Menschenleben - Band 1 - Ute Mrozinski - E-Book

Menschenleben - Band 1 E-Book

Ute Mrozinski

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Beschreibung

Alexandra und Iris, siebzehn Jahre alt, sind Freundinnen. Alexandra stark übergewichtig, Mutter Alkoholikerin, Vater nach der Geburt abgehauen, Sozialhilfeempfängerin. Iris dürr wie ein Stecken, Haus in der Villensiedlung, Vater Chefarzt, Mutter an ihrer Drogensucht gestorben. Beide werden von ihren Klassenkameraden gemobbt. Alexandra wird sogar eines Abends von einer Gruppe ihrer Klassenkameraden fast vergewaltigt. Doch Iris kann gerade noch die Polizei rufen. Die Jungs und ihr Anführer der arrogante Andreas Bergmann werden verhört. Die Polizei hofft ihnen auch Drogenmißbrauch nachzuweisen. Doch die Beweise sind dürftig. Andreas Vater der Bauunternehmer und Bürgermeisterkandidat Siegfried Bergmann, hat gute Anwälte. Die Polizei ist hilflos. Andreas und seine Freunde kommen ungeschoren davon. Da geschieht etwas Unerwartetes. Andreas Bergmann sprengt sich bei einem Ausritt mit dem neuen Motorrad in die Luft. Siegfried Bergmann verschwindet spurlos. Die Kommissare Greta Lindenstein und Heiko Bungert ermitteln erneut. Gleichzeitig kommt die Journalistin Bea in die Stadt um ihrer Nichte Alexandra beizustehen, denn deren Mutter ist gerade verstorben. Plötzlich ist auch Alexandra verschwunden. Bea, die gerade einem Kinderschänderring auf der Spur ist, hat da ein ganz schlechtes Gefühl!

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Zum Buch:

Alexandra und Iris, siebzehn Jahre alt, sind Freundinnen.

Alexandra stark übergewichtig, Mutter Alkoholikerin, Vater nach der Geburt abgehauen, Sozialhilfeempfängerin.

Iris dürr wie ein Stecken, Haus in der Villensiedlung, Vater Chefarzt, Mutter an ihrer Drogensucht gestorben.

Beide werden von ihren Klassenkameraden gemobbt.

Alexandra wird sogar eines Abends von einer Gruppe ihrer Klassenkameraden fast vergewaltigt. Doch Iris kann gerade noch die Polizei rufen. Die Jungs und ihr Anführer, der arrogante Andreas Bergmann, werden verhört. Die Polizei hofft ihnen auch Drogenmissbrauch nachzuweisen. Doch die Beweise sind dürftig. Andreas’ Vater, der Bauunternehmer und Bürgermeisterkandidat Siegfried Bergmann, hat gute Anwälte. Die Polizei ist hilflos. Andreas und seine Freunde kommen ungeschoren davon. Da geschieht etwas Unerwartetes. Andreas Bergmann sprengt sich bei einem Ausritt mit dem neuen Motorrad in die Luft. Siegfried Bergmann verschwindet spurlos. Die Kommissare Greta Lindenstein und Heiko Bungert ermitteln erneut.

Gleichzeitig kommt die Journalistin Bea in die Stadt, um ihrer Nichte Alexandra beizustehen, denn deren Mutter ist gerade verstorben. Plötzlich ist auch Alexandra verschwunden. Bea, die gerade einem Kinderschänderring auf der Spur ist, hat da ein ganz schlechtes Gefühl!

Die Autorin:

Ute Mrozinski wurde 1961 in Düsseldorf geboren, ist verheiratet und lebt seit 1978 in Monheim am Rhein. Sie ist Altenpflegerin und freischaffende Autorin. Dies hier ist ihr erster Psychothriller.

Sie hat bisher Fantasy und Science-Fiction geschrieben, liest und schreibt aber gerne vielfältig.

Ihre Texte sind poetisch, spannend, engagiert.

Ihre jüngste Veröffentlichung, außer dem vorliegenden Band, ist der Science-Fiction Roman »Raumzeitlegende«.

