Meisterwerke der dunklen Phantastik 03: ALS ICH TOT WAR (Band 1) -  - E-Book

Meisterwerke der dunklen Phantastik 03: ALS ICH TOT WAR (Band 1) E-Book

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Beschreibung

Jäh verengten sich meine Pupillen im Anblick eines gespenstisch grauen Lichts, und einen kurzen Augenblick lang eröffnete sich mir der Blick auf eine Trostlosigkeit, die schrecklicher war als jede irdische Wüstenei: auf monströse Leprageschwüre, die aufgebrochen und wieder verkrustet waren; auf Felder von aschgrauem Schleim; auf dämonische Hügel, gebildet aus feist aufgetriebenen Schwammgeschwulsten im Zustand der Verwesung. Und inmitten von alledem undeutliche, zuckende Schatten, die sich wälzten, sich reckten oder auch ziellos dahinstolperten, bis sie im Boden versanken und verschwanden.Furcht und Leidenschaft, Verfall und Tod: das sind die großen Themen der britischen Dekadenzphantastik. In 30 makabren Geschichten - die meisten davon deutsche Erstveröffentlichungen - gewinnt das dunkle Erbe der Dekadenz faszinierende Gestalt.

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Seitenzahl: 472

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MEISTERWERKE DER DUNKLEN PHANTASTIK

Herausgegeben von Frank Rainer Scheck

ALS ICH TOT WAR

Dunkle Phantastik der britischen Dekadenzzeit

BAND 1

Herausgegeben von

Frank Rainer Scheck, geboren 1948, Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 1976 Lektor, seit 1979 Cheflektor in einem deutschen Verlag, seit 1993 freier Schriftsteller. Veröffentlichung etlicher Sachbücher. Langjährige Beschäftigung mit der Literatur des Phantastischen; diverse Publikationen, zuletzt (mit Erik Hauser) die Anthologie Berührungen der Nacht (Leipzig 2002).

Erik Hauser, geboren 1962, Studium der Anglistik, Germanistik sowie der Vergleichenden und Allgemeinen Literaturwissenschaft. Magister und Staatsexamen. 1997 Promotion mit einer Dissertation über den Traum in der phantastischen Literatur (Passau 2005). Gymnasiallehrer in Mannheim und Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg.

Gesetzt in alter Rechtschreibung.

© 2008 dieser Ausgabe: BLITZ-Verlag GmbH

© der Übersetzungen: bei den jeweiligen Übersetzern, s. Editorische Notiz

© der editorischen Beiträge (Vorwort, Einleitung, Autorenporträts, Editorische Notiz) bei den Herausgebern

Titelbildgestaltung: Mark Freier, München

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-903-4

Inhalt

Vorwort

MIT DEM TOD FLIRTEN

Zur dunklen Geschichte der Dekadenz

Vincent O’Sullivan

ALS ICH TOT WAR

MADAME JAHN

WILLENSKRAFT

Arthur Quiller-Couch

DAS SPIEGELKABINETT

Bernard Capes

DER WASSERFALL

Richard Garnett

DER SATANISCHE PAPST

H.B. Marriott Watson

IN DEN SÜMPFEN

Ella D’Arcy

DIE VILLA LUCIENNE

Eric Count Stenbock

DIE ANDERE SEITE

VIOL D’AMOR

EIN MODERNER SANKTVENANTIUS

Charlotte Mew

EINE WEIßE NACHT

Vorwort

von Frank Rainer Scheck

Die vorliegende Sammlung von dunkler Phantastik der britischen Dekadenz ist unseres Wissens die erste ihrer Art, nicht nur im deutschen, sondern auch im angloamerikanischen Sprachraum. Das muß überraschen, denn ihre Obsession mit Tod und Verfall macht die Dekadenz zu einem genuin phantastischen Literaturterrain.

Zu einer ersten Blüte gelangte sie in Frankreich, verbunden mit Namen wie Jean Lorrain, Marcel Schwob, Remy de Gourmont, Catulle Mendès oder Octave Mirbeau. Im deutschen Sprachraum zeigte sich die Dekadenzbewegung dagegen weniger ausgeprägt, zumal in der Literatur, doch hat sie z.B. im phantastischen Werk von Paul Busson, Paul Ernst und Kurt Münzer beredte Spuren hinterlassen – Spuren, die auch in dem für die deutsche phantastische Literatur (ab etwa 1895) so eigentümlichen Subgenre der ›Seltsamen Geschichten‹ nachzuweisen sind. In den USA wiederum fand die Dekadenz nach schwerblütigen Anfängen, die wie Paines Mystery of Evelin Delorme (1894) und Vierecks House of the Vampire (1907) im Zeichen eines parfümierten Symbolismus stehen, zur avantgardistischen Phantastik eines Ben Hecht (Fantazius Mallare, 1922). Lebendig blieb dekadentes Denken und Empfinden jenseits des Atlantik bis in die exotisch-morbiden Phantasien eines Clark Ashton Smith hinein, und auch die erzählerischen Anfänge eines H.P. Lovecraft (z.B. »The Outsider«) sind ohne das Erbe der Dekadenz schwerlich denkbar.

Schon diese wenigen Hinweise mögen verdeutlichen, daß Dekadenz nicht zwingend gleichzusetzen ist mit dem verrufenen Zeitraum fin de siècle, sondern darüber hinaus eine bestimmte Geisteshaltung beschreiben kann. Erik Hausers Einleitungsessay lotet Verbindungen zum Schauerroman wie auch zu E.A. Poes morbidezza aus. Fügen wir dem noch hinzu, daß in der postmodernen Phantastik Autoren wie Jeff VanderMeer oder Brian Hodge selbstbewußt als Vertreter einer neuen Dekadenz auftreten, intellektuell überragt von Thomas Ligotti, dessen zunächst metaphysisch, inzwischen sozialkritisch gefärbte Untergangsphantasien im deutschsprachigen Raum u.a. bei Monika (»Eddie M.«) Angerhuber Wirkung gezeigt haben, so könnte man meinen, die Mühlräder einer ›Ewigen Wiederkehr des Gleichen‹ mahlen zu hören.

Doch erscheint es höchst problematisch, von einer ›Textsorte‹ namens ›Dekadenz‹ auszugehen, die dann seit über einhundert Jahren im offenen kulturellen Angebot wäre. Der freizügige, transhistorische Gebrauch des Begriffs ›gothic‹ oder ›gotisch‹ mag diesbezüglich als Warnung dienen. Durch akademische Abhandlungen wie Elizabeth MacAndrews The Gothic Tradition in Fiction (1979) und William Patrick Days In the Circles of Fear and Desire (1985) eingeführt, hat dieses Konzept über Phantastik-Anthologien wie Chris Baldicks Oxford Book of Gothic Tales (1992) und Joyce Carol Oates` American Gothic Tales (1996) inzwischen auch Einfluß auf ein breites Lesepublikum genommen, doch muß man sich nur Baldicks verwaschene Definition des ›Gotischen‹ vor Augen führen, um zu begreifen, daß mit solchen Ausweitungen, die zu ihrer Rechtfertigung übrigens stets freudianischer Konzepte zu bedürfen scheinen, kaum neue Erkenntnis zu gewinnen ist.

In Wirklichkeit hat jede ›gotische‹ oder ›dekadente‹ Zeitspanne, wenn man denn eine solche Periodisierung überhaupt in Erwägung ziehen will, ihr eigenes historisches Antlitz, und eben dieses konkrete Gesicht gilt es ins Auge zu fassen. So wurde etwa, um wenigstens allgemeine Umrisse anzudeuten, die französische Dekadenz forciert durch die militärische Niederlage der grande nation im Krieg von 1870/71, während im siegestrunkenen Deutschland, in dem das Kapital geradezu um den Juliusturm tanzte, die Dekadenz noch zwei Jahrzehnte lang stumm blieb, wie betäubt von der Aggressivität der nationalistischen Konsolidierung.

Kommen wir zu unserer Sache. Dem Großbritannien der spätviktorianischen Zeit wird nicht selten eine tiefgreifende gesellschaftliche Krisis attestiert. Zuletzt hat Martin Wieners Studie English Culture and the Decline of the Industrial Spirit (1981) diese These zu unterfüttern gesucht. In Wirklichkeit war das britische fin de siècle jedoch keineswegs eine Krisenzeit – nicht nur W.D. Rubinsteins Capitalism, Culture and Decline in Britain (1993) hat dies eindrucksvoll richtiggestellt. Allerdings verlangsamte sich in dem genannten Zeitraum Britanniens Entwicklungstempo. Hatte das älteste bürgerliche Land 1870 noch mehr Kohle, Roheisen und Textilien produziert als die Vereinigten Staaten, Deutschland, Frankreich, Italien und Rußland zusammen, so verlor es im letzten Jahrhundertjahrzehnt seinen Vorsprung an junge imperialistische Mächte wie die USA und das Deutsche Reich. Dieser Verlust war im Innern Großbritanniens aber ökonomisch kaum spürbar; noch ließen sich die strukturellen Defizite durch die immensen Gewinne aus der kolonialen Ausbeutung ausgleichen.

Während die Behauptung einer britischen Krisis also mit spitzen Fingern aufgenommen werden sollte, läßt sich dezidiert sagen, daß wir in bezug auf die yellow nineties über eine Zeit rapiden Wandels sprechen. Der Übergang des klein- oder mittelbürgerlichen industriellen Kapitalismus in den gesichtslosen Monopolkapitalismus verschob die Klassenschichtungen, und die traditionellen ideologischen Formationen gerieten ins Wanken, auch ohne daß es einer ökonomischen Krise im eigentlichen Sinne bedurft hätte. Patrick Brantlinger sieht in einer Studie über britische Literatur unter dem Imperialismus, betitelt Rule of Darkness (1994), die alte Zuversicht mittelviktorianischer Zeit ab etwa 1880 schwinden, und Nicholas Daly in Modernism, Romance and the Fin de Siècle (1999) eine neue Mittelklasse von sachkundigen Spezialisten erstehen (er deutet in diesem Zusammenhang den Kampf der Van Helsing-Gruppe gegen Dracula als Kampf der neuen Professionalität gegen die ungeschlachte Traditionalität). Dalys Stichwort heißt dabei: »new imperialism«, neuer Imperialismus.

