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ZEIT-Dialoge mit Jorge Amado • Oto Bihalji-Merin • Joseph Brodsky • É. M. Cioran • Nadine Gordimer • Stephan Hermlin • Stefan Heym • Pavel Kohout • Hans Sahl • Jorge Semprún • Alexander Solschenizyn • George Tabori • Michel Tournier • Mario Vargas Llosa Diese Dialoge sind keine probaten Interviews. Es sind vielmehr Streitgespräche zwischen gleichberechtigten Partnern – Partner, die sich gegenseitig Einrede, Widerspruch, Kritik am Standpunkt des anderen gestatten. Es sind stets streitbare Diskurse, die ein großes Thema variieren: Wie hat der Intellektuelle die Irrwege des 20. Jahrhunderts mit geprägt – oder haben sie ihn geprägt? Raddatz schwingt sich nie zum Tribun auf und macht aus dem Arbeitszimmer des jugoslawischen Kommunisten, des russischen Dissidenten, des brasilianischen Marxisten keinen Gerichtshof, er weiß es nicht besser, er will es besser wissen.
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Seitenzahl: 251
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Fritz J. Raddatz
ZEIT-Dialoge
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ZEIT-Dialoge mit
Jorge Amado • Oto Bihalji-Merin • Joseph Brodsky • É. M. Cioran • Nadine Gordimer • Stephan Hermlin • Stefan Heym • Pavel Kohout • Hans Sahl • Jorge Semprún • Alexander Solschenizyn • George Tabori • Michel Tournier • Mario Vargas Llosa
Diese Dialoge sind keine probaten Interviews. Es sind vielmehr Streitgespräche zwischen gleichberechtigten Partnern – Partner, die sich gegenseitig Einrede, Widerspruch, Kritik am Standpunkt des anderen gestatten. Es sind stets streitbare Diskurse, die ein großes Thema variieren: Wie hat der Intellektuelle die Irrwege des 20. Jahrhunderts mit geprägt – oder haben sie ihn geprägt?
Raddatz schwingt sich nie zum Tribun auf und macht aus dem Arbeitszimmer des jugoslawischen Kommunisten, des russischen Dissidenten, des brasilianischen Marxisten keinen Gerichtshof, er weiß es nicht besser, er will es besser wissen.
Fritz J. Raddatz war der widersprüchlichste deutsche Intellektuelle seiner Generation: eigensinnig, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Geboren 1931 in Berlin, von 1960 bis 1969 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlages. Von 1977 bis 1985 Feuilletonchef der ZEIT. 1986 wurde ihm von Franςois Mitterrand der Orden «Officier des Arts et des Lettres» verliehen. Von 1969 bis 2011 war er Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, Herausgeber von Tucholskys «Gesammelten Werken», Autor in viele Sprachen übersetzter Romane und eines umfangreichen essayistischen Werks. 2010 erschienen seine hochgelobten und viel diskutierten «Tagebücher 1982–2001». Im selben Jahr wurde Raddatz mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm «Jahre mit Ledig». Der Autor verstarb im Februar 2015.
Gespräch mit É.M. Cioran
FJR:
Ich möchte mich zu Beginn über Ihren Geschichtsbegriff unterhalten. Es gibt bei Ihnen viele zitierbare, widersprüchliche Sätze: die Weltgeschichte als Geschichte des Bösen oder «Meine Leidenschaft für Geschichte kommt daher, daß ich eine Vorliebe für das Kaputte habe» oder «Die Geschichte ist ein irrsinniges Epos». Gleichzeitig rückt Susan Sontag Ihr Geschichtsbild in die Nähe von Nietzsche. Ist das richtig?
É.M. CIORAN:
Es gibt, wenn ich das vielleicht sagen darf, eine Temperamentsähnlichkeit zwischen Nietzsche und mir: Wir sind beide schlaflose Geister. Das ist eine Komplizität. Aber meine Auffassung von der Geschichte findet sich in den Sätzen, die Sie eben gelesen haben. Das ist meine Einstellung, mein Grundgefühl.
FJR:
Noch einmal zurück zu Nietzsche. Susan Sontag sagt: Nietzsche verwirft das historische Denken nicht, weil es falsch ist, es muß im Gegenteil verworfen werden, weil es wahr ist. Sie nennt das auch Ihr Konzept. Das ist doch aber ein anderes?
CIORAN:
Es ist anders. Der Ursprung meiner Einstellung ist die Philosophie des Fatalismus. Meine Hauptthese ist die Ohnmacht des Menschen. Er ist nur ein Objekt der Geschichte, kein Subjekt. Ich hasse die Geschichte, ich hasse den geschichtlichen Prozeß.
FJR:
Sie leugnen den Fortschritt?