Mehr darüber auf den letzten Seiten oder auf:

http://www.foto-literatur-planet.eu

Danksagung:

Danke an meinen allerbesten Freund und schärfsten Kritiker Albert Mrozinski – für immer!

Danke an meine Mutter, die mir vor dem Schlafengehen Geschichten vorlas.

Danke auch an meinen Vater, der mir die Märchen auf seine eigene Weise erzählte.

Anmerkung der Autorin:

Namen, Orte, Institutionen, Vereine und handelnde Personen, entspringen der Fantasie dere Autorin. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder noch lebenden Personen, sind rein zufälliger Natur.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog …

1

Drei Uhr nachmittags, die Schule war zu Ende. Die Schüler strömten in Massen aus dem roten Ziegelsteingebäude. Auch die Lehrer versuchten, so schnell wie möglich der Hitze zu entkommen. Die kleine Schülergruppe, die im geschlossenen Kreis um das Mädchen mit den roten langen Lockenhaaren herumstand, beachtete keiner.

Sie wähnte sich in einem Albtraum. Zumindest hoffte sie, dass man so etwas Fürchterliches nur träumen konnte, dass sie gleich aufwachen und in ihrem Bett liegen würde. Schwitzend starrte sie auf die Körper und Gesichter, grinsende Fratzen, die sie umringten.

Der Schokoriegel in ihrer Faust löste sich in seine Bestandteile auf und tropfte auf das zeltartige gelbe Sommerkleid, das ihren massigen Körper umhüllte.

»He, Walküre«, rief ein schöner blond gelockter Jüngling.

»Was für Hobbys hast du?«

»Fressen, fressen!«, intonierte der Rest der Meute.

»He, Walküre«, rief der Jüngling.

»Heute Morgen ist wohl ein Waggon Schokoriegel für dich angekommen? Aber klar! Walküre muss doch frühstücken!«

Die Runde lachte gehässig! Alexandra wurde blass und gleich darauf wieder rot. Sie wollte nicht heulen! Verdammt! Den Gefallen wollte sie der Meute nicht tun! Doch sie schaffte es nicht mehr.

»Ihr Arschlöcher«, schluchzte sie.

»Ihr verdammten Arschlöcher!«

»Hört ihr?« Der blonde Schönling grinste.

»Fettmops weint vor Hunger! Sollen wir ihr nicht was servieren?« »Klar, füttern wir sie!« Wie auf Kommando hoben alle die Arme.

Alexandra sah ein dunkles Etwas auf sich zuschießen. Sie duckte sich ängstlich, doch das Ding traf sie zielsicher, zerplatzte wie eine überreife Tomate auf ihrem Gesicht, blieb kleben. Ein Bombardement brach über sie herein.

Oh Gott! Sie würde ersticken! Doch plötzlich merkte sie, dass es ruhig um sie wurde. Der Bombenhagel hörte auf. Der Spaß war vorbei. Die Horde zog kichernd weiter.

Mit hochrotem Kopf schaute sie auf. Der Schulhof war leer.

Bis auf ein blondes hoch aufgeschossenes Mädchen halb versteckt hinter einer Eiche mitten auf dem Schulhof.

Dass diese dürre Gestalt mit dem Herrenschnitt ein Mädchen war, entdeckte Alexandra erst, als es zögernd einige Schritte auf sie zukam, nach allen Seiten sichernd wie ein Tier in der Wildnis.

»Was willst du?«

Keuchend sog Alexandra die Luft ein.

»Ich … Entschuldigung, geht es dir gut?«

»Klar gehts mir gut! Ich hab grad ’nen Zehntausendmeterlauf gewonnen.«

»Entschuldigung! Aber ich will wirklich wissen, wie’s dir geht.

Ich hab alles beobachtet. Das sind echt Schweine! Ich hab auch schon Erfahrungen mit denen gemacht.«

»Du bist die Neue, was?« Das Mädchen trat einen Schritt zurück.

»Na ja, so neu nicht mehr. Wir wohnen seit einem Jahr hier.

Ich war ’ne Zeit lang krank gewesen. Wir haben ein Haus in der Siedlung Am Berg gekauft. Mein Vater hat die Leitung der Sonnensteinklinik übernommen.«

Alexandra verzog das Gesicht.

