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"Wie hier der Himmel aufgerissen wird, schweigend und zerspleißend zugleich wie Seide, wenn die Vögel im Naturschutzgebiet des Rantumer Beckens ihn schneiden: das gibt es nur hier." Fritz J. Raddatz ist diesem Ort verfallen: Mein Sylt ist die Liebeserklärung des leidenschaftlichen Unruhestifters an seine Insel, die ihm ein sich ständig erneuerndes Wunder ist – ebenso theatralisch und rauschhaft wie einsam, verwunschen und giftig. Fritz J. Raddatz' Sylt beginnt genau fünf Gehminuten von Kampens Whiskymeile entfernt. Fernab des Luxusrummels flaniert er durch die Dünen, erinnert sich an Begegnungen mit Rudolf Augstein, Hubert Fichte oder Barkeeper Karlchen und führt mit Esprit und Eleganz durch die Geschichte seiner Insel, die ihn mit ihrer Mischung aus südlichem Glast und nördlichem Starrsinn in ihren Bann geschlagen hat.
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Seitenzahl: 72
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Fritz J. Raddatz
Mit Fotografienvon Karin Székessy
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2006 by mareverlag, Hamburg
Fotografien © 2006 by Karin Székessy
Umschlaggestaltung mareverlag, Hamburg
Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-358-3
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-936384-26-0
www.mare.de
Mein Sylt
Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?
Jedenfalls ist es ein eigenartiges Bild, die Möwen – exakt zu den wechselnden Gezeiten – bei Niedrigwasser an den muschelverklebten Buhnen hocken zu sehen, eine weißgefiederte Welle, die sich im Rhythmus der Wogen hebt und senkt, von der Tafel aber nicht abläßt.
Jedenfalls ist es ein eigenartiges Spiel, das die Quallen mit ihren rosageränderten «Lippen» bieten, fließend aufeinander zu und voneinander weg; tanzen sie ihren Wogen-Tango aus Wollust? Jedenfalls ist es von erstaunlicher Gemütlichkeit, wenn die September-Igel – wie verabredet – gegen Abend gemeinsam aus ihren Verstecken hervortrippeln und, sich ihrer Stachelwehr bewußt, Pfade und Wege überqueren.
Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder: ob die zartlila Dünenveilchen – winzige Bieder-meier-Stiefmütterchen – im vom Sonnenglast ausgedorrten Sand, der bunte Schatten, den die im rasenden Frühjahrswind grün-gelb-orange-farbenen Splitterscherben von gegeneinander scheppernden Ostereierbäumen werfen, oder der bleiche Finger des Leuchtturmfeuers, der durch den Novembernebel streift, als wolle er die Dünengespenster herbeistreicheln. Manchmal, in den Sommernächten, gibt ein schweigendes Meer weit draußen Sandrippen frei, der Wind schält Fetzen von der Haut des Meeres, und die winzigen Vögel, die Strandläufer in ihrer possierlichen Emsigkeit, bilden ein flatterndes Hohlsaummuster; manchmal hängen die Regentropfen wie Glasperlen im windgeschützten Dünengras, und dann wieder rinnt der Tau an den roten Hagebutten im Zwergenwald mit seinen kleinen kandierten Äpfeln wie flüssiger Zucker herab. Das Meer erzählt seine Märchen, sie haben je einen anderen Klang, eine immer andere Farbe, wechselnd zu jeder Jahreszeit. Mal sieht man, bei Pulverschnee, muschelförmige weißgepuderte Fußabdrücke – die aber, als seien die Spaziergänger entschwebt, nirgendwohin weiterführen dort, wo kein Schnee hinwehte, in jenen hohen Himmel, an dem die Möwen kokett protzig blitzenden Lalique-Schmuck tragen: das sind die gefrorenen Seesternchen, in deren Eisschicht sich das Licht der fahlen Wintersonne bricht. Ja, die