CIORAN:
Ich leugne den Fortschritt. Ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen, die mehr ist als eine Anekdote: Hier unweit von mir hat man das beste und das erste Buch über den Fortschritt geschrieben. Hier hat sich während des Terrors Condorcet versteckt und hat das Buch «Esquisse d’un Tableau des progrès de l’esprit humain» geschrieben, die Theorie des Fortschritts, die erste klare und aggressive Theorie des Fortschritts. Das war 1794. Er wußte, daß er gesucht wurde, er hat die Pension de famille verlassen und ist dann in einen Vorort von Paris geflüchtet. In einem Bistro haben die Leute ihn erkannt, ihn angezeigt – und er hat Selbstmord begangen. Und dieses Buch ist die Bibel des Optimismus.
FJR:
Jetzt haben Sie eine Anekdote erzählt, aber nicht Ihren Einwand formuliert. Kann man wirklich generell jeden geschichtlichen Prozeß leugnen und daß es innerhalb des Prozesses Fortschritt gibt?
CIORAN:
Das kann ich nicht leugnen. Für mich aber ist alles, was Gewinn ist, zugleich ein Verlust. Also der Fortschritt ist annulliert durch sich selbst. Jeder Schritt, den der Mensch vorwärts macht, durch den verliert er etwas.
FJR:
Geben Sie mir ein Beispiel?
CIORAN:
Nehmen wir die Wissenschaft, die Arzneien, medizinische Technik, Überlebensapparate. Ich würde sagen: Die Menschen starben früher an ihrem Tod, das war ihr Schicksal; sie starben unversorgt. Jetzt führt der Mensch durch die Arzneien ein falsches, künstlich verlängertes Leben. Er lebt nicht mehr sein Schicksal.
FJR:
Aber Herr Cioran, Sie haben mir vorhin ganz erleichtert über die Diagnose erzählt, daß Sie beim Röntgenarzt waren. Das hat ja Herr Röntgen mal erfinden müssen. Kein Fortschritt?
CIORAN:
Ja, aber es wäre besser, daß ich an meinem eigenen Tod sterbe.
FJR:
Aber auch Sie laufen davor weg.
CIORAN:
Gewiß, ich gehöre dazu, ich bin in diesem Wahnsinn einbegriffen. Ich kann nicht anders. Ich fahre ja auch mit der Bahn. Ich mache alles, was die anderen machen.
FJR:
Sie benutzen die geschmähte Zivilisation. Sie haben Telephon und fliegen mit dem Flugzeug.
CIORAN:
Ich denke heute, es wäre für mich viel besser gewesen, in dem kleinen Dorf, aus dem ich stamme, als Hirtenjunge zu bleiben. Ich hätte das Wesentliche so gut verstanden wie jetzt. Ich wäre dort näher an der Wahrheit.
FJR:
Sie meinen, daß Bildung Ihre Wahrheit verstellt?
CIORAN:
Es wäre besser, daß ich mit den Tieren lebe, mit einfachen Leuten, Hirten eben. Wenn ich zum Beispiel in ganz primitive Orte gehe, also zum Beispiel in Spanien oder Italien mit ganz einfachen Leuten spreche, habe ich immer den Eindruck, daß die Wahrheit bei diesen Leuten steckt.
FJR:
Sie reden wie ein Aussteiger, ein bißchen wie ein Grüner: «zurück zur Natur».
CIORAN:
Für das Wesentliche ist die Kultur, ist die Zivilisation nicht notwendig. Um die Natur zu verstehen und das Leben, braucht man nicht gebildet zu sein. Verzeihen Sie noch eine Art Anekdote: Wir hatten in meiner Kindheit einen Garten neben dem Friedhof, und der Totengräber war ein Freund von mir, ich war ein Knabe, und er war etwa fünfzig Jahre alt. Ich bin sicher, daß meine ersten Jahre neben dem Friedhof unbewußt auf mich gewirkt haben. Diese direkte Beziehung zum Tod hat mich bestimmt unbewußt beeinflußt.
FJR:
Kann man aus dieser persönlichen Erfahrung ein Philosophem machen? Das ist mein Problem mit dem, was Sie schreiben. Gut, Sie haben sehr jung in der Nachbarschaft des Todes gelebt. Aber berechtigt das zu solchen philosophischen Aperçus wie: «Gestern, Heute, Morgen, das sind Kategorien für Dienstboten»; oder: «Ich war, ich bin, ich werde sein – ist ein Problem der Grammatik und nicht der Existenz»?
CIORAN:
Die Hauptprobleme des Lebens haben nichts mit Kultur zu tun. Die einfachen Leute haben öfter Einsichten, die ein Philosoph nicht haben kann. Denn der Ausgangspunkt ist das Erlebnis, ist nicht die Theorie. Ein Tier sogar kann tiefer sein als ein Philosoph, ich meine, ein tieferes Lebensgefühl haben.
FJR:
Das will ich nicht leugnen, sondern ich will auf etwas anderes hinaus: Dadurch, daß Sie Ihre Gedanken äußern, geben Sie eine Art Wegweiser für andere Menschen. Sie äußern solche Gedanken ja nicht am Küchentisch, sondern Sie publizieren sie. Jedes Publizieren ist ein Stück Belehren. Also führen Sie Menschen zu der Idee: Geschichte ist Katastrophe, Fortschritt gibt es nicht. Kann man das wirklich so kraß vertreten?