Aber was soll dieses ›neu‹ bedeuten? Bekanntlich war (grob gesprochen) der ›gotische‹ Schauerroman der Ausdruck der zerfallenden Feudalgesellschaft, die auch ideologisch unter den Druck bürgerlich-kapitalistischen Denkens geriet – zwischen dem Erscheinen von Walpoles Castle of Otranto, der literarischen Geburtsurkunde ›gotischen‹ Empfindens, und der Publikation von Diderots Encyclopédie, dem selbstbewußten Manifest der bürgerlichen Aufklärung, liegen gerade einmal zwei Jahre.

Ganz unzureichend wurde in der Sekundärliteratur bislang erkannt und hervorgehoben, daß die Blütezeit der viktorianischen Phantastik identisch ist mit den Ausbildungsjahren des britischen Imperialismus. Um etwa 1860 kam dieser Prozeß in Gang, seit 1870 fanden die Ängste, die er in der Bevölkerung produzierte, zunehmend auch kulturellen Ausdruck – die Gespenstergeschichte erblühte zu eben jenem Zeitpunkt, als das Makrosubjekt Monopolkapitalismus in Großbritannien das Mikrosubjekt Mensch zu dominieren und sein Bewußtsein zu kolonisieren begann.

Eine gute Frage wäre in diesem Zusammenhang, warum die dräuende soziale Unruhe in Britannien, wenn Sie nach phantastischen Metaphern griff, gerade die Gestalt der Geistergeschichte bevorzugte – was dazumal weder in Frankreich noch in Deutschland so massiv geschah. Ich habe an anderer Stelle gemutmaßt, daß die ausgetrocknete Spiritualität der anglikanischen Kirche in diesem kulturellen Prozeß eine Rolle gespielt haben könnte. Aber sozialtheoretisch und psychohistorisch ist ja noch nicht einmal geklärt, warum aus ökonomischen Situationen überhaupt phantastische Metaphern werden können.

Wie auch immer – Vorsicht bleibt geboten gegenüber der These von einem »new imperialism«. Der ›alte‹ Imperialismus und die Grunderkenntnisse über ihn erscheinen robust genug zur Erklärung all dessen, was dem angeblich ›neuen‹ zugeschrieben wird. Nein, nicht auf ökonomischem Terrain unterscheiden sich die 1890er grundsätzlich von den 1880ern oder 1870ern, sondern nur graduell.

Vielleicht aber doch stärker in den Denkmodellen, in denen u.a. – Seiteneffekt des seit Jahrzehnten schwärenden und nun in den Vordergrund rückenden Darwinismus – die Gottlosigkeit an Terrain gewinnt. Die klassische viktorianische Geisterwelt erliegt in den yellow nineties einer Phantastik, die nicht mehr gewohnheitsmäßig Gespenster als ätherische Verkörperungen überweltlicher Schuldsühnung aufbietet, sondern das Phantastische sehr viel weltlicher zu formulieren sucht.

Als neu und dekadent erscheint die wachsende Konkretion des Schrecklichen (Ella D’Arcy ist auf den folgenden Seiten die große Ausnahme). Jeder Kenner wird übrigens einzelne Gegenbeispiele anführen können, doch läuft die Tendenz der phantastischen Literatur seit nunmehr einhundert Jahren insgesamt auf eine immer stärkere Verkörperlichung des Schreckens bis hin zu den Exzessen der Zombie-Filme hinaus. In der hier vorgelegten fin-de-siècle-Anthologie hat diese Tendenz natürlich noch nicht die Kettensägen-Drastik des späten zwanzigsten Jahrhunderts erreicht, doch entzieht sich auch die zögerlich-zage Dekadenz bereits erkennbar der herkömmlichen Reduktion auf Spirituelles und Körperloses – auf ›verschobenes‹ Religiöses. Sehr deutlich wird das etwa in der Schlußsequenz von Hichens’ Seelenwanderungserzählung: die Rächung einer Untat durch das – gespenstisch zurückkehrende – Opfer, das wäre noch konventionell mittelviktorianisch gewesen, nun aber wird der Schrecken physisch, das zurückgekehrte Opfer teilt mit dem angstvoll zurückschauernden Erzähler als widrig beseelter Leib das Ehebett.

In solchen erzählerischen Szenerien beginnt die Phantastik modern zu werden, im Guten wie im Schlechten, unübersehbar etwa in den urbanen Rätseln eines Arthur Machen, in den gepflegten Zynismen eines Ronald Firbank und Richard Garnett, in den wirklichkeitszersetzenden Erzählungen eines Max Beerbohm oder im änigmatischen Impressionismus eines Jerome. Schaut man genauer hin, erkennt man aber auch in der manieriert dargebotenen Retro-Phantastik eines Gilchrist, Marriott Watson oder Stenbock, in Charlotte Mews feministisch geprägter Kritik an der Unerbittlichkeit des katholischen Patriarchats oder – hier besonders deutlich – in Lees feinsinniger Kurzgeschichte »The Doll« die Spuren der heraufziehenden Moderne, in der das Mikrosubjekt die Gewalt über sich selbst verliert.

Zugleich und andererseits bietet die Phantastik der britischen Dekadenzzeit noch einmal die ganze ideologische Hintergrundmacht des christlichen Weltbilds auf. Ein Widerspruch, ein Paradox? Natürlich glaubt mit Ausnahme von Lady Dilke in Wirklichkeit wohl niemand in der Phalanx der von uns berücksichtigten Autoren so recht an die religiöse Tradition, aber offenbar erscheint sie angesichts der Schlagkraft der zerschmetternden neuen Gesellschaftsordnung geradezu als ein kulturelles Sanatorium, dessen Räume man aufsucht, um noch ein letztes Mal wie gewohnt durchatmen zu können. Daß sich die zeitlich früheste Erzählung dieser Anthologie, »Shrine of Death«, christlich geprägt zeigt, kann angesichts der streng religiösen Erziehung der Autorin nicht weiter überraschen, daß aber ein erklärter Atheist wie Shiel den Gedanken der Erbsünde in Erzählungen wie »Vaila« und »Tulsah« geradezu obsessiv umkreist (wobei übrigens die Kreisbewegung seine phantastische Obsession ist) – nein, das ist keineswegs selbstverständlich.

Den modernistischen Tendenzen der britischen Dekadenz stehen also vielfach die antimodernistischen entgegen (zuweilen in ein- und derselben Geschichte), und die Dekadenz kann, man sieht es bei Bernard Capes und, trotz Ansätzen zur ironischen Brechung, auch bei Graf Stenbock, durchaus fromm die Hände falten. Vom sterbenden Aubrey Beardsley ist überliefert, daß er seine Kunstwerke, deren Amoralismus ihn nun schreckte, am liebsten in Gottes Namen vernichtet gesehen hätte.

Aber auch sonst wird der alte viktorianische Sittenkodex von der ideologisch bettlägerigen Dekadenz immer wieder in sein Recht gesetzt, etwa wenn Richard Garnett den lebensklugen Papst über sein satanisches Ebenbild siegen läßt, oder wenn O’Sullivan in »Will« eine ausgleichende Gerechtigkeit über das Grab hinaus beschwört. Freilich kommt dieser traditionelle Erzählimpetus bei Garnett wie bei O’Sullivan in einer Erzählform daher, die zehn Jahre zuvor noch nicht möglich gewesen wäre und eben – dekadent ist.

Besorgt fragt man sich als Herausgeber einer Anthologie, ob die relevanten Namen und Titel angemessen berücksichtigt, die Häupter der Lieben richtig abgezählt sind. Wer indessen auf den folgenden Seiten Oscar Wildes allbekannte »Canterbury«-Geschichte erwartet oder Henry James’ »Turn of the Screw« (1898), dem sei schon an dieser Stelle gesagt, daß er nicht fündig werden wird. Natürlich konnte von vornherein auch die romanlange Form nicht berücksichtigt werden, die jenseits des Vorzeigewerks Picture of Dorian Gray in den yellow nineties durchaus eine gewisse Bedeutung erlangte – Robert Hichens’ Flames (1897) ist ein Beispiel. Doch war, um das bei dieser Gelegenheit einzuflechten, die kürzere oder kurze, die sich klimaktisch aufschwingende Form seit je das eigentliche Terrain der britischen Dekadenz, und wer im Yellow Book oder im Savoy blättert, stößt immer wieder auf die Vignette als Experimentierfeld erzählerischer Verdichtung.

Solche Publizistik orientierte sich an einer durch den britischen Imperialismus neu frisierten und gefönten Leserschaft, die sich in den Vorgaben der gesellschaftlichen Unausweichlichkeit mikrosubjektiv einzurichten begann und zu ihrer psychischen Entlastung die kurze Aufwallung, den choc, suchte – sofern sie diesbezüglich überhaupt noch literarisch zu erreichen war und nicht von vornherein die grellen Angebote der zeitgleich aufblühenden Tingeltangel-Industrie vorzog. Bezeichnend erscheint, daß sich der Begriff short story erst in den britischen 1880ern durchsetzte. Um Mißverständnissen vorzubeugen: natürlich wurde durch die geläufig werdende Benennung kein neues Genre geboren, doch hatte ein altes nun offenbar seinen ›Sitz‹ im prallen Leben gewonnen.