kalte Wintersonne; ihr rufen die weißgeplusterten Wogen zu: «Komm, kühle Scheibe, wir hüllen dich ein, unsere Steppdecke wird dich wärmen.» Die kühle Scheibe aber schneidet lieber ihre tiefschwarzen Schatten in die Dünen, dräuende Segel der Seeräuber, die wohl in der Nacht vor Heiligabend die Diamanten, Picasso-Lithos und das Sèvre-Porzellan rauben werden, die unter den Weihnachtsbäumen der Strandvillen liegen sollten. Die wärmende Steppdecke indes trug vor wenigen Jahren auch den wundervollen Schauspieler Ulrich Wildgruber hinfort; er, der mit seiner tapsigen Behendigkeit uns so viel Theatervergnügen bereitet hatte, wurde gefunden, Tage später, nach seinem letzten Bühnengang. Die Schatten in den Dünen waren zu Sonnenasche geworden. Diese ständig wechselnde Naturwelt ist das Raunen von Sylt, dem ich verfallen bin: Es kann dünn und kärglich sein im kaum sich hervorwagenden Vorfrühling, wenn über dem schlohweißen Strandhafer – kein Bleicke Bleicken kann so blond sein – die ersten hellgelbgrünen Weidenkätzchen nach der Sonne lecken und die nachgepflanzten Bäumchen mit ihren drei Kummertrieben sich in Plastikschatullen verstecken, der Kaninchen wegen. Sylt kann theatralisch sein, etwa ein schwarzes Paillettenkleid, leicht grünlich schillernd im abendlichen Mailicht, eine Abendrobenkrinoline, die sich im Spiegel des Wassers wiegt: die muschelbewachsenen Betonpfeiler der Buhnen. Und es kann rauschhaft sein, Sylt im Juni: eine ganze Insel duftet nach Rosen, die Lupinen – wohl außer Dahlien die einzige Blume, die an einem Blütenstand verschiedene Farben trägt – in ihrem Goldorange mit Lila, Rosa, Weiß, Gelb und Bordeauxrot fast künstlich prunkend, während Keitum (das Dorf, in dem sich einst Kapitäne zur Ruhe setzten, im 18. Jahrhundert Hauptort der Insel, die nur per Postsegler oder im Winter mit dem Eisboot zu erreichen war) im vielfarbenen Kissen aus blühenden Kastanien, Flieder, Rhododendron, Klatschmohn und Weißdorn ruht: ein Juwel in schimmerndem Blütensamt, darüber Wasserfälle von Goldregen. Doch Märchen, bekanntlich, können auch giftig sein. Hat man sich eben noch staunend erfreut an Pflanzen, deren Namen aus versunkener Zeit herüberzuklingen scheinen – Krähenbeere und Glockenheide, geflecktes Knabenkraut und Lungenenzian, Ährenlilie und Besenheide, Strandsalzmiere und Sonnentau, Bergsandglöckchen und Sumpfbärlapp –, kann man sich schon in der Hautklinik wiederfinden: Der so prachtvoll sein betörend duftendes Blütendach über sich wölbende Bärenklau ist so giftig, daß nur Feuerwehrleute in Spezialkleidung ihn roden können – einen Stiel mit der Hand gebrochen oder nur die scharfzackigen dekorativen Blätter gestreift, und schon erleidet man schwerste Hautverbrennungen. Da widersteht man alsbald der adoleszenten Begierde, die blonden Kornähren auf den spätsommerlichen Äckern zu Zöpfen zu flechten, steht lieber in gesicherter Entfernung, um die zotteligen Galloway-«Bären», mächtige schwarzgelockte Rinder, beim Weiden zu beobachten – oder ein Apfelschimmelfohlen, so niedlich-ungelenk vor dem schwarzweiß gestreiften Leuchtturm von Kampen, als habe die Kurverwaltung es eigens dort hingestellt. Im September dann, unter der schon müder werdenden Sonne, verändern sich die Wiesen zu Baumwollfeldern aus Mississippi – die hoch wogenden Disteln haben puschelige weiße Flocken angesetzt; wer Glück hat, kann kleine stämmige Pferde – welche Rasse mag das sein? – beobachten, die dazwischen in Pampuschen einherstapfen; sie haben an den Fesseln zottelig wehendes Fell.
