidalität, Medikamentenabhängigkeit, Burnout und dem Kampf um die Kinder abstürzte. Und dem neuen Leben, dem Leben von vorne, wo der Bürohengst mit zwei linken Händen versucht, auf einer einsamen Insel im Nichts zu überleben und sich etwas Neues aufzubauen. Von einem Leben in Excel-Tabellen und Datenbanken in den Dschungel von Belize, zu einer einsamen Insel, brennenden Schiffen, Bestechung und Korruption. Auf der Suche nach neuem Glück, Gesundheit und innerem Frieden. Gibt es eine Chance, dies zu erreichen?
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Seitenzahl: 415
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Christian „Gigi“ Gusenbauer wurde am 22.6.1974 in Wien geboren. Seine Mutter Ilona Gusenbauer war Spitzensportlerin und ist Trägerin des Goldenen Verdienstzeichens der Republik Österreich.
Der Autor hat zwei Geschwister, Ulla und Dieter. Er maturierte im Jahr 1993 und studierte danach in Wien Sportwissenschaften, Sportmarketing und Ernährungswissenschaften. Nach 17 Jahren in der Pharmaindustrie wanderte er 2017 nach Belize aus, um eine solarbetriebene Öko-Lodge auf einer kleinen Insel zu errichten. Der Autor ist geschieden und hat zwei Söhne.
Neuausgabe August 2021
Gigi Gusenbauer
Impressum
Mein Leben von vorne
Neuausgabe August 2021
Gigi Gusenbauer
Verlag:
© 2021, Lifebiz20 Verlag, A- 8261 Sinabelkirchen
Alle Rechte vorbehalten
Bildnachweis:
Cover: © Gigi Gusenbauer
eISBN 978-3-9505099-1-5
Prolog
Kapitel 1 MEIN ERSTER FLUG NACH BELIZE Tagebucheintrag 25. Oktober 2016
Kapitel 2 LEA, MEIN STERN AM FIRMAMENT Rückblick 1984
Kapitel 3 AN DER ZUKUNFT SCHNUPPERN Tagebucheintrag 25. Oktober 2016
Kapitel 4 ABSTURZ Rückblick 1986
Kapitel 5 ZWISCHEN BOAS UND VOGELSPINNEN Tagebucheintrag 4. November 2016
Kapitel 6 DIE LETZTEN JAHRE DER UNSCHULD Rückblick 1987 - 1993
Kapitel 7 EIN MEER VON TRÄNEN Tagebucheintrag 3. Januar 2017
Kapitel 8 MEIN ENGEL AUF ERDEN Rückblick 1993 bis 1998
Kapitel 9 KUSCHELECKEN-ARCHITEKTUR Tagebucheintrag 11. Januar 2017
Kapitel 10 DOPPELTES GLÜCK Rückblick 1998 bis 2001
Kapitel 11 DAS FUNDAMENT DER HOFFNUNG Tagebucheintrag 23. Januar 2017
Kapitel 12 LEBEN ODER STERBEN? Rückblick 2001
Kapitel 13 MEDIKAMENTENFREI DIE SEGEL SETZEN Tagebucheintrag 10. Februar 2017
Kapitel 14 YANNICK UND KIMI Rückblick 2001 bis 2005
Kapitel 15 DIE RUHE BEWAHREN Tagebucheintrag 26. Februar 2017
Kapitel 16 VOM HIMMEL IN DIE HÖLLE Rückblick August bis November 2005
Kapitel 17 IM GOLF VON HONDURAS AUF BRENNENDEM BOOT Tagebucheintrag 15. März 2017
Kapitel 18 DIE BRÜCKE Rückblick November 2005 bis Januar 2006
Kapitel 19 WIEDERSEHEN MIT MEINEN KINDERN Tagebucheintrag 20. April 2017
Kapitel 20 FLOTTER DREIER Rückblick 2006 bis 2007
Kapitel 21 DAS HAUS AM MEER UND EIN DOPPELMORD Tagebucheintrag 25. Mai 2017
Kapitel 22 ATEMLOS Rückblick 2007 bis 2011
Kapitel 23 SANDSPIELE Tagebucheintrag 5. September 2017
Kapitel 24 DIE KRANKE ANSTALT Rückblick 2011 bis 2012
Kapitel 25 ZWEI JAHRE GEFÄNGNIS? Tagebucheintrag 7. Dezember 2017
Kapitel 26 DAS GERICHT Rückblick 2012 bis 2016
Kapitel 27 PIRATEN IM NEBEL Tagebucheintrag 2. März 2018
Kapitel 28 DIE ENTSCHEIDUNG Rückblick Januar 2016 bis Juli 2016
Kapitel 29 DIE ERFÜLLUNG MEINES TRAUMS Tagebucheintrag 9. Juli 2018
Kapitel 30 MEIN LEBEN VON VORNE Tagebucheintrag 2. Januar 2017
Epilog
Eine wenig lichterfüllte Sichtweise auf das Leben könnte lauten „wir werden geboren, um zu sterben“. Eine fröhlichere Perspektive lautet dann wohl „wir werden geboren, um zu leben“. Und wenn man sehr viel Angst vor dem unausweichlichen Tod in sich trägt, dann liegt die Flucht in die Religion nahe, um sich mit dem Unausweichlichen anfreunden zu können.
Aber ganz egal, ob man nun Pessimist, Nihilist, Optimist oder in religiösen und spirituellen Sphären schwebt, eines eint uns alle, sogar den chronisch depressiven Selbstmordkandidaten: wir glauben, unser Leben oder gar unseren Tod in gewisser Weise steuern zu können. Wir gehen davon aus, Planungsmöglichkeiten zu haben, Medikamente und ärztliche Höchstleistungen in Anspruch nehmen zu können, wenn es eng wird. Und wir haben Grundwerte, die unumstößlich zu sein scheinen. In meinem Fall war es die in jeder Körperzelle und deren DNA einbetonierte grundlegende Bestimmung, Frau und Kinder nur über meine Leiche im Stich zu lassen. Für meine Familie würde ich sterben, niemand würde etwas zwischen uns bringen können.
Noch bevor ich eine Ahnung hatte, wen ich einmal heiraten würde und wie meine Kinder aussehen werden, wusste ich, alles für sie sein zu wollen. Superpapa, bester Koch, bester Ehemann. Als ich dann die Frau meiner Träume heiraten durfte, war das alles noch viel klarer. Meine Familie würde stets an erster Stelle kommen und meine Frau sich wie eine Prinzessin fühlen. Dieser Traum wurde Wirklichkeit, für viele Jahre, bis sich alles völlig unvorhergesehen von heute auf morgen in Luft auflöste. So trieb ich jahrelang orientierungslos in einem Meer der verzweifelten Tränen und versuchte, halb ertrinkend zum Festland zurückzuschwimmen.
Doch das Festland gab es nicht mehr und so machte ich mich auf, eine Insel zu finden, an der ich mich festhalten konnte. Diese Insel lag in Belize, im karibischen Meer von Mittelamerika. Ich begann mein Leben von vorne.
Es ist so weit. Ich sitze nun tatsächlich in jenem Flugzeug von Wien über Frankfurt, Amsterdam und Atlanta mit dem finalen Ziel Belize in Mittelamerika, das mir einen Blick in mein neues Leben gewähren wird. In zehn Tagen werde ich wieder zurück nach Österreich fliegen, aber nun werde ich zum ersten Mal meinen neuen Besitz zu begutachten.
Ich habe eine Insel gekauft. Ja, eine Insel. In der Karibik. Bin ich Millionär? Nein. Ich bin chronisch verschuldet, geschieden und Vater von zwei Kindern, der trotz eines guten Managergehaltes nie weiß, wie er die nächste Ratenzahlung für seine Eigentumswohnung berappen kann. Aber ich habe eine Insel in der Karibik gekauft. Mit dem vorgestreckten Geld einer meiner besten Freunde finanziert. Zurückzahlen kann ich meinem Freund Bonelli das nur mit dem Verkauf meiner Eigentumswohnung, was in wenigen Wochen über die Bühne gehen sollte.