Darin waltet der Zeitgeist. Die viktorianische Verlagslandschaft ist gegen Ende des Jahrhunderts in einem dramatischen Umbruch begriffen. Die altehrwürdige publizistische Institution der ›Dreidecker‹ geht seit etwa 1885 mitsamt ihrer traditionellen Käuferschicht zugrunde. Es war dies (auch wenn wir das ins Kleinbürgertum ausstrahlende Wirken der Leihbibliotheken nicht vergessen dürfen) im wesentlichen eine arrivierte Käuferschicht, welche Geld und Muße genug besaß, um die dreibändigen Romanwerke behutsam mit dem Federmesser aufzuschneiden und nach erfolgter Lektüre am Kaminfeuer mit guten Bekannten darüber zu plaudern. Die ungeheure Beschleunigung, welche die in Gang gekommene Maschine des britischen Imperialismus der Bevölkerung aufzwang (Shiel spricht sie in »Vaila« als »automaton« an, als einen »Sonnenwagen«, unter dessen unerbittlichen Rädern Menschengebein knirscht), veränderte nun auch rapide die Lesegewohnheiten. Aus den ›Dreideckern‹ wurden ›Eindecker‹ (anfangs wählte man zuweilen auch die zweibändige Form), und der kompakte, schnelle, effektive erzählerische Zugriff rückte in den Vordergrund.

Freilich hatte es schon lange vor der Mitte des Jahrhunderts britische Zeitschriften gegeben, die sich der kürzeren Erzählung widmeten, von dem einzigartigen Blackwood’s Magazine über Odds and Ends bis hin zu dem ebenso langlebigen wie verdienstvollen Journal Temple Bar, aber nun wurde dieser altbestellte publizistische Boden tief umgepflügt, und neue Magazine trugen als Frucht immer kürzere, immer sensationalistischere Prosastücke. Seiner Zeit intellektuell stets voraus, hatte dies übrigens schon E.A. Poe vorhergesehen – sein köstlicher Essay darüber, auf welche Manier man als angehender Autor am besten eine Geschichte in Blackwood’s Magazine unterbringen könne, bewahrt seine zynische Aktualität bis heute.

Wie in ihrer letzten gemeinsam veranstalteten Anthologie aus dem Jahre 2002 – Berührungen der Nacht betitelt und der antiquarischen Geistergeschichte Englands gewidmet – ging es den Herausgebern auch diesmal um eine Dokumentation solcher erzählerischen Phantastik, die im deutschen Sprachraum mehr oder minder unbekannt ist. In dieser Ausrichtung waren sie sich von vornherein einig mit jenem Verlag für Phantastik, der dieses Buch nun in Ihre Hände hat gelangen lassen. Wie damit schon angedeutet, sind nicht alle folgenden Erzählungen deutsche Erstveröffentlichungen: Das eine oder andere Phantastikum lag – meist freilich an entlegener Stelle und häufig in unzureichender und stark gekürzter Übersetzung publiziert – bereits auf deutsch vor. Ausgenommen die beiden Stenbock-Geschichten »Viol d’Amor« und »The Other Side«, die 1999 in dem von Michael Siefener verantworteten und seit Jahren vergriffenen Sammelband Studien des Todes erschienen (wir publizieren sie hier mit freundlicher Genehmigung des Festa-Verlags, Leipzig), haben wir Wert gelegt auf neue, adäquate Übertragungen und haben verstümmelte Textfassungen durch eine gewissenhafte Orientierung an den Originalen ersetzt. Der Großteil der Erzählungen erscheint zum ersten Mal auf deutsch, so daß auch der connoisseur etliche phantastische Entdeckungen erwarten darf. Dem biographischen und kritischen Informationsmangel im deutschen Sprachraum suchen einleitende Essays entgegenzuwirken, welche die vertretenen Autoren vorstellen.

Hauptfiguren der dekadenten Phantastik – Shiel, Machen, Stenbock, Vincent O’Sullivan, Vernon Lee – haben wir mit jeweils drei Texten berücksichtigt, andere Prominente (Beerbohm, Gilchrist) mit zweien. Ob damit Gerechtigkeit gewaltet hat, sei dahingestellt. Hätten wir nicht Lady Dilke auch noch mit »The Black Veil«, Arthur Quiller-Couch mit »Old Æson«, Richard Garnett mit »Madame Lucifer«, Marriott Watson mit »The Brazen Cross« vorstellen sollen? Die beiden Herausgeber haben dies in jedem einzelnen Fall erwogen und ebenso darüber nachgedacht, ob Jerome K. Jeromes hochrangige femme fatale-Erzählung »The Woman of the Saeter« oder Barry Pains »The Glass of Supreme Moments« nicht auch in diese Anthologie gehören. Oder vielleicht die im Yellow Book erschienenen Beiträge von Kenneth Grahame, der später als Kinderbuchautor zu Ruhm und Ehren gelangte – »The Headswoman« etwa oder »Long Odds«? Und sie haben sich gefragt, ob nicht Erzählungen wie »The Doll« oder »The Room of Mirrors«, die nicht eindeutig phantastisch sind (aber der Phantastik ganz nahe stehen), ausgeklammert werden sollten. Fehlt andererseits nicht E.M. Forsters »The Story of a Panic«? Und ist es gerechtfertigt, daß Clemence Housmans Novelle »The Werewolf« (die allerdings 1971 in einer respektablen deutschen Übertragung vorgelegt wurde) keine Berücksichtigung findet? Wie steht es schließlich mit Fiona MacLeod? Hätte man nicht »The Sin-Eater«, eine ergreifende halb-phantastische Erzählung, als Beispiel für die Tendenzen des celtic revival aufnehmen sollen, nachdem der große Name W.B. Yeats – sei es aufgrund folkloristischer Reduktivität, sei es aufgrund mystischer Langatmigkeit seiner eigenen erzählerischen Angebote – nicht ernstlich zur Debatte stand?

Sinnvolle Fragen! Aber natürlich standen dem ›erweiternden Konjunktiv‹ von Anfang an die publizistischen Rahmenbedingungen gegenüber. Das ist nicht als Verlagsschelte zu verstehen, im Gegenteil: Verleger Jörg Kaegelmann hat uns in einer Weise Entscheidungs- und Publikationsraum gewährt, die ganz ungewöhnlich ist, und wir möchten ihm an dieser Stelle herzlich dafür danken. Jede Anthologie, auch wenn sie literarisch mit langem Arm ausgreift, muß ihrem Volumen – und 30 Erzählungen oder Kurzgeschichten ergeben ein stattliches Volumen und im konkreten Fall sogar zwei Bände – zuletzt in Bescheidenheit eine Grenzlinie setzen.

Dem Dank an den Verleger schließt sich der Dank an all die Übersetzer an, viele entstammen dem Umkreis des anglistischen Seminars in Heidelberg, welche zu vernachlässigbaren Honorarsätzen, aber mit großem persönlichen Engagement an Texten gefeilt haben, die sprachlich alles andere als bequem und zugänglich sind. Keinesfalls selbstverständlich war es gleicherweise, daß Marco Frenschkowski, einer der großen deutschen Kenner des Phantastischen, diese Anthologie mit einem Essay über Arthur Machen bereichert hat. Als Übersetzer und Essayist ist uns, Count Stenbock betreffend, in schöner Selbstverständlichkeit auch Michael Siefener zur Seite gesprungen. Wir sagen diesen beiden ebenso renommierten wie kompetenten Autoren hiermit unseren Dank – und würdigen zugleich auch das Engagement des Münchner Graphikers Mark Freier.

Solche individuellen Danksagungen dürfen freilich keinesfalls ein grundlegendes Dilemma kaschieren: offenbar lassen sich derzeit nur noch unter persönlicher Selbstausbeutung und ohne jede adäquate Honorierung Bücher veröffentlichen, die außerhalb der ›angesagten‹, gut verkäuflichen Publizistikfelder ein bestimmtes Niveau hochhalten. Oder hochzuhalten suchen – denn jenseits aller editorischen Rechtfertigung gehört natürlich dem Leser das Urteil über diese Phantastik-Auswahl einer Zeit, von der uns nicht wirklich ein Jahrhundert trennt.

Erik Hauser

MIT DEM TOD FLIRTEN

Zur dunklen Geschichte der Dekadenz

»Überall stand mir […] die Fülle vergangener Tage und die Verwahrlosung und der Verfall der Gegenwart vor Augen.«

M.P. SHIEL: Vaila

Ursprünge der Dekadenz

Als im Jahr 1837 der Gelehrte Désiré Nisard in seinen Etudes de mœurs et de critique sur les poètes latins de la décadence eine Gruppe junger französischer Dichter als »décadent« bezeichnete, geschah dies in durchaus ehrenrühriger Absicht. Dekadenz, das stand für Verfall, Kränklichkeit, moralischen Niedergang und Perversion. Das Wort leitet sich aus dem mittellateinischen decadentia (Verfall) her und ließ Zeitgenossen an den Untergang des römischen Imperiums und die damit verbundenen Zersetzungserscheinungen denken. Seit Edward Gibbons’monumentaler Studie The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776-88) war man es gewohnt, die Spätphase des römischen Imperiums mit dem Absinken der herausragenden politischen, wirtschaftlichen, moralischen und künstlerischen Leistungen der klassischen Periode gleichzusetzen.

Den Jungen Wilden der damaligen französischen Literaturszene, darunter so illustre Namen wie Théophile Gautier, Gérard de Nerval, Verlaine und Rimbaud, haftete damit der Geruch des Verweichlichten, Überfeinerten, ja Psychopathologischen an. Ihre Sprachexperimente stießen zumeist auf Unverständnis und Ablehnung. Die Genannten gehörten zu einer zweiten Generation von Romantikern, die sich in der neuen französischen Republik, in der die bürgerlichen Wertvorstellungen von Kommerz und Profit die Oberhand gewonnen hatten, nicht mehr heimisch fühlten. Die Folge war eine tiefgreifende Entfremdung zwischen ihnen und der Gesellschaft. Den Spießbürger zu schockieren (das épater le bourgeois) wurde eine Art Sport, den man genüßlich zelebrierte. Da war es kein Wunder, daß das von Nissard geprägte, abschätzig gemeinte Epithet von jener neuen literarischen Generation als eine besondere Auszeichnung verstanden wurde. Die Bewegung der Dekadenz war geboren.

