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Blind! Hart! Süchtig! Selbstlos! Reich! Sicher! Träge! Ist das wirklich alles Sünde? Der Begriff ist sperrig und unbequem. Über Sünde kann man nicht am grünen Tisch diskutieren. Sie betrifft jeden und trotzdem fällt es schwer, zu erklären, was genau sie ist. Thorsten Dietz gibt eine Antwort für Menschen von heute. Er zieht Bilanz, wie Sünde in der Vergangenheit erklärt wurde, und lädt zu einer Entdeckungsreise ein. Anhand von sieben Schlagwörtern zeigt er, was uns heute von Gott trennt. Stand: 3. Auflage 2019
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Seitenzahl: 285
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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22862-5 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26784-6 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten
Internet: www.scm-brockhaus.de E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer
Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Illustration: shutterstock.com
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Der Autor
Vorwort
1) Sünde – ein modernes Unwort?
Der beschädigte Code
Das moralische Missverständnis
Die große Herausforderung
Eine Entdeckungsreise
2) Eine kleine Geschichte der Sünde
Sünde ist Schuld
Sünde ist Misstrauen
Sünde ist Maßlosigkeit
Sünde ist Verführung
Sünde ist Zielverfehlung
3) Blind
Wie blind kann man sein?
Erleuchtung und Verblendung
In der Matrix
Öffne mir die Augen
4) Hart
Märchenland
Das harte Herz
Die dunkle Seite der Macht (Star Wars)
Sünde: Verhärtung, Apathie und Entfremdung
Berühre mein Herz
5) Süchtig
„Sag,’ dass du krank bist, dann verzeihe ich dir“
Ohnmacht und Freiheit
Mein Schatz (Der Herr der Ringe)
Der lange Weg zur Freiheit
Mach mich frei
6) Selbstlos
Selfie-Kultur?!
Folge mir nach
Harry Potter und die wahre Magie
Angst und Verzweiflung
Ich verlasse mich auf …
Zwischenbetrachtung
7) Reich
Brüder zur Sonne, zur Freiheit
Selig seid ihr Armen
Breaking Bad
Das Evangelium von Lampedusa
Die Gabe der Tränen
8) Sicher
Der Stalinorden
Sicherheit und Gewaltverzicht
Die Herrschaft des Rings – und ihr Ende
Ein kleines bisschen Sicherheit?!
Im Kontakt bleiben
9) Träge
Sünde im Wandel
Was hat Pontius Pilatus im Glaubensbekenntnis zu suchen?
Hunger Games und andere Spiele
Die Befreiung zum Leben
10) Alles kommt zu seinem Ende
Zurück in die Zukunft
Alien
Verbunden
Twilight
Alles kommt zu seinem Ende
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Thorsten Dietz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg, wo er auch mit seiner Familie lebt.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Das Wort Sünde funktioniert nicht mehr. Statt irgendetwas zu erklären, bedarf dieser Ausdruck selbst der ständigen Erläuterung. Er produziert nur noch Missverständnisse. So empfinden es viele Menschen in der westlichen Welt – wenn sie nicht längst jedes Interesse an religiösen Fragen verloren haben. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter. Auch viele Christen tun sich mit dem Wort Sünde schwer. Es ist ihnen manchmal geradezu unangenehm, wenn nicht peinlich. Im Grunde fragen sie sich selbst: Was genau ist eigentlich Sünde?
Ich schreibe dieses Buch in erster Linie für Christen, für Gemeindemitarbeiter, die selbst schon einmal gemerkt haben, dass sie mit dem Thema Sünde Schwierigkeiten haben. Sie spüren, dass sie es nicht mehr gut erklären können. Und ehrlich gesagt, verstehen sie es oft selbst nicht so recht. Ich schreibe für Christen, die bereit sind, sich noch einmal auf die Suche zu machen.
Nun kann man über dieses Thema nicht gut nachdenken, ohne das eine oder andere über Gott und Jesus Christus zu sagen. Daher rechnet das Buch mit Lesern, denen das Christentum nicht völlig fremd ist. Das heißt nicht, dass es für Nichtchristen uninteressant sein muss. Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich das ebenso unerwartete wie exotische Interesse bekam, das Christentum ein wenig besser kennenlernen zu wollen. Klar, in die Bibel habe ich mich auch vertieft, aber zugegeben, so ganz von allein erschließt sich jede Seite dieses Buchs ja nicht. Ich könnte es doch mal mit einem englischen Schriftsteller namens C.S. Lewis versuchen, schlug mir jemand vor. Okay, ich kaufte mir ein Buch, und stieß dabei auf folgenden Hinweis: Dieses Buch wende sich nicht direkt an Ungläubige, sondern an Christen. Aber er habe die Erfahrung gemacht, dass es manchen Außenstehenden ganz lieb ist, wenn sie nicht so unmittelbar angeredet werden, und sie eher mal ein wenig Mäuschen spielen können, wenn Christen sich untereinander über die Grundlagen ihres Glaubens unterhalten. Mmmh, das fand ich einen fairen Deal.
