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Große Krise, große Hoffnung? Die Geschichte der evangelikalen Bewegung ist vielfältig und umfangreich. Thorsten Dietz reagiert auf das Bedürfnis, die eigene Geschichte und Entwicklung nachzuvollziehen. Er erklärt fundiert und sehr persönlich, wie der Aufbruch der Evangelikalen zum Ausgangspunkt für zahlreiche Bewegungen wurde. Er greift aktuelle Krisenaspekte auf und beschreibt Zukunftsperspektiven, die Hoffnung wecken. Denn die Zukunft ist offen. Die Frage ist: Sind wir bereit für den nächsten Aufbruch?
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Seitenzahl: 565
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THORSTEN DIETZ
MENSCHEN
MIT
MISSION
EINE LANDKARTEDER EVANGELIKALEN WELT
SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-27035-8 (E-Book)
ISBN 978-3-417-00015-3 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/ Holzgerlingen.
Lektorat: Karoline Kuhn, www.elayz.de
Titelbild: © everst (shutterstock.com)
Autorenfoto: © Paulphotography7
Gesamtgestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
ÜBER DEN AUTOR
VORWORT
TEIL 1 | ORIENTIEREN – WAS IST EVANGELIKAL?
1. Evangelikalismus – eine globale Glaubensbewegung der Neuzeit
Die Merkmale des Evangelikalismus
Die Geschichte des Evangelikalismus
Institutionen des Evangelikalismus
Die gesellschaftspolitischen Ausprägungen des Evangelikalismus
2. Die evangelikale Bewegung in Deutschland
Pietismus (1670–1780)
Erweckungsbewegungen (1780–1850)
Konfessionalismus, Freikirchen und Gemeinschaftsbewegung (1850–1950)
Die evangelikale Bewegung in Deutschland (1950–heute)
Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Evangelikalen
Persönliches Fazit – Schubladendenken
TEIL 2 | HAUPTSTRASSE – WAS EINT DIE EVANGELIKALE BEWEGUNG?
3. Evangelisation
Lausanne 1974 – ein Wendepunkt und wie es dazu kam
Lausanne und der globale Evangelikalismus
Das ganze Evangelium mit der ganzen Gemeinde für die ganze Welt
Die Folgen des Lausanner Kongresses für Deutschland
Der Erfolg der Evangelikalen
4. Die Evangelikalen und die soziale Frage
Die soziale Frage in Lausanne
Auf dem Weg zum ganzheitlichen Evangelium
Integrale Mission
Die deutsche Debatte um Evangelisation und Transformation
5. Erfahrung des Geistes – die Pfingstbewegungen
Wurzeln der Pfingstbewegung
Die vier Wellen der Pfingstbewegung
Die Sache mit dem Wohlstandsevangelium
Geisterfahrung und neue theologische Tendenzen
Pfingstkirchen, Charismatiker und Evangelikale in Deutschland
6. Bekenntnis zur Wahrheit – Evangelikale und Theologie
Evangelikale und Theologie
Apologetik
Kampf um den wahren Glauben
Evangelikale Theologie in Deutschland
Wie sieht die Zukunft der evangelikalen Theologie in Deutschland aus?
Persönliches Fazit – Gotteserfahrung
TEIL 3 | KRISENGEBIETE – WELCHE SPANNUNGEN DURCHZIEHEN DIE EVANGELIKALE BEWEGUNG?
7. Apokalyptik
Amerikanische Apokalyptik
Israel – der Zeiger auf der Weltenuhr Gottes?
Endzeitdenken in Deutschland
Merkmale des apokalyptischen Verschwörungsdenkens
8. Fundamentalismus
Definitionsschwierigkeiten
Glaubensfundamente und sozialer Rückzug
Schriftverständnis und Kreationismus
Exklusive Kirchenbildung
Die Chicagoer Erklärung
Fundamentalismus in Deutschland
Fundamentalismus und Moderne – die große Vertrauenskrise
9. Die christliche Rechte
Die Geschichte der christlichen Rechten in den USA
Rechtes Christentum in Deutschland
Evangelikale und Demokratie
10. Postevangelikalismus
Jenseits des konservativen Evangelikalismus
Emerging Church
Alte und neue Postevangelikale
Dekonstruktion und Rekonstruktion des Glaubens
Die Bedeutung des Postevangelikalismus
Persönliches Fazit – Schattenseiten
TEIL 4 | BAUSTELLEN – WELCHE TRENDS ZEICHNEN SICH IN DER EVANGELIKALEN BEWEGUNG FÜR DIE ZUKUNFT AB?
11. Der Evangelikalismus und die Kultur der Moderne
Sieben Berge oder sieben Zwerge?
Die Benedikt-Option
Evangelikale und die moderne Kultur
Lausanner Bewegung, Evangelium und Kultur
Zwischen Kulturpessimismus und Inkulturation
12. Spiritualität
Die Stärken evangelikaler Spiritualität
Evangelikale Spiritualität in der Diskussion
Verwandlung und Gebrochenheit
13. Evangelikale Ethik und moralischer Wandel der Gesellschaft
Im Kulturkampf der Moderne
Naturrecht oder Reich-Gottes-Ethik?
Die Rolle der Frau in der christlichen Ethik
Der lange evangelikale Weg zur Gleichberechtigung
Auswege aus der Polarisierung?
14. Evangelikale und die Kirchen der Zukunft
Das dezentrale Kirchenverständnis der Evangelikalen
Eine kurze Geschichte evangelikaler Gemeindemodelle
Kirche der Zukunft
Persönliches Fazit – Grenzgänger
AUSBLICK
LITERATUR
ANMERKUNGEN
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
THORSTEN DIETZ ist Professor für Systematische Theologie an der »Evangelischen Hochschule TABOR« in Marburg. In Büchern, Blogs und Podcast-Projekten wie »Das Wort und das Fleisch« oder »Karte und Gebiet« setzt er sich für eine heute verständliche Gestalt des christlichen Glaubens ein.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Als Martin Hünerhoff und ich den Podcast Das Wort und das Fleisch begonnen haben, hat sich eine Dynamik entwickelt, die uns selbst überwältigt hat. Neben den hohen Aufrufzahlen entstand vor allem unter evangelikalen Hörerinnen und Hörern ein starkes Bedürfnis, uns in vielen Rückmeldungen aus der eigenen Geschichte zu erzählen und sich irgendwo auf dieser Landkarte wiederzufinden. Das ist alles andere als einfach. Denn wer definiert, was evangelikal ist, wer dazugehört und wer nicht? Sind auch die Angehörigen der Pfingstbewegung Evangelikale? Sind Evangelikale Fundamentalisten? Je länger man sich mit solchen Fragen beschäftigt, desto komplexer werden sie.
Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie warnte in ihrem viel beachteten Ted-Talk The Danger of a Single Story vor der Gefahr, komplexe Sachverhalte mit Hilfe einer einzigen Erzählung abbilden zu wollen.1 Mit „Story“ meint sie nicht einfach tatsächliche oder typische Erzählungen von Begebenheiten, sondern Geschichten, die vermeintlich das Wesen einer Idee oder Gruppierung abbilden. Typisch sind Geschichten nach der Logik „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, die auf den Punkt bringen sollen, was man mit dem „amerikanischen Traum“ mein. Adichie bestreitet keineswegs, dass wir alle solche Geschichten brauchen, um uns in der Welt zurechtzufinden. Ja, mehr noch: Faktisch ist unsere Wahrnehmung immer schon von solchen Erzählungen geprägt. Sie helfen uns, die Wirklichkeit wahrzunehmen und das Gesehene einzuordnen. Gefährlich wird es, wenn eine einzige Geschichte das Ganze abbilden soll. Denn dann bestimmt eine solche Story, was wir überhaupt noch von einer Sache wahrnehmen können.
Welche Geschichten werden über Evangelikale erzählt?
• Die Gefährlichen: Evangelikale sind frauenfeindlich und homophob. Weil sie den Pluralismus der modernen Welt nicht ertragen können, ziehen sie sich in eine Parallelwelt zurück, in der sie ihre Kinder indoktrinieren. Sie fallen leicht auf Verführer und Demagogen herein und stellen daher eine Gefahr für die Demokratie dar.
• Die intensiv Evangelischen: Evangelikale sind die wahren Jesusnachfolger. Sie lieben Jesus und vertrauen der Bibel; und darum werden sie in der Welt verachtet und verfolgt. Sie gehen den Weg konsequenter Nachfolge, ohne Kompromisse mit dem Zeitgeist.
• Die Ewiggestrigen: Evangelikale nehmen die Bibel wörtlich. Sie lehnen die Evolutionslehre und die modernen Bibelwissenschaften ab. Sie verweigern sich den modernen Wissenschaften und verachten die moderne Kultur. Böse sind sie nicht, eher herzensgut, aber naiv.
• Die Exoten: Evangelikalismus ist die Religion der der sozialen Aufsteiger. Evangelikale erleben Zeichen und Wunder. Ihr Glaube ist radikal – und darum hat er die Kraft, das Leben von Menschen zu verändern. Der Evangelikalismus ist ein Laboratorium religiöser Entdeckungen und Erfahrungen.
Solche Erzählungen bzw. „Storys“ sind heute weitverbreitet. Und sie sind einflussreich. Wenn man mit einem dieser Muster im Kopf auf die Suche geht, wird man fündig werden. Für einen Mann mit einem Hammer in der Hand sieht alles aus wie ein Nagel. Man entdeckt vermeintlich eindeutige Belege dafür, dass dieses Muster kein Klischee ist – diese Evangelikalen sind wirklich so. Wer sich vor Evangelikalen gruseln möchte, wird Belege finden. Ebenso wie diejenigen, die sie bewundern oder verachten wollen.
Es wäre eine Illusion, zeigen zu wollen, wie Evangelikale wirklich sind. Niemand sieht die Welt objektiv. Wir alle haben jeweils unsere Perspektive. Darum spreche ich von einer „Landkarte der evangelikalen Welt“. Eine Karte ist nicht das Gebiet. Sie ist nur eine zweidimensionale Abbildung davon. Wir alle machen uns Karten. Und jede Karte verrät auch etwas über diejenigen, die sie gezeichnet haben. Denn jede Karte lässt vieles weg und hebt nur hervor, was als wesentlich gilt.