CIORAN:
Ich glaube nicht, daß es eine Lösung gibt.
FJR:
Glauben Sie auch nicht an das, was doch jeder Autor eigentlich mitdenkt, wenn er publiziert – eine Humanisierung des Humanen? Ist Ihnen das nicht vorstellbar?
CIORAN:
Nein, das ist wirklich nicht vorstellbar. Man kann die Geschichte schon ab und zu ein wenig umbiegen, aber tief innerlich, wesentlich kann man nichts ändern.
FJR:
Die Natur des Menschen ist unveränderbar, ist böse?
CIORAN:
Nicht böse: verdammt. Der Mensch ist böse, das will ich glauben, aber das ist fast Nebensache. Der Mensch kann seinem Schicksal nicht entrinnen.
FJR:
Es bietet sich bei einem so sinistren Menschen- und Geschichtsbild die Frage an: Warum publizieren Sie überhaupt? Wozu? Für wen?
CIORAN:
Sie haben absolut recht mit diesem Einwand. Ich bin ein Beispiel für das, was ich beschreibe. Ich bin keine Ausnahme, im Gegenteil. Ich bin voller Widersprüche. Ich bin zur Weisheit unfähig – und doch habe ich eine große Sehnsucht nach Weisheit.
FJR:
Sie haben aber mal gesagt, «wer weise ist, produziert nicht mehr». Das Nicht-weise-Sein ist die Quelle des Produzierens.
CIORAN:
Das ist absolut meine Auffassung. Aber niemand soll mir folgen.
FJR:
Niemand soll Ihnen folgen?
CIORAN:
Wenn er’s tut, um so schlimmer. Alles, was ich geschrieben habe, sind nur Zustände, seelische Zustände oder geistige, wenn man so sagen darf. Auf jeden Fall habe ich es geschrieben, um mich von etwas zu befreien. Also, ich betrachte alles, was ich geschrieben habe, nicht als Theorie, sondern wirklich als Kur für mich selbst. Die Einseitigkeit meiner Bücher kommt daher, daß ich nur in einem gewissen Zustand schreibe. Ich schreibe, anstatt mich zu prügeln …
FJR:
… jemanden zu köpfen …
CIORAN:
Für mich ist da eine unglaubliche Erleichterung. Ich glaube, wenn ich nicht geschrieben hätte, hätte es eine noch schlechtere Wendung nehmen können für mich.
FJR:
Aber nun ist ja schreiben und publizieren noch nicht dasselbe. Schreiben, sagen Sie, ist Ihre Kur. Und warum publizieren Sie? Doch um andere Menschen zu beeinflussen.
CIORAN:
Nein, publizieren ist ungemein heilsam. Publizieren ist eine Befreiung, wie wenn man jemandem eine Ohrfeige gegeben hat. Denn wenn Sie etwas publizieren, was Sie geschrieben haben, ist es außerhalb von Ihnen, es gehört nicht mehr Ihnen. Wenn man jemanden haßt, dann muß man hundertmal schreiben, ich hasse den Kerl, und nach einer halben Stunde ist man befreit. Also, wenn ich das Leben angreife, die Menschheit, die Geschichte …
FJR:
Kann es sein, daß das sehr stark Aphoristische Ihres Schreibens damit zusammenhängt?
CIORAN:
Absolut, das ist absolut wahr. Alle Aphorismen, die ich geschrieben habe, sind …
FJR:
… kleine Pillen? …
CIORAN:
Das ist sehr gut gesagt, es sind Pillen, die ich mir selbst verschaffe, die wirksam sind.
FJR:
Nun vergiften Sie natürlich aber auch andere damit, zum Beispiel mich. Wenn ich das mal schildern darf: Als ich zur Vorbereitung auf unser Gespräch noch einmal alles gelesen habe, was es auf deutsch von Ihnen gibt, da tröpfelte so ein Gift auch in mich hinein; mal amüsierte es mich, mal machte es mich verzagt. Da sagte ich mir: Der Mann hat recht, nichts hat eigentlich einen Sinn.
CIORAN:
Das ist bestimmt wahr!
FJR:
Nein, ich meine natürlich nicht Ihre Bücher, sondern nichts auf der Welt hat einen Sinn.
CIORAN:
Ich glaube das wirklich, daß nichts einen Sinn hat.
FJR:
Irgendwo in Ihnen ist da ein kleiner Terrorist versteckt.
CIORAN:
Nein, ich habe viele Briefe in meinem Leben bekommen – die Leute haben eine Befreiung empfunden. Ich hatte Angst gehabt, als ich die Bücher veröffentlichte, weil ich dachte, ich werde Schaden anrichten. Das Gegenteil ist der Fall.