»Oh Mann! Wofür entschuldigst du dich eigentlich dauernd?

Das ist ja nicht zum Aushalten! Für ’ne Tussi aus dem Promi-Viertel trägst du die Nase ganz schön tief.«

»Hier!« Das Mädchen hielt ihr ein weißes Tuch hin.

Alexandra kniff die Augen zusammen.

»Was ist das?«

»Na ein Taschentuch! Damit kannst du dich abwischen. Du siehst schrecklich aus!«

»Also doch arrogant!«

Alexandra stand ächzend von dem Stein auf, auf dem sie gesessen hatte.

»Nimm dein Stofftaschentüchlein und verschwinde endlich!«

Die Blonde presste die schmalen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, die wasserhellen Augen verengten sich, dann drehte sich das Mädchen um und lief davon. Sie stieg in einen Wagen, der vor dem Schultor abgestellt war, knallte die Türe zu und brauste davon.

»Sieh mal einer an«, murmelte Alexandra. »Die Tussi ist schon achtzehn, hat bestimmt von Papi Führerschein und Auto bezahlt bekommen. Einen kleinen Smart hat sie!«

2

Den Schulhof hatte sie schon längst verlassen und sich auf den Heimweg gemacht. Mit einem eigenen Taschentuch aus den Tiefen ihres Zeltkleides wischte sie sich notdürftig ab. Die Haare verklebt, das Kleid total hin. Als sie die weiß-braune Masse genauer in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass man sie mit Mohrenköpfen beworfen hatte. Arschlöcher!

Als sie durch die Straßen des Dorfes nach Hause ging, glaubte sie die Blicke der Leute auf ihrer Haut zu spüren. Da konnten sich die Klatschmäuler ja mal wieder bestätigt fühlen.

He, Leute! Aufgepasst! Da geht ’ne Schlampe aus der Lumpensiedlung! Haben wir’s nicht schon immer gesagt? Aus dem Viertel kann nichts Gutes kommen!

In den Augen der Dorfhonoratioren gehörten sie und ihre Mutter zum Pack.

Wenn ihre Mutter getrunken hatte, machte sie Alexandra dafür verantwortlich.

»Du bist schuld an der ganzen Misere. Du bist schuld, dass sie mit Fingern auf uns zeigen. Wenn du nicht immer so viel gequakt hättest, wäre dein Vater nicht abgehauen. Was bist du denn? Eine fette Schlampe ist aus dir geworden. Ich hätte dich ertränken sollen!«

Alexandra sah noch die Schnapsflasche in der Hand ihrer Mutter, hörte die lallende Stimme … Heftig zwinkerte sie mit den Augen, um die Bilder, die in ihrem Innern entstanden, zu vertreiben.

Plötzlich fand sie sich mitten in der Lumpensiedlung wieder.

Sie stand dort auf dem Bürgersteig neben den kurz geschorenen, verbrannten Rasenflächen und ballte die Fäuste so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen. Sie sah die ordentlich aufgestellten Blumenkübel, mit den ewig gleichen Geranien, die Büsche gestutzt und in Reih und Glied gesetzt, zum Appell herangezogen. Sie ignorierte die herumtobenden Kinder, deren Spiele so mancher Blume das Leben kosteten.

Sie sah die jungen Mütter und Väter mit dem alten Gesicht, wie sie hilflos und gleichgültig einen Kinderwagen schaukelten. Manche Bier trinkend, viele arbeitslos, hoffnungslos. Niemand hier achtete auf eine zitternde, scheinbar durchgedrehte junge Frau mit Übergewicht.

Sie stand da mit ihrem verschmutzten Kleid zwischen Hundehäufchen und Zigarettenschachteln und wusste, sie konnte es nicht mehr länger ertragen.

Sie würde nicht nach Hause gehen. Zwar war Alexandra noch nicht klar, wohin sie gehen würde, aber sicher nicht in ihre Zweizimmerbude. Vielleicht sollte sie wieder zur Bücherei gehen, sich einen dicken Liebesroman leihen und sich dann bis zum Abend im angrenzenden Park verkriechen. Dann konnte man weitersehen. Einen Büchereiausweis trug sie immer bei sich. Morgen war Samstag! Es würde keinem auffallen, wenn sie den ganzen Tag nicht nach Hause kam.