Evangelikalismus ist bunt.Es geht mir in diesem Buch vor allem um eine Befreiung vom Tunnelblick für Verehrer und Verächter.
Evangelikalismus ist bunt. Sehr bunt. Darum geht es mir in diesem Buch vor allem. Um eine Befreiung vom Tunnelblick für Verehrer und Verächter. „Die“ Evangelikalen gibt es nicht. Dies ist kein Buch über die Evangelikalen, „wie sie wirklich sind“. Auch ich werde Geschichten erzählen. Mehr als eine. Denn die Evangelikalen existieren nur im Plural. Daher werde ich viele evangelikale Strömungen selbst zu Wort kommen lassen. Und ebenso werde ich viele Außenperspektiven auf die evangelikale Bewegung präsentieren. Beides gehört zusammen.
Ich versuche dabei fair zu sein, aber nicht neutral. Ich lebe seit Jahrzehnten in dieser Welt der Evangelikalen. Wie viele andere bin ich manchmal dankbar, manchmal frustriert, manchmal motiviert, manchmal deprimiert. All das wird so oder so in die Darstellungen einfließen. Zu einigen Punkten beziehe ich explizit Stellung. Jeweils am Ende der Hauptabschnitte blicke ich zurück aus der Perspektive meiner eigenen Lebenserfahrung. In meinen Beschreibungen sollte sich jede Strömung wenigstens einigermaßen wiedererkennen können, auch da, wo man meine Perspektiven oder Bewertungen nicht nachvollziehen oder gar anerkennen kann.
Dieses Buch ist als Einladung an die Skeptiker gemeint, das Positive, Wertvolle und Zukunftsfähige zu entdecken. Zugleich ist es eine Einladung an alle Insider, auch das Kritikwürdige und Erneuerungsbedürftige anzuschauen. Mein Ziel hätte ich erreicht, wenn nach der Lektüre die Feinde des Evangelikalismus milder, seine Anhänger kritischer – und alle differenzierter auf ihn blicken.
Natürlich ist mir klar, dass es jedem Lesenden freisteht, diesen frommen Wunsch zu ignorieren und nach dem zu suchen, was das eigene Bild von den Evangelikalen bekräftigt. Wer sich die Bestätigung des Bewusstseins eigener Grandiosität oder die Bekräftigung eigener Vorurteile erhofft, soll fündig werden können. Aber wie gesagt: Ich lade ein, neue Seiten dieser Bewegung und nicht nur die schon bekannten zu entdecken.
Warum interessieren sich gerade jetzt viele Menschen für ein tieferes Verständnis der evangelikalen Welt? Offensichtlich sind es zwei Dinge, die die Evangelikalen so bemerkenswert machen: ihre unübersehbare religiöse Ausbreitung in aller Welt und ihr von vielen als problematisch wahrgenommener politischer Einfluss in verschiedenen Weltregionen, vor allem aber in den USA.
In einem ersten Schritt (Teil 1: Orientieren) verschaffen wir uns einen Überblick über die evangelikale Bewegung. Wie ist die Bewegung entstanden? Welche Auslöser und beeinflussende Faktoren können wir erkennen? Welche zentralen Strukturen der evangelikalen Bewegung sind in ihrer historischen Entwicklung bis heute entstanden? Wenn ich in diesem Buch eine Landkarte der evangelikalen Welt wiedergeben möchte, so hat diese – wie jede Landkarte – eine ganz bestimmte Perspektive. Es handelt sich hier um eine spezifisch deutsche Sicht auf die Evangelikalen und ihre Geschichte. Der geschichtliche Überblick soll zeigen: In erster Linie ist die evangelikale Bewegung ein Phänomen der englischsprachigen Welt, das im Zuge der Globalisierung weltweiten Einfluss entfaltet, unter anderem auch in Deutschland. Es ist kein Wunder, dass die große mediale Aufmerksamkeit auf die US-Evangelikalen natürlich auch die Wahrnehmung der deutschen Evangelikalen mitbestimmt.
Ein zentrales Ziel dieses Buches besteht darin, als Gegenpol zu den verbreiteten Verkürzungen gleichermaßen die Einheit und Vielfalt evangelikaler Bewegungen zu betonen; und in dieser Absicht vor allem immer wieder die amerikanische und die deutsche Entwicklung zu vergleichen. Wo beeinflussen amerikanische Tendenzen die deutschen Evangelikalen? Und wo gibt es in Deutschland ganz eigene und andere Entwicklungen?
In einem nächsten Schritt geht es mir dann vor allem um den Aspekt der Einheit, um das Verbindende, was ich als die „Hauptstraße“ (Teil 2) der Bewegung bezeichne. Dabei konzentrieren wir uns besonders auf die Geschichte der letzten 50 Jahre, das heißt, den Evangelikalismus im engeren Sinne. Bei einer globalen Strömung von 600 Millionen Menschen lässt sich immer sagen, dass alles noch viel komplexer ist. Darum nehme ich Maß beim entscheidenden historischen Moment der modernen Geschichte: dem Lausanner Kongress 1974. Dieses Ereignis hatte und hat definierende Bedeutung für die globale Bewegung insgesamt. Hier zeigen sich die zentralen Kernanliegen. Hier wird aber auch von Anfang an ein breites Spektrum der modernen Evangelikalen deutlich. Die Lausanner Bewegung und die Weltweite Evangelische Allianz sind die Netzwerke, an denen wir begründet festmachen können, ob und inwiefern Strömungen, Personen und Impulse als evangelikal bezeichnet werden können.2
Dann wird es in einem dritten Block (Teil 3: Krisengebiete) vor allem um die Vielfalt der Evangelikalen gehen, nicht zuletzt auch um die erheblichen Spannungen, die sich gegenwärtig durch die Bewegung ziehen.3 In vier Kapiteln möchte ich mich der Relevanz einer apokalyptischen Zeitdeutung, eines wiedererstarkenden Fundamentalismus, einer zunehmenden politischen Öffnung nach rechts und schließlich umgekehrt gegenläufigen Tendenzen zu einem Postevangelikalismus außerhalb wie innerhalb der klassisch evangelikalen Kirchen und Werke widmen.
In einem vierten Schritt (Teil 4: Baustellen) sollen schließlich Zukunftsfragen erörtert werden. Dabei möchte ich Querschnittsthemen ansprechen wie das Verhältnis zur modernen Kultur, die Bedeutung der evangelikalen Spiritualität, die Entwicklung einer evangelikalen Ethik und zuletzt die Bedeutung von Gemeindegründung und -entwicklung. Welche Trends zeichnen sich auf diesen Feldern ab? Wie stellt sich das Verhältnis zu den anderen Kirchen der Ökumene dar? Welche internen Debatten und Auseinandersetzungen lassen sich auf diesen praktischen Feldern wahrnehmen?
In diesem Sinne: Gute Reise!
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Zunächst brauchen wir eine erste Verständigung über unser Thema: Was sind Evangelikale? Und schon wird es kompliziert. Was bekennende Evangelikale über sich selbst sagen, was kirchenhistorische Forschung zu ihnen schreibt und was Medien in sehr viel größerer Knappheit berichten, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Ich möchte daher im Folgenden vier grundlegende Perspektiven vorstellen, die ich miteinander verbinden möchte: grundlegende Merkmale des Evangelikalismus, Epochen des Evangelikalismus, Institutionen des Evangelikalismus und gesellschaftspolitische Ausprägungen des Evangelikalismus.
Woran erkennt man Evangelikale? Der britische Historiker David Bebbington hat in seinem Standardwerk über die Geschichte der Evangelikalen in Großbritannien vier zentrale Aspekte vorgeschlagen.4 Dieses Verständnis wurde nicht nur in der internationalen Forschung zu Evangelikalen vielfach aufgegriffen. Es wurde auch von vielen Evangelikalen akzeptiert und zum Teil ihrer Selbstbeschreibung. Evangelikale erkennt man an folgenden Merkmalen: der Betonung der Bekehrung, dem Ansporn zur Weltveränderung, der Höchstschätzung der Bibel und an der Konzentration auf Jesus Christus als Erlöser.
Das Stichwort Bekehrung steht nicht zufällig am Anfang. Mit diesem Konzept verbinden sich ein inhaltliches Anliegen, soziale Differenzierung und praktische Konsequenzen. Evangelikale zeichnen sich aus durch ihre starke Betonung der eigenen Entscheidung für Jesus Christus. Evangelikal ist man nicht durch Geburt, Familientradition oder Kindertaufe. Evangelikal ist man bewusst, durch eine persönliche Hinwendung zum christlichen Glauben.
Evangelikal ist man bewusst, durch eine persönliche Hinwendung zum christlichen Glauben.
Das Konzept „Bekehrung“ hat soziale Konsequenzen: es unterscheidet Bekehrte und Unbekehrte, Gläubige und Nichtgläubige. Daher bedarf es einer gewissen Eindeutigkeit. Zu manchen Zeiten haben Evangelikale bestimmte Muster von Bekehrungserfahrungen betont. Aber es wäre eine Engführung, allen Evangelikalen solche Schematisierungen zu unterstellen. Wichtiger als die konkrete Gestalt einer Bekehrungserfahrung ist die deutliche Unterscheidung von gläubig und ungläubig, von bekehrt und unbekehrt. Niemand muss sich in einer ganz bestimmten Weise bekehrt haben. Aber als wesentlich gilt das Ergebnis einer solchen Bekehrung, ein persönliches Bekenntnis zu Jesus Christus als Erlöser und ein Leben in der Nachfolge.
Die Hochschätzung der Bekehrung hat praktische Folgen. Dass Menschen zum Glauben kommen, ist ein überragendes Ziel für das eigene Christsein, das alle Bereiche des persönlichen wie des gemeindlichen Lebens mindestens indirekt mitbestimmt. Evangelikale sind Menschen mit Mission.
Das zweite Merkmal von Evangelikalen ist ein ausgeprägter religiöser Aktivismus in kirchlicher, missionarischer und sozialer Hinsicht. In ihrem Gemeindeverständnis betonen Evangelikale, dass es am Leib Christi keine passiven Glieder gibt. Die reformatorische Idee vom Priestertum aller Gläubigen wird stark betont. Die klassisch kirchliche Tradition einer starken Priester- und Pfarrerzentrierung wird abgelehnt.