FJR:
Na ja, die Leute, die Selbstmord begangen haben, können sich ja nicht mehr bei Ihnen bedankt haben.
CIORAN:
So ist das überhaupt nicht.
FJR:
Aber jemand, der Leben «Kitsch der Materie» nennt, um mal irgendeinen Satz von Ihnen zu zitieren, oder der selbst den Prozeß der Zeugung als eine «alberne Turnübung mit Grunzen» schildert oder der sagt, «Ich kann nicht mehr das Wort ‹ich bin› sagen, ohne vor Scham zu erröten» – der träufelt das Gift der Verzagtheit oder des Verzagtmachens in andere hinein. Wenn das so ist: «Ich kann nicht mehr ‹ich› sagen, ohne vor Scham zu erröten» – dann muß ich, auch wenn es brutal klingt, fragen: Warum sind Sie denn?
CIORAN:
Diese Sachen sind geschrieben in einem Moment realer Verzweiflung. Aber das Wort benutze ich nicht gern.
FJR:
Zu klebrig?
CIORAN:
Alles, was ich geschrieben habe, entstand in der Mitte der Nacht. Was ist die Originalität der Nacht? Alles hat aufgehört zu existieren. Sie sind nur Sie allein und die Stille und das Nichts. Man denkt absolut an nichts, man ist allein, wie Gott allein sein kann. Und – obwohl ich nicht gläubig bin, ich glaube vielleicht an nichts – diese absolute Einsamkeit verlangt nach einem Gesprächspartner; und wenn ich von Gott spreche, dann nur insofern, als er ein Gesprächspartner für die Mitte der Nacht ist.
FJR:
Sie meinen aber nicht den Gott, den man sich gemeinhin in der Religion vorstellt?
CIORAN:
Nein, die letzte Grenze. Also einen vorübergehenden Gesprächspartner, man braucht ihn. Das ist mein Gottesbegriff. Aber in der Mitte der Nacht denkt man nicht, ob eine Formulierung gefährlich ist oder nicht. Denn nichts existiert. Es gibt keine Zukunft, kein Morgen. Man denkt nicht daran, Eindruck auf die Leute zu machen, Einfluß zu haben, es gibt keinen Einfluß in der Mitte der Nacht. Es gibt keine Geschichte, alles hat aufgehört. Und die Formulierung kommt ganz überzeitlich, übergeschichtlich, jenseits der Geschichte.
FJR:
Aber Sie schreiben auch schon mal am Tage weiter? Und lesen dann, was Sie geschrieben haben?
CIORAN:
Ja, aber das ist im allgemeinen nachts formuliert. Und das ist wirklich meine – nicht Weltanschauung, eine absolut andere Einstellung: Ich schreibe, gleichgültig ob das Einfluß hat oder gefährlich ist oder nicht, das ist eine absolute Einstellung. Sie kennen sicher Schlaflosigkeit ab und zu, man ist ein anderer Mensch, und man ist nicht einmal ein Mensch, man ist nicht einmal eine Kreatur – alles hat aufgehört, und das Wort Sinn hat absolut keinen Sinn, das kommt nicht einmal in Frage.
FJR:
Nur, das Wort «Ich bin» hat auch mitten in der Nacht noch einen Sinn, denn selbst mitten in der Nacht, in der Schwärze der Einsamkeit, mit der fliehenden Grenze Gott, wissen Sie natürlich, daß Sie sind, physisch sind. Und wenn Sie dann sagen, ich kann aber das Wort «Ich bin» nicht mehr aussprechen, ohne zu erröten, hassen Sie sich ja eigentlich. Gibt es einen Selbsthaß in Ihnen?
CIORAN:
Selbstverständlich! Das ist klar, alles was ich geschrieben habe, ist, manchmal mehr, manchmal weniger, aber ist immer vermischt mit diesem Haßgefühl. Ich weiß nicht, woher dieses Haßgefühl kommt. Das kann viele Gründe haben, auch den, daß ich nicht die letzte Folge gezogen habe, das kann auch sein.
FJR:
Sie meinen den Selbstmord?
CIORAN:
Ja.
FJR:
Sie haben mal geschrieben: «Alle meine Bücher sind verhinderter Selbstmord.»
CIORAN:
Stimmt.
FJR:
Wenn man aber so stark an der Grenze des Selbstmordes, des Hasses, des Selbstekels existiert, dann muß ja die eigentlich ungehörige Frage erlaubt sein: Warum hat der Cioran sich nicht umgebracht?
CIORAN:
Die Antwort steht in meinem Buch «Syllogismen der Bitterkeit»: Ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich bestimmt getötet. Das ist der Schlüssel meiner Einstellung.
FJR:
Das heißt, Sie denken die Realität weg, die mögliche Realität des Selbstmords. Indem Sie sie denken, verschwindet sie als Realität.