In diesem Sinne: Ich lade Christen ein, noch einmal ganz neu heute danach zu fragen, was wir unter Sünde verstehen können. Und ich bin sicher: Wenn es in der Bibel um eine gute Botschaft geht, dann muss die Menschenfreundlichkeit Gottes auch da sichtbar werden, wo es um die dunklen Voraussetzungen dieser Botschaft geht.
Ich schreibe für Menschen, die neugierig sind auf den christlichen Glauben, die sich nicht vorstellen können, dass sie bereits alles Wichtige wissen. Ich stelle mir Leser vor, die nie das Gefühl losgeworden sind, beim christlichen Glauben einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein.
Ich habe Leser vor Augen, für die die moderne Kinokultur Teil ihres Lebens ist, die mit ihren Freunden auch im Alltag Ausdrücke wie die „dunkle Seite der Macht“ oder „Du weißt schon wer“ verwenden.
Es geht mir nicht darum, ganz neue Sünden zu erfinden. Zunächst möchte ich das Thema Sünde an dem Ort wiederentdecken, den Christen immer wieder als Maßstab heranziehen: die biblischen Geschichten. Darum findet sich in jedem Kapitel nach einer kleinen Einführung ein biblischer Zugang zur Thematik. Manches habe ich wiederentdeckt, manches möchte ich verständlicher machen, anderes in unserer heutigen Zeit neu übersetzen.
Herausgekommen sind sieben neue Sünden, neu im Sinne von neu verstanden. Schließen möchte ich mit einem Ausblick auf die Geschichte Jesu Christi. Dieses Buch handelt nicht von ihm, sondern von uns. Und doch habe ich auf jeder Seite versucht, von ihm her zu denken.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal das Wort Sünde gehört habe. Aber eines habe ich bereits im Laufe meiner Jugend schnell gemerkt. Man kann mit diesem Begriff auf zweierlei Weise umgehen: ironisch oder entrüstet.
Die ironische Verwendungsweise funktioniert so: Als Sünde bezeichnet man eine Regelabweichung, die man bedauert, ohne sie wirklich tragisch zu nehmen. „Sünde“ ist eine Missbilligung mit Augenzwinkern. Man gebrauchte das Wort etwa, wenn man in den letzten Tagen beim Essen mit sich selbst zu großzügig war, sprich „gesündigt“ hat, und nun halt den Gürtel etwas enger schnallen muss. Sünden, das waren auch kleine oder mittlere Vergehen des Straßenverkehrs, die in Flensburg in einer Verkehrssünderdatei registriert wurden. Für schwere Unfälle wurde das Wort nicht verwendet. Dann hatte jemand wirklich „Mist“ gebaut. Sündigen kann offenbar auch mit Geld, zum Beispiel, wenn man sich ein sündhaft teures Kleid gekauft hat, selbstverständlich ohne anschließende Reue. Dumm war nur, wenn Freunde dieses Kleid für eine Modesünde hielten.
Das Augenzwinkern scheint schon deshalb geboten, weil das Thema Sünde alle betrifft. Ein berühmter Schlager der damaligen Zeit ließ daran keinen Zweifel:
Wir sind alle kleine Sünderlein,/ ’s war immer so, ’s war immer so. / Der Herrgott wird es uns bestimmt verzeih’n, / ’s war immer, immer so.
Aus diesem Schlagertext leitete sich das Motto des Kölner Rosenmontagzugs von 1972 ab. Sünde, das ist offenbar ein universales Problem, das zum Glück nicht sehr schwer wiegt.
Schließlich schien Sünde auch irgendwas mit Gott zu tun zu haben. Das lernte ich aus einer Erziehungsmaxime. „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“, konnte es manchmal heißen. Ein solcher Satz passte auf Lappalien, etwa wenn man schon mit dem Essen begonnen hatte, obwohl noch gar nicht alle saßen – sich aber dann an der heißen Suppe die Lippen verbrannte: „Kleine Sünden …“ Kleinigkeiten, darauf war Gott also spezialisiert. Für ernstere Verstöße fühlten sich die Eltern zuständig …
So funktionierte das Wort, immer ein wenig lächelnd, augenzwinkernd halt, alles nicht ganz so schlimm. Aber mit der Zeit lernte ich auch: Man darf sich durch die Banalität der Verkehrs- und Diätsünden nicht täuschen lassen. Da gab es noch eine andere Bedeutung des Wortes. Mit der Vergangenheit des Wortes schien etwas nicht zu stimmen. Ganz, ganz früher hatten Menschen sich angemaßt, dieses Wort im Sinne einer harten Verurteilung zu verwenden. Aber darüber könne man aus heutiger Sicht nur noch entrüstet sein.
Wenn man nicht in einer christlichen Gemeinde aufwächst, lernt man die ernste Seite dieses Wortes vermittelt über die Medien kennen, z. B. in der Disko. It’s a sin war der zweite Nummer 1-Hit der Pet Shop Boys, in Großbritannien und auch europaweit die meist verkaufte Single von 1987. Texter und Sänger Neil Tennant verarbeitet in diesem Lied seine Kindheit und Schulzeit in einer katholischen Schule. Und dabei schien das Thema Sünde allgegenwärtig gewesen zu sein: „So I look back upon my life / forever with a sense of shame / I’ve always been the one to blame.“1 Wenn ich ein Sünder bin, mache ich offenbar nicht nur Fehler, ich bin der Fehler. „Everything I’ve ever done / everything I’ll ever do … it’s a sin.“ Im Lied lässt er die eigenen einst gesprochenen Gebete noch einmal laut werden. Innerhalb des Gebets kommt es zum Bruch. Das Bekenntnis entwickelt sich zu einer Absage: „Whatever you taught me / I didn’t believe it … / and I still don’t understand.“ Die dauernde Warnung vor der Sünde wird als unbegreiflich und nicht nachvollziehbar abgelehnt.
