Menschenjagd – Running Man - Stephen King - E-Book

Menschenjagd – Running Man E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Die ultimative Gameshow: Wer verliert, ist tot

Reality-TV im Jahr 2025: In der Gameshow Running Man werden die Kandidaten zu Freiwild – gejagt von einem Killerkommando und der ganzen Nation. Wer überlebt, gewinnt eine Milliarde Dollar – und wird er dabei selbst zum Mörder, gibt es einen Bonus obendrauf. Benjamin braucht das Geld, um seine todkranke Tochter zu retten. ER weiß, dass es noch nie einen Überlebenden gab …

Verfilmt mit Arnold Schwarzenegger.

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Seitenzahl: 410

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Das Buch

Die USA im Jahr 2025: Wer Arbeit hat, kann von Glück reden. Für das Heer der Arbeitslosen gibt’s billiges Rauschgift und kostenloses Fernsehen – Free-Vee. Ben Richards, der das Geld braucht, um Medizin für seine Tochter zu kaufen, bewirbt sich bei Network Games und wird der beliebtesten Game-Show zugeteilt: Menschenjagd.

»Die Regeln sind denkbar einfach. Sie gewinnen für jede Stunde, die Sie in Freiheit verbringen, hundert Neudollar. Wir statten Sie zu Beginn der Jagd mit viertausendachthundert Dollar aus, da wir davon ausgehen, dass Sie es schaffen werden, die Jäger achtundvierzig Stunden lang an der Nase herumzuführen. Wenn Sie dreißig Tage durchhalten, gewinnen Sie den Großen Preis. Eine Milliarde Neudollar.«

Die Show läuft seit sechs Jahren, und bis jetzt hat sie niemand überlebt. Aber Ben Richards narrt seine Jäger immer wieder …

Der Autor

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Die großen Werke des Autors erscheinen im Heyne Verlag.

SCHREIBT ALS

RICHARD BACHMAN

MENSCHENJAGD

Roman

Aus dem Amerikanischen von Nora Jensen und Jochen Stremmel

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Die Originalausgabe

RUNNING MAN

erschien bei Signet, New York

Copyright © 1982 by Richard Bachman

Copyright © 1986, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Bearbeitung: Falk Behr und Momo Evers

Redaktion: Momo Evers

Umschlaggestaltung und Konzeption: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung einer Illustration von © Anja Filler

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-05507-3V007

www.heyne.de

Vorwort des Herausgebers

Ehe er Ende 1985 einer Krebserkrankung erlag, hatte Richard Bachman fünf Romane veröffentlicht. 1994 fand die Witwe des Schriftstellers im Keller einen Pappkarton voller Manuskripte, als sie sich auf einen Umzug vorbereitete. Diese Erzählungen und Romane befanden sich in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Die am wenigsten bearbeiteten waren handgeschriebene Notizen auf Stenoblöcken, die Bachman für seine ersten Entwürfe verwendete. Am weitesten fertiggestellt war der maschinengeschriebene Text des folgenden Romans. Er befand sich in einem mit Gummibändern gesicherten Karton für Manuskripte – als hätte Bachman kurz davor gestanden, ihn an seinen Verleger zu schicken, als sein Körper nicht mehr auf die Therapie ansprach. Bachmans Witwe legte mir das Manuskript zur Begutachtung vor, und ich stellte fest, dass es mindestens das Niveau seiner früheren Werke hielt. Ich habe einige Kleinigkeiten verändert, vor allem bestimmte Bezüge aktualisiert (indem ich zum Beispiel Rob Lowe im ersten Kapitel durch Ethan Hawke ersetzt habe). Aber im Großen und Ganzen habe ich das Werk so belassen, wie es mir zugesandt worden ist. Mit der Zustimmung von Bachmans Witwe bieten wir diesen Roman nun als Schlussstein eines ungewöhnlichen, aber nicht uninteressanten Schaffens an.

Mein Dank geht an Claudia Eschelman (die frühere Claudia Bachman), den Bachman-Forscher Douglas Winter, Elaine Koster von der New American Library und Carolyn Stromberg, die Bachmans frühe Romane lektoriert und die Echtheit dieses Textes überprüft hat.

Bachmans Witwe ließ bekannt geben, dass Bachman ihres Wissens nie nach Ohio gereist ist, »obwohl er ein- oder zweimal mit dem Flugzeug darüber hinweggeflogen sein mag.« Sie hat keine Vorstellung davon, wann dieser Roman entstanden ist, außer dass es spät in der Nacht gewesen sein muss. Bachman litt unter chronischer Schlaflosigkeit.

Charles Verrill, New York City

… Minus 100Countdown läuft …

Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie in dem weißen Licht, das durchs Fenster fiel, auf das Fieberthermometer. Dahinter im Nieselregen die Hochhäuser von Co-Op City, bedrohlich wie die grauen Wachtürme einer Strafanstalt. Unten, im sogenannten Lichthof, flatterte zerlumpte Wäsche auf der Leine. Ratten und fette streunende Katzen durchwühlten den Abfall.

Sie blickte zu ihrem Mann hinüber. Er saß am Küchentisch und starrte mit stumpfer, beharrlicher Konzentration auf den Free-Vee-Bildschirm. Seit Wochen schon schaute er sich diese Sendungen an. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er hasste sie, hatte sie immer gehasst. Natürlich war in jeder Sozialwohnung der Siedlung so ein kostenloser Fernseher installiert – das war gesetzlich vorgeschrieben –, aber es war immer noch legal, ihn abzuschalten. Die Gesetzesvorlage zur Einführung des Zwangsfernsehens hatte im Jahr 2021 die erforderliche Zweidrittelmehrheit um sechs Stimmen verfehlt. Normalerweise sahen sie nie fern. Doch seit Cathy krank war, hatte er sich jedes der Riesengewinnspiele angesehen. Das erfüllte sie mit eisiger Furcht.

Cathys heiseres, nicht endendes Jammern übertönte das neurotische Geschrei des Fernsehsprechers, der während der Halbzeit die neuesten Nachrichten herunterbetete.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Richards.

»Nicht sehr schlimm.«

»Verarsch mich nicht.«

»Sie hat neununddreißig Grad Fieber.«

Er knallte beide Fäuste auf den Tisch. Ein Plastikteller sprang in die Luft und fiel scheppernd auf die Tischplatte zurück.

»Wir holen einen Arzt. Jetzt mach dir doch nicht solche Sorgen. Hör mal …« Sie fing aufgeregt zu plappern an, um ihn abzulenken. Er hatte sich abgewandt und starrte wieder auf das Free-Vee. Die Halbzeitpause war vorbei, und das Spiel lief wieder. Es war keine der großen Shows, nur ein billiger Tages-Teaser. Tretmühle zum Zaster. Für diese Sendung wurden nur chronisch Herz-, Leber- oder Lungenkranke angenommen und ab und zu mal, zur Auflockerung, ein Krüppel. Für jede Minute, die der Kandidat auf der Tretmühle durchhielt (wobei er sich ständig mit dem Moderator unterhalten musste), erhielt er zehn Dollar. Alle zwei Minuten stellte der Quizmaster ihm eine Bonusfrage aus seinem Fachgebiet; dabei konnte der Kandidat jeweils fünfzig Dollar gewinnen. Der Mann, der gerade an der Reihe war, ein Patient mit Herzrhythmusstörungen aus Hackensack, war ein Ass in amerikanischer Geschichte. Wenn der keuchende, erschöpfte Mann, dessen Herz fantastische akrobatische Sprünge in seiner Brust absolvierte, die Frage nicht richtig beantwortete, würde man ihm fünfzig Dollar von seinem bisherigen Gewinn abziehen und die Geschwindigkeit der Tretmühle erhöhen.

»Wir werden schon zurechtkommen, Ben. Wirklich, wir werden es schon schaffen. Ich … ich werde …«

»Du wirst was?« Er starrte sie wütend an. »Wieder auf den Strich gehen? Nein, das nicht mehr, Sheila. Sie muss einen richtigen Arzt haben. Nicht so eine Hebamme aus der Nachbarschaft mit dreckigen Händen und Whiskeyfahne. Moderne Geräte und alles. Dafür werde ich sorgen.«

Er ging nervös in der Küche auf und ab. Seine Augen wanderten wie hypnotisch angezogen zum Bildschirm hinüber, der über der Spüle in die abblätternde Wand eingelassen war. Er nahm seine billige Jeansjacke vom Haken und zog sie energisch über.