CIORAN:
Ja. Das ist das Hauptproblem. Ich habe von meiner Jugend bis jetzt mit dieser Idee täglich gelebt. Mit der des Selbstmords. Auch später, bis heute, vielleicht aber nicht mit derselben Intensität. Und wenn ich am Leben bin, ist es kraft dieser Idee. Ich habe das Leben nur aushalten können dank ihrer, sie war meine Stütze: «Du bist Herr deines Lebens, du kannst dich töten, wann du willst» – und alle meine Verrücktheiten, alle meine Exzesse konnte ich so ertragen. Und allmählich begann diese Idee so etwas zu werden wie für einen Christen Gott, ein Halt, ich habe einen Fixpunkt im Leben.
FJR:
Der Fixpunkt in Ihrem Leben ist die Idee des Selbstmords?
CIORAN:
Ja, das hat mich mein Leben lang begleitet und mit gutem Erfolg.
FJR:
Wie man sieht.
CIORAN:
Es ist eine verkehrte Religion, eine Art perverser Religion.
FJR:
Auch eine Ritualisierung. Alles, was Sie bisher beschrieben haben, heißt ja, daß Ihre Denkanstrengungen und Schreibanstrengungen eigentlich ein Beschwörungsritual sind.
CIORAN:
Ja, das ist sehr richtig.
FJR:
Mein Einwand oder meine Frage: Wenn das so ist, kann es dann auch sein, daß es die Schwäche in Ihrem Werk ist, daß Sie Realität weg-schreiben, so wie Sie den Selbstmord durch das Schreiben und Darandenken weg-tun; daß Sie sich gegen Realität stellen durch das Schreiben, mit dem Schreiben?
CIORAN:
Es ist einfach so, daß ich kein aktiver Mensch bin. Wäre ich es, hätte ich Selbstmord begangen. Ich bin ein passiver Mensch, unfähig einzugreifen, auch unverantwortlich, ich habe Angst vor jeder Verantwortung. Schon die Idee einer Verantwortung macht mich krank.
FJR:
Vielleicht sind Sie deshalb inzwischen zu einer Art Prediger des Irrationalismus geworden?
CIORAN:
Irrationalismus hat in Deutschland eine ganz andere Prägung als hier.
FJR:
Ich weiß nicht, ob Ihnen der deutsche Dichter Gottfried Benn ein Begriff ist.
CIORAN:
Ich habe Benn entdeckt vor vier oder fünf Jahren. Aber er hatte auf mich überhaupt keinen Einfluß, denn ich kannte ihn nicht.
FJR:
Aber finden Sie nicht, daß Sie ihm sehr nahe sind?
CIORAN:
Teilweise vielleicht.
FJR:
Auf unheimliche Weise nahe. Viele Ihrer Sätze – «Ich möchte eigentlich ein Stein sein», «… daß ich ein Tier sein könnte», «Wären wir doch verlaust und heiter in der Gesellschaft der Tiere geblieben» – lesen sich wie Gedichtzeilen Benns, erinnern an sein berühmtes «O daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim im warmen Moor».
CIORAN:
Das ist absolut wahr.
FJR:
Warum ich Benn eingeführt habe: Wir kamen vom Irrationalismus, von der Irratio. Auch Gottfried Benn ist ein Prediger der Irratio gewesen, und wo landete das? Ich lese Ihnen jetzt einen Satz von Cioran vor: «Die Vergötzung des Ursprungs des schon verwirklichten Paradieses ist das besondere Zeichen des reaktionären oder, wenn man den Ausdruck vorzieht, des konservativen Denkens.» Benns Statik-Idol und Ablehnung der Geschichte hat ihn an die Grenze des Faschismus geführt. Und solche Sätze von Cioran? Führen sie nicht auch tief ins Reaktionäre?
CIORAN:
Unter Umständen. Aber wissen Sie, für mich sind Begriffe wie Ursprung, Vorgeschichte, Nicht-Geschichte auf einem anderen Niveau. Reaktionär? Vielleicht. Aber es wäre, glaube ich, richtiger, wenn Sie eine philosophische Erklärung finden würden statt einer politischen.
FJR:
Nun leben wir aber in der Geschichte, auch wenn Sie den Begriff leugnen. Stalin war Geschichte, Hitler war Geschichte. Ich lese noch einen Satz von Cioran: «Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation.» Bei Ihnen ist doch auch ein Stück Heimweh nach der Barbarei? Nach dem Urschleim? Nach dem Stalaktit, nach dem Höhlenleben?
CIORAN:
Das ist absolut wahr, ich bestreite es nicht. Das ist nicht überpolitisch, da haben Sie recht. Aber es geht viel tiefer, ist jenseits der Politik, es liegt in meiner Natur, es gab schon in meiner Jugend eine Neigung zur Verneinung, zum Nein, die Wollust des Neins.
FJR:
Ihr Bewußtsein formuliert sich überhaupt nur durch Neinsagen?
CIORAN:
Das ist sehr tief in mir.
FJR:
Nun kann das absolute Nein in ein falsches Ja umkippen.