Als die neue Bewegung gegen Ende des Jahrhunderts von Frankreich aus über den Kanal schwappte, fand sie auf der Insel fruchtbaren Boden. Das viktorianische England hatte gerade eine der dramatischsten gesellschaftlichen, technologischen und politischen Wandlungen der neueren Geschichte, gemeinhin als Industrielle Revolution bezeichnet, durchgemacht. Innerhalb weniger Jahrzehnte war ein vorwiegend agrarisch geprägter Staat zur ersten Industrie- und Handelsnation Europas und der Welt geworden. Zum ersten Mal lebten mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Von 1851 bis 1911 wuchs die Bevölkerung Londons von 2,3 auf 4,5 Millionen an; in den großstädtischen Ballungsräumen drängte man sich auf engstem Raum und unter zum Teil menschenunwürdigen Zuständen. Historisch gewachsene Familienstrukturen, Arbeitsprozesse und landsmannschaftliche Bindungen lösten sich zunehmend auf. Kolonien und ›Schutzgebiete‹ erweiterten den Einflußbereich des Inselstaats über die ganze Welt. Queen Victoria regierte ein Reich, das sich von Ägypten bis an den Hindukusch, von Kanada bis Borneo erstreckte – und in dem die Sonne nie unterging. Doch machten sich auch erste Zerfallserscheinungen dieses Riesenreiches bemerkbar. Indien, das Juwel in Britanniens Krone, verschlang Unsummen an Geldern für die Verwaltung, den Aufbau der Infrastruktur und die Befriedung kriegerischer Territorialherren. Schon meldeten sich erste kritische Stimmen, die sich fragten, ob der Besitz Indiens das Mutterland nicht mehr koste, als er einbringe. Hinzu kam eine erste agrarische Rezession von 1873 bis 1895, ausgelöst vor allem durch die Urbarmachung der nordamerikanischen Steppen, welche die stolze Nation in ihrem Selbstbewußtsein erschütterte. Erste Immigrantenwanderungen aus den Kolonien schürten die Angst vor dem Fremden, der genetischen ›Verunreinigung‹ und der Degeneration der weißen Rasse: ein Thema, das Max Nordau in seinem 1892/93 erschienenen Werk Entartung popularisierte. Auch wenn es der Durchschnittsbürger angesichts der überwältigenden wirtschaftlichen und politischen Großmachtstellung Englands gern verdrängte, so wuchs im stillen doch die Befürchtung, die Nation habe ihren Höhepunkt erreicht und fortan könne es eigentlich nur noch abwärts gehen. Wie dem als Vorläufer empfundenen Römischen Imperium mochte ja auch der stolzen Nation der Händler und Krämer (wie sie gelegentlich tituliert wurde) nach einer Zeit der Blüte und der äußersten Ausdehnung allmählicher Niedergang und letztendlicher Zerfall drohen. Der gesellschaftliche Schein und Glanz war stumpf geworden, hinter der funkelnden Fassade dräute das Schreckgespenst des Niedergangs. Die näherrückende Jahrhundertwende bot sich überdies für allerlei Endzeitphantasien und Untergangsspekulationen an.

Man sieht: das Feld war bestellt, auf dem der Geist der literarischen Dekadenz erblühen konnte.

Was aber war das Kennzeichnende jener Bewegung, die so unterschiedliche literarische Strömungen wie den Symbolismus, den Ästhetizismus und sogar Teile des Naturalismus für kurze Zeit unter einem gemeinsamen Banner zu vereinen vermochte? Die Antwort darauf ist nicht einfach.

Entscheidende Anhaltspunkte liefern wiederum die Kritiker der Bewegung. So beklagt der bereits erwähnte Nissard, daß die römischen wie auch die zeitgenössischen französischen Décadents dieselbe »Suche nach Nuancierungen, derselbe Glaube an die Macht des Wortes, dieselben Verfeinerungen und dieselben Übertreibungen, und unter den Übertreibungen dieselbe Vorliebe für das Häßliche« auszeichne. In der Nachfolge Nissards werden daraufhin von Befürwortern wie Gegnern der Bewegung immer wieder diese beiden grundlegenden Charakteristika der Dekadenz herausgestellt: die Bevorzugung von ›heiklen‹, sonst tunlichst gemiedenen Themen (wie Homosexualität, Perversion, Geisteskrankheit, Nekrophilie, Satanismus etc.), die kulturell gemeinhin als ›häßlich‹ galten und deshalb der künstlerischen Darstellung entzogen blieben, sowie, damit einhergehend, ein preziöser, von Gegnern als gekünstelt erachteter Stil.

Doch während die Gegner der Bewegung zumeist die thematische Orientierung der Dekadenz betonen, legen die Befürworter im allgemeinen mehr Wert auf die stilistischen Besonderheiten. Arthur Symons, Dichter, Kritiker und zeitweiliger Champion der neuen Bewegung, stellt in seinem 1899 erschienenen Buch The Symbolist Movement in Literature fest, daß »die Bezeichnung [Dekadenz] nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich auf den Stil bezieht«. Zwar räumt er ein, daß »Perversion der Form und des Sujets oft gemeinsam auftreten«, sieht in der Überbetonung des ›Häßlichen‹ als Sujet jedoch ein Zeichen mangelnder literarischer Begabung.

Beide Standpunkte haben etwas für sich. Gerade die Verbindung beider – die Thematik des Häßlichen (oder genauer: des kulturell als häßlich Empfundenen) mit einem nuancierten Stil – scheint das eigentliche Charakteristikum eines typisch dekadenten Texts zu sein. Denn auch der um die gleiche Zeit aufkommende Realismus und Naturalismus entdeckten das ›Häßliche‹ als Sujet. Oft genug machten sie in drastischer Form auf die Folgen der Industriellen Revolution aufmerksam, etwa auf die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, die Entstehung von Slums, geschäftliche Raffgier etc., doch verbinden sich die gesellschaftlichen Anliegen in diesen kulturellen Strömungen mit einem kühlen, distanzierten, auf das wissenschaftliche Sezieren menschlicher Erfahrungswelten ausgerichteten Stil, und nur dort, wo der Naturalismus ins Expressive drängt, wird die metaphorische Dichte und Verfeinerung dekadenter Sprachgebilde erreicht.

In der Dekadenz kann die Überhöhung der Sprache einerseits zu Aphorismen, Wortspielen und überraschenden Sichtweisen auf die Wirklichkeit führen, wie z.B. bei Oscar Wilde oder Max Beerbohm; andererseits ins verschlungen Barocke, wie bei M.P. Shiel, Vernon Lee (»The Virgin of the Seven Daggers«) oder Lady Dilke.

Im Gegensatz zum Naturalismus zeichnet sich die Dekadenz durch eine prinzipiell anti-realistische Haltung aus; während der Naturalismus durch die schonungslose Aufdeckung defizitärer Zustände einen Einfluß der Literatur auf die Wirklichkeit geltend macht, lehnt die Dekadenz jede Vereinnahmung der Kunst als moralische Instanz ab: der Slogan l’art pour l’art und die Idee vom zweckfreien Kunstwerk, wie es schon von Kant thematisiert worden war, markieren die ästhetischen Zielsetzungen der Bewegung. Dies verprellte zu Zeiten Königin Victorias, als der Wert eines Kunstwerks noch weitgehend mit seinem ethischen Gehalt gleichgesetzt wurde, nicht nur ultra-konservative Kreise. Ein Kunstwerk sollte, ganz in der puritanischen Tradition religiöser Traktate, den Leser erbauen, nicht aber erschauern lassen. Insofern mußte die Dekadenzbewegung weiten Leserschichten als ein bewußter Affront erscheinen.

Die Absage an den didaktischen Zweck von Kunst verband sich mit einer Absage an den Mimesisgedanken in der Darstellungsweise. Die Dekadenzliteratur suchte das Künstliche, Artifizielle, den von Menschenhand ausgestalteten Raum im Gegensatz zum Naturraum der Romantik, mit deren Glaubenssätzen sie andererseits jedoch in vielem konform ging. In der Nachfolge des berühmten Walter Pater, Professor in Oxford, spitzte sein Schüler Oscar Wilde dekadente Positionen auf paradoxe Weise zu, wenn er behauptete, daß die Natur die Kunst imitiere und nicht umgekehrt. Dabei ist diese Aussage mehr als nur eine ironische Umkehrung gängiger Vorstellungen. Wie Wilde in seinem programmatischen Aufsatz »The Decay of Lying« (1891) ausführt, geht es tatsächlich darum, wie der Mensch die Wirklichkeit wahrnimmt: Wirklichkeit wird vom Betrachter mitkonstruiert. Erst als impressionistische Maler den Londoner Nebel auf die Leinwand bannten, wurde im kulturellen und individuellen Bewußtsein das Phänomen des Londoner Nebels als solches wahrgenommen. Damit greifen Wilde und die Dekadenz zugleich alte philosophische Positionen von George Berkeley auf und nehmen wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse des nachfolgenden Jahrhunderts vorweg.

Inhaltlich kann die von Kritikern oft beklagte Verfeinerung und Affektiertheit zu einem psychologischen Realismus à la Henry James führen, der auch noch minimalsten seelischen Regungen schreibend nachspürt, oder aber zu einer Art psychologischem Symbolismus, der seelische Triebkräfte in der Form phantastischer Wesenheiten und Ereignisse veräußerlicht, wie es etwa bei Wilde, R. Murray Gilchrist, Barry Pain oder auch Vincent O’Sulllivan der Fall ist.

Der Tabubruch als thematisches Markenzeichen bringt dekadente Texte fast automatisch in die Nähe der Phantastik. Laut Roger Caillois, einem der großen Theoretiker des Genres, beruht dessen Wesen ja gerade auf einem ontologischen Skandal, dem Einbruch des Übernatürlichen in eine empirisch geordnete Welt, in der es das Übernatürliche eigentlich nicht geben darf. Das heißt jedoch nicht, daß jeder phantastische Text automatisch der Dekadenz zugerechnet werden kann. Häufig scheint jedoch eine phantastische Struktur dem Aussagewillen der Dekadenz entgegenzukommen. Die hier vorliegende Anthologie ist reich an solchen provokativen Beispielen.