»Nein! Nein, das … das lasse ich nicht zu! Du wirst dich nicht …«

»Warum nicht? Schlimmstenfalls kriegst du ein paar Altdollar als Beihilfe für einen vaterlosen Haushalt. So oder so, du wirst in jedem Fall genug Geld haben, um sie durchzubringen.«

Sie war nie eine wirklich hübsche Frau gewesen, und die Jahre, in denen ihr Mann arbeitslos gewesen war, hatten tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben, aber in diesem Augenblick war sie wunderschön … herrschaftlich. »Ich werde es nicht annehmen. Lieber verkaufe ich dem Typ von der Regierung, wenn er an die Tür klopft, eine Zwei-Dollar-Nummer und schicke ihn dann mit seinem dreckigen Blutgeld in der Tasche wieder nach Hause. Soll ich etwa eine Kopfgeldprämie für meinen Mann annehmen?«

Er fuhr zu ihr herum, grimmig, wild entschlossen, als klammerte er sich an etwas, was ihn zum Außenseiter machte. Ein unsichtbares Etwas, auf das das Network schonungslos zählte. Er war nicht zeitgemäß. Ein Dinosaurier. Kein großer zwar, aber trotzdem ein Relikt aus der Vorzeit, ein öffentliches Ärgernis. Vielleicht sogar eine Gefahr. Große Wolken kondensieren um kleine Partikel.

Er deutete zum Schlafzimmer hinüber. »Wie wäre es, sie in einem anonymen Armengrab? Gefällt dir die Vorstellung?«

Seine Worte zerfetzten ihre Einwände, alles was ihr blieb war blinde Trauer. Ihre herrschaftliche Miene zerbrach und löste sich in Tränen auf.

»Ben, das ist doch genau das, was sie wollen, von Leuten wie uns, wie dir …«

»Vielleicht nehmen sie mich gar nicht«, sagte er und öffnete die Tür. »Kann ja sein, dass ich das, was immer sie suchen, gar nicht habe.«

»Wenn du jetzt gehst, werden sie dich töten. Und ich muss hier sitzen und dabei zusehen. Willst du wirklich, dass ich mir das ansehe, während sie nebenan im Bett liegt?« Sie war kaum zu verstehen, so stark schluchzte sie.

»Ich will, dass sie lebt.« Er versuchte, die Tür hinter sich zuzuziehen, aber sie drängte sich dazwischen.

»Dann gib mir einen Kuss, bevor du gehst.«

Er küsste sie. Am anderen Ende des Flures öffnete Mrs. Jenner ihre Wohnungstür und spähte auf den Gang. Köstliche Duftschwaden von Corned Beef und Kohl zogen an ihnen vorüber, verlockend, aufreizend. Mrs. Jenner ging es nicht schlecht – sie half im benachbarten Drugstore aus und hatte einen fast unfehlbaren Blick für Leute mit gefälschten Papieren.

»Nimmst du das Geld an?«, fragte Richards. »Wirst du keine Dummheiten machen?«

»Ich nehme es«, flüsterte sie zurück. »Du weißt, dass ich es nehmen werde.«

Er umarmte sie unbeholfen, wandte sich hastig und zielstrebig um und polterte die steile, miserabel beleuchtete Treppe nach unten.

Sie stand, von lautlosen Schluchzern geschüttelt, in der Tür und wartete, bis sie die Haustür fünf Stockwerke tiefer mit hohlem Klang ins Schloss fallen hörte. Dann hob sie die Schürze vors Gesicht. Sie umklammerte immer noch das Thermometer, mit dem sie das Fieber des Babys gemessen hatte.

Mrs. Jenner schlich leise heran und zupfte an der Schürze. »Schätzchen«, flüsterte sie. »Ich kann dir Penizillin besorgen … wirklich billig … auf dem Schwarzmarkt … wenn das Geld kommt … gute Qualität …«

»Raus hier!«, schrie sie die Frau an.

Mrs. Jenner zuckte zusammen. Ihre Oberlippe zog sich instinktiv von ihren geschwärzten Zahnstümpfen zurück. »Hab ja nur helfen wollen«, murmelte sie und eilte zurück in ihr Zimmer.

Kaum gedämpft durch das dünne Plastikholz wimmerte Cathy ununterbrochen. Mrs. Jenners Free-Vee plärrte und johlte. Der Kandidat in der Tretmühle zum Zaster hatte eine Bonusfrage nicht beantwortet und gleichzeitig eine Herzattacke bekommen. Jetzt wurde er unter Beifall der Zuschauer auf einer Gummitrage aus dem Studio befördert.

Mrs. Jenners Oberlippe hob und senkte sich wie zum Takt eines Metronoms, als sie sich Sheila Richards’ Namen in ihrem Büchlein notierte. »Wir werden ja sehen«, sagte sie vor sich hin. »Wir werden es ja sehen, Mrs. Tausendschön.«

Mit einem bösartigen Schnappen schloss sie ihr Notizbuch und machte es sich gemütlich, um sich das nächste Spiel anzusehen.

… Minus 099Countdown läuft …

Als Richards auf die Straße trat, war aus dem Nieseln Dauerregen geworden. Das große »Kostenlose Dope-Ziggis – grenzenlose Halluzinationen«-Thermometer auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeigte zehn Grad an. (Genau die richtige Temp für einen Joint – High bis zum n-ten Grad.) Dann müssten es jetzt ungefähr fünfzehn Grad in ihrer Wohnung sein. Und Cathy hatte Grippe.

Eine Ratte trottete faul über den rissigen, geborstenen Asphalt der Straße. Am Randstein stand das rostige Skelett eines Humber aus dem Jahr 2013 auf verrotteten Achsen. Der Wagen war vollständig ausgeschlachtet worden, selbst die Radlager und der Motorsockel, aber die Cops schleppten ihn nicht ab. Die Cops wagten sich überhaupt nur noch selten auf die südliche Seite des Kanals. Co-Op City war ein strahlenförmig angelegtes Rattenlabyrinth aus Parkplätzen, verlassenen Läden, Einkaufszentren, leeren Stadtparks und asphaltierten Kinderspielplätzen. Hier galt das Gesetz der Rockerbanden, und alle Nachrichten über die unerschrockene Blockpolizei von South City waren nichts weiter als ein Haufen warmer Scheiße. Die Straßen waren ausgestorben und gespenstisch still. Wenn man ausging, nahm man entweder den Pneumobus oder hatte eine Gasflasche bei sich.

Er ging schnell, ohne sich umzusehen, ohne nachzudenken. Die Luft war schwefelig und stickig. Vier Motorräder rasten an ihm vorbei, und irgendjemand warf mit einem gezackten Stück Asphalt. Richards wich problemlos aus. Zwei Pneumobusse überholten ihn, die ausströmende Pressluft schüttelte ihn durch, aber er ließ sie nicht anhalten. Seine wöchentliche Arbeitslosenunterstützung von zwanzig Dollar (Altdollar) war schon ausgegeben. Er hatte kein Geld, um sich eine Wertmarke zu kaufen. Er nahm an, die Rockerbanden konnten spüren, dass er arm war. Jedenfalls wurde er nicht belästigt.