Einer meiner Psychiater hatte mal den Gedanken geäußert, dass ich eine bipolare Störung haben könnte, was solch verrückte Aktionen begründen würde. Aber normalerweise kauft man da einen Computer, den man sich nicht leisten kann. Oder sogar ein Auto, oder Kokain. Aber sicher keine Insel in der Karibik. Ich hatte den Kauf mit Bonelli genau besprochen und das nicht nur, weil er mein Freund ist, sondern auch einer der besten Mediziner Österreichs. Er war der Möglichkeit einer bipolaren Störung in meinem Oberstübchen nie ganz abgeneigt, aber wir kannten auch die Gründe, warum ich die letzten Jahre zwischen halbwegs normalem Funktionieren und abgrundtiefer Dunkelheit hin- und herpendelte. Auch wenn ich Jahre brauchte, diese zu verstehen und zu analysieren. Und immer noch dabei bin, alles zu verarbeiten, was mich bis zu diesem Punkt in meinem Leben brachte. Momentan gehen mir aber andere Dinge durch den Kopf.
Meine Gedanken rasen um meine Kinder. Seit die beiden auf der Welt sind habe ich keine Flugreise mehr ohne sie gemacht. Außer Dienstreisen. Jede Sekunde mit meinen beiden Schätzen ist eine wundervolle Zeit und ein Geschenk. Wenn auch ein hart erkämpftes und mit weit mehr als nur Geld teuer bezahltes. Und nun fliege ich ohne sie und versuche mich abzulenken: „Findet Dorie“ gibt es auf meiner Unterhaltungskonsole von KLM zum Auswählen und „Star Trek Beyond“. Ich sehe mir die Filme an und beides lässt mich dann unter völligem Verfehlen des Zieles der Ablenkung sofort wieder über meine Kids nachdenken. Immer wieder muss ich mit den Tränen kämpfen, das nächste Mal „in echt“ weg zu sein. Ohne Rückkehr, maximal kurze Besuche der Kinder bei mir oder ich bei ihnen. „Findet Nemo“ hat unsere Familie, als die Kinder noch klein waren, bis zum Versagen der Bits und Bytes des Speichermediums angesehen. Natürlich immer ohne den Tod von Nemos Mama ganz zu Beginn. So wie meine Mutter den Tod von Bambis Mama immer weggelassen hat. Auch mit der Star Trek-Philosophie habe ich meine Kinder infiziert. Der Traum einer Welt, wo Wissen und persönliche Entwicklung wertvoller als Geld sind. Echte Fairness und Gleichberechtigung keine Religionen benötigen und globale Habgier nur auf einem Ferengi-Planeten geduldet werden. So viel wollte ich meinen Kindern noch mitgeben, sie sind ja erst am Anfang ihrer Reise. So wie ich am Anfang meiner Reise in eine neue Zukunft bin, wo ich alles neu lernen muss.
Mit all meinen menschlichen Fehlern habe ich stets versucht, meinen Kindern die Welt, trotz oder gerade aufgrund unserer intensiven gemeinsamen Erlebnisse, weiterhin als ein Abenteuer zu beschreiben. Als etwas, das erforscht und enträtselt werden muss. Ich wollte sie dafür begeistern, ihr Leben als ständige Entdeckungsreise zu genießen, wo jeder Moment eine neue Erkenntnis bringt. Und so wie ich versucht habe, meinen Kindern auf der Suche nach Entdeckungen behilflich zu sein, haben sie durch ihre vielen Fragen meine Neugier auf Unbekanntes entfacht. Kinder lassen einen mit ihren oberflächlich betrachtet einfachen Fragen schnell erkennen, wie wenig man eigentlich über die einfachsten Dinge unserer Welt weiß. Dank Internet habe ich einerseits ständig dazugelernt, anderseits auch meinen Kindern gezeigt, wie sie selbst Antworten auf Fragen finden können. Jede Sekunde ihrer Kindheit wurde für mich zu einem Lern-Abenteuer, es war wundervoll.
Ach Du meine Güte, es tut so weh. Sehr schnell kämpft mein Gehirn wieder mit der Bürde, ob das die richtige Entscheidung war und ist, und ob ich mit diesem radikalen Schritt leben werde können. Ich weiß es nicht. Die Familie war alles für mich, alles wurde dem Glück meiner Familie untergeordnet. Nicht als Opfer oder als Märtyrer, sondern weil es das Schönste für mich war, ein Teil dieses Geschenks des Universums sein zu dürfen. Und dann bin ich doch glatt an dem Punkt angekommen, alles für einen Felsen im Meer, den ich noch nicht einmal gesehen habe, aufzugeben. Ich werde keine Krankenversicherung mehr haben, keine Altersvorsorge, einfach nichts. Mein jüngster Sohn Kimi ist erst dreizehn Jahre alt. Er hätte mich definitiv noch viel länger gebraucht. Aber es ging nicht mehr, es war zu viel für mich. Ich hatte alles probiert und konnte trotz all meiner jahrelangen und umfangreichen Bemühungen die Spielregeln nicht ändern.
Ich wollte nicht länger versuchen, in den Tunneln meiner Trübseligkeiten, Suizidgedanken und Burn Outs, Licht tief unter Tage zu finden. Oder mit Hilfe der kleinen Pillen eine diesige, nebelig-trübe Taschenlampe zu betreiben, um ständig weiter ohne Chance auf Erfolg einen Ausgang zu finden. Nein, ich habe mich dazu entschlossen, ein Loch in die Höhle zu sprengen und das Spielfeld zu verlassen. Wenn dich die Spielregeln von vornherein dazu verdammen, verlieren zu müssen, in die falsche Richtung zu graben und es gar keinen Ausgang gibt, dann musst du irgendwann ein neues Spiel beginnen. Selbst wenn die Partner in deinem Team die wertvollsten Menschen für dich sind und du für sie verantwortlich bist. So oder so wärst du bald nicht mehr da, weil du ewig tief unter Tage in einem Tunnel-Labyrinth herumirrst, bis deine Zeit abgelaufen ist. Und du aus dem Spiel gelöscht wirst. Also besser ein neues Spiel beginnen, als einfach gelöscht zu werden. Und zu hoffen, dass deine Team-Mitglieder es irgendwann verstehen.
Dennoch bin ich gespannt, ob mir die nächsten zehn Tage mehr Gewissheit oder oder doch mehr Unruhe in Bezug auf die Kinder bringen werden. Jedenfalls freue ich mich jetzt schon unermesslich darauf, sie nach meiner Rückkehr wieder in die Arme nehmen zu können. Und ich weiß überhaupt noch nicht, was mich in Belize erwarten wird. Ich war viele Male in der Dominikanischen Republik, danach mit meinen Kindern auch in Kuba auf Urlaub, aber das war es dann auch schon mit meinen Karibik-Kenntnissen. Und es war immer der typische abgeschottete Allinclusive Urlaub. Ich habe absolut keine Ahnung vom echten Leben in einem karibischen Land.
Wobei, ganz so stimmt das auch nicht. Seit Monaten folge ich auf Facebook den Menschen in Belize. Allen erdenklichen Gruppen, Einkaufs-Seiten, Verbrechens-Seiten, Bildungs-Seiten, Öko-Seiten. Ich wollte die Belizianer kennenlernen und ein Gefühl für das Leben in diesem kleinen karibischen Staat bekommen. In Bezug auf ganz banale Dinge, wie den besten Mobilfunkanbieter zu finden. Bis hin zu Leuten, die wissen, wie man auf einer Insel bauen kann. Auch auf überraschende bis beängstigende Lebensumstände bin ich gestoßen. Ein Facebook-User suchte verzweifelt nach jemandem, der eine Leiche abholen kann, denn „jetzt nach zwei Tagen riecht es echt schon übel bei mir Zuhause“. Oder jemand, der via Facebook anhand eines Röntgenbildes auf der Suche nach einer chirurgischen Schiene war. In der Abmessung so lange wie ein ganzer Unterschenkel und auf dem Röntgenbild mit zwanzig chirurgischen Schrauben implantiert: „Mein Arzt hat gesagt, wir benötigen so etwas, hat jemand eine gebrauchte Schiene, die ihm wieder herausoperiert wurde oder vielleicht von einem Toten?“. Facebook scheint in Belize alles zu sein. Von E-Bay über Amazon bis hin zur Rettung, Polizei und dem Leichenbestatter. Alles wird über Facebook abgewickelt.