Man kann leicht sagen, im Lied würde das Thema klischeehaft aufgegriffen, vor allem im Video, wo der Sänger als Gefangener der Heiligen Inquisition erscheint und in seinem Gesang von Erscheinungsformen der sieben Todsünden begleitet wird. Im Lied spiegelt sich ein nicht allzu tiefgründiges, aber umso tiefer sitzendes Verständnis von Sünde, das viele Menschen prägt, wider.
So funktioniert das offenbar mit dem Wort Sünde, so lernte ich es kennen, und da ich kein Christ war, fand ich das in Ordnung. Der Vorwurf der Sünde war in der Geschichte offenbar eine Art verbale Hinrichtung mit teils blutigen Konsequenzen. Anscheinend gab es noch einige wenige, die es noch heute so sehen, aber allgemein ist das vorbei. Gott sei Dank. Das Wort hat irgendwie überlebt, wie man ja auch noch sagt: Da fährt jemand Auto wie „besessen“, oder wie man jemanden fragt: Bist du „von allen guten Geistern verlassen?“, ohne im Ernst an Geister und Dämonen zu glauben.
Nun, für Christen ist das natürlich eine dramatische Situation. Denn so einfach lässt sich das Thema nicht aus dem christlichen Glauben herausnehmen. Das Wort ist eine Art Code für einen wichtigen Sachverhalt. Es steht für eine bestimmte Sicht auf den Menschen als verloren oder erlösungsbedürftig. Es bringt ein Menschenbild auf den Begriff. Wesentlich ist dieser Begriff deswegen, weil im Zentrum des Christentums der Glaube an die Erlösung aus diesem – also dem sündigen – Zustand steht. Dies wird als das Wunder einer Versöhnung mit Gott bezeichnet, als das Angebot von Vergebung und Neuanfang. Was aber wird aus dieser Botschaft, wenn sie sich auf ein Problem bezieht, das so nicht mehr gesehen oder verstanden wird?
Darum greift es zu kurz, wenn man fordert, nicht so viel über Sünde zu reden – oder nicht so wenig. Meiner Erfahrung nach wird weder zu viel noch zu wenig von Sünde geredet, sondern oft falsch. Wie oft wir von der Sünde reden ist zweitrangig, wenn der Begriff unverständlich bleibt, wenn dieses Wort keine erhellende Kraft in unserer Lebenserfahrung gewinnt.
Man mag sagen: Das ist ein Problem des Religionsunterrichts oder der mangelhaften Verkündigung! Viele wissen gar nicht mehr so recht, was christliche Grundbegriffe meinen. Wir müssen sie einfach besser erklären! Nun, unbestreitbar gibt es heute oft erhebliche Bildungslücken im Blick auf christliche Sachverhalte. Aber so einfach kann man es sich nicht machen. Der Philosoph Kurt Flasch gilt zu Recht als einer der größten Kenner des altkirchlichen und mittelalterlichen Christentums. In seinem Buch Warum ich kein Christ mehr bin fasst er seine Ablehnung des Glaubens einmal so zusammen:
Wo das Sündenbewusstsein fehlt, braucht es keine Erlösung. Ich bin kein Christ, denn ich finde mich zwar fehlerhaft und meine Existenz prekär, aber nicht erlösungsbedürftig. Wahrscheinlich geht es den meisten Christen in Westeuropa ähnlich. Der Erlösungsreligion Christentum entspricht kein Bedürfnis mehr.2
Flasch formuliert damit eine entscheidende Einsicht. Im Zentrum des Christentums steht der Glaube an Gott als Erlöser von der Sünde. Ohne diesen Horizont der Errettung und Erlösung wird das ganze Christentum sinnlos. Der jüdische Historiker Aviad Kleinberg bringt es auf den Punkt:
Das Christentum beruht auf der Sünde. Nicht, dass seine Begründer Sünder gewesen seien – im Gegenteil: Sie waren offenbar aufrechte Menschen. Doch Sünde ist die Grundlage der christlichen Weltanschauung. Christen sind in erster Linie Sünder, und das Christentum stellt vor allem ein Heilmittel gegen die Sünde dar.3
Nun, wenn es sich um ein so zentrales Thema handelt, wie konnte es so in Verruf oder Vergessenheit geraten?
Was hat das Wort Sünde heute so unbrauchbar gemacht? Häufig sagt man, das Verständnis von Sünde sei moralisiert worden. Das scheint mir richtig zu sein, aber ungenau. Denn es ist ja weitgehend unstrittig, unmoralisches Verhalten abzulehnen und zu verurteilen. Was genau ist daran problematisch, dass Sünde als eine bestimmte Form der Moralisierung verstanden wird? Dreierlei möchte ich nennen.