Evangelikale engagieren sich besonders stark für Evangelisation und (Welt-)Mission. Viele von ihnen unterstützen Missionarinnen und Missionare in aller Welt finanziell und im Gebet. Für den Großteil der evangelikalen Strömungen gehört dazu auch ein intensives Bemühen um Sozial- und Gesellschaftsreformen. Evangelikale verstehen sich als Licht und Salz ihres Umfelds und wollen auch als Mitglieder ihrer Gesellschaft Zeugen Jesu Christi sein.
Die Bibel ist für Evangelikale nicht nur die Grundlage der kirchlichen Lehre wie in der Reformation, sondern zentraler Bezugspunkt für alle Gläubigen in ihrer Frömmigkeit, in ihrer missionarischen Aktivität, in ihrem Denken und ihrer Praxis.
In der Reformationszeit war eine Bibel für die meisten Menschen noch unbezahlbar teuer. Erst ab dem 18. Jahrhundert sorgen Pietisten und Evangelikale dafür, dass die Bibel für viele erschwinglich wird. Nun erst wird von allen Gläubigen regelmäßiges Bibellesen erwartet, und sei es in der Form der berühmten Herrnhuter Losungen. Die Bibel selbst wird zu einem zentralen Bezugspunkt der persönlichen Frömmigkeit.
Evangelikale streben nach einem möglichst biblisch fundierten Denken, in der Theologie wie, soweit es möglich ist, in der christlichen Lehre für alle Gläubigen. Die Betonung der autonomen Vernunft in der Aufklärungszeit wird entsprechend kritisch gesehen, vor allem da, wo dieses Denken Theologie und Kirche prägt.
Schließlich verschreiben sich Evangelikale in besonderer Weise der Bibelverbreitung. Sie engagieren sich sehr stark für Bibelübersetzungen in möglichst viele Sprachen der Welt und entwickeln viele Formate, mit deren Hilfe die Bibel für Menschen aller Stände zugänglich wird.
Für alle evangelikale Strömungen ist eine auf Jesus Christus zentrierte Frömmigkeit von zentraler Bedeutung. Das gilt so allerdings auch für die meisten Formen des Christentums insgesamt. Gerade auch im liberalen Christentum spielt Jesus eine zentrale Rolle. Was ist die Besonderheit der evangelikalen Beziehung zu Jesus Christus?
Evangelikale legen großen Wert darauf, dass Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist. Moderne Versuche, Jesus als rein menschliches Vorbild des Glaubens zu würdigen, werden entschieden abgelehnt.
In vielen evangelikalen Bekenntnissen wird Jesus Christus als Herr und Erlöser bezeichnet. Die Menschwerdung Gottes wird stark betont. Noch zentraler ist für die allermeisten das Kreuz Jesu, verstanden als stellvertretender Opfertod zur Erlösung von Sünde und Tod. Für die meisten Evangelikalen ist eine intensive Jesusfrömmigkeit typisch. Sie beten häufiger direkt zum Auferstandenen als die Angehörigen anderer Frömmigkeitstraditionen, und sie suchen in ihrem Lebensalltag Orientierung am Handeln Jesu.
Evangelikale teilen nicht nur bestimmte Merkmale, sie sind verbunden durch eine gemeinsame Geschichte.
Für die heutige Verständigung über Evangelikalismus sind diese vier Merkmale schon deshalb unverzichtbar, weil sie eine so breite Anerkennung gefunden haben, sowohl in der Forschung wie bei vielen Evangelikalen. Aber dieses Schema allein genügt nicht. Nicht wenige Katholiken finden sich in diesen Merkmalen wieder, ohne dass sie sich deshalb als evangelikal bezeichnen würden. Evangelikale teilen nicht nur bestimmte Merkmale, sie sind verbunden durch eine gemeinsame Geschichte. Ihre Überzeugungen, ihre Traditionen und ihre Identität sind durch eine Reihe von geschichtlichen Erfahrungen geprägt worden.
Es gibt Evangelikale, die denken, ihren Glauben direkt auf die Urchristenheit zurückführen zu können. Sie sind überzeugt, dass Evangelikale stets für die gleichen biblischen Anliegen gestanden haben. Faktisch haben sie jedoch sowohl in ihren theologischen Überzeugungen als auch in ihrer kulturellen und gesellschaftspolitischen Ausrichtung immer wieder dramatische Veränderungen durchlaufen.
In verschiedenen Epochen und nicht zuletzt auch auf unterschiedlichen Kontinenten ist im Laufe der Geschichte eine enorme Vielfalt von evangelikalen Ausprägungen entstanden. Wer die Bewegung besser verstehen will, muss die Grundzüge ihrer Geschichte kennen.
In den letzten Jahrzehnten wurde intensiv zur Geschichte der Evangelikalen geforscht. In diesem Buch werde ich mich vor allem auf den Evangelikalismus der letzten 50 Jahre konzentrieren. Aber natürlich kann dabei nicht ganz von seiner Geschichte insgesamt abgesehen werden.
Man muss an dieser Stelle unterscheiden zwischen Evangelikalismus im weiteren Sinne und Evangelikalismus im engeren Sinne. Im weiteren Sinne bezieht sich der Begriff Evangelikalismus auf die geistlichen Aufbrüche im Protestantismus seit den 1730er-Jahren in Nordamerika und Großbritannien. Von dieser Zeit an lässt sich eine kontinuierliche Geschichte der Evangelikalen erzählen, auf beiden Seiten des Atlantiks und weit darüber hinaus, vor allem für die englischsprachige Welt.6 Schon die globale Ausbreitung im britischen Empire bzw. später in den Staaten des Commonwealth und in den USA sowie die breite Missionstätigkeit in aller Welt sorgten dafür, dass diese Strömungen globale Prägekraft bekamen. Mit Evangelikalismus im engeren Sinne meine ich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn erst in dieser Zeit bedeutet das Wort evangelical auch in USA nicht mehr allgemein „evangelisch“, sondern eine bestimmte Frömmigkeitsform, die sich auf die Erweckungstradition seit dem 18. Jahrhundert beruft.
In den nordamerikanischen Kolonien kam es in den 1730er- und 1740er-Jahren zu einer Reihe von geistlichen Erweckungen, das heißt, der zeitnahen und intensiven Zuwendung vieler Menschen zum christlichen Glauben. Im geschichtlichen Rückblick sprach man vom Great Awakening. Für die Identität und das geschichtliche Selbstbewusstsein der evangelikalen Bewegung haben diese Aufbrüche bis heute überragende Bedeutung. Prediger wie Jonathan Edwards (1703–1758) und der aus England stammende George Whitefield (1714–1770) sorgten mit ihrer Verkündigung vor allem in Nordamerika für massenhafte Zuwendung zum christlichen Glauben. Gleichzeitig breitete sich in Großbritannien vor allem durch John Wesley (1703–1791) die geistliche Erneuerungsbewegung des Methodismus aus, die mit den amerikanischen Aufbrüchen vielfältig verbunden war. Edwards, Whitefield und die Brüder John und Charles Wesley gelten als die zentralen Begründer des Evangelikalismus.7
In den nordamerikanischen Kolonien, vor allem in Neuengland, gab es das starke Erbe eines Erweckungspuritanismus. Viele Zuwanderer kamen aus religiösen Gründen nach Nordamerika. Für manche war die Reise über den Atlantik Teil einer göttlichen Mission: Eine Stadt auf dem Berg zu sein, „a City upon a Hill“, wie es John Winthrop in einer berühmt gewordenen Predigt von 1630 formulierte. Die puritanischen Pilgerväter hatten unterschiedliche Gemeindeformen entwickelt, teilweise mit staatskirchlichen Zügen. Die Kindertaufe war üblich, ebenso wie Bemühungen um Einheit der geistlichen und der örtlichen Gemeinschaft. Zugleich strebte man nach einem geheiligten Leben und entwickelte entsprechend hohe moralische Anforderungen für die Gemeindemitglieder.
Jonathan Edwards war wie schon sein Großvater Stoddard stark geprägt von diesem puritanischen Erbe. Dass Edwards in seiner Gemeinde in Northampton einen erwecklichen Aufbruch erlebte, war auch nichts Ungewöhnliches. Schon sein Großvater kannte solche Segenszeiten. Edwards verfasste über die Bekehrungen in seiner Gemeinde einen einflussreichen Bericht, der auch in Europa wahrgenommen wurde.
Von Anfang an war die Bewegung vielfältig. Edwards stand wie viele der erweckten Gemeinden in der Tradition des Kongregationalismus, einer reformierten Kirchenform, die die Eigenständigkeit der Ortsgemeinde betonte. Whitefield und Wesley entstammten hingegen dem britischen Anglikanismus. Vor allem zwischen den beiden Briten entstanden immer mehr Spannungen. Whitefield gehörte zum reformierten Strang des Anglikanismus und betonte sehr stark die Souveränität der göttlichen Gnade: Glaube ist demnach keine menschliche Entscheidung, sondern ein göttliches Geschenk. Wesley kritisierte zunehmend eine solche reformierte Position. Er verkündete die freie Gnade Gottes, die allen Menschen Erlösung anbietet, nicht nur denjenigen, die Gott dazu vorherbestimmt haben mag. Wesley stellte die menschliche Verantwortung stärker ins Zentrum, die Beteiligung des Menschen am Heilswirken Gottes, wie er sich überhaupt für eine gesellschaftsreformerische Tätigkeit aller Gläubigen einsetzte. Nachdem es sich zunächst beim Methodismus um eine Bewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche gehandelt hatte, wurde Ende des 18. Jahrhunderts daraus eine eigene Kirche.
Die großen erwecklichen Aufbrüche verebbten nach einigen Jahren. Und doch waren die religiösen und kulturellen Folgen nachhaltig. Religiös markierten sie einen Übergang von einem Christentum, in das man durch Geburt/Taufe eintritt, zu einem Christentum, das durch Entscheidung und bewusstes Engagement entsteht.