Weniger spannend als gedacht, haben sich die Gruppen von Auswanderern, den sogenannten Expats, herausgestellt. Eines wurde mir sehr schnell klar. Es gibt viele US-Amerikaner in Belize. Sehr viele. Und die ticken ganz anders als wir Europäer. Wenn sie sich darüber beklagen, dass sie keine Einkaufs-Malls haben, keine McDonalds und keine Kinos, muss ich immer wieder schmunzeln und denke mir, warum zur Hölle seid Ihr eigentlich ausgewandert? Und ich hege bereits jetzt den Verdacht, dass die eventuell nicht ganz so gut auf ihr Auswandern vorbereitet waren, wie ich. Obwohl ich noch keinen Fuß auf belizianischen Boden gesetzt habe.
Denn mir ist ganz klar, worauf ich mich einlasse. Belize ist ein Entwicklungsland mit nur 350.000 Einwohnern. Englischsprachig. Und Belize ist keine Insel, wenngleich es am karibischen Meer liegt. Es beherbergt das zweitgrößte Barriere-Riff der Welt, sowie unzählige kleine Inseln, die wie Regentropfen im Sand erscheinen. Die sogenannten Cayes, in Belize ausgesprochen wie Schlüssel auf Englisch, also „keys“. Und eine dieser Inseln habe ich gekauft. Oder besser gesagt, einen Teil davon. Einen Felsen mit Mangroven. Dafür habe ich alles in Österreich aufgegeben. Aber ich habe mir etwas vorgenommen. Wenn ich schon die Vergangenheit hinter mir lasse, so möchte ich meine neue Zukunft so detailliert wie möglich festhalten. Und gleichzeitig mit dem Tagebuch der Gegenwart eine Erinnerung an die Vergangenheit anfertigen. Ich möchte damit festhalten, wer ich war, was aus mir wurde, wie ich mich verändert habe und warum ich diese verrückte Reise in eine ungewisse Zukunft angetreten habe.
In meinen vielen Management-Seminaren durfte ich immer wieder hören, wie schwierig es sei, die „Komfort-Zone“ zu verlassen. Dies war meist ein Schwerpunkt, wenn es um Umstrukturierungen im Konzern ging. Oder Mitarbeiter-Kündigungen anstanden. Die Komfortzone war dort der eigene Arbeitsplatz, die gewohnte Kaffee-Tasse und die Arbeitsschritte, die man seit Jahren in immer gleicher Weise vornahm. Das Zuhause zurückzulassen, die Familie, seine Freunde, seine Kinder. Das ist wohl etwas mehr, als nur die Komfortzone zu verlassen. Dies entspricht einem Level über der Panik-Zone. Mein Ziel ist es jedoch, keinen Stress mehr zu haben und endlich wieder glücklich zu werden. Also pfeif ich besser auf die Management-Seminare, sonst müsste ich sofort wieder zurückfliegen.
Bis ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich eine unglaublich schöne und perfekte Kindheit. Aufgewachsen in dem idyllischen kleinen Vorort am südlichen Rande Wiens, der Südstadt. Eine Insel für Kinder. Keine Straßen innerhalb der Siedlung, nur eine Verbindungsstraße, die wie ein Kreis im Inneren der Ortsgrenze verlief. Egal wo man sich aufhielt, es gab immer nur eine einzige Straße mit beruhigtem Verkehr zu überqueren. Für uns Kinder war der ganze Ort ein Spielplatz. Mit ebenso vielen Grünflächen wie Wohnflächen, Feldern am Rand und sogar das Areal vor der modernen Kirche war ein richtiger Abenteuer-Spielplatz. Wenn ich das jetzt so niederschreibe, beschleicht mich ein interessanter Gedanke: „eine Insel für Kinder“. Das war nicht bewusst so formuliert, es war völlig unbewusst geschrieben. Und ich fühlte mich dort vollkommen sicher. Gibt es diesbezüglich eine tiefere Bedeutung für meine Flucht auf eine Insel, die mir gar nicht klar war?
Meine Mutter hatte, kurz bevor ich geboren wurde, ihre Sportkarriere beendet. Sie war Olympionikin, Weltrekordhalterin in der Leichtathletik und jeder kannte sie. Die Südstadt war zudem Heimat vieler Top-Sportler. Für mich war es ganz normal, dass die Freunde meiner Eltern zu der Weltelite des Spitzensportes gehörten. Die Olympiaanlage der Südstadt war daher mein zweiter Spielplatz und ich begann von meinen ersten Schritten an, sämtliche Sportarten zu erlernen. Die Volksschule in der Südstadt liebte ich ebenfalls, alle meine Klassenkameraden waren von Windeljahren an meine Freunde. Wir kannten uns wie Familienmitglieder und gingen in dem jeweiligen Zuhause des anderen ein und aus.
Als ich dann zehn Jahre alt wurde, war es vorbei mit der Volksschule. Vorbei mit dem beschützen Leben innerhalb unserer Siedlungsgrenze. Vorbei mit dem Überqueren einer einzigen Straße und hinaus in die wilde und gefährliche Welt. Veränderungen waren schon damals nicht mein Ding. Ich hasste es, wenn sich irgendetwas ändern musste. Als meine Eltern das Sofa im Wohnzimmer umstellten, war ich tagelang betrübt, denn es gefiel mir so, wie es vorher war. Auch wenn sich nach dem Umstellen mehr Platz bot, aber das Sofa war vorher mit Sicherheit tausendmal kuscheliger. Man kann sich also vorstellen, was eine neue Schule für mich bedeutete. Nicht mehr eine einzige Lehrerin, sondern einen Lehrer für jedes Fach. Neue Schulkameraden, von denen ich kaum jemanden kannte. Zum Glück hatte ich ein paar Freunde aus der Volksschule in meiner neuen Klasse. Wir hatten uns bemüht, zusammen zu bleiben. Es stand fest, uns würde nie etwas trennen, wir waren eine eingeschworene Truppe seit unserer Krabbelzeit.
Ich lernte also, wie ich mit dem Fahrrad von der Südstadt bis nach Mödling fahren konnte. Dennoch hatte ich unendlich viel Angst. Aber noch viel mehr Angst, als um mich, machte ich mir um meine Mutter, denn sie war stets besorgt um mich. Handys gab es damals noch nicht, und so rief ich sie am ersten Schultag von einer Telefonzelle aus an, um ihr mitzuteilen, dass ich gut in der Schule angekommen war. Die neue Schule war angsteinflößend. So groß, so unendlich viele Kinder und junge Erwachsene. Aber ich konnte es nicht ändern, weglaufen ging nicht, ich musste da durch. Vor meinem ersten Schultag hatte ich mehrere Nächte Albträume, meine Klasse nicht zu finden. In meinem Traum kam ich immer zu spät, alle Kinder blickten mich an und lachten mich aus. Bereits als Kind musste ich sehr schnell weinen. Alles war mir peinlich, alles war mir unangenehm, „nur nicht auffallen“ war in meinem Blut gespeichert. Und eine fast schon schädliche Demut vor jedem anderen. Obwohl meine Mutter so eine berühmte Sportlerin war, war sie ebenfalls die Demut in Person. Das hatte ich entweder geerbt oder durch Nachahmen des Verhaltens übernommen. Jedenfalls war ich programmiert, dass alle anderen wichtiger waren, als ich. Und dass ich, so gut es ging, den anderen alles recht machen sollte, um keine Konflikte zu erzeugen. Niemand sollte auf mich böse sein.