R.K.R. Thornton hat das Wesen der Dekadenz 1979 als den Schatten, der sich zwischen die Sonne und die Erde geschoben hat, beschrieben. Ähnlich dem Romantiker, in dessen Nachfolge man den Décadent sehen kann, strebe jener nach einem überirdischen Ideal, doch werde er zugleich vom – gelegentlich allzu – Irdischen zurückgehalten und bewege sich letztlich in den Grauzonen zwischen den beiden Polen. Marco Frenschkowski verdanke ich die Formulierung, dekadent sei es, mit dem Tod im luxuriösen Ambiente zu flirten. Offensichtlich ist die Beschäftigung mit Tod und Zerfall ein Dauerthema der Dekadenz; doch findet diese Beschäftigung vor einer prächtig ausgestatteten, reichhaltigen Kulisse statt; vor einer Kulisse, die den dahinter lauernden Zerfall drapiert, mal offensichtlich, mal weniger offensichtlich. Als die gelungensten Beispiele dekadenter Erzählkunst können diejenigen Texte angesehen werden, die das Morbide ihres Sujets auch in ihrer Sprache greifbar werden lassen, als ein Auseinanderbrechen regelmäßiger syntaktischer Strukturen, bei Vorliebe für hypotaktischen Satzbau, eine barocke Reihung von Substantiven, den Gebrauch archaischer Begriffe oder ausgefallener Fremdwörter usw., wie wir es beispielsweise bei M.P. Shiel finden. Hier ›atmet‹ auch die Sprache gleichsam den Geist der Dekadenz. So scheint es in der hervorragenden Erzählung »Vaila« geradezu, als ob nicht nur das Bauwerk, sondern auch die Sprache selbst im Strudel der geschilderten Ereignisse auseinanderbreche (oder umgekehrt: als ob es die Sprache sei, deren Auflösung auch den Zusammenbruch des Gebäudes evoziert).

Geistesgeschichtliche Quellen der Dekadenz

Die Anfänge der englischen Dekadenz gehen sicherlich auf die französische Dekadenz zurück, der insgesamt ein längeres Leben beschieden war als ihrem Cousin auf der anderen Seite des Kanals. Doch kann die britische Bewegung sehr wohl auch auf eigenständige Traditionen zurückblicken, die sie von der französischen unterscheiden.

Sieht man die Dekadenzliteratur, wie es einige Kritiker nicht ohne Berechtigung tun, als Fortsetzung der (Schwarzen) Romantik unter veränderten gesellschaftlichen, politischen und historischen Vorzeichen, so stammt der entscheidende Beitrag zu deren phantastischer Variante von der Gothic Novel. Als Horace Walpole im Jahre 1774 den Roman The Castle of Otranto veröffentlichte, trat er damit eine Lawine von Nachahmungen los, bei denen zumeist unschuldige, gut aussehende Heldinnen in die Gewalt aristokratischer Bösewichter gerieten. Deren erotisches Bedrohungspotential kam vor der Kulisse zerfallender Schlösser und Burgruinen, verwinkelter Gänge und spinnwebenverhangener Geheimzimmer erst so richtig zur Geltung. Großmeisterin dieser Art phantastisch verhüllter Gewalterotik war Ann Radcliffe, deren Romane The Mysteries of Udolpho (1794) und The Italian (1797) Bestseller wurden. Die eigentlichen ›Helden‹ der Gothic Novel waren – neben den düsteren Schauplätzen – jene blaublütigen Schurken, deren ins Erotische gewendeter absoluter Machtanspruch dem aufstrebenden Bürgertum bedrohlich erschien. Während die zerfallenden Ruinen und Schlösser der Gothic Novel vor allem Sinnbilder für den Niedergang der alten Feudalherrschaft darstellten, nutzt die Dekadenz das Milieu der aristokratischen Salons oft für ein wohlig-schauriges Schwelgen in vergangener Größe – ein Impetus, den man reaktionär nennen könnte, wäre damit nicht zugleich Kritik an der modernen Industrie- und Massengesellschaft verbunden. Wo die Dekadenz der Gothic Novel am nächsten kommt, wie in der von Poes »The Fall of the House of Usher« inspirierten Erzählung »Vaila« etwa, bedeutet der Untergang des Stammsitzes zugleich den Untergang des Geschlechts, ja einer ganzen, überlebten Epoche.

Auch Edgar Allan Poe, der neben Gautier wohl bedeutendste Autor, was den direkten Einfluß auf die Dekadenz anbelangt, stand zunächst in der Traditionslinie der Gothic Novel. Seine frühen Erzählungen, wie z.B. »Metzengerstein« aus dem Jahre 1832, übernehmen noch unkritisch und wenig originär ›gotische‹ Versatzstücke. Aber in den späteren, reifen Erzählungen gelingt es ihm, das Schauerinventar der Gothic Novel zu psychologisieren und für seine ganz eigenen Aussageabsichten einzusetzen. Mit Roderick Usher, dem letzten Sproß einer niedergegangenen Familie, schuf er den Typ des kunstsinnigen, verfeinerten Décadent, der sich in eine Kunstwelt zurückzieht und letztlich an sich selbst zugrunde geht. Und auch seine wohl rationalste Schöpfung, der Hobbydetektiv Auguste Dupin, Vorbild für Sherlock Holmes, ist erkennbar ›dekadent‹: wie später M.P. Shiels Fürst Zaleski hält er Abstand von der Welt, verbringt die meiste Zeit in seinem luxuriös eingerichteten Zuhause, begibt sich vorzugsweise nachts ins Freie und scheint dem Genuß von Drogen nicht abgeneigt. Was ihn auf den ersten Blick von anderen Gestalten der späteren Dekadenz zu unterscheiden scheint – seine analytische Begabung, die ihm beim Aufklären von Mordfällen zustatten kommt – ist jedoch letztlich auch Ausdruck einer über das normale Maß hinaus gesteigerten, gleichsam verfeinerten Geistestätigkeit. Poes Schauplätze sind zumeist weniger konkret denn symbolisch: fast alle seine Geschichten sind geographisch unverortet, spielen in einem vagen Irgendwo. Die luxuriös ausgestatteten Räumlichkeiten, sei es das achteckige Turmzimmer in »Ligeia«, die siebenfache Zimmerflucht in »The Masque of the Red Death« oder die verwinkelten Gänge in »William Wilson«, sind Chiffren für den seelischen Zustand seiner Figuren, psychologische Innenräume. Vor allem in der Verwendung von Sprache weist Poe auf die spätere Dekadenz voraus: seine Prosa bietet poetisch durchgeformte Texte, bei denen oftmals die Lautschicht, der Klang einzelner Laute wie das mehrmals wiederholte dumpfe ›d‹ in der Schlußpassage von »The Masque of the Red Death«, über das Atmosphärische hinaus die Bedeutung des Textes generieren – getreu dem in der Dekadenz geläufigen Diktum vom Primat des einzelnen Wortes über den Text. Oder, in den Worten von Havelock Ellis, jenes zeitgenössischen Kritikers, der die Bezeichnung Dekadenz, angewandt auf eine literarische Bewegung, in Großbritannien überhaupt erst einführte: »Ein dekadenter Stil ist ein solcher, in dem die Einheit des Werkes aufgelöst wird zugunsten der Selbständigkeit der einzelnen Seite, die einzelne Seite aufgelöst wird zugunsten der Selbständigkeit der einzelnen Phrase, und die einzelne Phrase zugunsten der Selbständigkeit des einzelnen Wortes.« (»A Note on Paul Bourget«; 1889).

In seinen theoretischen Äußerungen wandte sich Poe, beinahe zeitgleich mit Gautier in Frankreich, gegen die didaktische Funktion von Literatur. Literatur sei nur einem verpflichtet: dem Streben nach Schönheit. Und was Schönheit sei, das formulierte er in einem seiner Essays (»The Poetic Principle«): nämlich das Verlangen der Motte nach dem Stern(enlicht). Dies könnte auch die kürzeste und prägnanteste Formel für das Wesen der Dekadenz sein, die je gegeben wurde, beinhaltet sie doch sowohl das Vergebliche als auch das Verderbliche jenes Strebens, wie es in der steten Obsession der Dekadenz mit Tod und Verfall zum Ausdruck kommt. Das Erreichen transzendentaler Schönheit ist gleichbedeutend mit dem Tod.

Mit seinem Plädoyer für den Selbstzweck des Kunstwerks ist Poe einer der Begründer des Ästhetizismus, der später in England von Pater und Wilde wieder aufgegriffen werden sollte. Sein Einfluß auf die französische Dekadenz entfaltete sich vor allem durch die Übersetzung von Teilen seines Werkes durch Charles Baudelaire, einen der bedeutendsten Dichter der Bewegung. So unterschiedliche Autoren wie M.P. Shiel und Robert Hichens wurden von ihm beeinflußt; man lese beispielsweise Hichens’ Erzählung »The Return of the Soul« mit ihren Reminiszenzen an »The Black Cat« und »Ligeia«. Daß Poe darüber hinaus in seinen Essays und Rezensionen auch Gedanken entwickelte, die nicht allein als ›dekadent‹ anzusehen sind – erwähnt seien hier nur seine Überlegungen zur Kurzgeschichte und ihrer fast mathematischen Struktur –, weist ihm einen Rang als singulären Autor und Theoretiker zu, dessen Wirken in viele verschiedene Bereiche der Literatur- und Geistesgeschichte ausstrahlte.