Zunächst steht das Wort für eine umfassende Abwertung der menschlichen Person als schlecht bzw. böse. Was unterscheidet Sünde von anderen Konzepten wie Fehler, Schuld, Versagen? All diese Wörter scheinen für etwas zu stehen, was man tut. Das war falsch, aber du kannst es wiedergutmachen. Sünde ist nicht nur etwas, das man tut, sondern bezieht sich auf das, was man ist. Sie trifft ein negatives Urteil über eine Person. „Wir sind alle, alle kleine Sünderlein“ – in dieser Verniedlichung ist das zu ertragen. Aber ein Sünder zu sein, dann bezieht sich das negative Urteil auf den ganzen Menschen. Und sollte das nicht ironisch gemeint sein, hört der Spaß ganz schnell auf.
Aus der Sicht einer modernen Kritik wurde der Gedanke der Sünde benutzt, Menschen insgesamt als Sünder zu brandmarken und sie dadurch abzuwerten und zu entehren, um sie durch solche Entwertung beherrschbar und fügsam zu machen. Es ist diese Missbrauchsgeschichte, durch die der Begriff der Sünde jede Unschuld verloren hat.
Sünder, das ist das moralische Urteil, das nicht nur Taten, sondern die ganze Person abwertet. Auf diese Art und Weise von Sünde zu sprechen macht heute auf viele einen sinnlosen oder einen unsinnigen Eindruck. Dass alles Böse in der Welt nicht nur verkehrt, sondern auch Sünde sein soll, scheint sinnlos. Jeder weiß so ungefähr, was Schuld bedeutet. Wozu bedarf es da einer religiösen Zusatzvokabel? Nun, so sagt man, Sünde bedeutet, dass man vor Gott schuldig ist, weil man seine Maßstäbe missachtet. Und das betrifft alle Menschen, ausnahmslos und gleichermaßen. Letzteres aber klingt nun geradezu problematisch. Welchen Sinn soll es machen, Osama bin Laden genauso als einen Sünder zu bezeichnen wie Gandhi? Wenn wir über Schuld sprechen, ist uns allen klar, dass man sehr genau die Umstände ansehen muss. Wir unterscheiden Vorsatz von Fahrlässigkeit, wir stellen die Geringfügigkeit oder die besondere Schwere der Schuld fest. Was für ein Eindruck soll man da bekommen, wenn es heißt: Vor Gott sind alle gleich schuldig, alle sind Sünder, ohne Unterschied?
Diesem Tatbestand versuchte man zu widersprechen durch die Formel: Es geht ja nicht darum, den Menschen abzuwerten, sondern vielmehr gilt es, die Sünde zu hassen, aber den Sünder zu lieben. Allzu oft ist das ein ohnmächtiger Gedanke. Denn die Botschaft dieser Formel scheint zu sein: Ich bin kein Mensch, der mal Fehler macht, ich bin Sünder, also ein verkehrter Mensch. So werde ich radikal abgewertet und kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, inwiefern ich dabei „geliebt“ werde. Genauso verhält es sich mit der beliebten Formulierung, Jesus nimmt uns an wie wir sind, aber er lässt uns nicht wie wir sind. Zu Ende gedacht bedeutet das, dass wir nur in der Erstbegegnung mit Christus und mit Christen auf bedingungslose Annahme hoffen dürfen. Sobald wir uns darauf einlassen, diese Annahme zu akzeptieren, gilt sie nur noch unter der Bedingung, dass wir uns konsequent verändern.
Der zweite problematische Aspekt ist die damit verbundene Entmündigung des Menschen. Dieses Problem wird vor allem seit der Aufklärung empfunden. Die moderne Kultur versteht sich selbst ja vor allem als eine Geschichte der Freiheit. Freiheit wird zur Basis des aufgeklärten Kampfes für Grundrechte: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlfreiheit, Religionsfreiheit etc. In diesem Zusammenhang wird auch der Gedanke menschlicher Individualität immer stärker betont. Alle haben die gleichen Rechte und jeder von uns ist einzigartig, das sind die zwei Seiten moderner Mündigkeit. Die Vorstellung von der Einzigartigkeit eines jeden Menschen und damit der Impuls, das eigene Wesen zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen, wird zunehmend ein Grundmerkmal der aufgeklärten Kultur. Die Bedeutung individueller Entfaltung und Selbstverwirklichung wird mehr und mehr ein von allen geteilter Schlüsselwert der Gegenwart.
Die kirchliche Rede von Sünde wirkt in einer solchen Welt wie ein Fremdkörper. Es passt mit der Erfahrungswelt vieler Menschen nicht zusammen, den „Ungläubigen“ schlicht die Fähigkeit zur moralischen Selbsteinschätzung und das Recht auf Selbstannahme abzusprechen. Nicht selten haben Kirchenvertreter betont, dass die Menschen ohne Gott auch ohne Werte leben bzw. keine feste Basis für ihre Werte haben. Wer ohne Glauben lebe, könne auch keine wahre Liebe und Hoffnung haben. Aber stimmt das? Nicht wenige Christen berichten, dass solche Erwartungen ihnen Probleme bereiteten, wenn sie bei ganz normalen Ungläubigen in ihrem Bekanntenkreis längst nicht die moralische Orientierungslosigkeit finden konnten, die sie glaubten, erwarten zu müssen.