Überraschenderweise war ich entgegen meinen schlimmen Träumen nicht zu spät für den Empfang in der neuen Schule. Auch heute noch bin ich eher dreißig Minuten zu früh an einem Treffpunkt, als auch nur eine Sekunde zu spät. Das wiederum dürfte von meinem Großvater stammen, er war genauso. Es gab einen großen Sammelplatz in der neuen Schule, dem Bundesrealgymnasium Bachgasse in Mödling. Die Lehrer nannten es Aula, für mich klang das wie eine Wortmischung aus Aua und Eule. In der Aula gab es dann viele Lehrer mit Schildern, wo die jeweilige zugehörige Klasse gekennzeichnet war. Ich musste in die Klasse 1C und fand den Lehrer mit dem entsprechenden Schild, aber ich hatte noch immer Angst, dass mir ein Fehler unterlaufen sein könnte. Was, wenn ich mich in der Liste vertan habe? Und dann in der falschen Klasse sitze? Und alle mich auslachen? Ich würde vermutlich weinend nach Hause laufen und nie wieder in diese Schule zurückwollen. Ich folgte also dem Lehrer mit dem Schild 1C und neben mir gingen einige Schüler, die auch ziemlich verängstigt aussahen. Andere wiederum schienen absolut nicht beeindruckt zu sein, was da auf uns zukommen würde und sahen super cool aus. Dennoch, offensichtlich war ich nicht der einzige, dem der Umstieg in eine neue Schule etwas Angst bereitete.
In der Klasse angekommen, nahmen wir dann alle einen Platz ein, natürlich setzte ich mich neben meinen besten Freund. Dann begann der Lehrer alle Namen vorzulesen und jeder Anwesende musste sich melden. Erneut hatte ich Schweißausbrüche, ob der Lehrer hoffentlich meinen Namen auf der Liste hat. Und man nannte die Lehrer ja auch nicht mehr Lehrer, sondern Professor. Mein Klassenvorstand hieß Professor Pichler und war mein neuer Mathematik-Lehrer. Zu meiner allergrößten Erleichterung las er meinen Namen vor. Ich hatte auch bisher nur eine Frau als Lehrerin, aber Professor Pichler war mir von Anfang an sehr sympathisch. Er hatte eine recht hohe Stimme und einen lustigen Schnauzbart. Und er war unglaublich nett zu uns allen. Ich glaube, in den folgenden Jahren hatte ich kein einziges Problem mit ihm, ich mochte ihn sehr und hatte mich immer bemüht, alle Hausaufgaben korrekt zu machen. Zumindest in Mathematik. Als Professor Pichler die Namen aller Schüler vorlas, wurden wir gebeten, uns die jeweiligen Schüler anzusehen, die beim Aufrufen ihrer Namen die Anwesenheit bestätigten. Wir sollten auf diese Weise die Namen unserer neuen Klassenkameraden kennenlernen. Jeder hatte einen kleinen Pappkarton vor sich, den wir zu Stehkärtchen formten und unsere Namen darauf schrieben.
Ich sah also, wie man uns gebeten hatte, jeden an, der sich meldete. So viele neue Gesichter. Dicke, dünne, lustig aussehende, schräg aussehende, und dann plötzlich etwas, was für mich neu in meinem Leben war. Bumm, zack, direkt ins Herz. Ein Engel. Ein unfassbar süßer, schöner, wundervoller Engel. Innerhalb einer Sekunde war ich verliebt. Zum ersten Mal. Ich kannte das nicht. Ich hatte wohl keine wahrnehmbare Atmung mehr, war gleichzeitig hyperventilierend und begann wie verrückt zu schwitzen. Mein Blut pulsierte kochend durch die Adern, mein Kopf summte und vibrierte vor Aufregung und zugleich war mir richtig schlecht aufgrund all dieser körperlichen und psychischen Reaktionen.
Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, was Buben und Mädchen miteinander „Schlimmes“ anstellen können, aber von dieser Sekunde an war mir klar, was Liebe auf den ersten Blick ist. Und was es bedeutet, mit dem einen und einzigartigsten Menschen sein Leben verbringen zu wollen. Mit zehn Jahren. Nach einer Sekunde Blickkontakt. Mein Engel hatte den wunderschönsten Namen des Universums, Lea. Zumindest von jetzt an war es der schönste Name. Sie war so unendlich süß. Blonde Haare, ein freches Grinsen, blaue Augen, offensichtlich auch Sportlerin und so schön, dass kein Disney-Film mit seinen Prinzessinnen mithalten konnte. Von nun an wollte ich nur noch in der Schule sein. Das nach Hause gehen bereitete mir einen fürchterlichen Abschiedsschmerz und ich konnte es kaum erwarten, am nächsten Tag wieder in der Klasse zu sein. Wann immer Lea krank war, war mein Herz gebrochen und der Tag ruiniert.
Bereits kurz nach dem Kennenlernen am ersten Schultag überreichte mir eine Freundin von Lea in deren „Auftrag“ einen Liebesbrief mit den poetischen Worten: „Zunge zeigen tut man nicht, und das heißt ich liebe Dich“. Diese Worte waren für mich mit meinen zehn Jahren Goethe und Shakespeare, verwirrten mich aber auch. Ich wusste nicht, ob dies nun eine Aufforderung sein soll, Lea die Zunge zu zeigen, um ihr damit zu signalisieren, dass ich auch in sie verliebt bin, oder war genau das Gegenteil gefragt, denn es hieß ja „tut man nicht“. Dieses bösartige Rätsel beschäftigte mich den ganzen Schultag bis zum Verlassen der Schule. In der Garderobe, wo wir alle brav unsere Schulsandalen gegen die Straßenschuhe zurücktauschten, traute ich mich dann, ihr in ebenso Shakespeare-artiger Poesie meine Liebe zu gestehen. Aus meinem Hals kratze sich ein verlegenes „ich Dich auch“ mit ungefähr null Komma null null zwei Sekunden Blickkontakt, was sich dennoch wie eine Ewigkeit anfühlte.
Und das war es. Meine große Liebe und es geschah all die darauffolgenden Jahre nichts mehr. Ich himmelte Lea an, ich vergötterte sie, aber ich traute mich in keiner Weise, dem Mädchen meiner Träume näher zu kommen. Maximal in kindischen Rangeleien, um sie berühren zu können, um dann davon die ganze Nacht zu träumen. Denn ich war ein Spätzünder und hatte keine Ahnung von Sex, auch in den darauffolgenden zwei Jahren nicht. Dennoch, damals glaubte ich noch an Gott, und jede Nacht betete ich dafür, Lea später heiraten zu dürfen. Da ich mir mit der ganzen Gottes-Kiste aber nicht so hundertprozentig sicher war, nutzte ich auch andere Gelegenheiten: Sternschnuppen, zerbrochene Spiegel, die Uhrzeit elf Uhr elf, Autokennzeichen mit gleichen Zahlen und Ähnlichem. Ich ließ wirklich keine Gelegenheit aus, meinen sehnlichsten Wunsch an das Universum zu richten.
Aus heutiger Sicht bin ich mir nach wie vor nicht sicher, ob das Ganze pathologisch war oder einfach wirklich nur eine dieser wenigen Fälle, wo man von unsterblicher Liebe sprechen kann. Auch in den folgenden Jahren handelten meine Träume von diesem Mädchen, stets jugendfrei, aber schon mit den Actionszenen meiner Lieblingsserien gespickt. Ich sprang für Lea aus fahrenden Autos, aus Zügen, aus Flugzeugen, ich ließ mich für sie erschießen, köpfen und ertränken. Ja, ich weiß, das alles klingt nicht besonders gesund, aber jede Nacht war für mich eine einzige Heldensaga, in der der Held die Prinzessin rettet und im Notfall auch sein Leben für sie gibt. Man kann den Grad dieser unschuldigen Liebe nicht anders beschreiben, es war so pur und echt, wie Liebe nur sein kann. Die Schmuddelhefte meiner Freunde waren für mich zu diesem Zeitpunkt noch abstoßend. Das waren für mich alles ekelhafte alte Frauen, meine Lea war eben ein Engel. Was ich noch nicht wusste, wie sich das Leben mit einem Schlag ändern kann. Ich hatte so eine unbelastete Kindheit, alles schien perfekt. Lea machte mein Leben perfekt, obwohl nie etwas zwischen uns passierte.