Hochhäuser, Siedlungen, Maschendrahtzäune, Parkplätze – leer bis auf ein paar ausgeschlachtete Wagenleichen –, Obszönitäten, mit weicher Kreide auf den Asphalt gekritzelt, die nun im Regen verschwammen. Eingeschlagene Fensterscheiben, Ratten, nasse Abfalltüten, geplatzt, ihr Inhalt über den Bürgersteig und in der Gosse verteilt. Graffiti, in ungelenken Buchstaben auf graue, zerbröckelnde Mauern gekritzelt: LASS DIR DIE SONNE NICHT UNTERGEHEN HONKY HÖRST DU. KAI MACHT UNS HIGH. DEINE MAMA IST GEIL. SCHÄL DEINE BANANE. TOMMY IST EIN PUSHER. HITLER WAR COOL. MARY. SID. JAGT ALLE JUDEN ÜBER DEN JORDAN. Die alten, in den Siebzigerjahren von General Atomics aufgestellten Straßenlampen waren mit Steinen oder Asphaltbrocken zerschmissen worden. Hier unten würde kein Techniko sie austauschen. Technikos stehen auf den Neu-Kredit-Dollar. Technikos bleiben uptown, Baby. Uptown ist cool. Alles still bis auf das schnell anschwellende und ebenso schnell abklingende Wusch der Pneumobusse und das hallende Echo von Richards’ Schritten. Dieses Schlachtfeld erwacht nur nachts zum Leben. Tagsüber herrscht hier eine graue, einsame Stille, von keiner Bewegung unterbrochen; nur die Katzen sind immer da, die Katzen und die Ratten und die fetten weißen Maden, die sich durch den Unrat wühlen. Keine Gerüche, nur der Verwesungsgestank dieses schönen Jahres 2025. Die Free-Vee-Kabel sind sicher unter der Straße vergraben, und nur ein Idiot oder ein Revolutionär würde es wagen, sie zu zerstören. Free-Vee, das ist der Stoff, aus dem die Träume sind, ist das täglich Brot des Lebens. Heroin kostet zwölf Altdollar das Tütchen, Frisco Push zwanzig Dollar der Trip, aber Free-Vee, das lässt dich ganz umsonst ausflippen. Da hinten, auf der anderen Seite des Kanals, da läuft die Traummaschine, vierundzwanzig Stunden am Tag … aber sie wird mit Neudollars betrieben, und Neudollars besitzen nur Leute mit Arbeit. Es gibt vier Millionen andere, fast alle arbeitslos, südlich des Kanals in Co-Op City.

Richards ging drei Meilen, und die üblichen Tabakwaren- und Getränkeläden, deren Türen und Fenster anfangs noch schwer vergittert waren, wurden allmählich zahlreicher. Dann folgten die Pornoschuppen (!! 24 Perversionen – Zählt nach, 24!!), die Spielhöllen und die riesigen Warenhäuser. An jeder Straßenecke saßen Rocker auf ihren Motorrädern, und der Rinnstein lag unter Schneewehen von Jointkippen begraben. REICHE KNACKER KIFFEN WACKER.

Er konnte jetzt die Wolkenkratzer erkennen, die sich hoch und sauber in den Himmel erhoben. Der höchste war das Network Games Building, in dem die Spiele aufgezeichnet wurden. Die obere Hälfte der einhundert Stockwerke lag hinter Wolken und Smog verborgen. Er fixierte ihn mit seinen Augen und lief noch eine Meile, vorbei an den teureren Kinos und Läden, jetzt ohne Gitter (doch dafür mit einem Mietbullen vor jeder Tür, mit elektrischen Schlagstöcken an den Sam-Browne-Gürteln). An jeder Straßenecke ein City-Cop. Der Volkspark mit Springbrunnen: Eintritt 75 Cents. Elegant gekleidete Mütter, die ihren Kindern beim Spielen auf den Kunstrasenplätzen hinter Maschendrahtzäunen zusahen. Auf jeder Seite des Tores ein Cop. Ein winziger, erbärmlicher Eindruck vom Springbrunnen.

Er überquerte den Kanal.

Das Network Games Building wuchs immer höher, je näher er kam, und es wirkte immer irrealer mit seinen ins Unendliche übereinandergetürmten Büroetagen, unpersönlichen Fensterreihen und dem polierten Mauerwerk. Cops beobachteten ihn, bereit, ihn zu verscheuchen oder festzunehmen, falls es so aussah, als wollte er nur herumlungern. Für einen Mann mit ausgebeulten grauen Hosen, einem billigen Topfhaarschnitt und eingesunkenen Augen gab es nur einen Grund, nach Uptown zu gehen. Und dieser Grund waren die Spiele.

Die Qualifikationstests begannen pünktlich um zwölf Uhr mittags. Als Richards sich hinter den letzten Mann in die Reihe stellte, stand er fast im Schatten des Wolkenkratzers. Aber das Hochhaus war noch neun Häuserblocks entfernt, über eine Meile weit. Die Reihe der wartenden Männer erstreckte sich vor ihm wie eine unendliche Schlange. Bald stellten sich andere hinter ihm an. Die Polizisten behielten sie im Auge, die Hände auf Pistolenkolben oder an Schlagstöcken. Sie lächelten unpersönlich, ein Lächeln voller Verachtung.

Findest du nicht, dass der Kerl da ein bisschen schwachsinnig aussieht, Frank? Für mich schon.Typ da hinten hat mich gefragt, ob man hier irgendwo aufs Klo gehen könnte. Kannste dir das vorstellen?Diese Hurensöhne können doch nicht …Würden die eigene Mutter töten, nur um ein paar …Der stinkt, als hätte er nicht mehr gebadet, seit …Gibt doch nichts Schöneres als ’ne Freakshow, wenn du mich …

Den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, um sich vor dem Regen zu schützen, scharrten sie ziellos mit den Füßen auf der Stelle, und nach einer Weile setzte sich die Schlange in Bewegung.

… Minus 098Countdown läuft …

Es war nach vier, als Richards den Hauptschalter erreichte und sofort an Schalter 9 (Q–R) verwiesen wurde. Die Frau an der ratternden Plastiktastatur sah müde und gemein und unpersönlich aus. Sie blickte und sah durch ihn hindurch.

»Name. Nach-Vor-Mittel.«

»Richards, Benjamin Stuart.«

Ihre Finger flogen über die Tasten. Ratter-ratter-ratter, machte die Maschine.

»Alter-Größe-Gewicht.«

»Achtundzwanzig, eins achtundachtzig, fünfundsiebzig.«

Ratter-ratter-ratter.

Die riesige Eingangshalle wirkte wie eine mit widerhallenden Geräuschen erfüllte Gruft. Fragen wurden gestellt und beantwortet. Leute wurden weinend hinausgeführt. Leute wurden hinausgeworfen. Heisere Stimmen erhoben sich protestierend. Ein oder zwei Schreie. Fragen. Immer wieder Fragen.

»Zuletzt besuchte Schule?«

»Handelsschule.«

»Haben Sie einen Abschluss gemacht?«

»Nein.«

»Nach wie vielen Jahren und in welchem Alter sind Sie abgegangen?«

»Zwei Jahre. Sechzehn.«

»Grund?«

»Ich habe geheiratet.«

Ratter-ratter-ratter.

»Name und Alter der Ehefrau, falls vorhanden.«

»Sheila Catherine Richards, sechsundzwanzig.«

»Name und Alter der Kinder, falls vorhanden.«

»Catherine Sarah Richards, achtzehn Monate.«

Ratter-ratter-ratter.

»Letzte Frage, Mister. Machen Sie sich nicht die Mühe zu lügen. Sie stellen es bei der medizinischen Untersuchung sowieso fest und disqualifizieren Sie dann. Haben Sie jemals Heroin oder das synthetische Amphetamin-Halluzinogen, genannt San Francisco Push, genommen?«

»Nein.«

Ratter.

Eine Plastikkarte sprang aus der Maschine, und sie reichte sie ihm. »Verlieren Sie die nicht, Großer. Falls Sie es tun, müssen Sie nächste Woche wiederkommen und ganz von vorn anfangen.« Jetzt schaute sie ihn zum ersten Mal an und sah sein Gesicht, die wütenden Augen, den schlanken Körper. Sah gar nicht mal schlecht aus. Wenigstens ein bisschen intelligent. Gute Anlagen.

Mit einer schnellen Bewegung riss sie ihm die Karte aus der Hand und knickte die obere rechte Ecke ab, sodass sie eigenartig gezackt aussah.