Hübsch beschrieben ist eine ähnliche Erfahrung im Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf, wo dieser seinen jugendlichen Helden Folgendes denken lässt:
Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelt man nachts um vier irgendwen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird.4
Ich weiß, dass auch so mancher Christ diese Erfahrung kennt – und Mühe hat, sie mit seinem Glauben zu verknüpfen.
Der dritte Aspekt ist die von vielen empfundene Anmaßung christlicher Verkündiger. In der Erinnerung vieler Menschen lebt das Christentum als dauerhaft erhobener Zeigefinger fort. Christlicher Glaube scheint die merkwürdige Kunst zu sein, in allem erst einmal eine Gefahr zu wittern. Früher wurde endlos gestritten über Theaterbesuche und Rauchen, lange Haare und kurze Röcke, Alkohol und der Gebrauch von Kraftwörtern, und natürlich: den kleinen Kreis intensiv diskutierter Sexualsünden. Was soll es heißen, dass wir ja alle Sünder seien, wenn es in öffentlichen Konflikten immer nur um einige ganz spezielle Fälle zu gehen scheint? Was soll man sich dabei denken, wenn christliche Stimmen zum Umgang mit Gewalt, Geld oder den Schutz der Umwelt weitaus weniger deutlich zu vernehmen sind? Wenn Meinungsverschiedenheit in diesen Fragen praktisch nie Anlass zu heftigem Streit und Spaltungen wird?
Diese empfundene Anmaßung dürfte Grund für das besonders pikante Vergnügen sein, den Spieß einfach mal umzukehren. Es ist ein weltweites Medien-Phänomen, dass die „Sünden“ kirchlicher Amtsträger mit besonderer Akribie erforscht, mit Inbrunst ausgeschlachtet und genüsslich debattiert werden. Das gilt nicht nur für abscheuliche Vergehen wie den massenhaften Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen. Kirchliche Vertreter haben offenbar eine Art Monopol darauf, mit ihren Entgleisungen kolossale Aufmerksamkeit zu erzielen, egal, ob es sich um eine (unfallfreie) Autofahrt im alkoholisierten Zustand oder um den protzigen Ausbau des eigenen Amtssitzes (mit frei stehender Badewanne!) handelt. Woher diese besondere Anteilnahme? Es ist offenbar die Lust daran, auch die Frommen einmal als öffentliche Sünder dastehen zu sehen. Es ist der besondere Reiz der Fallhöhe dieser Würdenträger: Diejenigen, die meinen, jedermann ins Gewissen reden zu dürfen, kann man nun vom hohen Ross angemaßter Urteilskraft stürzen lassen. Und jede Sekunde bis zum Aufprall in der moralischen Diskreditierung ist ein pikanter Genuss. Sie, die einst allen die Leviten lesen zu können glaubten, stehen nun endlich selbst bloßgestellt und nackig da. Ihnen widerfährt nun endlich, was sie glaubten, allen anderen unbedarft zumuten zu dürfen. Diese Schadenfreude wird offenbar durch einen alten Stachel so vergnüglich. Persönlich oder aber auch kollektiv fühlt man sich durch diese Religionsvertreter misstrauisch beäugt oder abgewertet. Das macht jede Retourkutsche zu einer Vergnügungsfahrt.
Sünde – dieser Code ist im Grunde hoffnungslos beschädigt. Das Wort ist zu einem Unwort geworden. Es ist kein unglücklicher Zufall, dass dieses Wort nur noch in ironischer oder entrüsteter Haltung funktioniert. Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses, eines errungenen Abschieds von erfahrener oder empfundener Abwertung und Beschämung. Das Wort ist verbrannt. Man kann es nicht mehr einfach so verwenden. Es erklärt nichts mehr, sondern bedarf selbst der ständigen Erklärung. Im Grunde ist dies in den westlichen Gesellschaften schon seit Jahrzehnten so. Wie soll man mit diesem Problem umgehen?
Man kann diese Schwierigkeiten natürlich ignorieren und einfach bei den alten Sprachmustern bleiben. Das allgemeine Unverständnis wird man dann auf die Entchristlichung unserer Gesellschaft schieben. In einigen christlichen Gruppen geschieht dies mit der Konsequenz, dass solche Christen sich in der Regel nur noch untereinander über ihr zunehmend düsteres Bild der heutigen Welt austauschen.
Andere reden so gut wie gar nicht mehr von Sünde. Damit wird ja nicht auf das Thema Gut und Böse verzichtet. Nein, moralische Themen werden eifrig kommuniziert. Das Böse ist durchaus vorhanden, aber: Es hat nur seinen Amtssitz verlegt. Es ist weniger Sache der Einzelnen, es ist eher eine Sache struktureller Schieflagen. Das Böse sitzt in der Zerstörung der Umwelt, in ungerechten Handelsbeziehungen oder nicht-inklusiver Sprache. Die Anklage der Einzelnen als Sünder braucht es dafür nicht. Auch die Rede von Gott lässt sich so spannungsfrei gestalten. Gott ist Inbegriff bedingungsloser Liebe, die jeden Menschen akzeptiert. Der liebe Gott liebt. Zur Not vergibt er auch mal. Aber letztlich steht er den Sorgen und Schwierigkeiten dieses Lebens in spannungsloser Güte gegenüber.