Nun bin ich in Belize gelandet und sitze am Strand. Meine gemietete Unterkunft für die nächsten zehn Tage ist keine fünf Meter vom Meer entfernt. Trotz all meiner Reisen habe ich so eine Art von Urlaub direkt am Strand und ohne andere Menschen noch nie erlebt. Die folgenden Tage werden zeigen, ob ich mein Leben endgültig und im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt habe. Oder ob das Stück Korallenfelsen mit Mangroven es wert ist, alles in Österreich aufgegeben zu haben.
Das Ankommen am Flughafen in Belize City war bereits aufregend. Bis vor wenigen Jahren hatte ich noch eine ziemlich ausgeprägte Flugangst und wäre auch nie in einem karibischen Staat in ein Mietauto gestiegen. Seit meinen Suizidversuchen hat sich das alles geändert. Ich habe vor nichts mehr Angst, auch nicht vor dem Sterben. War der Tod doch lange mein sehnlichster Wunsch, um keine Schmerzen mehr fühlen zu müssen. Diese Gelassenheit gegenüber dem Tod macht das Leben wesentlich entspannter. Vor allem lebt man anders, wenn nicht alles darauf ausgerichtet ist, möglichst alt zu werden und jedes Risiko so lange abzuwägen, bis man sich nicht mal mehr über die Bettkante traut. Wie ich in einer echten lebensbedrohlichen Situation reagieren würde, weiß ich natürlich nicht.
Dieses Planen und Risikoberechnen hat mich in so vielen Dingen gebremst. Ein gutes Beispiel dafür sind meine früheren Urlaube. Bereits zu Beginn des Urlaubs war ich bereits geistig etwas gestresst in der Planung des Abreisetages. Aber nicht nur der Abreisetag selbst beschäftigte mich vom Tag der Anreise an, sogar der Tag vor der Abreise war in meinen Gedanken präsent. Um am Abreisetag selbst, alles perfekt organisiert zu haben. Was für ein verkrampftes Leben. Gleichzeitig habe ich mich aber für Abenteuer begeistert, war leidenschaftlicher Hobby-Rennfahrer und ebenso gerne bin ich mit meinem Surfbrett bei Sturm über den Neusiedlersee oder den Atlantik vor Fuerteventura gefetzt.
Beim Aussteigen aus dem Flugzeug in Belize City war ich erstmals nicht in der Erwartung, von meinem Reisebüro den sämtlichen weiteren Ablauf in den Popo geschoben zu bekommen. Ich habe mich selbst um alles gekümmert und entgegen meiner Gewohnheit nicht alles bis ins letzte Detail geplant. Alles, was von mir vorbereitet wurde, sind Mietauto und Unterkunft. Dank meiner Facebook-Recherchen war ich mir sicher, für den Rest gewappnet zu sein. Und so war alles vom Ablauf her dennoch oder gerade deswegen überraschend unaufgeregt. Ich wusste, was ich bei der Grenze für Dokumente ausfüllen müsste. Selbst die Information, eigene Kugelschreiber mitzunehmen, hatte ich. Und ich besaß alle Informationen, wie das mit der Autovermietung ablaufen würde. Also eigentlich doch wieder ziemlich viel geplant.
Worauf man sich im Internet und auf Facebook jedoch unmöglich vorbereiten kann, sind jene Sinneseindrücke, die durch Lesen nicht zu erfassen sind und in jedem Teil der Erde anders auf uns einprasseln. Belize ist, wie erwähnt, zudem keine Insel, sondern liegt am Festland. Und vieles ist anders, als ich es von meinen abgeschotteten All Inclusive Urlauben in der Karibik in Erinnerung habe. Die intensiven Gerüche bereits nach dem Aussteigen zum Beispiel. Die Luftfeuchtigkeit ist viel höher als in Kuba oder der Dominikanischen Republik. Alles riecht hundertmal intensiver. Die Erde, die Pflanzen, der gerade abgeklungene Tropenschauer, selbst die Autoabgase scheinen hier eine andere Note zu haben. Wobei eine heimische olfaktorische Erinnerung nicht abzustreiten ist. Das Tropenhaus im Tiergarten Schönbrunn. Dort riecht es faszinierender Weise genauso, wie hier. Vermutlich weil in dem Tropenhaus auch eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit simuliert wird und die gleichen Pflanzen zu finden sind.
Aber auch die akustischen Eindrücke faszinieren mich. Ich bin zum ersten Mal in einem englischsprachigen karibischen Land. Bisher war ich nur im nördlichen Teil der Karibik und ausschließlich in Ländern, wo Spanisch gesprochen wurde. Nun bin ich zum ersten Mal in Mittelamerika. Mittelamerika. Das ist doch dort, wo die Drogenkartelle sind, wo das Kokain über die Straßen weht und Konflikte herrschen? Kindheitseindrücke von TV-Reportagen kommen immer wieder hoch, ganz besonders jene, wie ich als wirklich kleiner Knirps mit meinen Großeltern die Bildungssendung „Panoptikum“ auf ihrem damals brandneuen Farbfernseher gesehen habe. Sehr eingeprägt hatte sich bei mir ein Bericht, wo für meine Großeltern unvorhergesehener Weise - damals gab es noch keine Warnhinweise - gezeigt wurde, wie Paramilitärs in Nicaragua einen gefesselten Zivilisten von hinten mit einem Kopfschuss töten. Dieses Bild habe ich jahrelang nicht mehr aus meinem Kopf bekommen und habe es heute noch vor mir. Das war für mich Mittelamerika. Doch inzwischen sind vierzig Jahre vergangen und Belize ist eben ganz anders. Und bis vor wenigen Monaten wusste ich ja nicht einmal, wo Belize liegt.
Zurück zu den akustischen Eindrücken. Die Sprache ist Englisch und in meinen Recherchen im Internet habe ich somit auch alles auf Englisch gelesen. Im Kopf „hört“ man die geschriebene Sprache so, wie man sie gewohnt ist, oder wie man sie selbst ausspricht. Mein Englisch ist sehr von dem europäischen Pharmakonzern geprägt, für den ich seit siebzehn Jahren arbeite. Daher ist das Englisch in meinem Sprachzentrum hauptsächlich mein eigenes Englisch. Gleichzeitig ist es durch meine spanischen, italienischen und französischen Kollegen geprägt. Und dann klingt alles auf einmal ganz anders, als man es gewohnt ist. Denn Englisch ist zwar die Amtssprache, in Wirklichkeit sprechen die Belizianer aber Kreol. Und das versteht man zuerst mal überhaupt nicht mit seinem europäischen Lehrbuch-Englisch.
Bereits bei den ersten Wortwechseln mit der Einwanderungsbehörde am Flughafen, wo es ja noch gar nicht um meine Übersiedlung, sondern nur um eine Art Urlaub für elf Tage ging, kam ich ganz schön ins Schwitzen. Es war mir fast unmöglich, zu verstehen, was man mich fragen oder mir mitteilen wollte. Zu allem Überfluss hatte ich auch Probleme mit dem Druckausgleich bei der Landung und eines meiner Ohren war komplett zu. Aber ganz abgesehen von der einseitigen Schwerhörigkeit bis Taubheit, dieses Kreol klingt auch ein bisschen aggressiv. Es erinnert mich ein wenig an die jungen Verkäufer mit Wurzeln aus dem Nahen Osten, die auf dem Wiener Naschmarkt ihre Waren anbieten. Im ersten Moment weißt du nicht, ob sie dir ein Brot verkaufen wollen, oder gerade gedroht haben, dich windelweich zu prügeln.