»Was soll das bedeuten?«

»Nicht so wichtig. Irgendjemand wird es Ihnen später erzählen. Vielleicht.« Sie zeigte über seine Schulter auf einen langen Gang, der zu einer Reihe von Fahrstühlen führte. Dutzende von Männern, die gerade von den Schaltern kamen, wurden angehalten, zeigten ihre Plastikausweise vor und gingen weiter. Gerade in dem Augenblick, als Richards hinübersah, wurde ein zitternder Push-Freak mit traurigem Gesicht von einem Cop angehalten und zur Tür gebracht. Der Freak fing an zu weinen, aber er ging.

»Die Welt ist hart, Großer«, sagte die Frau hinter dem Schalter mitleidslos. »Gehen Sie weiter.«

Richards ging weiter. Hinter ihm fing die Litanei schon wieder von vorn an.

… Minus 097Countdown läuft …

Eine harte, schwielige Hand schlug ihn auf die Schulter, als er den Gang hinter den Schaltern erreichte. »Ausweis, Freundchen.«

Richards zeigte seinen Ausweis. Der Cop entspannte sich. Sein verkniffenes Gesicht verriet Enttäuschung.

»Das gefällt dir, die Leute zurückzuschicken, nicht wahr?«, fragte Richards. »Das macht dich richtig an, hm?«

»Willst du zurück nach Downtown, du Made?«

Richards ging einfach an ihm vorbei, und der Cop rührte sich nicht vom Fleck.

Auf halbem Weg zu den Fahrstühlen drehte Richards sich noch einmal um. »He, Bulle!«

Der Cop sah streitlustig auf.

»Hast du Familie? Nächste Woche könntest du dran sein.«

»Weitergehen!«, rief der Cop wütend.

Richards ging lächelnd weiter.

Vor den Fahrstühlen wartete eine Schlange von vielleicht zwanzig Bewerbern. Richards zeigte einem der diensthabenden Cops seinen Ausweis, und der nahm Richards genauer unter die Lupe. »Bist wohl ein ganz Zäher, Sonny?«

»Mindestens genauso, wie du noch mit runtergelassener Hose und ohne Kanone am Bein klug daherredest«, sagte Richards immer noch lächelnd. »Willst es mal ausprobieren?«

Einen Augenblick lang dachte er, der Cop würde auf ihn losgehen. »Sie kriegen dich«, sagte der Cop. »Du wirst schön auf Knien rutschen, bevor sie mit dir fertig sind.«

Der Cop stolzierte auf drei Neuankömmlinge zu und verlangte ihre Ausweise zu sehen.

Der Mann, der vor Richards in der Schlange stand, drehte sich zu ihm um. Er hatte ein unglückliches, nervöses Gesicht, lockige Haare und einen spitzen Haaransatz. »Sag mal, du wirst dich doch nicht mit denen anlegen, Freund. Die stecken alle unter einer Decke.«

»Ist das so?«, antwortete Richards milde und sah ihm in die Augen.

Der Mann wandte sich ab.

Plötzlich öffneten sich die Fahrstuhltüren. Ein schwarzer Cop mit riesigem Bauch stand Wache vor der Tafel mit den Schaltknöpfen. Ein weiterer Cop saß auf einem kleinen Hocker und las in einem 3-D-Tittenheft in einer kugelsicheren Kabine von der Größe einer Telefonzelle, die im hinteren Teil des Fahrstuhls eingebaut war. Eine abgesägte Schrotflinte lag zwischen seinen Knien. Die Munition sauber aufgereiht neben ihm, bequem zu erreichen.

»Nach hinten durchgehen!«, rief der dicke Schwarze mit gelangweilter Wichtigtuerei. »Nach hinten durchgehen! Nach hinten durchgehen!«

Sie zwängten sich in die Kabine und standen schließlich so eng zusammen, dass es unmöglich war, tief durchzuatmen. Richards war umringt von minderwertigem Fleisch. Der Fahrstuhl brachte sie in den ersten Stock. Die Türen schnappten wieder auf. Richards, der alle Anwesenden in der Kabine überragte, konnte einen riesigen Wartesaal mit einer Unmenge von Stühlen sehen, der von einem überdimensionalen Free-Vee-Bildschirm beherrscht wurde. In einer Ecke stand ein Zigarettenautomat.

»Aussteigen! Aussteigen! Ausweise nach links vorzeigen!«

Sie stiegen aus und hielten ihre Ausweise vor die unpersönliche Linse einer Kamera. Drei Cops standen daneben. Aus irgendeinem Grund wurde bei rund einem Dutzend Ausweisen ein Summton ausgelöst. Die Besitzer wurden aus den Reihen ausgesondert und abgeführt.

Richards zeigte seine Plastikkarte und wurde weitergewiesen. Er ging zum Zigarettenautomaten, zog sich eine Packung Blams und setzte sich so weit wie möglich vom Free-Vee weg. Er zündete sich eine an und atmete hustend aus. Er hatte seit fast sechs Monaten keine Zigarette mehr geraucht.

… Minus 096Countdown läuft …

Sie riefen die A fast augenblicklich zur ärztlichen Untersuchung und ungefähr zwei Dutzend Männer standen auf und gingen nacheinander durch eine Tür hinter dem Free-Vee-Schirm. Auf einem großen Schild über der Tür stand: HIER ENTLANG. Unter die Buchstaben war ein Pfeil gezeichnet, der auf die Tür zeigte. Es war allgemein bekannt, dass unter den Bewerbern für die Spiele viele Analphabeten waren.

Alle fünfzehn Minuten oder so war der jeweils nächste Buchstabe fällig. Ben Richards hatte sich gegen siebzehn Uhr hingesetzt. Er schätzte, dass es mindestens Viertel vor neun werden würde, bevor sie reingerufen würden. Wenn er sich doch bloß ein Buch mitgenommen hätte, aber vermutlich war es so besser. Bücher wurden bestenfalls mit Misstrauen betrachtet, besonders, wenn sie bei jemandem südlich vom Kanal gesehen wurden. Pornomagazine waren sicherer.

Unruhig sah er sich die Sechs-Uhr-Nachrichten an (die Kämpfe in Ecuador waren heftiger geworden; in Indien waren neue Kannibalen-Aufstände ausgebrochen; die Detroit Tigers hatten die Harding Catamounts am Nachmittag 6 zu 2 geschlagen). Als um halb sieben das erste Riesengewinnspiel des Abends begann, ging er unruhig ans Fenster und sah hinaus. Jetzt, da er einen Entschluss gefasst hatte, langweilten die Spiele ihn wieder. Die meisten seiner Genossen saßen jedoch mit furchtsamer Faszination vor dem Bildschirm und sahen sich Schießen macht Spaß an. Vielleicht waren sie nächste Woche dran.

Draußen ging das Tageslicht langsam in die Abenddämmerung über. Die Hochbahnen rasten mit voller Geschwindigkeit über Gleise, die etwas über den Fenstern im ersten Stock verliefen. Ihre Scheinwerfer bohrten sich in das graue Abendlicht. Unten auf den Bürgersteigen gingen Scharen von Männern und Frauen (die meisten von ihnen natürlich Technikos oder Angestellte des Networks) auf die Pirsch nach nächtlicher Unterhaltung. Ein offizieller Pusher verhökerte seine Ware an der gegenüberliegenden Straßenecke. Ein Mann, der an jedem Arm ein Püppchen im Zobel hatte, ging unter ihm vorbei. Die drei lachten über irgendetwas.

Plötzlich durchflutete ihn eine Woge von Sehnsucht nach Sheila und Cathy, und er wünschte, er könnte sie anrufen. Aber er glaubte nicht, dass das erlaubt war. Er konnte immer noch einfach gehen, natürlich. Ein paar hatten das schon getan. Sie hatten den Raum durchquert, ein verkniffenes Grinsen auf den Lippen, und waren durch die Tür mit der Aufschrift ZUR STRASSE verschwunden. Zurück in die kalte Wohnung, mit Cathy, die im Nebenzimmer glühend vor Fieber lag? Nein. Kann nicht. Kann nicht.

Er blieb noch eine Weile am Fenster stehen, ging dann zurück und setzte sich. Das nächste Spiel Grab dir dein Grab fing an.