CIORAN:
Das kann vorkommen.
FJR:
Stimmt es, daß Sie in Ihrer Jugend eine Nähe zum rumänischen Faschismus hatten?
CIORAN:
Ja. Aber ich habe mich nicht für seine Idee, sondern für seine Exaltiertheit interessiert. Das hat zwischen diesen Leuten und mir eine Art Verbindung hergestellt. Eine pathologische Geschichte im Grunde. Denn durch meine Bildung und Auffassung war ich ganz anders.
FJR:
Ein sehr wichtiger und entscheidender Punkt: Verneinung, Wegschreiben der Realität, Hinneigung zur Irratio, schließlich solche mirakulösen Abstürze. Eine logische Kette?
CIORAN:
Keineswegs, denn zugleich habe ich, der Sohn eines Pfarrers, an allen Sitzungen des Jüdischen Weltkongresses in Bukarest teilgenommen, als einziger Nicht-Jude. Und ich war fasziniert. Das ist die andere Seite meiner Natur.
FJR:
Sind Sie ein Gegner der Aufklärung?
CIORAN:
Ich habe jahrelang die französische Aufklärung studiert. Mich hat das angezogen, denn für mich war das auch ein Extrem. So muß man formulieren, glaube ich. Alles was extrem ist, hat mich im Leben fasziniert. Der Marxismus zum Beispiel hat mich nie angezogen. Warum? Weil er zu systematisch ist, zu ernst, starr und dogmatisch und zu wenig individuell. Es gibt keine Laune, keine theoretische Laune im Marxismus.
FJR:
Hat dann der Faschismus, genau gesagt: der Nazi-Faschismus, auf Sie auch eine Faszination ausgeübt?
CIORAN:
Nein.
FJR:
Ein Satz von Ihnen über die Nazis: «Und doch zeugte noch dieser Wahn, so grotesk er sein mochte, zu Gunsten der Deutschen. Ließ er nicht erkennen, daß sie im Westen die einzigen waren, die noch einige Reste von Frische und Barbarei bewahrt hatten?» Frische und Barbarei – zwei positive Begriffe bei Ihnen. Dann heißt es weiter: «Und daß sie noch zu einem großen Plan oder einer kraftvollen Verrücktheit im Stande waren.»
CIORAN:
Es geht mir um die Deutschen, nicht um die Nazis. Ferner ist Geschichte kein Wertsystem. Wahrscheinlich können Sie als Deutscher das nicht anders sehen, das kann ich wohl verstehen. Aber meine Einstellung war immer eine ästhetische, nicht eine politische – ich habe vorhin von Laune gesprochen. Das ist meine Einstellung, nicht die der Deutschen. Die Deutschen sind Prinzipien-Narren, sie haben kein Talent zum Zweifeln. Deswegen sind sie zugrunde gegangen. Sie haben keinen Sinn für Nuancen, das ist ihre Tragödie. Das klingt ein wenig zynisch, was Sie da zitiert haben, aber ich nehme es nicht so ernst wie Sie alle, ob links oder rechts. Sie sind sehr schlechte Spieler in der Geschichte gewesen.
FJR:
Nun gibt es natürlich Grenzen der Nur-Ästhetik und Grenzen auch des Spiels. Ich will auf das Eine hinaus: Ob nicht dieses «Nur-immer-nein-Sagen» ein Vakuum schafft, ein Gehirnvakuum, ein moralisches Vakuum, das – der Natur des Vakuums entsprechend – falsch und jäh angefüllt werden kann. Wer immer nur sagt, «ich definiere mich durch das Nein», «mein Bewußtsein entsteht durch Neinsagen», der läuft Gefahr, zu einem falschen Ja verführt werden zu können.
CIORAN:
Nein, weil ich nie wirklich an etwas geglaubt habe. Das ist der Fehler, den Sie mir gegenüber machen. Ich habe nie an irgend etwas richtig geglaubt. Das ist sehr wichtig. Es gibt nichts, was ich ernst genommen habe. Das einzige, was ich ernst genommen habe, das war mein Konflikt mit der Welt. Alles andere ist für mich nur Vorwand.
FJR:
Was ist dieser Konflikt mit der Welt?
CIORAN:
Das ist sehr einfach. Es ist das Unbehagen in der Existenz, nicht nur in der Kultur, in der Existenz überhaupt. Das ist das Grundphänomen. Was mein «Verantwortungsgefühl» betrifft, so kenne ich es nur im täglichen Leben – ich habe eine menschliche Einstellung zum Menschen –, nicht aber, wenn ich schreibe, dabei ist er für mich sozusagen undenkbar. Ich kümmere mich dann nicht um die möglichen Folgen eines Satzes, eines Aphorismus, ich fühle mich von moralischen Kategorien befreit. Deswegen soll man auch nicht meine Zustimmungen oder Verneinungen nach diesen Kategorien beurteilen. Zwar habe ich ein intensives, ein krankhaftes Mitleid für alle Wesen, sogar für den Menschen, und ich finde, daß es höchste Zeit ist, daß er verschwindet, damit wir ihm nachtrauern können. Das Mißverständnis zwischen uns kommt daher, daß Sie an die Zukunft, an eine Lösung, an das Mögliche überhaupt glauben, während ich nur etwas Präzises weiß: daß wir alle da sind, nur um uns gegenseitig zu quälen mittels unerschöpflicher Illusionen.