Ihrer Mutter schon gar nicht.

Alexandra, begeistert von ihrer Idee, drehte um und schlug den Weg zur Bücherei ein, da dachte sie wieder an ihr Kleid und ihre verklebten Haare.

Die würden sie wirklich für eine Schlampe halten. Am besten, sie ging erst mal zum Schwimmbad duschen. Mit Handtuch und Seife, die sie an der Rezeption kaufte, verzog sie sich in den Duschraum. Sie besaß keinen Badeanzug. Dass die anderen Frauen sie dumm anguckten, weil sie in ihrem dreckigen Sommerkleid hereinkam, störte sie nicht.

Sie suchte sich eine Kabine entkleidete sich und wusch es dort aus. Das Kleid triefte vor Nässe. Es würde mit der Zeit an der Sonne trocknen. Wer interessierte sich schon für sie? Als sie das Schwimmbad verließ, war es fünf Uhr nachmittags und immer noch sehr warm. Irgendwie fühlte sie sich jetzt großartig. Es war einer der kostbaren Momente, in denen sie vergaß, dass sie ein fettes Monstrum zu sein hatte, dass sich ihr Leben zwischen ihrer saufenden Mutter und den üblen Scherzen ihrer Klassenkameraden abspielte.

Sie betrat die Bücherei und durchforstete die Abteilung mit den Abenteuer- und Liebesromanen, in ihrem Kopf blitzte dabei die Hoffnung auf, eines Tages dem ganzen Elend zu entkommen. Sie griff sich ein Buch und ließ sich in eine der Sitzgelegenheiten plumpsen. Ohne darauf zu achten, dass der Polstersessel bedenklich knarrte, vertiefte sie sich in die Geschichte.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. »Junge Frau! Tut mir leid, Sie müssen nach Hause gehen. Wir schließen jetzt!«

»Ach bitte, darf ich nicht noch was bleiben?«

»Das geht leider nicht. Ich muss hier wirklich abschließen und dann darf keiner mehr außer den Angestellten hier sein.«

»Na gut! Dann nehme ich den Roman mit!«

Die Sonne ging fast unter, als sie mit dem Buch unterm Arm die Bibliothek verließ. Die goldorangenen Strahlen tauchten alles in ein feuriges unwirkliches Licht.

Wohin jetzt? Sie wollte noch nicht nach Hause. Dort würde sie keine Ruhe haben. Sie dachte an ihre Mutter, die nichts anderes mehr tat, als den ganzen Tag zu trinken und im Bett zu liegen.

In der Wohnung würden sich der Müll, das Geschirr und die schmutzige Wäsche häufen. Sie würde wieder alles putzen müssen. Die Hausaufgaben konnte sie erst spät in der Nacht machen. Sie sah den rot gefärbten Schopf schon vor sich, wie er sich verfilzt auf dem Kopfkissen im Schlafzimmer ausbreitete, daneben die leere Schnapsflasche.

Sie hörte ihr betrunkenes Schnarchen und roch den billigen Fusel. Voller Ekel verzog sie den Mund. Plötzlich blieb sie abrupt auf dem Bürgersteig stehen.

Jawohl! Sie würde ihr den ewig vollen Aschenbecher ins Gesicht kippen. Sie hörte schon die kreischende, nörgelnde Stimme, hustend und spuckend!

»Alexandra! Bist du das? Was für ein ekelhafter Geschmack!

Ich ersticke, ich erstiiicke! Du verdammtes fettes Biest! Ich hasse dich!«

»Ich dich auch! Betrunkene Schlampe!«

Vor ihrem inneren Auge sah sie sich auf dem Absatz kehrtmachen und keuchend die sechs Stockwerke hinunterrennen!

Vorbei an dem seit Wochen defekten Aufzug, vorbei an den mit Sprühfarbe verschmierten Wänden, den Obszönitäten in schreienden Leuchtbuchstaben, hinaus aus der tristen Einheitssiedlung. In der Ferne lockte der grüne Stadtpark mit Bäumen, Büschen und weiten Rasenflächen.