Der Mann neben ihm zupfte ihn ängstlich am Ärmel. »Stimmt es, dass sie schon mehr als dreißig Prozent bei der ärztlichen Untersuchung aussieben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Richards.

»Herrgott«, murmelte sein Nachbar. »Ich hab eine Bronchitis. Vielleicht Tretmühle zum Zaster …«

Richards wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Das Atmen des Burschen klang wie ein weit entfernter Diesellaster, der versuchte einen steilen Hügel zu erklimmen.

»Ich hab Familie«, sagte der Mann mit leiser Verzweiflung.

Richards blickte auf den Free-Vee, als würde es ihn interessieren.

Der Mann schwieg eine lange Zeit. Um halb acht, als das Programm sich änderte, hörte Richards, wie er seinen anderen Nachbarn nach der ärztlichen Untersuchung fragte.

Draußen war es inzwischen vollständig dunkel. Richards fragte sich, ob es noch immer regnete. Der Abend kam ihm unendlich lang vor.

… Minus 095Countdown läuft …

Als die Rs durch die Tür unter dem roten Pfeil in den Untersuchungsraum gingen, war es ein paar Minuten nach halb zehn. Viel der anfänglichen Aufregung hatte sich längst gelegt. Einige der Wartenden sahen sich eifrig die Spiele an, ohne die vorherige Furcht, andere waren einfach eingedöst. Der Nachname des Mannes mit dem heiseren Rasseln in der Brust fing mit L an. Er war schon vor mehr als einer Stunde aufgerufen worden. Richards fragte sich ohne besonderes Interesse, ob er wohl schon rausgeflogen war.

Der Untersuchungsraum war lang und gekachelt, beleuchtet von Neonröhren. Er sah aus wie ein Fließband, mit gelangweilten Ärzten, die an verschiedenen Stationen auf dem Weg standen.

Würde vielleicht einer von euch meine kleine Tochter untersuchen?, dachte er bitter.

Die Bewerber hielten ihre Ausweise wiederum vor eine in die Wand eingelassene Kamera und wurden angewiesen, sich vor einer Reihe Kleiderhaken aufzustellen. Ein Arzt in einem langen weißen Laborkittel kam auf sie zu, ein Klemmbrett unter die Achsel geschoben.

»Ausziehen«, sagte er. »Hängen Sie Ihre Kleidung auf die Haken dort. Merken Sie sich die Nummer Ihres Hakens und geben Sie sie dem Ordner am anderen Ende des Gangs an. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Wertsachen. Hier interessiert sich niemand dafür.«

Wertsachen. Sehr witzig, dachte Richards, als er sein Hemd aufknöpfte. Alles, was er besaß, waren ein leeres Portemonnaie mit ein paar Fotos von Sheila und Cathy sowie eine Rechnung für eine Schuhsohle, die er sich vor sechs Monaten vom Schuster hatte machen lassen, ein Schlüsselbund, an dem nur der Haustürschlüssel hing, eine Babysocke, bei der er sich nicht erinnern konnte sie hineingesteckt zu haben, und die Packung Blams, die er sich aus dem Automaten gezogen hatte.

Unter seiner Hose trug er zerschlissene Unterhosen. Sheila bestand darauf, dass er nicht ohne aus dem Haus ging. Viele Männer waren jedoch unter ihren Hosen nackt. Bald standen sie alle ausgezogen und anonym in einer Reihe. Ihre Penisse baumelten wie vergessene Kriegskeulen zwischen ihren Beinen. Jeder hielt seine Plastikkarte in der Hand. Einige scharrten mit den nackten Füßen, als ob der Boden kalt wäre, obwohl er es nicht war. Ein schwacher, unpersönlicher nostalgischer Alkoholgeruch trieb vorbei.

»Bleiben Sie in der Reihe«, instruierte sie der Arzt mit dem Klemmbrett unter dem Arm. »Zeigen Sie immer Ihren Ausweis vor. Befolgen Sie die Anweisungen.«

Die Schlange setzte sich in Bewegung. Richards stellte fest, dass neben jedem Arzt ein Cop stand. Er senkte den Blick und wartete geduldig.

»Ausweis.«

Er zeigte seinen Ausweis vor. Der erste Arzt notierte seine Nummer. Dann sagte er: »Öffnen Sie den Mund.«

Richards machte den Mund weit auf. Seine Zunge wurde runtergedrückt.

Der nächste Arzt leuchtete ihm mit einer winzigen, grellen Stablampe in die Pupillen und untersuchte anschließend seine Ohren.

Der nächste drückte den kalten Ring eines Stethoskops auf seine Brust. »Husten.«

Richards hustete. Etwas weiter vorn wurde ein Mann weggezerrt. Er brauche das Geld, das könnten sie ihm nicht antun, er werde ihnen seinen Anwalt auf den Hals hetzen.

Der Arzt bewegte das Stethoskop. »Husten.«

Richards hustete. Der Arzt drehte ihn um und legte das Stethoskop auf seinen Rücken.

»Tief einatmen und den Atem anhalten.« Das Stethoskop bewegte sich.

»Ausatmen.«

Richards atmete aus.

»Weitergehen.«

Sein Blutdruck wurde von einem grinsenden Arzt mit Augenklappe gemessen. Seine Genitalien wurden von einem glatzköpfigen Arzt mit unzähligen Sommersprossen, wie Leberflecken, auf der Glatze untersucht. Der Doktor legte seine kalte Hand zwischen Richards Hoden und Oberschenkel.

»Husten.«

Richards hustete.

»Weitergehen.«

Seine Temperatur wurde gemessen. Er musste in einen Napf spucken. Die Hälfte hatte er geschafft. Die Hälfte des langen Raums. Zwei oder drei Männer waren schon fertig. Ein Ordner mit bleichem Gesicht und Kaninchenzähnen brachte ihnen in Drahtkörben ihre Kleider. Gut ein halbes Dutzend mehr war inzwischen aus der Reihe gezogen worden, und man hatte ihnen die Treppe gewiesen.

»Vorbeugen und die Pobacken auseinanderziehen.«

Richards beugte sich vor und zog. Ein mit einer Plastikhülle überzogener Finger bohrte sich in seinen Anus, erkundete ihn, zog sich zurück.

»Weitergehen.«

Er betrat eine auf drei Seiten mit einem Vorhang abgeteilte Zelle, wie die alten Wahlkabinen – Wahlkabinen waren schon vor elf Jahren durch das Computerwahlsystem überflüssig geworden –, und pinkelte in einen blauen Becher. Der Arzt nahm den Becher und stellte ihn in ein Drahtgestell.

An der nächsten Station kam der Sehtest. »Lesen«, forderte der Arzt ihn auf.

»E– A, L– D, M, F– S, P, M, Z– K, L, A, C, D– U, S, G, A …«

»Das genügt. Weitergehen.«

Er schlüpfte in die nächste Pseudowahlkabine und setzte sich einen Kopfhörer auf. Man wies ihn an, auf einen weißen Knopf zu drücken, wenn er etwas hören könne, und den roten Knopf, sobald er nichts mehr hörte. Der Ton war sehr hoch und schwach. Es klang wie eine Hundepfeife, deren Frequenz so weit gesenkt worden war, dass das menschliche Ohr ihn gerade noch wahrnehmen konnte. Richards drückte auf Knöpfe, bis man ihm sagte, er solle aufhören.

Er wurde gewogen. Man untersuchte seine Füße. Dann stand er vor einem Röntgenschirm und band sich eine Bleischürze um. Ein Kaugummi kauender, leise eine tonlose Melodie summender Arzt machte mehrere Aufnahmen von ihm und notierte seine Ausweisnummer.

Richards war mit etwa dreißig Leuten zur Untersuchung gekommen. Zwölf hatten es bis zum anderen Ende des Raumes geschafft. Einige waren angezogen und warteten auf den Fahrstuhl. Gut zwölf weitere waren aus der Reihe ausgesondert worden. Einer hatte versucht, den Arzt anzugreifen, der ihn aussortiert hatte, und war von einem Polizisten mit voller Wucht mit dem Schlagstock gefällt worden. Der Bursche war wie von einer Streitaxt getroffen zu Boden gegangen.