Mit dem Beginn der Industriellen Revolution in England fanden sich auch deren Kritiker auf den Plan gerufen. Unter denjenigen, die einen Rückzug in ein – als heile Welt verstandenes und empfundenes – vorindustrielles Zeitalter propagierten, war die Bruderschaft der Präraffaeliten (Pre-Raphaelite Brotherhood), kurz Präraffaeliten genannt, die vielleicht wichtigste Gruppierung. Die Künstlergruppe entstand als Zusammenschluß der Maler Dante Gabriel Rossetti, John Everett Millais und William Holman Hunt, denen sich bald Gleichgesinnte, unter ihnen William Morris, Ford Madox Brown und Edward Burne-Jones, anschlossen. In ihren Gemälden nahmen sie sich den Stil der italienischen Malerei vor Raffael (daher der Name) zum Vorbild: es entstanden symbolistisch-unwirkliche, ornamenthafte Bildwelten, in deren Mittelpunkt vor allem bei Rossetti immer wieder ebenso erotische wie ätherische Frauengestalten und Motive aus der Artussage standen. Man huldigte einem idealisierten Bild des Mittelalters und dem darin inbegriffenen Minnedienst. William Morris wurde zugleich zum Begründer der Arts and Crafts-Bewegung, die dem industriell hergestellten, normierten Massenerzeugnis das singuläre, in Handarbeit gefertigte Produkt entgegenstellte: die Wiege des modernen Kunstgewerbes. Literarisch führte die Mittelalterverehrung eben jenen William Morris, aber auch George MacDonald und andere, zum Verfassen von Kunstmärchen, die in einer archaischen, den Artusromanen nachempfundenen Welt spielten. Morris’ The Wood Beyond the World (1894), The Well at the World’s End (1896) und MacDonalds Lilith (1895) werden oft, so beispielsweise vom Helmut W. Pesch (Fantasy. Theorie und Geschichte, 1982) als frühe Beispiele der modernen Fantasy angesehen. Der Dekadenz lieferten die Präraffaeliten die Liebe zum ornamenthaften Dekor, wie es in den Illustrationen Aubrey Beardsleys, aber auch in den literarischen Darstellungen luxuriös ausgestatteter Salons oder mittelalterlicher Schlösser aufscheint.

Der neben Rossetti wichtigste Dichter im Umfeld der Präraffaeliten war Charles Swinburne. Die Veröffentlichung seiner Poems and Ballads im Jahre 1866 löste einen Sturm der Entrüstung aus. Man beschuldigte ihn des Paganismus und Satanismus, bezeichnete ihn als pervers, morbide und verkommen. Zusammen mit Rossetti war er in den Augen der Öffentlichkeit der Hauptvertreter der neuen abscheulichen ›Schule des Fleisches‹, der »libidinöse Anführer einer Horde von Satyren«, wie ein erzürnter Rezensent ihm vorwarf. Swinburne war ein begeisterter Anhänger der neuesten französischen literarischen Strömungen, und als zum Tode von Théophile Gautier ein Gedächtnisband erschien (Le Tombeau de Gautier, 1873), lieferte er den einzigen erwähnenswerten englischen Beitrag. Mit einigem Recht kann Swinburne daher als Englands ›erster décadent‹ bezeichnet werden.

Die englische Dekadenz

Bis heute herrscht unter Wissenschaftlern und Kritikern Uneinigkeit darüber, wann die Dekadenz in England eigentlich stattgefunden habe. (Manche bezweifeln sogar, daß sie überhaupt stattgefunden hat.) Muß man die letzte Dekade des neunzehnten Jahrhunderts (the yellow nineties), die letzten beiden Jahrzehnte, oder sogar die Jahre von 1870 an als die ›dekadenten‹ Jahre, das fin de siècle, ansehen? Für jede der Datierungen gibt es gute Argumente. Und wie immer, wenn es darum geht zu bestimmen, wann etwas begonnen und etwas anderes aufgehört hat (wie zum Beispiel das Ende des Mittelalters und der Anfang der Renaissance), muß man ehrlicherweise zugeben, daß der Übergang von einem zum anderen nie so abrupt, das Absterben des Vorangegangenen nie so vollständig gewesen ist, wie es die Jahreszahlen einem vorgaukeln.

Einig ist man sich jedoch, daß die Publikation von Walter Paters (1865 – 1939) Studies in the History of the Renaissance (1873) in England der entscheidende Anstoß zur Entstehung einer – nennen wir sie ruhig so – Subkultur vor allem junger Menschen war, die sich im engen Korsett viktorianischer Moral- und Verhaltensvorstellungen nicht länger wohl fühlten. Verantwortlich dafür war vor allem die »Conclusion« des Buches, in der Pater in einer aufgewühlten, rhetorisch dichten Sprache als Sinn und Zweck menschlichen Lebens das ekstatische Erleben des Augenblicks im Hier und Jetzt postulierte: »Jederzeit mit dieser harten, kristallklaren Flamme zu brennen, die Ekstase aufrechtzuerhalten, ist das Ziel eines erfolgreichen Lebens.« Eine transzendentale Heilserwartung im Jenseits existiert für Pater nicht; das menschliche Leben ist durch seine Vergänglichkeit gekennzeichnet; in Anlehnung an Heraklit betrachtet er es als eine Abfolge unwiederbringlicher und einmaliger Augenblicke, einen Fluß steter Erneuerung, der einen fast zwangsläufig zur Aufgabe unveränderlicher fester Positionen nötige. Jede neugewonnene intellektuelle Sicherheit, jede neue Erkenntnis habe nur so lange Bestand, bis eine andere sie verdränge. »Nicht die Frucht der Erfahrung«, so Pater, »sondern die Erfahrung selbst« sei daher das Ziel – einer der folgenschwersten Sätze der »Conclusion«. Um die einem Menschen im Leben vergönnten Augenblicke so randvoll wie möglich mit Erleben zu packen, gebe es zwar verschiedene Möglichkeiten – »große Leidenschaften … Liebeserfüllung und Liebesleid … enthusiastisches Tätigsein« –, aber die höchste Form ekstatischer Erfüllung finde sich doch in der ästhetischen Erfahrung, im Kunsterlebnis, die als einzige dem Augenblick Rechnung trügen: »… die Begeisterung für die Poesie, das Verlangen nach Schönheit, die Liebe zur Kunst um ihrer selbst willen sind am fruchtbarsten, denn Kunst eröffnet sich einem, indem sie ohne Hintergedanken nichts verspricht außer die höchste Qualität des flüchtigen Augenblicks und nur um dieses Augenblickes wegen.«

Paters »Conclusion« fiel auf fruchtbaren Boden, vor allem im akademischen Umkreis seines eigenen Colleges in Oxford. Etliche unter den Studenten bemühten sich darum, den Maximen ihres verehrten Professors wenn nicht tatsächlich, so doch vordergründig gerecht zu werden. Es brach so etwas wie eine Pater-Hysterie aus, und der scheue Oxford-Professor wurde gleichsam ein frühes Popidol. Obwohl Pater um Schadensbegrenzung bemüht war und in der zweiten Auflage der Studies die »Conclusion« ersatzlos streichen ließ, hielt sich doch hartnäckig sein Ruf als Vordenker eines neuen, allein dem Genuß und der Selbstverwirklichung verpflichteten Lebensideals jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen. In etlichen Aufsätzen, Anmerkungen und sogar einem Roman (Marius, the Epicurean, 1885) versuchte Pater darzulegen, daß seine Grundüberzeugungen durchaus nicht ethischer Grundsätze entbehrten. Allein, es half nichts. Die zeitgenössische Leserschaft vermeinte in Lord Henry Wotton, dem zynischen Lebemann, der den jugendlichen Protagonisten in The Picture of Dorian Gray (1891) zu einem unsittlichen Lebenswandel verführt, ein mehr oder weniger unverhohlenes Porträt des Oxforder Professors zu erkennen, zumal der fiktionalen Gestalt gelegentlich beinahe wörtlich Maximen und Aussprüche Paters in den Mund gelegt waren.

Zweifelsohne ist Paters Schüler Oscar Wilde (1854 – 1900) der mit Abstand bekannteste Vertreter der englischen Dekadenzliteratur – der Hohepriester der Dekadenz, wie ihn der National Observer noch zu seinen Lebzeiten titulierte. Bereits bevor er mit eigenen literarischen Produktionen an die Öffentlichkeit trat, war sein Name in aller Munde. Wilde hatte es verstanden, die neuen Auffassungen nicht nur theoretisch zu vertreten, sondern auch in seiner eigenen Person sichtbar zu machen. Als herausgeputzter Dandy in samtenen Kniebundhosen besuchte er Kunstausstellungen und Konzerte, erregte mit seinem unkonventionellen Kleidungsstil ebenso die Gemüter wie durch seine unorthodoxen Ansichten. Das Dandytum Wildes und anderer war bald ein so etabliertes öffentliches Phänomen auf Londons Straßen, daß zahlreiche Karikaturen der jungen Ästheten in der Satirezeitschrift Punch erschienen und Gilbert und Sullivan sie in ihrer komischen Oper Patience (1881) zum Ziel ihres Spotts machten. 1881 begab sich Wilde auf eine einjährige Vortragsreise in die USA; bei der Ankunft in New York gestand er am Zoll ebenso frei- wie hochmütig: »Ich habe nichts zu verzollen außer meinem Genie.« Die Vortragsreihe war ein Erfolg und bestätigte seinen Ruf als Exzentriker und komischer Kauz in der Neuen Welt. Seine ersten literarischen Gehversuche – eine Handvoll Gedichte sowie ein Theaterstück – fielen bei Kritik und Publikum jedoch durch. Erst der Roman The Picture of Dorian Gray (1891) brachte ihm den Durchbruch als Autor. Seinem einzigen Roman folgten bald eine Reihe geschliffener Gesellschaftsdramen, das bedeutendste unter ihnen Bunbury or The Importance of Being Earnest (1895).