Sprachmelodien sind je nach Kultur und Herkunft eben sehr unterschiedlich und wenn man etwas nicht gewöhnt ist, kann es sehr schnell bedrohlich klingen, sofern man sich keinen offenen Geist bewahrt hat. Und mein Geist ist so offen, wie noch nie in meinem Leben. Ich will alles neu lernen, neu entdecken und mich selbst vielleicht zum ersten Mal in zweiundvierzig Jahren richtig kennenlernen. Oder den letzten Suizidversuch erfolgreich durchziehen, wenn mein Vorhaben nicht funktioniert, alles weg ist und meine Depressionen ihren letzten Siegesmarsch einläuten. Auch das ist immer noch im Hinterkopf.
Wobei ich vorher meine Wohnung erfolgreich verkaufen müsste, um die Schulden bei meinem Freund Bonelli abzuzahlen, der mir den Inselkauf vorgestreckt hat. Aber ich habe ja meine Medikamente. Beruhigungsmittel, Mittel zum Schlafen, Mittel zum Aufwachen, Mittel zum Durchhalten, Mittel für den Antrieb. Was für ein schäbiges erbärmliches Leben. Aktuell bin ich interessanterweise positiver gestimmt als schon sehr viele Jahre nicht mehr, und so begegne ich den ersten Kommunikationsschwierigkeiten mit jeder Menge Humor.
Eines darf ich jetzt schon feststellen. Wenn Belizianer offensichtlich eines gut können, dann ist es laut und herzhaft lachen. Neben all dem Dauergrinsen, das man überall auf den Straßen sieht. Jeder scheint ständig gut drauf zu sein. Das Entgegennehmen des Mietautos war bereits mein erstes Erlebnis mit der karibischen Gemütlichkeit. Es war fast vorbereitet. Eine Stunde später war es dann wirklich einsatzbereit. In der Zwischenzeit hatte ich meinen Vorsatz umgesetzt, vor nichts und niemandem Angst zu haben. Ich wusste von meiner Recherche, dass Belize weltweit zu den Staaten mit der höchsten Mordrate gehört. Aber ich hatte mich auch mit den Details beschäftigt, und während der südliche Teil des Landes sehr friedlich ist, geschehen die meisten Morde in Belize City und weiter nördlich. In Belize City bin ich nun und noch immer am Leben. Denn der Teufel steckt im Detail, auch wenn man sich Mordraten ansieht. Die meisten Morde geschehen im Drogen- und Dealer Milieu, während Touristen so gut wie nie Mordopfer sind. Außerdem war es heller Tag und die meisten Verbrechen finden nachts statt.
Also hielt mich nichts davon ab, Johnny Cool heraushängen zu lassen, und so zu tun, als ob ich das schon tausendmal zuvor gemacht hätte. Einfach ein bisschen an der Straße entlang gehen und nach Essen suchen. Am Flughafen gleich um die Ecke war auch bereits ein kleiner Stand. Wie ich später gesehen habe, auch der einzige Stand in dreißig Minuten Gehreichweite. Im Flughafengebäude selbst hätte es auch ein Restaurant gegeben, aber ich wollte ganz bewusst etwas von der Straße, von den Einheimischen, vom echten Belize. Es konnte nicht dreckig und heruntergekommen genug sein, um meine Eignung für das zukünftige Leben zu testen. Und der Stand enttäuschte nicht. Er war nicht viel mehr als ein wackeliger Holztisch am staubigen Straßenrand und das Dach eine flatternde Plane. Neben mir ausgehungerte Hunde, die traurig nach Essen suchten und wann immer ein Auto vorbeifuhr, blies einem der Wind den Sand in die Augen. Dennoch, die Ausrüstung des Essens-Standes erfüllte seinen Zweck und die Regeln und Vorschriften der Europäischen Union in Bezug auf Lebensmittelsicherheit schienen so weit entfernt zu sein, wie der nächste McDonalds mit seinen Bestell-Touch-Screens. Die Sonne war brütend heiß, was sich zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit wie eine unbarmherzige Sauna anfühlte und den Schweiß auf der Haut in eine Treibsandmischung verwandelte.
An der Verkaufstheke des kleinen Essenstandes war genügend Platz für drei belizianische Spezialitäten. Rice and Beans, also Reis und Bohnen, stew beef und stew chicken, übersetzt gedünstetes Rindfleisch und gedünstetes Hühnchen. Ich entschied mich für alle drei Gerichte, denn ich war enorm hungrig. Und die Portionen in Belize sind offensichtlich nicht besonders groß. Außer den Rice and Beans. Daher war es eine gute Entscheid-ung, gleich alles zu bestellen. Das Essen schmeckte hervorragend, ich war satt und für die mit Zecken und Flöhen übersäten Hunde gab es dann als Belohnung für ihre süßen Blicke ein paar Rinderknochen.
Nach Entgegennahme meines Mietwagens saß ich wider Erwarten in einem nigelnagelneuen Auto mit gerade mal fünfhundert Meilen am Tacho. Ja, Meilen. Das wird mich wohl noch sehr viel beschäftigen, da das imperiale Mess-System so enorm anders ist, als unser metrisches System. Erneut musste ich über mich selbst schmunzeln, denn obwohl ich das Planen ablegen wollte, bereitete ich bereits die GoPro-Kamera für die Windschutzscheibe vor. Ich wusste, sobald ich die Hauptstadt Belmopan erreichen würde, müsste ich unbedingt die Fahrt auf der Freilandstraße „Hummingbird-Highway“ filmen. Sie sollte absolut einzigartig durch tropenbewachsene Berge und Hügel führen. So ging die Fahrt ins Ungewisse. Oder wie ich annahm, ins Gewisse. Ich fuhr nun tatsächlich mit einem Mietwagen dreieinhalb Stunden durch ein mittelamerikanisches Land. Durch verschlafene Orte, vorbei an verfallenen Blech-hütten, an ausgetrockneten Bäumen und saftig grünen tropischen Palmen. Ich passierte alle paar Meilen kleine zuckersüße Kinder, die mir selbstgepresste Säfte in Plastiktüten oder Früchte vom Straßenrand verkaufen wollten, sah Schilder, die vor dem Überfahren von Tapiren und Jaguaren warnten und befand mich in einer Umgebung, die ich wirklich nur aus Dokumentationen kannte. Ich war nun wirklich hier.
Und was man weder in Bildern, Videos und auch nur sehr schwer in Schriftform wiedergeben kann, sind die atemberaubenden Eindrücke auf dem Hummingbird Highway. Die erste Stunde Fahrt davor war eher staubig und holprig. Und wie ich bereits gewusst hatte, musste ich entweder im Slalom den unzähligen Schlaglöchern ausweichen oder meinen Kopf gegen die Kopflehne pressen, wenn man vor den oftmals nicht markierten Bremsschwellen, den sogenannten „Speed Bumps“ eine Notbremsung vom Feinsten machen muss. Ansonsten würde man den Unterboden samt Kronjuwelen auf den teilweise zwanzig Zentimeter hohen Bremsschwellen als Souvenir zurückzulassen.