FJR:
Haben Sie manchmal in Ihrem Leben das Gefühl gehabt, daß Sie die Grenze gar zum Mord überschreiten könnten?
CIORAN:
Als Teufel oder Gott hätte ich, glaube ich, die Menschheit erledigt. Da bin ich fast sicher. Aber im Alltag bin ich mitleidvoll. Ich habe in meinem Leben moralisch viele Leute unterstützt, auch während des Krieges in Paris fanden viele Zuflucht bei mir. Aber abstrakt könnte ich ein Dämon sein. Wenn ich die Möglichkeit hätte, die Welt zu zerstören – ich täte es.
FJR:
Aber vielleicht leben die Menschen ganz gern? Und Sie würden sie alle umbringen? Das ist ja heute schon durch das Zünden einer einzigen Rakete denkbar. Herr Cioran würde die Rakete gen Moskau schießen, damit die Russen zurückschießen, und in zwei Minuten ist die Welt zerschmolzen. Der Dämon hat seine Arbeit getan.
CIORAN:
Als Dämon würde ich das machen können, aber nicht als Individuum.
FJR:
Wir sind in einem tiefen Wasser. Ziemlich schlimm, was Sie da sagen. Weil Sie empfinden «Ich hasse das Leben» oder «Leben ist ein Plagiat», sollen alle Menschen sterben. Mit welchem Recht …
CIORAN:
Ich habe ab und zu Anfälle – wenn ich die Möglichkeit hätte, sie alle zu vernichten, würde ich es machen. Das ist eine innere Sache, ein jeder kann das fühlen.
FJR:
Wirklich jeder? Es gibt wohl eher wenige Menschen, die das fühlen.
CIORAN:
Es ist viel schlimmer, als Sie denken. Die Menschen sind im Grunde potentielle Verbrecher, das ist absolut sicher.
FJR:
Haben Sie über solche Thesen hier in Frankreich manchmal Debatten mit anderen Autoren geführt?
CIORAN:
Nein, überhaupt nicht. Ich gebe keine Interviews in Frankreich.
FJR:
Ich meine nicht Interviews, sondern Debatten. Mit wem verkehren Sie in Paris, mit welchen Autoren?
CIORAN:
Ich war sehr befreundet mit Michaux. Auch Beckett ist ein guter Freund von mir.
FJR:
Mit Beckett gibt es sicherlich keinen Dissenz.
CIORAN:
Nein. Aber Beckett will sich auch nicht über so allgemeine Fragen unterhalten; ihm kann man nur konkrete Fragen stellen.
FJR:
Also haben Sie eigentlich am literarischen Leben in Paris wenig teil?
CIORAN:
Sehr wenig.
FJR:
Sartre, Camus?
CIORAN:
Im letzten Jahr des Kriegs, 1944, ging ich jeden Morgen um acht nach Saint-Germain-des-Près ins Café «Flore» wie ein Beamter. Von acht bis zwölf und von zwei bis acht und von neun bis elf. Sehr oft saß Sartre neben mir. Aber ich war ganz unbekannt.
FJR:
Aber 1944 war Sartre auch noch sehr unbekannt?
CIORAN:
Nein, selbstverständlich war er schon bekannt, nicht so berühmt wie später, aber doch sehr bekannt. Wir haben nie miteinander gesprochen, ich kannte ihn nicht näher. Camus habe ich nur einmal gesehen, und er hat mir mißfallen. Er hat mir etwas Unangebrachtes gesagt, als ich mein erstes Buch, «Lehre vom Zerfall», veröffentlicht hatte: «Jetzt müssen Sie sich auf das Feld der wirklich intellektuellen Dinge begeben.» Ich fand das unglaublich unverfroren. Camus war an Bildung ein Provinzler, er kannte nur die französische Literatur. Die «Lehre vom Zerfall» mag kein gutes Buch sein, aber man sieht, daß ich doch ein gewisses Niveau habe. Und dann zu mir zu sprechen wie zu einem Schüler. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
FJR:
Kannten Sie Céline?
CIORAN:
Nein. Mit Celan war ich befreundet.
FJR:
Und der andere Rumäne in Paris, Ionesco?
CIORAN:
Den kenne ich sehr gut.
FJR:
Wenn Sie sich sehen, sprechen Sie Rumänisch oder Französisch?
CIORAN:
Nein, Französisch. Ich spreche überhaupt nicht mehr Rumänisch. Ich will nicht mehr.
FJR:
Sie könnten aber?