Der traditionelle Protestantismus war ähnlich wie das katholische Christentum darauf angelegt, möglichst die gesamte Gesellschaft zu umfassen und zu prägen. Die frühen Evangelikalen stärkten hingegen die religiöse Mündigkeit des Einzelnen gegenüber Kirche und Staat. Da der Glaube nicht mehr nur darin bestehen sollte, überlieferter Lehre zuzustimmen, wuchs die Bedeutung eigener Glaubenserfahrung. Glaube wurde persönlicher und individueller: Es ging nicht mehr nur um Richtigkeit der Überzeugungen, sondern um persönliche Heilsgewissheit.
„True religion, in great part, consists in holy affections
.“
– Jonathan Edwards
Ein großer Unterschied zum älteren Protestantismus war die veränderte Zukunftserwartung der Erweckten. Jonathan Edwards sah die geistlichen Aufbrüche in einem großen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Er glaubte fest daran, dass der Auftrag Jesu, alle Völker zu Jüngern zu machen, als Verheißung gelesen werden dürfe. Die globale Durchsetzung des Evangeliums sei der Wille Gottes; und alle Gläubigen seien berufen, an dieser Bewegung teilzuhaben. Zugleich kam es zu einer Lockerung der traditionellen Zugehörigkeit zu den Konfessionskirchen. Diejenigen, die sich als bekehrt und wiedergeboren verstanden, fühlten sich einander näher als den Angehörigen der eigenen Kirche. Zunehmend entstanden globale Netzwerke zur Missionstätigkeit und Bibelverbreitung, die nicht mehr an eine bestimmte Kirchenzugehörigkeit gebunden waren.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Erweckung zeigten sich auch in der Stärkung eines demokratischen Bewusstseins. Man kann zwar nicht die amerikanische Revolution bzw. den Weg zur Demokratie insgesamt aus Impulsen der evangelikalen Bewegung ableiten. Hier spielten viele Einflüsse der britischen und der französischen Aufklärung eine wichtige Rolle. Aber der nordamerikanische Evangelikalismus war sicherlich auch ein Faktor, der die politische Entwicklung hin zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika begünstigte.
Der Evangelikalismus trug schließlich auch zu einem kulturellen Wandel bei.
Der Evangelikalismus trug schließlich auch zu einem kulturellen Wandel bei. Im älteren Protestantismus waren Tugenden wie Ordnung, Einordnung, vernünftige Selbstbeherrschung etc. Höchstwerte. Gefühle und Leidenschaften schrieb man vornehmlich Frauen und Kindern wie auch nichtweißen Menschen zu. In der Erweckung entdeckten breite Kreise die Kraft religiöser Begeisterung.8 Die positive Erfahrung frommer Leidenschaften wurde kulturprägend. „Passion“ war zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch ein negativ besetztes Wort. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist es umgekehrt: Leidenschaften gelten als positiv, ja notwendig. In der deutschen Sprache ist es ähnlich: In den kulturellen Strömungen der Empfindsamkeit und der Romantik setzt sich diese neue Wertschätzung des Gefühls durch. Sowohl in Nordamerika als auch in Europa stehen religiöse, evangelikale bzw. pietistische Strömungen am Beginn eines neuen Menschenbildes.9
In Europa wie auch in den nordamerikanischen Kolonien ist das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts deutlich weniger von evangelikalen Aufbrüchen geprägt. Die Führungspersonen der amerikanischen Revolution sind stärker von der europäischen Aufklärung als von christlicher Frömmigkeit geprägt. Und doch ist die Erweckung nicht einfach verschwunden. Evangelikale Frömmigkeit blieb eine prägende Kraft in Nordamerika wie in Großbritannien inklusive seiner weltweiten Kolonien. Und dieses Erbe sollte im 19. Jahrhundert zu neuer Blüte kommen.
Beginnen wir für diesen Abschnitt mit Großbritannien:10 Die britischen Evangelikalen des 18. Jahrhunderts sammelten sich vielfach in Sondergemeinschaften jenseits der anglikanischen Staatskirche. Sie standen in der Tradition freikirchlicher Bewegungen wie der Baptisten, unter anderem mit John Bunyan (1628–1688), dem Autor der berühmten Pilgerreise (1678), oder der Dissenter (zum Beispiel Isaac Watts), die sich den oft starren Reglements der anglikanischen Staatskirche widersetzten. Im 18. Jahrhundert erlebten sie großen Zuwachs durch die methodistische Bewegung der Brüder John und Charles Wesley, bis diese selbst zu einer eigenständigen Kirche wurde.
Ende des 18. Jahrhunderts wurde auch die anglikanische Kirche zunehmend geprägt von einem evangelikalen Flügel. Exemplarisch können wir und das an der Wirkung von John Newton (1725–1807) veranschaulichen. Newtons Lied Amazing Grace ist bis heute eine klassische Hymne evangelikaler Frömmigkeit:
AMAZING GRACEAmazing grace, how sweet the sound, That saved a wretch like me.I once was blind, but now I see, was lost, but now I’m found.
Unverkennbar drückt sich in diesem Lied die typisch evangelikale Bekehrungserfahrung aus. Das Bekenntnis eigener Blind- und Verlorenheit ist keine fromme Floskel. Zwanzig Jahre lang arbeitete Newton als Seemann und Kapitän auf einem Schiff, das Sklaven in die nordamerikanischen Kolonien verschleppte. Millionen von Afrikanern wurden entführt bzw. ihren Eltern geraubt. Sie wurden unter unmenschlichen Bedingungen zu lebenslanger Zwangsarbeit verpflichtet. Weiße, „christliche“ Menschen beraubten sie aller Wurzeln, sie verboten ihnen ihre Religionsausübung, ihre Sprache und oft das Recht auf eine eigene Familie.
Nach seiner Tätigkeit auf einem solchen Schiff wurde Newton anglikanischer Priester. Erst allmählich wurde ihm bewusst, in was für ein Unrecht er verwickelt gewesen war. Am Ende seines Lebens litt er zunehmend unter seinen Erinnerungen. Als Priester gründete er die einflussreiche Gruppe der sogenannten Clapham Saints. In diesem Netzwerk prägte er viele einflussreiche Freunde sowohl mit seiner evangelikalen Frömmigkeit als auch mit seiner Sozialkritik am Sklavenhandel. Immer wieder betonte er, dass die Abschaffung der Sklaverei das einzige christlich verantwortbare Ziel sein könne.
Mit dieser Vision prägte Newton unter anderem den jungen William Wilberforce (1759–1833).11 Der britische Politiker Wilberforce widmete dieser Sache sein ganzes Leben. In Großbritannien gab es zwar keine Sklavenhaltung wie in den USA, aber das Land war tief verstrickt in den Handel mit Sklaven. 1789 beantragte Wilberforce im Parlament erstmals das Verbot des Sklavenhandels. Der Widerstand war enorm, denn es ging um viel Geld, Macht und Einfluss. Auch theologisch war diese Forderung nicht unumstritten. Gegen Misshandlungen von Sklaven zu protestieren mochte ein überzeugendes christliches Anliegen sein. Aber Sklaverei rechtlich zu verbieten, wo sie doch im Alten wie im Neuen Testament als selbstverständlich erscheint und gesetzlich geordnet wird? Aus konservativer Sicht schien das revolutionärer, humanistischer Überschwang zu sein. Aber Wilberforce und viele weitere Evangelikale blieben beharrlich.
1807 wurde Sklavenhandel in Großbritannien untersagt. Aber Wilberforce sah seine Mission noch längst nicht als beendet an. Nun musste es darum gehen, Sklaverei weltweit zu ächten und gänzlich abzuschaffen. Bis zu seinem Tod arbeitete Wilberforce daran, dieses Ziel zumindest im britischen Empire mit seiner globalen Verzweigung über alle Kontinente zu erreichen. In seinem Einfluss spiegelt sich auch der gewachsene Einfluss der evangelikalen Frömmigkeitsbewegung insgesamt.
– – –
Auch in den USA kam es im frühen 19. Jahrhundert zu einem neuen Aufschwung der Erweckungsbewegungen. Für diese Zeit spricht man von einer zweiten großen Erweckung (Second Great Awakening), die nicht nur einige Jahre, sondern Jahrzehnte lang dauerte. Unter dem Einfluss dieser Erweckung veränderte sich die religiöse Landschaft der jungen USA sehr stark. Starken Zuwachs verzeichneten vor allem die Methodisten und Baptisten. Typisches Merkmal wurden Camp Meetings; große, oft mehrwöchige Veranstaltungen an einem Ort. Die Verkündigung zielte nun spezifischer darauf ab, eine Bekehrung zu Christus zu bewirken. In diesem Zusammenhang entstanden typische Merkmale des Formats, das wir bis heute als „Evangelisation“ kennen. Nun entstand erstmals die Sitte, Menschen ausdrücklich zu einer Entscheidung für Christus aufzurufen und sie zu diesem Zweck nach vorne zu rufen, wo sie ihre Bekehrung in einem Übergabegebet zum Ausdruck bringen sollten.12
Im frühen 19. Jahrhundert entstand die Sitte, Menschen zu einer Entscheidung für Christus mit Übergabegebet aufzurufen.
Wie in Großbritannien gehörten auch in den USA Erweckung und Gesellschaftsreform zusammen. Viele US-Evangelikale wurden Vorreiter im Kampf für die Gleichheit aller Menschen, egal ob weiß oder schwarz, männlich oder weiblich. Es war das evangelikale Oberlin College, das erstmals ein Hochschulstudium nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen, nicht nur für Weiße, sondern auch für Schwarze ermöglichte. Die politischen Folgen waren enorm.
Harriet Beecher Stowe war die Tochter von Lyman Beecher, einem der führenden Erweckungstheologen des 19. Jahrhunderts. Berühmt wurde sie durch ihren Roman Onkel Toms Hütte (1852). In einer emotionalen Geschichte verpackt, kritisiert die Erzählung massiv die grausame Behandlung der schwarzen Sklaven im amerikanischen Süden. Vor allem in den nördlichen Bundesstaaten setzte sich bei vielen Evangelikalen die Überzeugung durch, die schon Wilberforce antrieb: Sklaverei ist eine Beleidigung der Gottebenbildlichkeit aller Menschen. In einem Land der Freien und Gleichen kann es keine Sklaven geben. Der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) zwischen den Nord- und Südstaaten entzündete sich wesentlich an dieser Frage.