Richards stand an einem niedrigen Schreibtisch und wurde nach gut fünfzig Krankheiten gefragt, die er gehabt haben könnte. Die meisten davon bezogen sich auf die Atemwege. Der Arzt blickte ihn scharf an, als Richards sagte, dass jemand aus seiner Familie Grippe habe.

»Ihre Frau?«

»Nein, meine Tochter.«

»Alter?«

»Anderthalb Jahre.«

»Sind Sie geimpft worden? Versuchen Sie nicht zu lügen!«, schrie der Arzt plötzlich, als ob Richards schon versucht hätte zu lügen. »Wir werden Ihren Impfpass überprüfen.«

»Geimpft im Juli 2023. Wiederholungsimpfung September 2023. Ortskrankenhaus.«

»Weitergehen.«

Richards hatte plötzlich das Verlangen, über den Tisch zu langen und der Made den Hals zu brechen. Stattdessen ging er weiter. An der letzten Station stand eine ernst dreinblickende Ärztin mit kurz geschnittenen Haaren und einem winzigen Hörgerät im Ohr. Sie fragte ihn, ob er homosexuell sei.

»Nein.«

»Sind Sie jemals wegen eines schweren Verbrechens verhaftet worden?«

»Nein.«

»Leiden Sie an ernsten Phobien? Damit meine ich …«

»Nein.«

»Hören Sie sich lieber erst mal die Definition an«, sagte sie mit leichter Herablassung. »Ich meine …«

»Ob ich an ungewöhnlichen, zwanghaften Ängsten wie Akrophobie oder Klaustrophobie leide. Nein, das ist nicht der Fall.«

Sie kniff den Mund zusammen, und einen Augenblick sah es so aus, als hätte sie eine scharfe Bemerkung auf den Lippen.

»Haben Sie je Halluzinogene oder süchtig machende Drogen genommen oder nehmen Sie noch welche?«

»Nein.«

»Ist ein Mitglied Ihrer Verwandtschaft jemals wegen eines Verbrechens gegen die Regierung oder das Network verhaftet worden?«

»Nein.«

»Unterzeichnen Sie diesen Loyalitätseid und das Verzichtformular der Spiele-Kommission, Mr., äh, Richards.«

Er kritzelte seine Unterschrift hin.

»Zeigen Sie dem Sanitäter Ihren Ausweis und nennen Sie ihm die Nummer …«

Er ließ sie mitten im Satz stehen und gestikulierte mit dem Daumen zum hasenzähnigen Ordner. »Nummer sechsundzwanzig, Bugs.« Der Ordner brachte seine Sachen. Richards zog sich langsam an und schlenderte zum Fahrstuhl hinüber. Sein Anus fühlte sich heiß und misshandelt an, beleidigt, ein bisschen glitschig von dem Gleitmittel, das der Arzt benutzt hatte.

Als sie alle zusammengetrieben waren, öffneten sich die Fahrstuhltüren. Die kugelsichere Judaszelle war diesmal leer. Der Cop war ein magerer Mann mit einem großen Geschwür an der Nase. »Nach hinten durchgehen«, sang er. »Bitte nach hinten durchgehen.«

Als die Türen sich schlossen, konnte Richards die S am anderen Ende des Raumes eintreten sehen. Der Arzt mit dem Klemmbrett unter dem Arm ging auf sie zu. Dann klackten die Türen aufeinander, schnitten ihm die Sicht ab.

Sie fuhren in den zweiten Stock, und der Fahrstuhl entließ sie in einen riesigen, dämmrigen Schlafsaal. Die Reihen von schmalen eisernen Feldbettgestellen schienen sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken.

Zwei Polizisten neben dem Fahrstuhlausgang ließen sie nacheinander aus dem Fahrstuhl, überprüften ihre Ausweise und gaben ihnen Bettennummern. Richards’ war 940. Auf der Pritsche lagen eine braune Decke und ein sehr flaches Kopfkissen. Richards legte sich auf die Pritsche und ließ seine Schuhe auf den Boden fallen. Seine Füße baumelten über die Bettkante, das war nicht zu ändern.

Er verschränkte die Arme unter seinem Kopf und starrte an die Decke.

… Minus 094Countdown läuft …

Am nächsten Morgen wurde er Punkt 6 Uhr von einem sehr lauten Summton geweckt. Einen Augenblick lang war er benebelt, desorientiert, fragte sich, ob Sheila einen Wecker gekauft hätte. Doch dann fiel ihm alles wieder ein, und er setzte sich auf.

Sie wurden in Gruppen zu fünfzig in einen großen unpersönlichen Waschraum geführt, wo sie ihren Ausweis vor eine von einem Cop bewachte Kamera hielten. Richards trat in eine blau gekachelte Kabine, die mit einem Spiegel, einem Waschbecken, einer Dusche und einer Toilette ausgestattet war. Auf der Porzellanablage über dem Waschbecken lagen eine Reihe in Zellophan gewickelter Zahnbürsten, ein elektrischer Rasierapparat, ein Stück Seife und eine halbleere Zahnpastatube. In einer Ecke des Spiegels klebte ein Schild: BEHANDELN SIE DIESE GEGENSTÄNDE PFLEGLICH! Darunter hatte jemand gekritzelt: ICH PFLEGE NUR MEINEN ARSCH!

Richards duschte, nahm sich das oberste Handtuch von dem Stapel auf dem Toilettenspülkasten, trocknete sich ab, rasierte sich und putzte die Zähne.

Sie wurden in eine Kantine gelassen, in der sie wiederum ihre Ausweise vorzeigen mussten. Richards nahm ein Tablett und schob es die Theke aus rostfreiem Stahl entlang. Er bekam eine Packung Cornflakes, einen Teller fettiger Bratkartoffeln, einen Schlag Rührei, einen Toast, der so kalt und hart wie ein marmorner Grabstein war, ein Glas Milch, eine Tasse Kaffee (keine Sahne), ein Tütchen Zucker, ein Tütchen Salz und eine Portion Butterersatz auf einem winzigen Quadrat fettigen Papiers.

Er schlang das Frühstück in sich hinein; alle machten das. Es war – abgesehen von fettigen Pizzaecken und den Ernährungspillen, die von der Regierung ausgeteilt wurden – das erste richtige Essen, das er seit Gott weiß wie lange bekam. Doch es schmeckte merkwürdig fad, so als ob ein Vampirkoch allen Geschmack herausgesaugt und nur noch die reinen Nährstoffe übrig gelassen hätte.

Was hatten sie heute Morgen zu essen? Pillenfraß. Und Pulvermilch für das Baby. Plötzlich schlug eine Woge der Verzweiflung über ihm zusammen. Himmel, wann würden sie endlich Geld sehen? Heute? Morgen? Nächste Woche?

Aber vielleicht war auch das nur ein schlechter Scherz, ein Reklamegag. Vielleicht gab es nicht mal einen Regenbogen, geschweige denn einen Topf mit Gold.

Er starrte auf seinen leeren Teller, bis der Sieben-Uhr-Summer ertönte und sie zu den Fahrstühlen getrieben wurden.

… Minus 093Countdown läuft …

Im dritten Stock wurde Richards’ Fünfzigergruppe zunächst in einem großen, unmöblierten Raum gesammelt, an dessen Wänden Kisten standen, die wie riesige Briefkästen aussahen. Sie zeigten ihre Ausweise vor, und die Fahrstuhltüren schlossen sich geräuschvoll hinter ihnen.

Ein hagerer Mann mit Stirnglatze und dem Spiele-Emblem (die Silhouette eines Kopfes über einer brennenden Fackel) auf seinem Labormantel kam in den Raum.

»Ziehen Sie sich bitte aus und nehmen Sie alle Wertsachen aus Ihren Kleidern«, sagte er. »Werfen Sie Ihre Kleider danach in einen der Müllverbrennungsschlitze. Sie werden Spiele-Overalls bekommen.« Er lächelte großmütig. »Diese Overalls dürfen Sie behalten, egal, wie Sie bei den Tests abschneiden.«

Einige murrten unwillig, doch alle fügten sich.