Ich weiß, es gibt unter Christen viele ernste Bemühungen um das Thema Sünde, nur: So, wie gerade beschrieben, hat Kirche auf mich in meiner Jugend gewirkt. Nicht, dass es schlecht war im Konfirmanden- oder Religionsunterricht, nein, meine Erinnerungen an diese Veranstaltungen sind überwiegend gut. Ich bin nur nicht auf die Idee gekommen, erlösungsbedürftig zu sein oder so etwas wie Glauben wirklich zu benötigen. Die meisten Menschen heute finden die Kirche nicht schlecht, es fehlt ihr ja wahrlich nicht an guten Werten: fairer Handel, Schutz der Umwelt, gleiche Rechte für Männer und Frauen, Fürsorge für die Fremden, die Armen etc. Es bestand und besteht kein Mangel an hehren Idealen, nur bleibt ein wenig das Gefühl, dass diese Anliegen auch dann noch vertreten würden, wenn es die Kirchen nicht gäbe. Der Schriftsteller Navid Kermani hat diesen Eindruck jüngst einmal so formuliert.
Dieses protestantische Christentum, das ich auf einem Forum des Kirchentags höre, oder das mir in der evangelischen Beilage der Zeitung begegnet, mag ja sympathisch sein, aber es lässt mich kalt. Es kommt mir oft wie eine Doppelung dessen vor, was uns der gesunde Menschenverstand ohnehin sagt.5
Je länger, je mehr ist ein doppelter Eindruck unvermeidbar: dass das Thema Sünde in seiner klassischen Form nicht mehr funktioniert – und dass es ebenso wenig preisgegeben werden kann ohne Selbstaufgabe des Christentums insgesamt. Gibt es noch einen dritten Weg?
In dieser Situation halte ich die Beobachtungen des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) für besonders hilfreich. Dietrich Bonhoeffer hatte in seinem Leben wechselvolle Erfahrungen mit der Kirche. Von seiner Familie her war ihm die freundlich-distanzierte Atmosphäre eines bürgerlichen Haushalts vertraut. In seinem Studium ließ Bonhoeffer sich faszinieren von der Tiefe und Wucht des biblischen Evangeliums. In den USA lernte er die Kraft schwarzer Kirchen mit ihrer leidenschaftlichen Frömmigkeit kennen. Gerade in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus war er eng eingebunden in die Bekennende Kirche, die sich im Rückgriff auf das Bekenntnis der Reformation jeder Gleichschaltung durch das nationalsozialistische Regime verweigerte. Als er für seine Beteiligung am Widerstand gegen den Nationalsozialismus ins Gefängnis kam, machte Bonhoeffer noch einmal eine andere Erfahrung. In der direkten Konfrontation mit Mithäftlingen und dem Wachpersonal wurde ihm deutlicher denn je, wie weit für viele Menschen das Christentum aus ihrem Alltag verschwunden war. Die christlichen Riten waren nicht nur außer Übung, die ganze Sprache und die Denkformen des Christentums waren unverständlich geworden. Bonhoeffer fasste diese Erfahrung in Briefen an seinen Freund Eberhardt Bethge zusammen. Er erklärt, dass wir auf ein religionsloses Zeitalter zugehen, auf eine Zeit, die nicht nur Religion ablehnt, sondern diese als überflüssig, weil sinnlos, empfindet.
Wie konnte es zu dieser Entfremdung kommen? Bonhoeffers Diagnose lautet: Die Kirche hat vergeblich versucht, sich dem Prozess der Aufklärung entgegenzustellen.
Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertigzuwerden ohne Zuhilfenahme der „Arbeitshypothese Gott“. In wissenschaftlichen, künstlerischen, auch ethischen Fragen ist das eine Selbstverständlichkeit, an der man kaum mehr zu rütteln wagt; seit etwa 100 Jahren gilt das aber in zunehmendem Maße auch für die religiösen Fragen; es zeigt sich, dass alles auch gut ohne ‚Gott’ geht, und zwar ebenso gut wie vorher.6
Diesen Bedeutungsverlust der Religion haben die Kirchen natürlich registriert. Sie haben ihn aber vielfach nicht mit selbstkritischer Hinterfragung aufgenommen, sondern ihn als Verweltlichung angeprangert und kritisiert.
Katholische und protestantische Geschichtsschreibung sind sich nun darüber einig, dass in dieser Entwicklung der große Abfall von Gott, von Christus zu sehen sei, und je mehr sie Gott und Christus gegen diese Entwicklung in Anspruch nimmt und ausspielt, desto mehr versteht sich diese Entwicklung selbst als antichristlich.7
Bonhoeffer hält folgende Einsicht für überfällig: Christen können moderne Menschen nicht mehr wie unmündige Kinder behandeln. Für Bonhoeffer ist eine solche Kulturkritik an der Aufklärung ein verzweifeltes Unternehmen.