Der Park? Sie sah erstaunt, dass es keine Vision war, dass sie nicht mehr im Dorfzentrum auf dem Bürgersteig, sondern dass sie tatsächlich vor dem Park stand. Ihre Füße hatten sie ganz automatisch zum Stadtpark getragen.

Die Temperaturen würden diese Nacht kaum unter zwanzig Grad sinken. Sie würde die Nacht lesend hinter einem dieser Büsche verbringen. Bis morgen hätte sie Ruhe.

Am Eingang stand ein Kiosk mit Imbiss, dort erstand sie, puterrot vor Scham, zwei dicke Hamburger mit Pommes. Noch war es hell und der Park belebt. Kinder, die Ball spielten, Jogger, die sich die Lunge aus dem Leib liefen, Mütter, die Kinderwagen schoben, Liebespaare! Alexandra seufzte.

Andererseits, in der Schule war immer irgendein Mädchen am Schluchzen, weil ihr süßer Traumprinz sich als Arsch rausgestellt hatte. Punktum.

Plötzlich entdeckte sie in der Nähe eine kichernde Klassenkameradin. Ängstlich drückte sie sich in ihren Busch, fing an zu lesen und versank in ihrer Buchwelt.

Irgendwann tauchte sie wieder auf. Dunkler war es, die Sonne fast verschwunden. Hier und dort raschelte etwas im Laub wie das Trippeln kleiner Füße. Alexandra schlang die Arme um ihren Körper und schauderte zusammen. Puh! Irgendwie wurde es jetzt doch unheimlich.

Wie hingezaubert stand dort plötzlich im flimmernden Abendrot ein Mann auf dem Weg. Seine langen rotgoldenen Haare leuchteten wie Feuer in der untergehenden Sonne.

Alexandra sperrte ihren Mund weit auf. »Johnny«, flüsterte sie.

Der Held aus ihrem Buch war auferstanden!

Der Mann schaute sich suchend um und richtete dann seinen Blick auf ihren Busch. Dann entspannte sich sein sorgenvolles Gesicht, und er kam entschlossen auf sie zu.

»Da bist du ja, Alexandra! Das hätte ich mir denken können, dass du dich mit einem dicken Wälzer hinter einem Busch verkrochen hast! Komm endlich! Die Lesung fängt in zehn Minuten an!«

Johnny packte ihr Handgelenk und zog sie hoch wie eine Feder. Willenlos ließ sie sich über den Weg zum Ausgang ziehen und stieg in den schwarzen BMW, der dort mit laufendem Motor bereitstand.

Die Straßen waren leer. Sie schienen die Einzigen zu sein.

Alexandra schaute Johnny ängstlich an. Er grinste wölfisch.

»Du bist wohl noch ’nen bisschen breit von der Party gestern?«

»Party?«, hauchte sie verwirrt. Ihre Stimme quiekte wie die eines Mäuschens.

Mit hochgezogenen Augenbrauen schüttelte Johnny den Kopf.

»Sag ich ja, zu viele Joints! Na Hauptsache, du bist gleich fit.

Dein rotes Kleid ist übrigens schmutzig. Aber macht nichts! Du siehst trotzdem geil aus!«

Sein begehrlich flackernder Blick streifte über ihren Körper.

Das erste Mal seit diesen erstaunlichen Geschehnissen schaute Alexandra an sich hinunter und riss den Mund zum zweiten Mal auf.

Ihr fetter quabbeliger Körper war gertenschlank und gut proportioniert. Ihre roten Locken fielen wie ein leuchtender wilder Wasserfall über Rücken und Schultern. Wie immer das auch alles geschehen ist, dachte sie, es ist gut so!

Von da an lief alles wie von selbst. Johnny gab ihr einen schmelzenden Kuss und führte sie in die Stadthalle. Die Halle war brechend voll. Es erschien alles, was kreuchen und fleuchen konnte.

Festlich gekleidete Männer und Frauen umlagerten die Bühne.

Johnny trat vor den Vorhang und sie hörte Rufe wie »Alex!

Alex! Alex!« Beschwichtigend breitete er die Arme aus.