»Bitte, beeilen Sie sich«, sagte der Hagere und klatschte dabei zweimal in die Hände wie ein Lehrer, der seinen ABC-Schützen das Ende der Spielpause verkündet. »Wir haben noch eine Menge vor uns.«

»Nehmen Sie auch an Spielen teil?«, fragte Richards.

Der Hagere sah ihn mit verwundertem Gesichtsausdruck an. In der hinteren Reihe kicherte jemand.

»Ach, schon gut«, sagte Richards und zog seine Hose aus.

Er nahm seine wertlosen Wertsachen an sich und warf das Hemd, die Hose und die Unterwäsche in einen Briefkastenschlitz. Irgendwo in der Tiefe gab es eine kurze, hungrige Stichflamme.

Die Tür am anderen Ende öffnete sich (es gab immer eine Tür am anderen Ende; sie waren wie Ratten in einem überdimensionalen, aufwärts geneigten Labyrinth: einem amerikanischen Labyrinth, dachte Richards), und Männer schoben große Körbe auf Rädern hinein. Die Körbe waren mit S, M, L und XL beschriftet. Richards angelte seiner Länge wegen einen Overall aus dem XL-Korb und rechnete damit, dass er ihm lose um den Körper hängen würde, aber er passte ganz gut. Der Stoff war weich und elastisch, fast wie Seide, aber wesentlich strapazierfähiger. Ein durchgängiger Nylonreißverschluss lief auf der Vorderseite hinauf. Alle Overalls waren dunkelblau und hatten das Spiele-Emblem auf der rechten Brusttasche. Als die ganze Gruppe sie trug, fühlte Ben Richards sich, als hätte er sein Gesicht verloren.

»Hier entlang, bitte«, sagte der hagere Mann und brachte sie in einen weiteren Warteraum. Das obligatorische Free-Vee brüllte und schnatterte. »Sie werden in Zehnergruppen aufgerufen.«

Über der Tür hinter dem Free-Vee hing wieder das Hier entlang-Schild, komplett mit rotem Pfeil.

Sie setzten sich. Nach einer Weile stand Richards auf, ging ans Fenster und sah hinaus. Sie waren jetzt höher im Gebäude, aber es regnete immer noch. Die Straßen glänzten nass und schwarz. Er fragte sich, was Sheila wohl gerade machte.

… Minus 092Countdown läuft …

Um Viertel nach zehn ging er zusammen mit neun anderen durch die Tür. Sie gingen in einer Reihe hindurch. Ihre Ausweise wurden überprüft. In diesem Raum standen zehn dreiseitige Kabinen, doch diese hatten stabilere Wände. Die Seiten waren aus gerippten, schalldichten Korkplatten gemacht. Die Deckenbeleuchtung verbreitete ein weiches, indirektes Licht. Aus verborgenen Lautsprechern erklang Musik. Ein Plüschteppich bedeckte den Boden. Richards Füße waren erschrocken, etwas anderes als Zement zu spüren.

Der hagere Mann hatte etwas zu ihm gesagt.

Richards blinzelte ihm zu. »Wie?«

»Kabine 6«, sagte der hagere Mann tadelnd.

»Oh.«

Er ging zur Kabine 6. Drinnen stand ein Schreibtisch, und dahinter hing eine große Wanduhr auf Augenhöhe. Ein gespitzter G-A/IBM-Bleistift und ein Stapel unliniertes Papier lagen auf dem Tisch bereit. Billige Qualität, wie Richards bemerkte.

Neben dem Schreibtisch stand eine hinreißende Priesterin des Computerzeitalters. Die große Blondine mit einer junoesken Figur trug Minishorts aus schimmerndem Stoff, der so eng anlag, dass ihr deltaförmiger Venusberg sich deutlich abzeichnete. Rosa Brustwarzen drückten sich kess durch die Maschen einer seidenen Netzbluse.

»Setzen Sie sich bitte«, forderte sie ihn auf. »Ich bin Rinda Ward, Ihre Prüferin.« Sie hielt ihm ihre Hand hin.

Verwirrt schüttelte Richards sie. »Benjamin Richards.«

»Darf ich Sie Ben nennen?« Ihr Lächeln war verführerisch, doch unpersönlich. Er verspürte genau den Grad von Erregung, den diese Frau, mit ihrem gut ausgestatteten, zur Schau gestellten und wohlgenährten Körper auslösen sollte. Das ärgerte ihn. Er fragte sich, ob es sie anmachte, sich den armen Schweinen auf dem Weg zum Fleischwolf so zu zeigen.

»Klar«, sagte er. »Hübsche Titten.«

»Danke«, erwiderte sie gelassen. Er hatte sich mittlerweile gesetzt und musste zu ihr aufblicken, während sie auf ihn herabsah, und das fügte dem Bild nur noch eine beschämendere Sicht hinzu. »Bei dem heutigen Test geht es um Ihre geistigen Fähigkeiten, so wie es bei der gestrigen Untersuchung um Ihren Körper ging. Es wird ein ziemlich langer Test werden, und Sie bekommen gegen drei Uhr Mittagessen – vorausgesetzt Sie bestehen den Test.« Das Lächeln schaltete sich an und aus.

»Wir beginnen mit dem sprachlichen Teil. Sie haben genau eine Stunde Zeit von dem Augenblick an, in dem ich Ihnen die Testunterlagen gebe. Sie dürfen während der Prüfung Fragen stellen, und ich werde sie, soweit es mir erlaubt ist, beantworten. Ich werde jedoch auf keinen Fall Antworten auf die Testfragen liefern. Haben Sie verstanden?«

»Ja.«

Sie reichte ihm ein Heft. Auf dem Einband war eine rote Hand, mit der Handfläche nach vorn, abgebildet. Darunter stand in großen roten Buchstaben:

STOPP!

Und darunter: Schlagen Sie das Heft erst auf, wenn Ihr Prüfer Sie anweist fortzufahren.

»Alle Achtung!«, murmelte Richards.

»Wie bitte?« Ihre perfekt geschwungenen Augenbrauen zogen sich eine Winzigkeit in die Höhe.

»Nichts.«

»Wenn Sie das Heft öffnen, werden Sie einen Antwortbogen finden. Kreuzen Sie Ihre Antworten bitte klar und deutlich an. Wenn Sie eine Antwort nachträglich ändern wollen, radieren Sie die vorherigen Angaben bitte vollständig aus. Sollten Sie eine Antwort nicht wissen, raten Sie nicht. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Dann blättern Sie bitte Seite eins auf und fangen Sie an. Wenn ich Stopp sage, legen Sie den Bleistift hin. Sie dürfen anfangen.«

Er fing nicht an. Er musterte ihren Körper. Offen, unverschämt.

Nach einer Weile wurde sie rot. »Ihre Stunde läuft, Ben. Es wäre besser, wenn Sie …«

»Warum nimmt jeder an, dass er es mit einem sexgeilen Vollidioten zu tun hat, wenn er jemandem begegnet, der von der anderen Seite des Kanals kommt?«, fragte er.

Sie war jetzt völlig durcheinander. »Ich … ich habe nie …«

»Nein. Sie haben nie.« Er lächelte und nahm den Bleistift in die Hand. »Mein Gott, ihr seid alle dumm.«

Dann beugte er sich über das Heft, während sie immer noch eine Antwort auf (oder wenigstens einen Grund für) seinen Angriff suchte. Wahrscheinlich verstand sie es wirklich nicht.

Bei der ersten Aufgabe musste er den richtigen Begriff in einen Satz einfügen.

1. Ein(e) ___________ macht noch keinen Sommer.

a) Gedanke

b) Bier

c) Schwalbe

d) Verbrechen

e) nichts von allem

Er füllte den Bogen rasch aus, hielt kaum einmal bei einer Frage an, um eine Antwort noch einmal zu überdenken oder abzuwägen. Nach den Lückentexten folgte ein Vokabeltest, und anschließend sollte er jeweils das Gegenteil eines bestimmten Begriffs angeben. Als er fertig war, hatte er von der vorgeschriebenen Stunde noch fünfzehn Minuten übrig. Sie nahm seinen Testbogen nicht entgegen – er durfte ihn ihr nicht geben, bevor die Stunde abgelaufen war –, also lehnte Richards sich wortlos zurück und musterte ihren fast nackten Körper. Das Schweigen wurde immer schwerer und bedrückender. Spannungsgeladen. Er konnte ihren Wunsch nach etwas zum Überziehen geradezu sehen, und das tat ihm gut.