Das 19. Jahrhundert war insgesamt eine Blütezeit des Evangelikalismus.13 George Williams gründete 1844 den ersten YMCA in London. Das Ziel war es, bekehrte jungen Männer bei einem ganzheitlichen Leben im Glauben zu unterstützen, sowohl als Zeugen für Jesus Christus als auch im Einsatz für soziale Reformen in der Gesellschaft. 1846 wird in London die Evangelische Allianz gegründet, ein Zusammenschluss der Erweckten über die Grenzen ihrer Konfessionskirchen hinweg. Vor allem dem schottischen freikirchlichen Theologen Thomas Chalmers (1780–1847) war es ein großes Anliegen, Evangelikale aus verschiedenen Kirchen zu gemeinsamem Zeugnis des Glaubens zu verbinden. Es spricht für das Selbstbewusstsein der Gründer, dieses Projekt von Anfang an international angelegt zu haben. In einer Reihe von protestantischen Ländern bzw. Regionen wird diese Frömmigkeit prägend, teilweise dominant. Sie beeinflusst Gesellschaft, Ethos und Kultur. Die berühmt-berüchtigte Sexualmoral des viktorianischen Zeitalters entspricht weitgehend den Werten der Evangelikalen dieser Zeit.
Diese Epoche ist für die Geschichte des Evangelikalismus der wohl größte Einschnitt. Zunächst finden viele Traditionen des Second Great Awakening ihre Fortsetzung. In den USA wird Dwight L. Moody (1837–1899) zum bedeutendsten Evangelisten seiner Epoche. Er predigt in den größten Hallen vor Zehntausenden; in den USA, aber zum Beispiel auch in Großbritannien. In London wird der baptistische Prediger Charles Spurgeon (1834–1892) durch seine theologisch tiefgründige und rhetorisch leidenschaftliche Verkündigung national bekannt und einflussreich. Auch die methodistischen Impulse zur Intensivierung des christlichen Lebens setzen sich in unterschiedlichen Strömungen fort, von denen man als „Heiligungsbewegung“14 spricht. Diese breitet sich weltweit aus, in den USA, in Großbritannien, aber auch in Deutschland und der Schweiz. Aus dieser Strömung erwachsen eine Reihe von Heiligungskirchen, wie die Kirche des Nazareners oder die Heilsarmee von William und Catherine Booth.
Die Heiligungsbewegung bringt auch eine neue Form von Missionsgesellschaften mit sich, sogenannte „Glaubensmissionen“.15 Der wichtigste Vertreter ist der China-Missionar Hudson Taylor (1832–1905). In dieser Bewegung sieht man die stark kirchliche Verankerung vieler Missionsgesellschaften tendenziell kritisch. Für die Vertreter der Glaubensmission ist der missionarische Dienst eine Sache göttlicher Berufung und Führung. Diesen Weg könne man nur in völliger Abhängigkeit von Gott gehen. Als Ausdruck dieser Haltung gilt das Wagnis, sich nicht nur nicht auf das feste Gehalt einer Kirche zu verlassen, nicht einmal um Spenden zu bitten; sondern sich senden zu lassen in der Zuversicht, dass Gott einen mit allem Nötigen versorgen wird. Bald waren es Zehntausende solcher Missionarinnen und Missionare, die in ihrer radikalen Hingabe sehr viel Unterstützung und Spendengelder erhielten.
In dieser Zeit kommt es zu einer stärkeren apokalyptischen Endzeiterwartung.
Zugleich erlebt in dieser Zeit die evangelikale Mentalität starke Veränderungen. Einschneidend ist vor allem eine Abkehr vom früheren gesellschaftlichen Gestaltungsoptimismus und eine stärkere apokalyptische Endzeiterwartung.16 Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicherlich war der amerikanische Bürgerkrieg ein Einschnitt. Denn so sehr er für den Norden ein Erfolg war, so sehr wirkte die Niederlage im Süden nach, wo es viele Evangelikale gab, die den Besitz von Sklaven bis zuletzt mit bibeltreuen Argumenten verteidigt hatten. Aber auch ansonsten erleben die USA eine Zeit rasanten Wandels.
Ununterbrochene Ströme der Zuwanderung lassen das Land immer vielfältiger werden. Die USA werden katholischer, jüdischer – und zunehmend auch säkularer. Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung führen zu völlig anderen Lebenswelten als im alten, weit überwiegend ländlich geprägten Amerika der Erweckungen. Die permanente Veränderung der Bevölkerung lässt den Anteil der Evangelikalen immer geringer werden. Sie verlieren nicht den Glauben an ihre Mission; wohl aber an ihren innerweltlichen Erfolg.
Parallel und in gewisser Spannung zu dieser Eintrübung der Zukunftserwartungen beginnt ein großer Aufbruch: der Entstehung der Pfingstbewegung im Jahr 1906. Der schwarze Prediger William Seymour (1870–1922) hielt in der Azuza Street in Los Angeles Veranstaltungen ab, die durch besonders extreme Manifestationen des Glaubens geprägt waren. Starke Emotionen waren für evangelikale Durchbruchserfahrungen seit dem 18. Jahrhundert typisch. Neu waren Erscheinungen wie das Reden in unverständlichen Lauten (Zungenrede) und die starke Betonung der Möglichkeit von körperlichen Heilungen. Aus dem lokalen Aufbruch wurde eine globale Bewegung, die zu vielen Kirchengründungen führte. Die später so genannte Pfingstbewegung verbreitete sich in wenigen Jahren auf der ganzen Welt.17
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kommt es im amerikanischen Protestantismus zu tiefgreifenden Spaltungen von Fundamentalisten und Liberalen. Dieser Konflikt ist nicht völlig neu. Innerkirchliche Verwerfungen gab es schon im 18. Jahrhundert. Geistliche wie Edwards und Wesley, aber auch Francke und Zinzendorf grenzten sich deutlich von radikalen Strömungen der Aufklärung ab. Aber sie hatten auch viele Gemeinsamkeiten mit dem aufgeklärten Reformgeist ihrer Epoche. Im Vergleich mit dem Erbe der traditionellen Konfessionskirchen waren die Evangelikalen in vielen Fragen die Progressiven. Vom Ausscheiden der Methodisten aus der anglikanischen Kirche abgesehen, blieben die meisten traditionellen Kirchen bestehen und entwickelten mehr oder weniger liberale bzw. evangelikale Flügel.
Nun wurden die Gräben tiefer, aus vielfältigen Gründen. Das vom baptistischen Theologen Walter Rauschenbusch (1861–1918) entwickelte Konzept des Social Gospel, dem zufolge sich die Kirchen ausdrücklich um Gesellschaftsreformen zu Gunsten der Armen bemühen sollten, stieß unter den Evangelikalen auf starke Ablehnung. Noch stärker gilt das für eine moderne Theologie, die die Anerkennung der Naturwissenschaften einschließlich der Evolutionslehre und die Anwendung der Methodologie der modernen Geschichtswissenschaften auch für die Bibelauslegung verbindlich machen wollte. Die zunehmenden Gräben zwischen den Frömmigkeitsprägungen führen nun zu vielen Trennungen und Spaltungen in Gemeinden, Kirchen, Ausbildungsstätten und Missionswerken. In Anlehnung an eine berühmte Schriftenreihe über die Fundamente des Glaubens gelten Evangelikale dieser Generation als Fundamentalisten.18
Die zunehmenden Gräben zwischen den Frömmigkeitsprägungen führten zu Spaltungen in Gemeinden und Missionswerken.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg begann in den USA mit einem Triumph evangelikaler Gesellschaftspolitik: der Einführung der Prohibition.19 Seit dem 19. Jahrhundert gab es viele evangelikale Vereinigungen, die ein Verbot des Alkoholausschanks forderten. In vielen Bundesstaaten wurde eine solche Prohibition per Volksabstimmung eingeführt. Nach dem Ersten Weltkrieg galt das Alkoholverbot in den USA bundesweit. Prägende Gestalten des US-Evangelikalismus wie Billy Sunday (1862–1935) jubelten. Allein: Das Gesetz zeigte keine Wirkung. Es wurde weiter getrunken. Große Teile der Bevölkerung ignorierten bzw. umgingen das Verbot. Das Prohibitionsgesetz förderte nicht die Enthaltsamkeit, sondern den Schwarzmarkt und die Mafia. 1933 wurde das Gesetz aufgehoben. Das spektakulärste sozialpolitische Reformprojekt der Evangelikalen in dieser Generation war auf ganzer Linie gescheitert.
Dieser Verlauf ist für die Geschichte der Evangelikalen in den USA dieser Zeit symptomatisch. Die Gesellschaft schien ihnen zunehmend zu entgleiten. Eine andere Schlüsselgeschichte ist der sogenannte „Affenprozess“ in Dayton (1925). Ein Lehrer hatte es gewagt, in der Schule Darwins Evolutionslehre zu unterrichten, obwohl das durch die Landesgesetzgebung von Tennessee ausdrücklich untersagt war. Er wurde vor Gericht angeklagt und zu einer geringen Geldstrafe verurteilt. Dieser Sieg war ähnlich tragisch wie die Durchsetzung der Prohibition. Bundesweite Medien begleiteten den Gerichtsprozess intensiv. Sie sparten nicht mit Hohn und Spott für die religiösen Extremisten in der Provinz. Die religiös Konservativen gewannen vor Gericht – und verloren in der Öffentlichkeit.
Der öffentliche Einfluss der evangelikalen Bewegung in den USA wurde in allen kulturellen Gebieten geringer. Die Filmindustrie Hollywoods erlebte ihren großen Aufstieg. Die Unterhaltungsindustrie, das Aufkommen immer neuer musikalischer und künstlerischer Stile veränderte das kulturelle Leben massiv. In der Weltwirtschaftskrise erlitt das Land große Erschütterungen, ohne dass es zu einem religiösen Neuaufbruch kam. Die meisten Evangelikalen standen dem New Deal von Roosevelt mit seiner Intensivierung staatlicher Steuerung in die Wirtschaft skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Auch die Weltkriege waren nicht von geistlichen Aufbrüchen begleitet. Die wichtigsten Politiker der damaligen Zeit waren keine Evangelikalen. Die amerikanische Literatur erlebte eine weltweit wahrgenommene Blüte. Autoren wie John Steinbeck, Ernest Hemingway oder F. Scott Fitzgerald schrieben Klassiker der modernen Literatur. Christliche oder gar evangelikale Einflüsse sind in all diesen Strömungen kaum zu bemerken. Das einst so dominante Erweckungschristentum wurde zur Randerscheinung einer zunehmend säkularen Gesellschaft.