Die Attacke der christlichen Apologetik auf die Mündigkeit der Welt halte ich erstens für sinnlos, zweitens für unvornehm, drittens für unchristlich. Sinnlos, weil sie mir wie der Versuch erscheint, einen zum Mann gewordenen Menschen in seine Pubertätszeit zurückzuversetzen, d. h., ihn von lauter Dingen abhängig zu machen, von denen er faktisch nicht mehr abhängig ist, ihn in Probleme hineinzustoßen, die für ihn faktisch nicht mehr Probleme sind!8
Ein neuer Anfang ist nötig. Die alte religiöse Sprache des Christentums ist nicht mehr verständlich. Es braucht eine neue Übersetzung auch der grundlegenden Worte und Begriffe. Darum fordert Bonhoeffer eine nicht-religiöse Interpretation des christlichen Glaubens für eine postchristliche Zeit.
Ich halte Dietrich Bonhoeffers Diagnose unserer heutigen Situation im Großen und Ganzen für richtig. Bonhoeffer selbst macht klar, dass es hier nicht um einfache Reparaturmaßnahmen geht. Der Bruch ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entfremdung von christlicher Sprache und moderner Entwicklung. Es gibt ja wahrlich gute Gründe dafür, dem Christentum oder den Religionen zurückhaltend bzw. skeptisch gegenüberzustehen. Niemand bestreitet im Ernst die lange Geschichte des Missbrauchs, die mit religiösen Formeln, seelsorgerlichem Vertrauen und kirchlicher Macht getrieben wurde. Es gibt keine christlichen Traditionen, die von dieser Geschichte unbeschädigt sind. Will man am Christentum festhalten, dann kann es um nicht weniger als darum gehen, den christlichen Glauben neu zu entdecken, zu befreien aus so mancher problematischen Verstrickung oder Verengung. Zugleich lässt Bonhoeffer auch keinen Zweifel daran, wie lohnend dieser Versuch ist. „In den überlieferten Worten und Handlungen [Jesu Christi] ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können.“9
Was ich in diesem Buch versuche, ist eine Art Entdeckungsreise. Das ist die Weise, wie ich mich selbst dem christlichen Glauben angenähert habe: in einer Erkundung einer fremden Religion, die ich nicht teile, die ich vor allem aber auch kaum kenne. Man redet in Mitteleuropa gerne von „unserem Christentum“, als würden wir es gut kennen, schließlich sehen wir ja täglich seine Kirchen. Für mich war es im Alter von 19, 20 Jahren eine ungeheure Entdeckung, dass mir diese Religion im Grunde völlig unbekannt ist. Dass das Christentum für mich eine fremde Religion ist, die ihre faszinierenden wie auch verstörenden Seiten hat. Mit dieser Einsicht begann meine eigene Entdeckungsreise in Sachen christlicher Glauben.
Entdeckungsreisende wissen noch nicht genau, was sie finden und erwarten können. Das unterscheidet sie von Pauschaltouristen, die genau wissen, was sie suchen, z. B. Sonne, Strand und Meer, und oft auch nichts Anderes finden wollen. Entdeckungsreisende wollen gerade etwas finden, was sie noch nicht kennen. Sie sind offen für neue Entdeckungen. Sie sind nicht darauf festgelegt, alles gut zu finden. Aber sie wollen sich ein eigenes Bild machen. Sie wollen nicht zu früh urteilen, lieber zweimal hinschauen, sich überraschen lassen. Sie wollen das Typische sehen, nicht die Spuren einer allgegenwärtigen Globalisierung, sie wollen nicht noch einmal das Klischee beleben, sondern vom Fremden überrascht werden, egal, ob sie dadurch verstört oder bereichert werden.
Nun ist die christliche Sündenlehre ein merkwürdiges Land. Man kann es nicht einfach von außen betrachten. Gehen wir noch einmal vom Alltagsverständnis von Sünde aus: Sünde soll ein universales Problem sein. Sie betrifft nicht nur einige, wie in moralischen Urteilen, sondern alle. Sünde ist ein religiöses Thema. Sie hat etwas mit der Gottesbeziehung zu tun. Sie bezieht sich auf moralische Debatten, aber sie geht darin nicht auf. Sünde kann man nicht an sich erkennen.10 Wenn das wenigstens so ungefähr in die richtige Richtung geht, ist man immer schon mit betroffen. Auf diese Sache hat man keinen neutralen Blick von außen. Es ist wie in dieser bekannten Geschichte von den drei Fischen:
Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: Morgen Jungs, wie ist das Wasser? Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen langen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“11
Wenn es so etwas wie Sünde gibt, dann ist sie ein solches Wasser, in dem wir immer schon schwimmen. Streng genommen könnte es nur von einer Außenperspektive aus sichtbar werden. Es müsste zumindest die Idee einer Insel, eines Landes oder eines Himmels geben, von wo aus Wasser als Wasser sichtbar würde. Denn das Selbstverständliche ist so gut wie unsichtbar. Der dänische Christ und Philosoph Sören Kierkegaard formulierte das einmal so: Niemand vermag „aus eigenem Vermögen und von sich selbst her auszusagen, was Sünde ist, eben deshalb, weil er in der Sünde ist“12. Darüber nachzudenken hieße, das für einen selbst Selbstverständliche zu hinterfragen. Darum ist Sünde immer schon ein persönliches Thema. Sündenerkenntnis gibt es nur als Selbsterkenntnis. Eine Selbsterkenntnis, die die eigene Lebenserfahrung neu beleuchtet.