Als die Viertelstunde um war, gab sie ihm einen zweiten Testbogen. Auf der Vorderseite war die Zeichnung eines Vergasers abgebildet.

Darunter stand:

Wo würden Sie dieses Gerät einbauen?

a) Rasenmäher

b) Free-Vee-Gerät

c) elektrische Motorsäge

d) Automobil

e) nichts von allem

Der dritte Teil war mathematisch. Er war nicht sehr gut im Rechnen und kam langsam ins Schwitzen, als er sah, wie die Zeit ihm buchstäblich davonrannte. Gegen Ende kam er arg in Bedrängnis. Die letzte Aufgabe musste er ungelöst lassen. Rinda Ward lächelte eine Spur zu breit, als sie ihm Test und den Antwortbogen unter dem Bleistift wegzog. »Bei dem ging’s wohl nicht so schnell, Ben?«

»Dafür sind sie alle korrekt«, erwiderte er und lächelte ebenfalls. Dann lehnte er sich vor und gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. »Geh duschen, Kind. Du hast deine Sache gut gemacht.«

Sie wurde knallrot. »Ich könnte Sie disqualifizieren lassen.«

»Blödsinn. Sie könnten gefeuert werden, das ist alles.«

»Gehen Sie raus. Gehen Sie zurück in die Schlange.« Sie war den Tränen nahe.

Er hatte fast Mitleid mit ihr, aber er unterdrückte dieses Gefühl. »Sie werden heute einen angenehmen Abend verbringen«, sagte er. »Sie werden ausgehen und ein nettes 6-Gänge Menü mit demjenigen essen, mit dem Sie diese Woche schlafen, und an meine Tochter denken, die in einer beschissenen 3-Raum-Sozialwohnung an Grippe stirbt.«

Er ließ sie bleich, hinter ihm her starrend, stehen.

Seine Zehnergruppe war auf sechs Mann geschrumpft, sie strömten in den nächsten Raum. Es war halb zwei.

… Minus 091Countdown läuft …

Der Arzt, der ihm in der kleinen Kabine auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß, trug eine runde Brille mit kleinen, dicken Gläsern. Er hatte ein selbstgefälliges, unangenehmes Lächeln, das Richards an einen schwachsinnigen Jungen erinnerte, den er während seiner Schulzeit gekannt hatte. Der Junge war gern unter der Tribüne im Sportstadion herumgekrochen, um den Mädchen unter die Röcke zu sehen und sich dabei einen runterzuholen. Richards fing an zu grinsen.

»Etwas Amüsantes?«, fragte der Arzt und legte ihm den ersten Tintenklecks vor. Das unangenehme Lächeln wurde ein wenig breiter.

»Ja. Sie erinnern mich an jemanden, den ich mal gekannt habe.«

»Oh? An wen denn?«

»Unwichtig.«

»Wie Sie wollen. Was sehen Sie hier?«

Richards betrachtete den Klecks. Er hatte eine Manschette zum Blutdruckmessen um seinen rechten Oberarm, und an seinem Kopf waren mehrere Elektroden angebracht worden, die Drähte vom Kopf und vom Arm waren in einem elektrischen Messpult neben dem Arzt eingeklinkt. Über den Computerbildschirm liefen gleichmäßig gezackte Linien.

»Zwei Negerinnen, die sich küssen.«

Der Arzt zeigte ihm das nächste Bild. »Und hier?«

»Ein Sportwagen. Sieht wie ein Jaguar aus.«

»Gefallen Ihnen die alten Benziner?«

Richards zuckte die Achseln. »Ich hatte als Kind eine Spielzeugauto-Sammlung.«

Der Arzt machte sich eine Notiz und legte ihm das nächste Blatt vor.

»Eine kranke Frau. Sie liegt auf der Seite. Die Schatten auf ihrem Gesicht sehen wie die Gitterstäbe einer Gefängniszelle aus.«

»Und dieses letzte hier?«

Richards brach in Lachen aus. »Sieht aus wie ein Scheißhaufen.« Er stellte sich vor, wie der Doktor in seinem weißen Kittel unter der Tribüne im Stadion herumlungerte, den Mädchen unter die Röcke schaute und sich dabei einen runterholte, und er musste wieder lachen. Der Arzt lächelte sein unangenehmes Lächeln und vervollständigte dadurch das Bild, machte es noch komischer. Schließlich flaute sein Lachanfall zu einem Kichern, dann zu einem Schnauben ab. Nach einem abschließenden Schluckauf war er still.

»Ich nehme nicht an, dass Sie mir erklären würden …«

»Nein«, sagte Richards, »das würde ich nicht.«

»Gut, dann machen wir weiter. Wortassoziationen.« Er hielt sich nicht damit auf, den Test zu erklären. Richards nahm an, dass man den Arzt über ihn informiert hatte. Das war gut so; es sparte Zeit.

»Fertig?«

»Ja.«

Der Arzt holte eine Stoppuhr aus seiner inneren Brusttasche, drückte auf die Mine seines Kugelschreibers und betrachtete die Liste, die vor ihm lag.

»Arzt.«

»Nigger«, antwortete Richards.

»Penis.«

»Schwanz.«

»Rot.«

»Schwarz.«

»Silber.«

»Dolch.«

»Gewehr.«

»Mord.«

»Gewinn.«

»Geld.«

»Sex.«

»Tests.«

»Schlag.«

»Aus.«

Die Liste setzte sich fort, sie gingen über fünfzig Begriffe durch, bevor der Arzt auf die Stoppuhr drückte und den Kugelschreiber fallen ließ.

»Gut«, sagte er und faltete die Hände. Er sah Richards ernst an. »Jetzt habe ich noch eine letzte Frage an Sie, Ben. Ich kann nicht behaupten, dass ich eine Lüge auf Anhieb durchschauen würde, aber diese Maschine da, an die Sie angeschlossen sind, wird uns einen sehr guten Anhaltspunkt geben, in die eine oder in die andere Richtung. Also, haben Sie beschlossen, sich für die Spiele zu qualifizieren, weil Sie sich mit Selbstmordgedanken tragen?«

»Nein.«

»Aus welchem Grund tun Sie’s?«

»Meine kleine Tochter ist krank. Sie braucht einen Arzt. Medikamente. Ein Krankenhaus.«

Der Kugelschreiber kratzte über das Papier. »Noch andere Gründe?«

Fast hätte er nein gesagt (das ging sie schließlich nichts an), aber dann beschloss er, seine Karten offen auf den Tisch zu legen. Sie sollten alles wissen. Vielleicht lag es daran, dass der Arzt ihn an den beinahe vergessenen versauten Jungen aus seiner Kindheit erinnerte. Vielleicht auch daran, dass es einmal gesagt werden musste. Damit die Dinge zusammenpassten, Gestalt annahmen, so wie es der Fall ist, wenn ein Mann sich dazu zwingt, seine vagen emotionalen Reaktionen in Worte zu fassen und auszusprechen.

»Ich habe schon seit langem keine Arbeit mehr. Ich möchte arbeiten, auch wenn es nur darum geht, den Trottel in einem abgekarteten Spiel abzugeben. Ich will arbeiten und meine Familie ernähren. Ich habe Stolz. Haben Sie auch Stolz, Doktor?«

»Er kommt bekanntlich vor dem Fall«, sagte der Arzt und drückte die Mine seines Kugelschreibers wieder hinein. »Wenn Sie nichts mehr hinzuzufügen haben, Mr. Richards …« Er stand auf. Damit, und indem er wieder Richards Nachnamen gebrauchte, signalisierte er offenbar, dass die Unterhaltung beendet war, egal ob Richards noch etwas zu sagen hatte oder nicht.

»Nein.«

»Die Tür ist am Ende des Gangs rechts. Viel Glück.«

»Aber sicher«, sagte Richards.

… Minus 090Countdown läuft …