Nach einer Stunde Fahrt gelangt man dann von Belize City aus in die Hauptstadt Belmopan. Mit seinen 23.000 Einwohnern hat Belmopan eine deutlich geringere Einwohnerzahl als Belize City, wo 63.000 Menschen leben. Belize City liegt an der Küste und war bis zum Jahr 1970 die Hauptstadt von Belize, beziehungsweise seinem Vorgänger-staat British Honduras. Allerdings wurde Belize City im Jahr 1961 durch den katastrophalen Hurrikan „Hattie“ fast vollständig zerstört und die Regierung auf lange Zeit handlungsunfähig gemacht. Dement-sprechend entschloss man sich im Jahr 1970 die Hauptstadt in das Landesinnere zu verlegen, wo sie durch Berge und die Distanz zur Küste relativ gut geschützt ist. Im Jahr 1980 hatte Belmopan, welches als Kunstwort aus Belize und dem Mopan-Fluss kreiert wurde, nur knapp 3.000 Einwohner. Inzwischen wächst die Stadt immer mehr, wenn-gleich man sie nicht mit unseren Städten vergleichen kann. Es gibt nach wie vor keine Ampeln und Staus kennt man hier nicht. Ebenso wenig gibt es Geschwindigkeitskontrollen, weder Radarboxen noch Polizisten mit mobilen Laser-Geschwindigkeitsmessgeräten. Die Höchstgeschwindigkeit außerhalb von Ortschaften beträgt fünfundfünfzig Meilen oder neunzig Kilometer pro Stunde. Autobahnen, wie wir sie in Europa kennen, gibt es nicht. Was auch nicht notwendig zu sein scheint, bei den paar Fahrzeugen, die hier unterwegs sind. In Belmopan montierte ich dann meine GoPro an die Windschutzscheibe des Mietwagens und bereits nach zwei Minuten hatte ich die Hauptstadt schon wieder verlassen. Man muss sich das vorstellen. Die Hauptstadt eines ganzen Landes durchquert man in zwei Minuten. Unfassbar.
Direkt nach der Stadtgrenze beginnt er, der berühmte Hummingbird Highway. Diese malerische Landstraße startet sanft mit Hügeln, und das Grün um einen herum wird mit jeder Minute dichter und intensiver. Bergauf, bergab, Kurven und egal ob man nach links, rechts oder nach oben blickt, überall dichtes sattes tropisches Grün von unendlich hohen Palmen und exotischen Bäumen. Sowie Brücken, die über tropische Flusslandschaften führen, die sofort an Indiana Jones erinnern. Die Palmenwälder sehen nicht wie an den Urlaubsstränden aus, sondern erinnern ebenfalls an die wildesten Abenteuerfilme und Dokumentationen, wo sich Menschen durch dicht bewachsenen Dschungel durchkämpfen müssen. Bewusst verzichtete ich auf die angenehme Kühlung der Klimaanlage und öffnete Fahrer- und Beifahrerfenster, um die Umgebung intensiver spüren zu können. Vogelgesang wie aus Tierfilmen, Gerüche, die ich selbst im Tropenhaus von Schönbrunn noch nicht wahrnehmen konnte, und ein Licht, das wie eine Mischung aus der tropischen Luftfeuchtigkeit von Gorillas im Nebel und der intensiven weißen Strahlung des Wüstenplaneten aus Star Wars erschien.
Nach einer knappen Stunde wurden die Hügel und Berge dann flacher und ich wusste, ich würde mich meinem Ziel, der Halbinsel von Placencia, nähern. Placencia Village liegt ganz am Ende im Süden der gleichnamigen Halbinsel Placencia. Bevor man Placencia Village erreicht, passiert man noch die beiden Orte Maya Beach und Seine Bight. Der Kontrast dieser drei Orte kann nicht stärker sein. Maya Beach ist ein sehr ruhiger Ort mit offensichtlich größerer Anzahl von Auswanderern aus den USA, abgeschotteten Häusern der Hauptstraße entlang und gepflegtem Erscheinungsbild.
Komplett im Gegensatz zu dem Ort Seine Bight mit seinen verfallenen Holzhütten und durchgerosteten Blechdächern, wohin das Auge reicht. Seine Bight ist etwas schwierig auszusprechen, wenn man den Namen nur liest. Am ehesten könnte man es auf deutsch wie „Sejn bait“ lautschriftlich beschreiben. Seine Bights Einwohner gehören hauptsächlich der Gruppe der Garifuna an, eine Volksgruppe mit Wurzeln der ehemaligen afrikanischen Sklaven in der Karibik aus der Kolonialzeit. Als ich durch Seine Bight langsam hindurch rollte, wirkte es wie ein anderer Planet im Vergleich zu Maya Beach. Das Leben in Seine Bight pulsiert, augenscheinlich teilweise auch sehr promillehaltig, aber nicht auf eine übermäßig ungute Weise. Auch in Seine Bight sind alle Hautfarben zu sehen, wenngleich der Anteil der Garifuna dominierend ist. Überall laute ungehemmte Musik und das Leben spielt sich an beiden Rändern der Hauptstraße ab. Der ganze Ort scheint durchgehend zu feiern.
Und dann war es so weit: ich kam in Placencia Village an. Wieder ein Kontrast zu allen Orten, die ich bisher gesehen hatte und es erschien mir wie die perfekte Mischung aus allem. Gäbe es Liebe auf den ersten Blick für einen Ort, dann durfte ich dies nun erlebt haben. Es zeigte sich eine bunte Mischung aus allem. Sowohl baulich wie auch ethnisch. Auf den ersten Blick sieht man Belize so, wie es in den Reiseführern beschrieben wird. Kulturen aus allen Erdteilen. Dunkelhäutige Menschen, hellhäutige, ein paar Mennoniten, welche eine Glaubensgruppe aus Europa mit deutschen Wurzeln darstellen, Asiaten, lateinamerikanische Gesichtszüge, die alle Breitengrade von Südamerika widerspiegeln und auch wieder Personen, die eindeutig wie US-amerikanische Auswanderer aussehen.
Die Gebäude erscheinen in ähnlich bunter Mischung. Noblere Häuser aus Beton mit Dachziegeln, Holzhütten mit Blechdach, richtige Fenster, ausgeschnittene Wände als Fenster, Dächer aus Palmen, gepflegte Gärten und Wildwuchs. Und alles zusammen sieht total schnuckelig und zum Liebhaben aus. Die Suche nach meiner Unterkunft, die ich via Airbnb gebucht hatte, stellte sich schwieriger heraus, als gedacht. Es gab keine Schilder und so folgte ich zu Fuß den Kartenanweisungen meines iPhones. Auch diesbezüglich hatte ich meine Planungskrankheit noch nicht ganz abgelegt und in Österreich alle Karten offline auf mein Handy geladen. Es war klar, in Belize vorerst keinen Internetzugang zu haben. Als ich dann endlich meine Unterkunft gefunden hatte, war ich völlig entzückt über die kleine Hütte direkt am Strand. Eine Hütte direkt am Strand, mit Klimaanlage und Kochnische, nur für mich allein. Was war ich nur für ein Esel all die Jahre, noch nie so einen Urlaub gemacht zu haben. Für 60 US-Dollar pro Nacht. Unfassbar.
Tja, und da bin ich nun. Und ganz plötzlich habe ich keine Lust mehr, eine Schlaftablette zu nehmen. Gleich nach meiner Ankunft in der kleinen Hütte am Strand sitze ich nun stundenlang am Meer und beobachte die Natur aus einem Blickwinkel, den ich in meinen Urlauben verabsäumt habe. Klar bewunderte ich stets das Meer und die Tropen, aber nun ist es anders, da es mein zukünftiges Zuhause werden sollte. Kurz nach meiner Ankunft rollte auch gleich ein imposanter tropischer Regenschauer über das Meer und zieht nun über mich hinweg. Ich bewundere die Palmen. Fest verankert in scheinbar lockerem Sand drehen und wenden sich die großen biegsamen Äste der Palmen und ihre gefächerten Blätter. Während die Baumwurzel allem zu widerstehen scheint, kann man eine sanfte Biegung des Stammes wahrnehmen, die dem Druck des Sturmes ein wenig die Kraft nimmt. Und je weiter man nach oben blickt, umso flexibler und wendiger werden die dünneren Teile dieser imposanten Pflanzen.