Wie kann man sich einem solchen Land als Entdeckungsreisender annähern? Als jugendlicher Atheist glaubte ich jahrelang, das Christentum hinter mir zu haben. Sinn machte es erst, als ich mich langsam von außen annäherte. Die Erinnerung an diese Annäherung von außen ist mir nie verloren gegangen. Ich möchte sie hier immer wieder bewusst einbringen. Als das Christentum für mich eine exotische Religion und damit eine interessante Frage geworden war, wurde mir eines klar: Was immer die Menschen aus dem Glauben gemacht haben mögen, an seinen Anfängen muss sich entscheiden, ob die Beschäftigung damit überhaupt lohnt. Wenn die biblischen Bücher eine grundlegende Bedeutung für die Kirchen haben, dann findet sich dort offenbar eine Art Werkseinstellung für ihre Codes.
Ausgangspunkt meiner Frage nach der Sünde werden daher stets die Bilder und Gleichnisse der Bibel sein. Na klar, das sind Geschichten unserer Welt. Aber im Christentum gibt es diese Idee, dass uns hier dennoch ein Blick wie von außen auf unsere menschliche Situation begegnet. Diese Geschichten und Bilder funktionieren wie eine Brille, die bisher Unsichtbares sichtbar macht. Was sieht man durch die Brille des christlichen Glaubens? Was lässt sich durch sie wahrnehmen? Welche Konturen treten stärker hervor, was erscheint in einem neuen Licht?
Es gibt Dinge, die wir uns nicht selbst sagen können. Sie liegen wie in einem toten Winkel. So etwas müsste Sünde wohl sein. Darum ist der Umweg über Erzählungen und Bilder der Sünde so wesentlich. Diese Geschichten werden aber nur in der Selbstanwendung verständlich.
Ein zweiter Bezugspunkt werden daher Geschichten und Gestalten sein, die vielen (vor allem jüngeren) Menschen vertraut sind. Wenn es heute überhaupt noch einen gemeinsamen Schatz von Beispielen und Identifikationsfiguren gibt, dann sind es die großen Geschichten aus dem Kino. Hollywood und seine weltweiten Pendants sind weit mehr als eine Traumfabrik. Die großen Blockbuster unserer Zeit sind längst an die Stelle der klassischen Mythen der Antike und der großen Dramen des Theaters getreten.13
Dem Christentum steht heute eine gewisse Bescheidenheit gut zu Gesicht. Es wäre ein unsinniger Anspruch, heute allein im Rückgriff auf die eigenen Geschichten der Welt sagen zu wollen, was wirklich Sünde ist. Das Christentum ist seit 2000 Jahren in der Welt. Es hat mit seinen Geschichten und Maßstäben die Kultur durchdringend geprägt, auch da, wo Menschen sich nicht mehr als gläubig betrachten. Christen sollten ruhig ernsthaft damit rechnen, dass sie außerhalb kirchlicher Kreise sehr vieles über ihren eigenen Glauben lernen können, auch im Kino.
Man kann das Thema Sünde nicht nur historisch behandeln und sagen: So und so haben Jesus, Paulus etc. Sünde verstanden. Der Sinn einer Brille erschließt sich nicht, solange man nur die Brille betrachtet. Die Frage ist doch: Kann man durch diese Brille etwas sehen? Wird die Sicht auf das eigene Leben durch dieses Medium klarer und schärfer? Können wir mittels der alten biblischen Worte und Geschichten heutige Lebenserfahrungen, wie sie z.B. in den großen Erzählungen des Kinos dargestellt werden, besser verarbeiten? Und helfen uns diese Geschichten vielleicht auch, das, was die Bibel meint, besser zu erfassen?
Es mag Menschen geben, die den Umweg über die biblischen Aussagen mühselig finden, und solche, die einer Beschäftigung mit den modernen Geschichten des Kinos nichts abgewinnen können. Genau diese doppelte Zumutung ist mir jedoch wichtig. Es geht nicht ohne die biblischen Geschichten. Freihändig bekommen wir die eigene Verstrickung nicht in den Blick. Wenn wir das Wasserbeispiel ernst nehmen gilt: Die Situation des Menschen kann nur von außerhalb in den Blick kommen. Es ist für den christlichen Glauben wesentlich, dass in den biblischen Textstellen eine solche Außenperspektive aufscheint. Christen glauben, dass diese Texte von einem solchen Transzendenzeinbruch herrühren, einer Begegnung mit Gott, einer Offenbarung; auch, wenn man das nicht im Vornhinein akzeptieren muss, um sich sinnvoll mit der Bibel beschäftigen zu können.
Und es geht nicht ohne die Geschichten aus unserer Zeit, in denen Erfahrungen unseres Suchens und Scheiterns, unserer Hoffnungen und unserer Ängste verdichtet sind. Wir brauchen das Gegenüber der Bibel, um eine Außenperspektive auf unser Leben zu bekommen, und wir brauchen die Erfahrungen unserer Zeit, um uns selbst im Licht der Bibel zu verstehen.