Auch The Picture of Dorian Gray hat bis heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Aristokraten Dorian Gray, dessen Bildnis an seiner Statt altert und die Zeichen seines ausschweifenden Lebenswandels aufweist, während er selber jung und attraktiv bleibt. Im Gegensatz zu traditionellen Teufelspaktgeschichten wird hier dem Wie und Warum des phantastischen Arrangements kaum Beachtung geschenkt – Dorian wünscht sich eher beiläufig, ewig so jung zu bleiben wie sein Bildnis. Allmählich wird es ihm und den Lesern bewußt, daß sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen ist. Die Bedingungen dieses ›Teufelspaktes‹ werden nie genau spezifiziert, und auch der Teufel als wahrscheinlicher ›Vertragspartner‹ Dorians bleibt ausgespart.

Wird der moralische Tabubruch des Titelhelden durch die phantastische Prämisse auch erst ermöglicht, so konzentriert sich der Roman selbst auf Dorians Verbrechen bzw. ergeht sich in langen Gesprächen zwischen den Hauptpersonen, in denen vor allem Lord Henry Wotton, Dorians väterlicher Freund und Verführer, immer wieder dekadentes Gedankengut vorträgt und damit seine Zuhörer amüsiert, aber auch irritiert. Lord Henry Wotton ist der ›dunkle Geist‹ hinter Dorian Gray, der sich in abstrakten Gedankenspielen ergeht, die für ihn letztlich folgenlos bleiben, seinen jungen Akolythen jedoch auf die schiefe Bahn bringen. Was Wotton nur denkt, setzt Dorian praktisch um. Am Ende begeht er sogar mehrere Morde.

Der Schluß von Wildes Roman ist eher konventionell: beim Versuch, sein Bildnis zu vernichten, stirbt Dorian selbst; man entdeckt ihn, um Jahre gealtert, tot vor diesem Porträt liegend, das den Dargestellten nun wieder als jugendlichen Mann zeigt.

The Picture of Dorian Gray ist sicherlich der bedeutendste phantastische Roman der britischen Dekadenz, vielleicht der bedeutendste Dekadenzroman überhaupt. In ihm fließen viele der Strömungen vor 1891 zusammen, und man hat ihn darum zu Recht einmal als ein Kompendium der Dekadenz bezeichnet. Sein ambivalenter Schluß gibt bis heute Rätsel auf: Muß man den Roman als eine Verurteilung dekadenter Positionen lesen, da Dorian ja am Ende seine Hybris, seinen unmoralischen Lebenswandel, mit dem Leben bezahlt, oder kritisiert er sogar noch Dorians Halbherzigkeit, dessen Scheitern ja letztlich durch jenen Rest moralischen Gefühls bedingt ist, welches ihn zur Vernichtung seines eigenen Bildnisses schreiten läßt? Wildes eigene Homosexualität scheint verdeckt in dem Roman auf, auch wenn die Anspielungen darauf in der zweiten Ausgabe weitgehend abgemildert wurden.

Für Wilde wird The Picture of Dorian Gray noch auf andere Weise schicksalhaft: kurz nach der Veröffentlichung finden sich begeisterte Fans des Buches in Oscar Wildes Wohnung ein, unter anderem auch der um einige Jahre jüngere Lord Alfred Douglas, von Wilde bald zärtlich Bosie genannt. Ihre homosexuelle Verbindung ist es, die im prüden England bald für einen Skandal sorgt und Wilde 1895 in einem aufsehenerregenden Prozeß eine Verurteilung wegen anstößigen Verhaltens (»gross misdemeanour«) einbringt. Die Verurteilung und der Gefängnisaufenthalt bedeuten das Ende nicht nur der schriftstellerischen Karriere des ehemals so eleganten Dandys: er stirbt am 30. November 1900 in Paris, körperlich verfallen und gesellschaftlich isoliert – allein letzteres das sichere Todesurteil für einen Mann, der festliche Abendessen, anregende Konversationen und Theaterbesuche benötigte wie ein Fisch das Wasser.

Neben The Picture of Dorian Gray hat Wilde noch zwei weitere Prosatexte verfaßt, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind. Die mehrmals verfilmte Erzählung »The Canterville Ghost« (1891) stellt viele der ›gotischen‹ Mechanismen und Plotelemente auf den Kopf. Konfrontiert mit einer amerikanischen Familie, den neuen Besitzern von Schloß Canterville, erweist sich das Alte, Dekadente als lächerlich und unzeitgemäß: Dem Schloßgespenst gelingt es nicht, die neuen Bewohner in Angst und Schrecken zu versetzen, es wird statt dessen selber vertrieben und seiner Ruhe beraubt. Bis auf den allzu pathetischen Schluß ist »The Canterville Ghost« eine gelungene Parodie auf den Schauerroman, dekadente Topoi und Motive. Interessanter, weil stärker von schwarzem Humor geprägt, ist »Lord Arthur Savile’s Crime« (1891). Nachdem Arthur Savile durch einen Chiromantiker erfahren hat, daß er einen Mord begehen wird, versucht er alles, diese Prophezeiung in Erfüllung gehen zu lassen. Nach mehreren gescheiterten Mordversuchen (unter anderem an seiner Tante) ist es pikanterweise der Chiromantiker, den Savile in einer nebligen Nacht von einer Brücke stürzt. Die Erzählung streift nur das Übernatürliche, da es sich bei Arthur Saviles Verbrechen im eigentlichen Sinne um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt. (Wobei die Frage, inwieweit eine solche nicht dennoch oder gerade deswegen als ›übernatürlich‹ zu bezeichnen ist, hier nicht näher diskutiert werden soll; Max Beerbohm hat die Frage tongue-in-cheek aufgegriffen in »A.V. Laider«). Das augenscheinlich Unmoralische der Geschichte liegt in der Tatsache, daß die Folge des Verbrechens – der Tod eines Menschen – den Mörder merkwürdig ungerührt läßt; was ihn beschäftigt, ist, wie er das Verbrechen noch vor seiner bevorstehenden Hochzeit hinter sich bringen kann, damit es nicht einen dräuenden Schatten auf seine Existenz als Ehemann wirft. Beide Wilde-Erzählungen sind Beispiele für eine humorvolle Spielart dekadenter Phantastik, wie sie später auch von Ronald Firbank und gelegentlich auch Kenneth Grahame praktiziert werden sollte.

Ohne eine kurze Besprechung von Wildes Einakter Salomé bliebe jede Geschichte der Dekadenzliteratur, ob phantastisch oder nicht, unvollständig. Die Salomé, 1891 verfaßt, erschien zunächst 1893 auf französisch und wurde später von Lord Alfred Douglas ins Englische übertragen. Der Stoff war schon vor der Bearbeitung durch Wilde ›ur-dekadentes‹ Terrain. Auslöser einer regelrechten Salomé-Manie waren Auslassungen von Huysmans’ Charakter Des Esseintes in A Rebours zu den Darstellungen der Salomé in den Gemälden von Corbussier und Gustave Moreau. Huysmans – bzw. sein alter ego Des Esseintes – sieht in Salomé vor allem den Gestalt gewordenen Eros, die personifizierte Macht des Ewig-Weiblichen, welche dem männlichen Prinzip zum Verhängnis wird. Auch Wilde folgt in groben Zügen dieser Interpretation, gibt seiner Salomé aber Züge einer Lolita bei, von der nicht sicher ist, inwieweit sie Opfer und inwieweit sie Täter ist. Die alttestamentarische Geschichte von der Enthauptung Johannes des Täufers erlangt so universelle Bedeutung im Sinne eines Geschlechterkampfs. Feministisch gestimmte Kritiker wie Bram Dijkstra (Idols of Perversity. Fantasies of Feminine Evil in Finde Siècle Culture, 1986) haben darauf hingewiesen, daß der Mythos von der femme fatale, der männervernichtenden Frau, ein gerüttelt Maß an Misogynie enthalte. So werde der Mann zumeist als das geistige Prinzip angesehen, dessen Streben nach Höherem von den niederen Triebkräften der Frau besudelt und verhindert werde. Die Enthauptung Johannes’ erscheint in diesem Zusammenhang exemplarisch: auf vielen Darstellungen des vorletzten Jahrhundertendes sieht man, wie eine leichtgeschürzte Salomé mit dem abgeschlagenen Kopf des Johannes – dem Symbol geistiger Überlegenheit – spielt. Entsprechend werden die erotischen Annäherungsversuche Salomés von dem durch und durch vergeistigten Johannes (bei Wilde) zurückgewiesen – woraufhin sich die Geschmähte grausam an ihm rächt. Das letzte Wort in Wildes Stück hat jedoch Herodes, der zeitweilig ebenfalls der Anziehungskraft der femme fatale erlegen war, nun aber angesichts Salomés nekrophiler Faszination für den abgeschlagenen Kopf des Johannes seinen Soldaten befiehlt: »Tötet diese Frau!« Man mag dies, mit Bram Dijkstra, als perfide Rache des Mannes an der Frau deuten, der er sich geistig überlegen wähnt, deren erotischer Ausstrahlung er sich jedoch nicht entziehen kann.

Illustriert wurde die Salomé von Aubrey Beardsley, einem jungen Künstler, dessen Name ebenso zum Synonym für die britische Dekadenz geworden ist wie der Oscar Wildes. Beardsley (1872-1898) ist der herausragende Zeichner und Illustrator des britischen fin de siècle. Beeinflußt von japanischer Holzschnitzkunst, weisen seine Werke starke Schwarz-Weiß-Kontraste bei sparsamer, stets schwingender Linienführung auf. Beardsleys satirische Ader belegen vor allem auch die Illustrationen zur Salomé, welche die Vorlage gelegentlich recht frei interpretieren. Tatsächlich stellen Beardsleys Illustrationen eine eigene künstlerische Leistung dar, die gleichberechtigt neben dem Text stehen kann. Oscar Wilde war nie glücklich über diese Illustrationen, in denen er sich ansatzweise selbst karikiert fühlte, und zwischen ihm und Beardsley bestand zeitlebens ein eher frostiges Verhältnis.