CIORAN:
Perfekt, selbstverständlich. Aber Rumänisch ist sehr gefährlich für mich, weil es die erste Sprache ist, das zieht, und mit dem Alter kommt sie wieder. Ich habe Angst davor, ich träume auf französisch, aber wenn ich in Zukunft rumänisch träumte, dann wäre ich als französischer Schriftsteller erledigt.
FJR:
Wie lange haben Sie daran gearbeitet, bis das erste Buch auf französisch fertig war?
CIORAN:
Nicht viel, aber Tag und Nacht, drei Jahre.
FJR:
Was geht da verloren, wenn man in eine andere Sprache überwechselt?
CIORAN:
Ich schreibe eine blutlose Prosa, keine direkte Sprache. Ich hätte nie einen Roman schreiben können, nicht etwas Erlebtes. Und die französische Sprache gefällt mir, insofern sie eine Sprache für Juristen und Logiker ist. Und die abstrakte Seite dieser Sprache hat mich angezogen, und das kann ich manipulieren. Aber ich könnte zum Beispiel nicht diesen Nachmittag beschreiben, das wäre unmöglich. Ich kann nur Resultate wiedergeben. Meine Aphorismen sind nicht eigentliche Aphorismen, jeder ist der Schlußsatz einer Seite, der Endpunkt einer kleinen Epilepsie.
FJR:
Sie lassen alles Vorherige weg?
CIORAN:
Ich lasse alles weg und gebe dann die Conclusion, wie beim Gericht, wo es zum Schluß heißt: zum Tode verurteilt. Aber nicht die Entwicklung des Gedankens, es ist nur das Resultat. Das ist meine Art, das ist die «formule». Deswegen hat man mich mit den französischen Moralisten verglichen und ein wenig mit Recht, denn es kommt nur auf die Schlußfolgerung an.
FJR:
Deswegen attackiert man Sie auch.
CIORAN:
Selbstverständlich. Ich gebe nur das Gift – nicht die Essenz.
FJR:
Da schließt sich der Kreis unseres Gesprächs. Wie lebt so ein Mensch, wie kann der lieben, sich amüsieren, ins Kino gehen, essen, trinken?
CIORAN:
Ich werde Ihnen antworten. Es gibt Gedanken, die man jeden Tag hat. Es gibt Gedanken, die nur Anfälle sind. Ich habe Ihnen gesagt, mein Grundgefühl ist Mitgefühl; ich bin sehr sensibel für das Unglück anderer Leute. Aber in meiner Jugend habe ich an Größenwahn gelitten.
FJR:
Ist das geblieben? Leidet Cioran immer noch an Größenwahn?
CIORAN:
Nur anfallweise.
FJR:
Aber die Schärfe hat nicht nachgelassen.
CIORAN:
Aber die Intensität. Zugenommen hat der «ennui», diese abgründige Langeweile. Meine Mutter, die Frau eines Priesters, hat mir einmal gesagt, das werde ich nie vergessen: «Wenn ich deine innere Qual vorausgesehen hätte – ich hätte dich abtreiben lassen.» Und das hat mir sehr wohlgetan.
FJR:
Das hat Ihnen wohlgetan?
CIORAN:
Ich habe mir gesagt: Du bist ein Zufall. Ein Nichts.
FJR:
Jedes andere Kind, dem die Mutter sagt, ich wünschte, ich hätte dich abgetrieben, wäre entgeistert gewesen und würde darunter leiden – und Sie sagen, das hat mir wohlgetan?
CIORAN:
Es hat meine Idee bestätigt, daß ich ein Zufall, ein Nichts bin. Deswegen war ich unfähig, als Schriftsteller ein richtiges Werk zu schaffen. Nichtsdestoweniger, und das wird mein Schluß sein, habe ich so gelebt und geschrieben, als hätte ich alles durchschaut. Die anderen, sogar die großen Philosophen, schienen mir irgendwie borniert, kindlich, naiv, Opfer und Sklaven ihres Genies. Obwohl gesellig, habe ich mich immer einsam gefühlt, zerrissen zwischen Selbstverachtung und Selbstvergötzung. Die einzigen Wesen, mit denen ich mich wirklich verstanden habe, haben kein Werk hinterlassen. Sie waren keine Schriftsteller, zu ihrem Glück oder Unglück. Sie waren etwas mehr: Meister des Überdrusses. Einer von ihnen hatte Theologie studiert und sollte Pope werden, ist es aber nicht geworden. Nie, nie werde ich vergessen, die schwindelerregende Unterhaltung, die ich mit ihm eine ganze Nacht lang vor fünfzig Jahren in Kronstadt, Siebenbürgen, geführt habe. Nach so einem Ideenaustausch schien es mir ebenso unnötig, zu leben wie zu sterben. Wenn man nicht die Gier nach Unlösbarem in sich hat, kann man sich nicht vorstellen, zu welchen Exzessen die Negation, diese unerbittliche Klarsicht, fähig ist.