Als ich so darüber nachdenke, erinnert es mich an meine Situation. Die Kokosnuss, die irgendwann nach Erreichen Ihrer Reife vom Baum gefallen ist. Sie wurde eventuell hunderte oder tausende Kilometer über das Meer gespült. Bis sie hier an diesem Strand liegenblieb. Das Wasser in der Kokosnuss, das Menschen so gerne trinken, musste noch ausreichend vorhanden sein, um der wachsenden Pflanze Nährstoffe zu bieten. Denn erst viele Monate später, wenn die ersten Blätter ihre Aufgabe erfüllen können, Regenwasser in das Innere der Kokosnuss zu leiten und ausreichend Wurzeln auszubilden, kann die Pflanze sich optimal durch ihre Umwelt versorgen. Am Anfang noch fragil und leicht zu beschädigen, wegzutreten oder einfach davon zu spülen. Aber mit jedem Tag, jeder Woche und jedem Monat wird die Kokosnuss immer fester verwurzelt sein und dann mit der Flexibilität ihres Aufbaus den stärksten Wirbelstürmen standhalten. Wie sehr mich das doch an mich erinnerte, in mehrfacher Hinsicht. Auch ich musste reifen, auch ich musste mich von dem Stamm lösen, um nicht zu vertrocknen. Auch ich wurde hier angespült, auch ich muss es schaffen, rechtzeitig einen sicheren Strandabschnitt zu finden, bevor die Energiespiegel meines Antriebs aufgebraucht sein werden. Auch ich muss hier meine Wurzeln bilden und einen festen Stand finden, damit man mich nicht mehr wegtreten kann. Und gleichzeitig in dieser neuen Umgebung so flexibel und wendig wie möglich bleiben.
Allein, dass ich mir jetzt diese Gedanken machen kann, zeigt mir, wie sehr ich in der bisherigen Welt der Probleme und Heraus-forderungen gefangen war. Mein Geist scheint plötzlich viel freier zu sein und ich spüre die unermesslich positive Energie in mir, die ich früher einmal hatte. Ob das ein gutes Omen für meine Zukunft ist? Auf jeden Fall fühle ich mich sauwohl und völlig unbelastet. Und es ist mir egal, ob ich müde werde, oder nicht, ganz anders als die letzten Jahre, wo ich nach dem überstandenen Tag nicht darauf warten konnte, schlafen zu gehen und nichts mehr spüren zu müssen. Auf einmal will ich alles spüren. Und leben.
Morgen treffe ich mich mit Fred, einem Auswanderer, der auf einer klitzekleinen Insel namens „Bird Island“ eine sensationelle Vermietung aufgezogen hat und die nächsten drei Jahre jeden Tag ausgebucht ist. Er wird mich mit seinem Boot zu meiner Insel bringen. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was ich da gekauft habe. Die Insel ist eine der größten hier im Süden des Landes und wird oftmals nur die „Range“ genannt. Eigentlich heißt sie Lark Caye, aber aufgrund ihrer Größe nennt man sie auch Lark Caye Range. In der Mitte von Lark Caye gibt es eine Lagune, auch wenn ich mir darunter noch gar nichts vorstellen kann.
Bei dem Wort Lagune in Verbindung mit der Karibik konnte ich bisher nicht anders, als mir Brooke Shields und Milla Jovovic halbnackt räkelnd in wundervoll blauen Gewässern vorzustellen. Diese Lagune dürfte anders sein, da sie entsprechend meinen Informationen innerhalb eines Mangrovenwaldes liegt. Auch unter Mangroven kann ich mir noch nicht viel vorstellen. Bäume mit vielen Wurzeln halb im Wasser. So oder so ähnlich wird es wohl aussehen. Von Milla und Brooke wird wohl nicht viel zu sehen sein. Generell weiß ich überhaupt nicht, was mich erwartet.
Was angeblich sehr schön ist, sollen die Korallen direkt vor meinem Grundstück sein. Ich habe erst einmal echte Korallen in Kuba gesehen. Damals habe ich mit meinen Kindern einen Schnorchelausflug gebucht. Wir waren in einer Gruppe von zirka einhundert Personen, die wie in einer langen Schlange durch das Wasser geschnorchelt sind. Inzwischen gehört mir ein Grundstück mit einem Korallenriff direkt davor, irgendwie unvorstellbar. Ich weiß auch nicht, wie viele Korallen dort sind, wird es schwer sein, sie zu finden? Kann man dort überhaupt hinschwimmen? Ich bin schon so gespannt. Fred kennt sich hier bereits sehr gut aus, er sollte mir das alles zeigen können. Hoffe ich zumindest. Auf Facebook habe ich ein paar Fotos von Fred gesehen. Er erinnert mich an mein Idol William Shatner, also Captain Kirk aus der Original Serie Raumschiff Enterprise. Allerdings ebenfalls bereits in seinen fortgeschrittenen Jahren. Was für ein Abenteuer, das da morgen auf mich wartet.
Typisches belizianisches Verkehrszeichen
Sonnenaufgang in Placencia
Ich war nun in der dritten Klasse des Realgymnasiums und dreizehn Jahre alt. Nach wie vor betete ich meinen Engel Lea an. Nach wie vor hatte ich keinen blassen Schimmer von Sex oder Ähnlichem. Gleichzeitig verschlechterten sich meine Noten, da mir wesentlich mehr an meinen sportlichen Freizeitaktivitäten lag als an der Schule. Nach und nach bekam ich das Gefühl, in mehreren Fächern komplett den Anschluss zu verlieren. Ich hatte selbst nach sechs Monaten keinen blassen Dunst von Latein und meine Hausaufgaben erledigte ich ausschließlich zehn Minuten vor Schulbeginn, indem ich von meinem besten Freund abschrieb. Dass das nicht mehr lange gut gehen konnte, war mir klar, aber ich war so ahnungslos vom aktuellen Lernstand, dass ich gar nicht wusste, wie ich das aufholen könnte.
Noch immer träumte ich jede Nacht von Lea und wünschte mir so sehr, sie später heiraten zu dürfen. Und wie meine Großeltern ein ganzes Leben zusammen zu bleiben. Noch immer war da nicht mehr als dieser eine Liebesbrief aus der ersten Klasse und meine verstohlene Antwort „ich Dich auch“. Das müsste reichen, um darauf zu warten, dass wir uns irgendwann näherkämen. An andere Buben, die mir meine Lea „wegnehmen“ könnten, dachte ich nicht. Aber ich bekam zunehmend Angst, den Schulanforderungen nicht gewachsen zu sein und die dritte Klasse wiederholen zu müssen. Was bedeutet hätte, meine Lea zu verlieren.
Ebenso wurden in meinem Zuhause Spannungen zwischen meinen Eltern immer spürbarer. Es gab zunehmend lautstarke Streitigkeiten, der Grund war mir aber nicht bekannt. Was mir schon auffiel, war im Gegensatz zu anderen Vätern, dass mein Vater nicht sehr oft zu Hause war. Soweit ich es verstand, hatte er mehrere Berufe gleichzeitig. Ich dachte mir damals dennoch, wenn ich einmal Kinder haben würde, dann sollte meine Frau möglichst keinen Finger rühren müssen. Ich würde sie auf Händen tragen und würde jede Sekunde mit ihr und meinen Kindern verbringen.
Sorgen um unsere Familie machte ich mir nicht, denn meine Eltern waren ja verheiratet. Ich hatte gerade erst ein kleines Brüderchen bekommen, das nun zwei Jahre alt war und das ich über alles liebte. Dennoch war irgendwas komisch, es lag zunehmend eine unerklärbare Hektik in unserem Zuhause in der Luft und meine Mutter war sichtlich gezeichnet. Fremde Menschen besichtigten unser Haus. Teilweise sah es so aus, als ob sie es kaufen wollten, andere wiederum wollten Dinge mitnehmen, die uns gehörten. Meine Eltern diskutierten mit ihnen, wie dies zu verhindern sei. Ich war so unendlich naiv, so unwissend und gleichzeitig hatte ich tiefstes Vertrauen darin, wie meine Eltern mich informiert hätten, wenn wir ernsthafte Probleme hätten.