»Ruhe, meine Damen und Herren, für den Auftritt von Alexandra Leibnitz, der bezaubernden Schriftstellerin, der Pulitzerpreisträgerin des letzten Jahres! Hören Sie nun ihr neuestes Werk!«

Alexandra trat lächelnd auf die Bühne, in der Hand ihr Buch, nicht enden wollender Applaus brandete auf. Sie wusste, sie würde gut sein. Sie betrat das Podium und öffnete den Mund, da fiel ihr eine Frau auf, die vorne an der Bühne stand.

Diese Frau schien eine genaue Kopie von ihr zu sein – nur älter. Sie war ohne Zweifel schön und trug ein schwarzes enges Kleid, auch ihre Locken waren ein leuchtendes Rotbraun.

Plötzlich geschah es. Die Luft wurde so dick wie Gelee! Das Atmen fiel ihr schwer. Verstohlen riskierte sie einen zweiten Blick auf die gut gekleidete Dame. Diese schöne elegante Frau trat vor, lächelte, verbeugte sich formvollendet, öffnete den Mund, als wolle sie eine Lobrede halten. Doch das, was aus ihrem Mund drang, war ein misstönendes Kreischen!

»Was soll das Ganze? Sehen Sie nicht, dass sie eine Betrügerin ist? Sehen Sie es nicht? Ich kann es beweisen! Ich bin ihre Mutter!«

Kaltes Entsetzen lähmte Alexandra. Die samtene Gesichtshaut der Frau schrumpfte zusammen und platzte. Wie bei einer sich häutenden Schlange fiel die schöne Körperhülle herab, lag wie ein gebrauchtes Kleidungsstück schlaff auf dem Boden. Zum Vorschein kam eine Elendsgestalt mit ausgemergeltem Körper, einem vom Alkohol aufgedunsenen Gesicht und strähnigem Haar.

Sie streckte einen dürren Arm aus und deutete auf Alexandra, die starr vor Angst am Rednerpult stand.

»Du hast gedacht, du könntest mir entkommen, nicht wahr?

Du dachtest, du könntest dir auf meine Kosten ein tolles Leben aufbauen! Doch ich werde den Damen und Herren schon zeigen, wer du bist!«

Die Stimme überschlug sich vor Hass und Häme.

»Seht nur! In Wirklichkeit ist sie eine fette Schlampe!«

Alexandra schüttelte sich vor Grauen. Als sie spürte, was mit ihr geschah, stieß sie einen gequälten Schrei aus. Ihr schöner neuer Körper quoll auf, wurde dicker und dicker, bis das hautenge Kleid platzte und Alexandra nackt dort stand.

Das Gesicht verschwand in ihrem Doppelkinn, der gewaltige Busen ruhte auf dem noch gewaltigeren Bauch.

Bewegungsunfähig stand sie da, ihr Gesicht verzog sich vor Angst und Scham! Ihre Hände kreuzten sich über dem Unterleib!

Auf den Stühlen saßen geifernde Wolfsgesichter, die grinsend mit ihren scharfen Klauen auf sie deuteten und zum Sprung auf die Bühne ansetzten.

Hilflos schaute sie sich nach Johnny um. Und Johnny, ihr schöner heißblütiger Johnny, grinste sie wölfisch an, mit sabbernder Schnauze und gebleckten Zähnen. Immer wieder die kreischende Stimme ihrer Mutter! »Seht sie euch nur an, diese Schlampe!«

Über allem schwebte ein hoher klagender Ton.

3

Abrupt öffnete sie die Augen! Schweiß lief über ihr Gesicht und brannte auf der Haut. Noch immer hörte sie diese klagende, gepeinigte Stimme! Als ihre Sinne schließlich klarer wurden, merkte sie, dass es ihre eigene Stimme war und dass sie immer noch hinter ihrem Busch lag, zusammengerollt wie ein Igel, das Buch neben ihr im Staub. »Verdammter Mist«, rief sie leise. »Jetzt kann ich wahrscheinlich auch noch das Buch ersetzen. Alles nur wegen so eines blöden Albtraums.«

Es war total verschmutzt. »Was soll ich denn jetzt tun?«

Plötzlich hörte sie Stimmen und setzte sich endgültig auf. Es waren männliche Stimmen, die sie da hörte und sie kamen näher.