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Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt in der Geschichte des Evangelikalismus als Zeit des Niedergangs. Mit Recht. Aber erinnern wir uns an die Warnung: The Danger of a Single Story.
Man sollte sich durch die Beschreibung dieses Niedergangs nicht täuschen lassen. Es gab auch Evangelikale, die die Prohibition ablehnten. Ebenso gab es sehr konservative Evangelikale, die keine Probleme mit der Evolutionslehre hatten. Die Evangelikalen der fundamentalistischen Epoche verschwanden nicht. Sie zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück bzw. wurden in dieser ignoriert und marginalisiert. Aber sie lebten weiter, bekamen Kinder, gestalteten Gemeinde und feierten Gottesdienste. Sie waren eine gesellschaftliche Minderheit, die aber stabiler war, als es ihr äußerer Einfluss verriet. Noch während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einem neuen Aufbruch.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer sehr breiten Stärkung des Christentums in den USA – und das gilt für alle kirchlichen Lager. Auch die traditionellen und progressiven Kirchen wuchsen damals stark. Dieser allgemeine religiöse Aufschwung erfasste auch die erwecklichen Strömungen – und veränderte diese.
Nach dem Krieg sprach man bald von den „neuen Evangelikalen“. Männer wie Carl F. Henry (1913–2003), Harold John Ockenga (1905–1985) und Billy Graham (1918–2018) stammten aus evangelikalen Familien bzw. erlebten in ihrer Jugend entsprechende Bekehrungen und Prägungen. Diese Männer hielten den Rückzug der Evangelikalen aus der Gesellschaft für eine Sackgasse. Sie strebten nach einer Erneuerung des erwecklichen Christentums. Vor allem den kulturellen Rückzug des fundamentalistischen Christentums wollten sie beenden. Sie sahen es als Irrweg an, dass sich weite Teile der Evangelikalen vor dem Zweiten Weltkrieg pauschal der modernen Bildung und den modernen Technologien und Medien entziehen wollten. Wissenschaft und Kultur sollten für die Gläubigen wieder eine positive Bedeutung gewinnen.
Erst in dieser Phase bekommt auch in den USA das Wort „evangelical“ den Klang, den es heute hat. Für die USA könnte man die Geschichte der „Evangelikalen“ auch nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen lassen. Denn im 18. und 19. Jahrhundert bedeutete „evangelical“ in den USA einfach so viel wie „evangelisch“ und wurde von allen möglichen protestantischen Strömungen verwandt. Erst als sich viele vom Label des Fundamentalismus abgrenzen wollten, bezeichneten diese sich mit besonderer Betonung als Evangelicals. Dabei stellte man sich in die Geschichte der Erweckten, wie wir sie uns gerade in Grundzügen vor Augen geführt haben. Noch in den 1930er-Jahren wurde dieser Terminus in den USA so kaum gebraucht.
Evangelisation wurde ein globales Phänomen religiöser Konzentration und kultureller Modernisierung.
Vielfach sprach man nun von den New Evangelicals. Vor allem im äußeren Auftreten war vieles neu. Sie betrieben religiöse Radioprogramme und gründeten eigene Sendeanstalten. Sie produzierten christliche Musik mit modernem Sound. Sie entwickelten Konzepte für Massenveranstaltungen, mit denen sie bald die größten Stadien des Landes füllten. Schließlich entdeckten sie das Fernsehen. Teleevangelisten produzierten christliche Fernsehshow. Sie gründeten eigene Fernsehanstalten und bauten ein religiöses Medienimperium auf, dem nichtevangelikale Kirchen nicht ansatzweise etwas entgegensetzen konnten. Evangelisation wurde ein globales Phänomen religiöser Konzentration und kultureller Modernisierung.
Vor allem Billy Graham (1918–2018) wurde mit seinen großen Evangelisationen zu einem der bekanntesten Amerikaner seiner Zeit. Mit seinen Predigten füllte er die größten Sportstadien; zunächst in den USA, dann in der ganzen Welt. Zugleich wurde er bekannt als Seelsorger aller amerikanischen Präsidenten seit Eisenhower. Graham verkörperte und förderte einen neuen evangelikalen Stil. Er predigte aggressiv und zugleich den Menschen zugewandt, modern und zugleich fokussiert auf das Evangelium von Jesus Christus.
Einige Trends des frühen 20. Jahrhunderts setzten sich fort. Die amerikanische Polarisierung von Evangelikalen und Liberalen wurde nun zu einem Phänomen in vielen Kirchen der Welt. Während sich die Kirchen im Ökumenischen Rat in den 1960er-Jahren zunehmend für die gesellschaftlichen Entwicklungen der damaligen Zeit öffnen, steht die Marke „Evangelikales Christentum“ für eine Art Gegenprogramm. 1974 wird eine globale Tagung von tausenden von Repräsentanten der evangelikalen Bewegung im Schweizer Lausanne durchgeführt. Die Lausanner Bewegung steht seither für das Selbstbewusstsein der Evangelikalen, die sich neben den orthodoxen, katholischen und protestantischen Kirchen als eine eigene globale Gestalt des Christentums verstehen. Das liegt nicht zuletzt an der Pfingstbewegung. In Südamerika und Afrika kam es zu geradezu explosionsartigen Wachstumsschüben eines pentekostalen Christentums. Zunehmend strahlte die Frömmigkeit der Pfingstkirchen in andere Konfessionen hinein, auch in die katholische Kirche, wo man von „charismatischen Bewegungen“ spricht.
Die Lausanner Bewegung steht für das Selbstbewusstsein der Evangelikalen, sich als eine eigene Gestalt des Christentums zu verstehen.
In den 1970er-Jahren setzt wieder eine neue Phase ein. Der britische Historiker Brian Stanley spricht in seinem Standardwerk zur Geschichte des neuen Evangelikalismus von der „Diffusion“ der Evangelikalen als dem bezeichnenden Merkmal der letzten Jahrzehnte.20 Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts werden politische Fragen wichtiger als zuvor. Vor allem in den USA entsteht eine zunehmende politische Polarisierung. Evangelikale gelten als zentraler Bestandteil einer konservativen, wenn nicht rechten Form gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen.21
An seinen Rändern wird das Konzept des Evangelikalismus zunehmend unscharf. Immer mehr Gemeinden im Westen verlassen den Rahmen der bisherigen Konfessionen und Denominationen. Es gibt einen globalen Trend hin zu unabhängigen Gemeinden und Werken, die sich nicht mehr als organisatorische Bestandteile einer traditionellen Kirche mit ihren Ordnungen und Leitungsebenen verstehen.
Für diese Bewegungen ist das lose Netzwerk der weltweiten Evangelikalen ein Band der Zugehörigkeit, in dem sie gleichwohl ihre völlige Selbstständigkeit behalten. Allein diese Mischung von Unabhängigkeit aller Werke und Gemeinden und beanspruchter Eindeutigkeit des Labels „evangelikal“ sorgt für permanente Spannungen. Vielen ist unklar, was heute noch evangelikaler Mainstream sein könnte. Daher ist das 21. Jahrhundert voller Diskussionen darüber, was wirklich evangelikal ist und was nicht.
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Unbestreitbar blickt der Evangelikalismus auf eine beispiellose Wachstumsgeschichte zurück. In den USA waren um 1970 die sogenannten Mainline Churches, die historisch-protestantischen Kirchen in den USA (Anglikaner, Lutheraner, Reformierte etc.) doppelt so stark wie die Evangelikalen. Bis etwa 2005 hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Vergleichbares lässt sich aus vielen Ländern berichten, zum Beispiel aus unmittelbarer deutscher Nachbarschaft. Die Schweiz war lange Zeit bestimmt von der katholischen und der reformierten Kirche. Eine staatliche Untersuchung von 2011 zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt die Schweizer Freikirchen doppelt so viele Besucher aufwiesen wie die reformierten Landeskirchen.22 Hinzu kommt zumindest ein gewisser Anteil evangelikal geprägter Gläubiger auch in der reformierten Kirche der Schweiz.
Wer die heutige evangelikale Bewegung verstehen will, muss Grundzüge ihrer Geschichte kennen. Die von Bebbington beschriebenen Merkmale ziehen sich konstant durch alle Strömungen. Ansonsten aber gibt es erhebliche Unterschiede. Schon geschichtlich war die Vielfältigkeit der Wurzeln unübersehbar: Die evangelikale Bewegung ist bis heute von höchst unterschiedlichen protestantischen Traditionen bestimmt:
• Das reformatorische Erbe
• Täuferische und freikirchliche Impulse
• Nachwirkungen des Pietismus und des Methodismus
• Pfingstkirchliche und charismatische Aufbrüche
In manchen Epochen waren Evangelikale tendenziell progressiv, Vorreiter kultureller Entwicklungen und einflussreich für die Gesellschaft insgesamt. Zu anderen Zeiten dominierten hingegen der Rückzug aus der Gesellschaft, Kulturpessimismus und kritische Reserviertheit gegenüber dem Wandel der Zeit. Und nicht selten war in den unterschiedlichen kirchlichen und freikirchlichen Gemeinden beides gleichzeitig anzutreffen. Das Verhältnis von Einheit und Vielfalt waren bei den Evangelikalen immer wieder höchst spannungsvoll.
Lässt sich die evangelikale Bewegung also durch diese vier inhaltlichen Merkmale und die gemeinsame Geschichte bestimmen? Je tiefer man in diese Geschichte hineinschaut, desto komplexer wird es. Erst recht gilt dies, je mehr man den globalen Horizont berücksichtigt. Für jede mögliche progressive oder konservative, liberale oder traditionelle Ausprägung evangelikaler Frömmigkeit lässt sich auch ein Gegenbeispiel finden.
Je tiefer man in die Geschichte der Evangelikalen Bewegung hineinschaut, desto komplexer wird es.