«Sylt ist tausendmal schöner als Wangeroog», schreibt schon Siegfried Jacobsohn 1920 an Kurt Tucholsky, «und ebenso viel mal mehr Nordsee»; und nach einem Besuch Thomas Manns in seinem Haus in Kampen schreibt der Kritiker, der sommers seine «Weltbühne» von hier aus redigierte: «Tatsächlich hat ja Westeuropa zwischen Hammerfest und Gibraltar nicht ihresgleichen» über die Insel, der er «Sonne und Seligkeit» verdankt; schon die Anreise – damals noch per Schiff – versetzt den gewieften Berliner in eine Art Taumel: «Für die Überfahrt übers Wattenmeer geb ich das ganze Engadin hin und bin meines Handels froh. Ich bin so berauscht, daß ich keine drei Minuten fest auf dem Stuhl sitzen kann.»
Ob man seinerzeit am Hafen von Munkmarsch – jetzt bewacht von einem Luxusrestaurant – die Ankömmlinge schon mit jenem legendären, Neulinge nach wie vor verblüffenden «Moin, Moin» begrüßte, dessen Herkunft wie Bedeutung höchst umstritten ist? «Guten Morgen» heißt es nicht, auch wenn Besucher, denen des Landes Brauch fremd ist, sich über diesen Gruß, wenn am späten Abend dargeboten, baß verwundern. Die eine Erklärung sagt, die Redewendung käme von der Seefahrt her und bedeute «guten Wind», eine andere, es sei von dem dänischen Mojen abgeleitet; umstritten ist auch, ob die Wortkargheit der Nordfriesen es auf ein einmaliges «Moin» abgekürzt hat, weil diese gerne mit einem geringen Wortschatz, also auch mit einer Kürzestformel der Begrüßung auskommen und «schön» auf friesisch «moi» heißt – an der allzu weitschweifigen Doppelung erkenne man die Leute aus so fernen Ländern wie Schleswig-Holstein oder Hamburg. Indes wiederum meine Sylter Autowerkstatt mit einem aufgedruckten «Moin, Moin» auf der Visitenkarte wirbt. Wie auch immer.
Aber was mag es nun sein, was seit vielen Jahrzehnten – schon der neben Rosa Luxemburg Mitbegründer der Kommunistischen Partei, Franz Mehring, war Anfang des 20. Jahrhunderts viel, lange und gerne auf Sylt – ganz besonders zahlreich Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller auf diese Insel zog? Ist es jener Einsamkeitsmagnetismus, wie ihn Alfred Andersch schildert, der das Eiland mit den Felsen von Cap Finistère und den schweigenden Reihern der Camargue vergleicht? «Ich ziehe mich gern in Wildnisse zurück. Ich meine damit die Uferlinie des Wattenmeeres bei Kampen, sich zu den Dünen aufschwingend, hinter denen der Donner der Oktoberbrandung sich ankündigt.»
Gewiß, gewiß: Nun sind wir ja alle so förchterlich weltbiforne «Snobs» (wenngleich viele nicht wissen mögen, daß der Begriff sich von «sine nobilitate» herleitet) und wissen also, daß der Barkeeper des Rainbow-Room hoch oben im Rockefeller-Center von New York die besten Martinis mixt, wie wir für den Skiurlaub das Hotel Zürser Hof in Zürs wegen seiner Suiten mit eigenem Kamin empfehlen können; daß Saint Germain des Près so «out» ist wie St. Tropez oder Acapulco ist uns geläufig wie die Tatsache, daß das Eden Roc in Cap d’Antibes den größten Swimmingpool an der Côte d’Azur hat oder man auf Teneriffa das Gran Hotel Bahia del Duque wählen sollte, allein wegen der Auswahl zwischen vier verschiedenen Kopfkissensorten. Das Belle Mare Plage The Resort auf Mauritius muß nicht eigens erwähnt werden, jedermann weiß, daß die stets lächelnden Hotelboys – wenn schon nicht sich selber – zur Nacht Rosenblätter auf das Laken legen.