Beardsley ist im übrigen auch Autor eines phantastischen Textes von Bedeutung. »The Story of Venus and Tannhäuser« (1894/1907) nimmt das bekannte Motiv vom Aufenthalt des Sängers im Venusberg auf, um daraus eine frivole Farce zu gestalten. Venus erscheint als erotische Salondame vor einem prunkvollen Dekor. Beardsleys literarische tour de force vermeidet die Pornographie, indem das Erotische gleichsam ins Verspielte, Artifizielle verschoben wird.

Als im April 1894 das Yellow Book, die Hauszeitschrift der britischen Dekadenz, zum ersten Mal erschien, war es nicht zuletzt das von Beardsley gestaltete Titelbild sowie seine Innenillustrationen, die den (von den Herausgebern sicher zum Teil beabsichtigten) Skandal auslösten. Heute ist die Aufregung um diese erste Ausgabe des Yellow Book schwer nachzuvollziehen, zumal darin auch unbedenkliche literarische Schwergewichte wie Henry James und Edmund Gosse abgedruckt waren. Das zeitgenössische Publikum jedoch fand Beardsleys Illustrationen »abstoßend und unverschämt« (»repulsive and insolent« – so der Kritiker der Times), und die Westminster Gazette verlangte allen Ernstes, daß das Parlament das neue Magazin verbieten solle. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der negativen Publizität war das Yellow Book während der kurzen Zeit seines Bestehens das wichtigste publizistische Organ der dekadenten Bewegung. Die meisten der Autoren, die heute mit dem fin de siècle in Verbindung gebracht werden, von Beerbohm über Mariott Watson bis Ella D’Arcy, wurden darin veröffentlicht – mit einer bedeutenden Ausnahme: Oscar Wilde. Angeblich hat sich Wilde später dafür gerächt, daß man ihn nie um einen Beitrag gebeten hat, indem er zur Verkündung seines Urteils mit einem gelben Buch unter dem Arm kam. Jedenfalls war die – fiktive – Verbindung Wildes mit dem Yellow Book in den Augen der Öffentlichkeit so nachhaltig, daß mit der Verurteilung Wildes auch das Ende für das Journal gekommen war. Obwohl Beardsley als künstlerischer Leiter entlassen wurde und man dem allgemeinen Publikumsgeschmack stärker Rechnung trug, mußte die Zeitschrift im April 1897 aufgrund der gesunkenen Verkaufszahlen eingestellt werden.

Von Frankreich aus startete beinahe zeitgleich mit dem Zusammenbruch des Yellow Book das Nachfolgemagazin The Savoy. Herausgeber war Arthur Symons, die künstlerische Leitung hatte Aubrey Beardsley. Im Vorwort zur ersten Ausgabe versuchte sich Symons vom Geruch der Dekadenz zu distanzieren. Dabei wies aber gerade der Titel der neuen Zeitschrift auf die Verbindung hin: hatte das Hotel Savoy doch, wie die Öffentlichkeit während des Wilde-Prozesses erfuhr, für manches Stelldichein des Dichters mit seinen homosexuellen Partnern den Rahmen abgegeben.

The Savoy gilt allgemein als künstlerisch hochwertiger als sein Vorgänger, das Yellow Book. George Bernard Shaw und Joseph Conrad gehörten zu seinen Autoren. Dennoch – oder wiederum deswegen? – mußte The Savoy bereits im Dezember 1896 eingestellt werden. Offensichtlicher Anlaß hierfür mag die Weigerung des Vertriebs Smith and Son gewesen sein, The Savoy an die Bahnhofsbuchläden auszuliefern. Tieferer Grund war, daß nach der Verurteilung Wildes alles, was auch nur im Entferntesten an Dekadenz oder moralische Verruchtheit erinnerte, dem viktorianischen Lesepublikum suspekt war bzw. ihm unzumutbar erschien.

Während der Zeit ihres Bestehens hatten beide Zeitschriften auch der Phantastik Raum gegeben. Einige der in unserer Anthologie vertretenen Geschichten erschienen zuerst im Yellow Book. Auch Kenneth Grahame, der später mit dem Jugendbuch The Wind in the Willows nachhaltigen Erfolg hatte, veröffentlichte dort mehrere genrenahe Texte. Ein typischer Yellow Book-Autor ist Max Beerbohm, obwohl die in dieser Anthologie berücksichtigten Erzählungen aus einer späteren Schaffensphase stammen: »Enoch Soames« und »A.V. Laider« stellen ebenso köstliche wie phantastische Reminiszenzen an die yellow nineties dar.

Eine weitere Ader des Phantastischen, die im Zusammenhang mit der Dekadenz stand, war das sogenannte Celtic Revival. Im Zuge des neu erwachenden irischen Unabhängigkeitsstrebens entdeckte man, wie schon einmal in der Romantik, die keltischen Mythen als literarische Fundgrube. Sammlungen keltischer Sagen und Legenden sowie Neubearbeitungen waren in dieser Zeit in Irland, Schottland und Wales en vogue. William Butler Yeats, Galionsfigur der neuen Bewegung, betrat die literarische Bühne 1885 mit einem schmalen Gedichtband; 1889 folgte The Wanderings of Oisin and Other Poems. Als Gründungsmitglied der National Literary Society und des Irish Literary Theatre, aus dem später die National Theatre Society wurde, bemühte er sich auch um die Wiederbelebung des Theaters. The Secret Rose und The Celtic Twilight versammeln irische Volksgeschichten und Mythen, teilweise mit phantastischem Einschlag. Die Geschichten um Michael Robarts aus The Tables of the Law sind geprägt von einem schwermütigen Mystizismus, der sie für heutige Leser, sofern sie nicht an esoterischen Vorlieben leiden, schwer zugänglich macht. Ähnliches gilt für die meisten Texte des schottischen Romanciers und Kritikers William Sharp, der unter dem Pseudonym ›Fiona Macleod‹ veröffentlichte.

Autoren und Elemente der phantastischen Dekadenz

Arthur Machen nutzte die Sagen seiner Heimat, des walisischen Grenzgebiets, für einige seiner besten phantastischen Erzählungen. Vor allem die Idee des ›kleinen Volkes‹ (little people), das bis heute unerkannt in schwer zugänglichen Gegenden fortlebe, war eine ständige Quelle der Inspiration für den bei aller Jovialität und Sinnenfreude letztlich melancholischen, introvertierten Autor. Die für diese Anthologie erstmals verdeutschten Kurzgeschichten zeigen die urbane Seite Machens. Wie auf walisischen Hochebenen und in versteckten Gebirgstälern unentdeckt phantastische Wesen hausen, so birgt auch das städtische London Winkel voller Geheimnisse und Schrecken.

Die 80er und 90er Jahre des neunzehnten Jahrhunderts waren geprägt von tiefgreifenden sozialen Veränderungen. Vor allem die Stellung der Frau in der Gesellschaft wandelte sich. Um die Jahrhundertwende gab es mehr heiratsfähige Frauen als Männer in England; der Überschuß unverheirateter Frauen drängte schon länger auf die neuen industriellen Arbeitsplätze in der Stadt, Ausbildungsstätten und Schulen für Frauen entstanden. Der Education Act von 1870 lieferte die Grundlage für eine allgemeine Schulbildung, nicht nur von Jungen, sondern auch von Mädchen. Das Phänomen der sogenannten new Woman, der modernen (neuen) Frau, die für ihren Lebensunterhalt nicht mehr auf den Mann angewiesen ist und die traditionelle Geschlechterverteilung in Frage stellt, war im öffentlichen Bewußtsein der viktorianischen Mittelschicht untrennbar mit dem Phänomen der Dekadenz verbunden.

Daß diese ›neuen‹ Frauen oft sehr fortschrittlich, streitbar und aktiv waren und keinesfalls dem Bild passiver, gelangweilter ›Endzeitschönheiten‹ entsprachen, fiel dabei kaum ins Gewicht. Natürlich aber gab es ›neue‹ Frauen, die der Dekadenz nahestanden bzw. dekadente Texte ablieferten. Und natürlich erregte jede Frau, die eine andere Rolle als die traditionelle für sich beanspruchte, Anstoß bei Vertretern einer bewegungsfreien bürgerlichen Ordnung. Doch beileibe nicht jede new woman war deshalb auch dekadent.

In dieser Anthologie sind mit Ella D’Arcy, Charlotte Mew und Vernon Lee drei wichtige Vertreterinnen jener Bewegung aufgenommen, deren Texte dekadenten Ansprüchen genügen. Ella D’Arcy war als Henry Harlands ›rechte Hand‹ quasi Mitherausgeberin des Yellow Book. Ihre zahlreichen Beiträge für die Zeitschrift sind fast durchweg von hoher Qualität und decken ein breites Spektrum unterschiedlicher Genres ab. »Villa Lucienne« stellt die subtile Variante einer Geisterhausgeschichte dar, bei der die mögliche Anwesenheit des Gespenstes fast ausschließlich über die Atmosphäre und die Wahrnehmungen eines Kindes vermittelt wird. Ähnlich wie in Henry James’ berühmter Gespenstergeschichte »The Turn of the Screw« aus demselben Zeitraum ist das Gespenst vielleicht nur ein Konstrukt subjektiver Wahrnehmung, womit die Geschichte das Kriterium der Todorovschen Phantastik erfüllen würde, bei der der Leser unschlüssig darüber gehalten wird, ob ein übernatürliches Ereignis tatsächlich stattgefunden hat oder nicht.

Charlotte Mews »The White Night« ist ein metaphysischer conte cruel, dem es gelingt, im Schicksal einer Nonne die Frage nach der Rolle der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft kritisch zu beleuchten. Als Pendant kann Lady Dilkes Kurzgeschichte »The Shrine of Death« gelesen werden, die in parabelhafter Form die Obsession der Dekadenz mit dem Tod vorführt und zugleich kritisiert.

Vernon Lee war bereits im Alter von 24 Jahren berühmt, als sie ihre Studies of the Eighteenth Century in Italy