Will man nicht ratlos vor einer Überfülle von Prägungen stehen bleiben, sollte man die globalen Netzwerke und Verbände betrachten. Zwei Institutionen haben für die Evangelikalen zentrale Bedeutung: die 1846 gegründete Evangelische Allianz und die 1974 gebildete Lausanner Bewegung. In den Positionierungen dieser Verbände kann man zumindest ansatzweise so etwas wie einen roten Faden durch das Labyrinth evangelikaler Strömungen finden.
Die Evangelische Allianz wurde 1846 in London als innerprotestantische Ökumene der Erweckten gegründet.23 In ihrer Glaubensbasis formulierte man knapp und griffig evangelikale Überzeugungen.
Bemerkenswert sind die beiden ersten Grundsätze: Die Allianz bekennt sich erstes zur göttlichen Inspiration und Autorität der Heiligen Schriften und zweitens zum Recht und zur Pflicht eines persönlichen Urteils (private judgement) in der Auslegung der Heiligen Schriften.
Darin kommt die gesamte innere Spannung der evangelikalen Bewegung schön auf den Punkt: Entgegen der modernen Kritik an der Bibel will man an ihrer verbindlichen, autoritativen Bedeutung festhalten. Aber zugleich bekennt man sich zum höchst modernen Prinzip, dass keine kirchliche Instanz die wirkliche Bedeutung biblischer Texte fest- oder vorschreiben kann. Jeder Einzelne muss die Schriften für sich selbst studieren und nach eigener Erkenntnis streben.
Die weiteren sieben Punkte der Glaubensbasis formulieren sehr knappe und für die traditionelle Theologie weitgehend unstrittige Bekenntnisse zur Dreieinigkeit Gottes, zur Verlorenheit des Menschen in Sünde und zur Erlösung durch das Heilswerk Christi bzw. das Wirken des Heiligen Geistes. Predigtamt, Taufe und Abendmahl werden abschließend lediglich genannt, ohne dass die vielfachen Spaltungsgründe der protestantischen Christenheit auch nur angerührt werden. Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat. Eindeutig sind die gemeinsamen Ziele:
• Der Einsatz für die Gemeinschaft der Christen über alle Konfessionsgrenzen hinweg.
• Die Verbreitung und Verteidigung des christlichen Glaubens im In- und Ausland.
• Die Förderung der Religionsfreiheit – für Angehörige aller Religionen.
Die Geschichte der Evangelischen Allianz ist insgesamt uneinheitlicher, als man denken mag. Eine kontinuierliche Geschichte seit 1846 hat vor allem die Britische Allianz. In Deutschland ist es schon sehr viel komplizierter.24 Es dauerte zum Beispiel lange, bis sich eine Deutsche Evangelische Allianz konstituierte. Zu Beginn wurden (angesichts der damaligen deutschen Kleinstaatlichkeit unvermeidlich) eine norddeutsche und eine süddeutsche Allianz gegründet. Später kam eine Berliner Allianz hinzu. Zunehmend wurde das thüringische Bad Blankenburg ein Zentrum der Allianzbewegung. Wenn man um 1900 von der Blankenburger Allianz sprach, meinte man diese besondere Ausprägung, die stark freikirchlich geprägt war und in ihrem Allianzblatt einen sehr kirchenkritischen Kurs fuhr. Erst im Laufe der 1970er-Jahre wird der Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz ein für die Evangelikalen in Deutschland insgesamt bestimmendes Gremium.
Noch bemerkenswerter ist die amerikanische Entwicklung. Zwar waren schon bei der Gründung 1846 einige amerikanische Delegierte beteiligt. Faktisch aber stellte der amerikanische Zweig seine Arbeit bald ein. In entscheidenden Jahren der US-Geschichte (Bürgerkrieg, Entstehung der Pfingstbewegung, Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Beginn des Zweiten Weltkrieges etc.) gab es in den USA keine Evangelische Allianz. Erst 1942 wurde mit der National Association of Evangelicals eine solche wieder neu gegründet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten vor allem die Amerikaner gemeinsam mit den Briten auf globale Vernetzung. Erst 1952 wurde die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) begründet, die zunächst wesentlich durch eine amerikanisch-britische Achse getragen wurde. Die meisten europäischen Allianzen, unter anderem die DeutscheEvangelische Allianz (DEA), traten der weltweiten Vereinigung nicht bei, sondern gründeten eine Europäische Evangelische Allianz. Der Grund war, dass die Europäer den Fundamentalismus der Amerikaner ablehnten. Erst 1970 traten Deutschland und viele andere Länder der WEA bei, als man sich verständigte, dass das Bekenntnis zur Vertrauenswürdigkeit der Bibel nicht im Sinne eines fundamentalistischen Bibelglaubens verstanden werden müsste.
Die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz wurde in den letzten 50 Jahren zweimal überarbeitet. Die Britische Allianz hat sich 1970 eine modernisierte Fassung der Glaubensgrundlage gegeben, die für Deutschland in übersetzter Gestalt übernommen wurde. Im Jahr 2016 wurde die Glaubensbasis in Deutschland noch einmal neu formuliert. Wenn man von der Bekenntnisbindung klassischer Kirchen herkommt, ist dieser Umgang mit grundlegenden Texten befremdlich. Letztlich zeigt dieses Vorgehen, dass die Allianz keine bekenntnisgegründete Kirchenvereinigung ist, aber natürlich als Dachverband vieler freier Werke, die sich ausdrücklich auf die Glaubensbasis der Allianz als Richtschnur berufen, ein gewisses Maß an Eindeutigkeit vorhalten muss.
Die Weltweite Evangelikale Allianz ist eine wichtige Stimme für Religionsfreiheit als Menschenrecht.
In den letzten Jahrzehnten ist die WEA zunehmend zu einer international ernstgenommenen globalen Organisation geworden. Seit 2010 unterhält sie drei internationale Standorte in New York, Genf und Bonn. Vor allem mit ihrem Einsatz für Religionsfreiheit als Menschenrecht wird sie weltweit als wichtige Stimme wahrgenommen, zumal sie dieses Thema mit einem zunehmenden Engagement im interreligiösen Dialog unterstreicht. Von Anfang hat hatte sich die Allianz für Religionsfreiheit aller Glaubensgemeinschaften ausgesprochen. Ein Höhepunkt war sicher die gemeinsame Unterzeichnung der Erklärung MissionRespekt: Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt (2011). Dieser Text wurde von der Weltweiten Evangelische Allianz, dem Ökumenischen Rat der Kirchen und dem Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog unterzeichnet. Vor allem das Verhältnis der Evangelikalen zur katholischen Kirche ist durch regelmäßigen Austausch und gewachsenen Respekt gekennzeichnet, was sich auch in gemeinsamen Dokumenten niederschlägt.25
Mit der Lausanner Bewegung für Weltmission etablierte sich ein globales Netzwerk zur Stärkung von Evangelisation und Weltmission. Wesentlicher Anlass war die zunehmende Entfremdung vieler Evangelikaler vom Kurs des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Auf vielbeachteten globalen Tagungen (Lausanne 1974, Manila 1989, Kapstadt 2010) wurden maßgebliche Orientierungstexte veröffentlicht, von denen vor allem die Lausanner Verpflichtung überragende Bedeutung für das Profil des Evangelikalismus hat.
Wir, Glieder der Gemeinde Jesu Christi aus mehr als 150 Nationen, Teilnehmer am Internationalen Kongress für Weltevangelisation in Lausanne, loben Gott, weil Er Sein Heil geschenkt hat, und freuen uns an der Gemeinschaft, die Er uns mit Ihm und untereinander schenkt. Gottes Wirken in unserer Zeit bewegt uns tief. Unser Versagen führt uns zur Buße. Die unvollendete Aufgabe der Evangelisation fordert uns heraus. Wir glauben, dass das Evangelium Gottes gute Nachricht für die ganze Welt ist. Durch Seine Gnade sind wir entschlossen, dem Auftrag Jesu Christi zu gehorchen, indem wir Sein Heil der ganzen Menschheit verkündigen, um alle Völker zu Jüngern zu machen. Darum wollen wir unseren Glauben und unseren Entschluss bekräftigen und unserer Verpflichtung öffentlich Ausdruck geben.26
Wie verhalten sich die WEA und die Lausanner Bewegung zueinander?
Zunehmend hat sich eine enge Kooperation beider Stränge entwickelt. So heißt es in der Einleitung der Kapstadt-Verpflichtung: „Die Leiter der WEA sind in voller Übereinstimmung mit dem Bekenntnis des Glaubens und dem Aufruf zum Handeln.“27 Faktisch ist heute die WEA das deutlich wichtigere Netzwerk. Auf den Lausanner Kongressen und vielen weiteren Tagungen lässt sich aber besonders eindrucksvoll die Entstehung eines international abgestimmten Profils der evangelikalen Bewegung weltweit erkennen.
Beide Netzwerke profitierten davon, dass viele Christen sich nicht mehr an den Kurs gebunden sahen, der in ihrer eigenen Denomination vorgesehen war. Das ist eine Entwicklung, die natürlich auch auf solche Netzwerke zurückschlagen kann. Man muss vorsichtig sein mit Formulierungen wie der, dass die Evangelische Allianz oder die Lausanner Bewegung etwa 600 Millionen Evangelikale vertritt oder repräsentiert.28 Verbindliche Entscheidungen treffen beide nicht. Noch weniger sollte man allerdings versuchen, über „die“ Evangelikalen grundsätzliche Aussagen zu machen, bei denen man diese globalen Netzwerke ignoriert. Aus den Verlautbarungen dieser Institutionen lässt sich hinreichend erkennen, in welchen Fragen es relativen Konsens oder auch offenen Streit gibt.
„Mission gehört zutiefst zum Wesen der Kirche.“
Thomas Schirrmacher
Daher werden die Lausanner Bewegung und die Evangelische Allianz in diesem Buch eine wesentliche Rolle spielen. In den Kapiteln 3 und 4 werde ich noch einmal ausführlicher vor allem auf den Lausanner Kongress von 1974 und seine Folgen zu sprechen kommen. Denn wenn überhaupt, so lässt sich hier von einer Art Mitte der weltweiten evangelikalen Bewegung der Gegenwart sprechen. Denn es wird deutlich, was im Titel dieses Buches Ausdruck findet: Evangelikale sind Menschen mit Mission.
Bislang sind wir Darstellungen gefolgt, die kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlich auf den Evangelikalismus blicken. In den letzten Jahrzehnten hat sich mehr und mehr eine andere Perspektive, eine andere „Story“ in den Vordergrund geschoben: Die Evangelikalen sind eine politische Macht. Dieser Trend zur zunehmend politischen Betrachtung der Evangelikalen ließ sich auch in Deutschland beobachten.
Als ich Anfang der 1990er-Jahre Christ wurde, merkte ich bald, dass es für solche Lebenswenden wie meine und die damit verbundene Jesus- und Bibelorientierung das Wort „evangelikal“ gab. Ich war 20 Jahre alt und musste gestehen: Davon hatte ich noch nie gehört. In den nächsten Jahren und nach ausführlicher Beschäftigung fand ich es erstaunlich, dass eine so große globale Bewegung in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt ist.
Das änderte sich.
Nach dem 11. September 2001 und Bushs Kriegen in Afghanistan und im Irak war religiöser Extremismus ein großes Thema. Neben Islamismus wurde auch ein vermeintlich christliches Pendant entdeckt. Am 8. November 2005 lief in der ARD die Dokumentation Jesus‘ junge Garde – Die christliche Rechte und ihre Rekruten. Das Thema war gesetzt. Und so ging es weiter. 2006 erschien in Österreich und Deutschland der Bericht: „Mit Feuer und Schwert. Christlicher Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft.“29 Dieses Wahrnehmungsmuster wurde nun auch auf Deutschland übertragen. Am 11. Juli 2007 berichtete die ARD über Die Hardliner des Herrn – Christliche Fundamentalisten in Deutschland. Das ZDF-Magazin Frontal sandte 2009 einen Beitrag mit dem Titel Sterben für Jesus – Missionieren als Abenteuer.30 Für viele Medienschaffende schien festzustehen: Die Evangelikalen sind unsere Taliban.
Für viele Medienschaffende schien festzustehen: Die Evangelikalen sind unsere Taliban.
Dieses ganze Framing fand ich skandalös. Es mag so etwas wie eine christliche Rechte geben. Aber wie kann man die große evangelikale Bewegung insgesamt mit einigen Extremisten identifizieren? Dann kam Trump. Die Wahl Donald Trumps ist nicht nur für die USA eine historische Zäsur. Sie ist es auch für die Geschichte der evangelikalen Bewegung. Dass George W. Bush von 75 Prozent der Evangelikalen gewählt wurde, ist das eine. Dass Trump aber über 80 Prozent ihrer Stimmen bekam und damit zum erfolgreichsten Politiker in ihren Reihen wurde, ist etwas anderes. Keine gesellschaftliche Gruppe in den USA stand so geschlossen auf seiner Seite wie die (weißen) Evangelikalen. Nun war das Thema wieder da.
War Trump ein Missverständnis? Nun ist es ein Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft insgesamt, dass alles in ihr eine politische Seite hat. Seit Politik nicht mehr exklusiv von gekrönten Häuptern betrieben wird, gibt es nichts Unpolitisches mehr. Aber natürlich ist es ein Unterschied, ob etwas eine politische Komponente hat oder in erster Linie politisch verstanden wird. Sind die Evangelikalen tatsächlich eine wesentlich (auch) politische Bewegung geworden?
Vor allem in Deutschland würden viele Evangelikale eine solche Perspektive zunächst einmal ablehnen. Tatsächlich sind in dieser Frage die amerikanischen Entwicklungen zentral. Besonders für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die politische Seite des US-Evangelikalismus vielfältig beschrieben.31 Den ideologischen Spannungen des Kalten Krieges steht er nicht neutral gegenüber. Für Evangelikale ist der Kommunismus und jeder sozialistische Ansatz insgesamt Inbegriff von antichristlicher Tyrannei. Evangelikale identifizieren sich in dieser Zeit nicht nur stark mit dem politischen Projekt des Westens, sondern auch mit jeder Politik, die auf militärische Abschreckung und Eindämmung kommunistischer Ausbreitung setzt und nach innen für eine konsequente Abgrenzung gegenüber linksliberalen Strömungen steht.
Noch mehr herausgefordert werden die Evangelikalen durch die gesellschaftlichen Modernisierungsschübe in den 1960er-Jahren. Die kulturellen Aufbrüche sind bestimmt von einem neuen Streben nach Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Gender, race und class sind die entscheidenden Stichworte: Gleichberechtigung von Mann und Frau, Überwindung der Rassendiskriminierung, Einsatz für stärkere soziale Absicherung für alle. In allen drei Fragen stehen die weißen Evangelikalen den Reformbewegungen skeptisch gegenüber. Seit Ende der 1970er-Jahre haben einflussreiche Netzwerke in den USA sehr intensiv daran gearbeitet, die evangelikale Bewegung als politische Macht zu etablieren. Diese Arbeit war sehr erfolgreich. Es gibt keine andere religiöse Gruppe, die in den USA so homogen wählt wie weiße Evangelikale.
Das evangelikale Jesusbild wurde in den letzten Jahrzehnten zu stark geprägt durch eine Faszination von starken Männern wie John Wayne.
– nach Kirstin Kobes Du Mez
Die Politisierung der Evangelikalen wird inzwischen nicht nur von außen diskutiert. Auch innerhalb der Bewegung wird diese Debatte intensiver. Die Historikerin Kristin Kobes Du Mez hat in ihrem Buch Jesus and John Wayne die wohl überzeugendste Einordnung dieser Entwicklung vorgelegt. Du Mez unterrichtet an der Calvin Universität, das heißt, sie lehrt selbst an einer christlichen Universität, die dem moderaten Evangelikalismus zuzurechnen ist.32 Schon mit dem Untertitel ihres Werkes, How White Evangelicals Corrupted a Faith and Fractured a Nation, macht sie die zentrale Kritik ihrer Darstellung deutlich: Trump wurde nicht für seine politischen Inhalte gewählt, obwohl er als Person vielen Gläubigen ein Anstoß war; er wurde mehrheitlich gewählt, weil er als Person etwas verkörperte, was bei vielen Evangelikalen enorme Zustimmung fand. Aber was?
Du Mez wählt einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Zugang: die Geschlechterpolitik der Evangelikalen. Aber diese Themen waren in der US-Debatte noch nie rein kulturelle Fragen. Sie hatten von Anfang an eine sehr politische Komponente, die wir uns an drei Facetten vor Augen führen.
1972 hatten Kongress und Senat einen Zusatz beschlossen, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau zum Teil der Verfassung machen würde. Diese Bundesentscheidung musste nun die Zustimmung der Mehrheit der Bundesstaaten bekommen – innerhalb einer Frist von zehn Jahren. In einer breiten Graswurzelbewegung setzten sich in den kommenden Jahren viele konservative Christen dafür ein, diesen Ratifizierungsprozess zu Fall zu bringen. Ikone dieser Bewegung wurde Phyllis Schlafly (1924–2016). Viele Evangelikale engagierten sich in der Kampagne, der es tatsächlich gelang, die Ratifizierung der Bundesentscheidung in vielen Bundesstaaten zu verhindern.33 Dies war einer der ersten großen politischen Erfolge, an dem die evangelikale Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg teilhatte. Bis heute gibt es keine Festschreibung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der US-Verfassung.
Mit dem Antifeminismus ist die Zustimmung zu einem Ideal aggressiver Männlichkeit verbunden. Männerbücher wurden ein Bestsellerfeld evangelikaler Publizistik. Viele dieser Bücher sahen die Krise des modernen Mannes darin, dass er verweichlicht wird. Schwache Männer könnten ihre zentrale Berufung nicht mehr erfüllen: die Führung der Familie. Dann aber können sich auch gläubige Frauen nicht mehr an sie anlehnen und sich ihnen vertrauensvoll unterordnen. In einer solchen Wahrnehmung ist auch die besondere Wertschätzung begründet, die das Militär bei einem sehr großen Teil der Evangelikalen genießt. Während des Vietnamkrieges kam es zu vielfältigen Protesten gegen die US-Army und einer Entfremdung von größeren Teilen der jungen Generation und des liberalen Bürgertums. Evangelikale stellten und stellen sich demonstrativ an die Seite der eigenen Soldaten. Keine andere religiöse Gruppe hat ein so uneingeschränkt positives Verhältnis zum Militär und auch zum Einsatz militärischer Gewalt in Konflikten wie Evangelikale.34
Typisch evangelikal wurde schließlich die starke Zustimmung zu autoritärer Erziehung und die entschiedene Ablehnung von partnerschaftlicher Pädagogik. Kaum ein Evangelikaler besaß in den letzten Jahrzehnten so viel Einfluss wie der Pädagoge und Verfasser von Erziehungsratgebern James Dobson.35 Dobson baute vor allem als Familienratgeber das einflussreiche Imperium von Focus on the Family auf. Autoritäre Führung wurde auch zum Vorbild für die Leitung von Gemeinden. Gemeinden blieben orientierungslos, wenn ihre Hirten ihnen klare Wegweisung vorenthielten, so der Denkansatz. Keine Gemeinde könne ohne starke und entschlossene Leitung gedeihen.
Du Mez macht deutlich, wie sich diese Werte immer stärker in der evangelikalen Bewegung durchsetzen. Aggressive Sprache galt als klar und erfrischend. Herabsetzende Warnungen vor anderen wurden als mutig und authentisch gefeiert. Zurückhaltung und Kompromissbereitschaft galten als schwach. Evangelikale sahen sich im konzilianten und gesprächsorientierten Auftreten des evangelikalen US-Präsidenten Jimmy Carter nicht mehr repräsentiert. Auch wenn Ronald Reagan kein Evangelikaler war: sein markiges Reden vom Kampf gegen das Reich des Bösen empfanden sie als wohltuend. Trump war kein Missverständnis der Geschichte. Die Begeisterung für ihn war die logische Konsequenz einer langen Entwicklung.
Trump war kein Missverständnis der Geschichte. Die Begeisterung für ihn war die logische Konsequenz einer langen Entwicklung.
Diese Entwicklung der evangelikalen Bewegung sorgte auch intern für große Auseinandersetzungen. Als in den USA über eine mögliche Amtsenthebung Trumps diskutiert wurde, veröffentlichte Christianity Today