Die Stimmen wurden lauter. Sie kamen von hinten über den Rasen, drei Jungs zwischen siebzehn und achtzehn Jahren.

Überrascht starrten sie Alexandra an.

»Mensch, schaut doch mal! Da sitzt ein Mädchen hinterm Busch!«

»Das ist kein Mädchen, das ist die fette Alex! Da kommt einem ja die Galle hoch!«

»Was anderes bestimmt nicht.«

Alexandra war unfähig irgendetwas zu tun oder zu denken.

»Ich träume wieder«, dachte sie. »Gleich verwandeln diese Typen sich in geifernde Wölfe.«

»Wieso eigentlich nicht?«

Eine gelangweilte, amüsierte Stimme drang in ihr Bewusstsein.

»Das ist Johnny«, dachte sie benommen.

»Mensch, so ’ne wabbelige Dicke! Was glaubt ihr, was die draufhat! Da kannst du wühlen ohne Ende.«

Ein großer, kräftiger Junge trat in ihr Blickfeld. Die langen blonden Locken zusammengebunden, trug er eine kunstvoll zerrissene Designerjeans, ein langer schwarzer Mantel hing ihm über die Schultern. Blaue Augen musterten sie kalt. Da wusste Alexandra Bescheid! Das war kein Albtraum. Das war viel schlimmer!

»Mensch, Andi, lass uns abhauen. Die dicke Schnepfe ist langweilig!«

»Finde ich nicht! Jungs – seid nicht feige! Das wird ein besonderes Festessen. So ’nen Bums bekommt ihr so schnell nicht wieder!«

Jetzt erst schien Alexandra zu erwachen, ihre Glieder zu funktionieren.

»Der schöne Andi! Oh Gott! Der schöne Andi!«

Sie wirbelte herum und lief weg – dachte sie jedenfalls. Aber egal wohin sie sich drehte, die Meute hatte sie bereits eingekreist.

»Nicht so schnell, Schöne der Nacht! So viele Männer auf einen Haufen bekommst du nie mehr im Leben!«

Alexandra bebte am ganzen Körper. »Du willst es also tatsächlich, du Schlampe! Los, Jungs!«

Er winkte seinem Trupp, als sei er ein General. Ein Hexenkessel brach los. Hände, Arme, Beine, johlende Stimmen! Schmerz durchfuhr sie, als sie auf dem Boden schlug.

Eisenharte Klauen griffen nach ihr, zerrissen ihre Kleidung.

Sie wand sich schreiend und schlagend! Doch das vielköpfige, höhnisch grinsende Monster war zu stark, drückte sie so fest auf den Boden, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.

»Haltet das Biest gut fest«, hörte sie Andis Stimme.

»Ich hab das Recht des Ersten! Baby – gleich wird dir geholfen werden!«

Ihr wurde kalt vor Entsetzen.

»Nein! Hört auf! Oh Gott! Hört doch auf!«

Der feste Griff lockerte sich. Ungläubig schaute sie um sich.

Sollte das vielköpfige Monster tatsächlich Barmherzigkeit zeigen? Unsichere Jungengesichter, alle in eine Richtung horchend.

»Warum sollten die Bullen ausgerechnet hierhin kommen? Die könnten überall hinfahren! Ich lass mir den Spaß nicht verderben!«

Da hörte sie es auch. Erst leise, dann wurde es immer lauter!

Eine Polizeisirene!

»Bitte«, dachte sie flehend, als die Griffe wieder härter wurden.

»Bitte kommt!« Motoren heulten – Kies knirschte. Türen schlugen. Stampfende Schritte. Der Druck auf ihren Körper hörte übergangslos auf.

»Scheiße! Ich habs doch gleich gesagt! Haut ab! Haut bloß ab!« Rennende, schreiende Gestalten! Ein einziges Durcheinander. Was war los? War sie frei?

Verschwommen sah sie Männer in Uniformen nach den Jungs greifen, die eben noch geifernde Wölfe waren.

Sollte ihre Qual vorbei sein? Aus den Augenwinkeln sah sie eine Gestalt durch die Büsche springen, sich ducken und verschwinden. Sie wollte den Männern etwas zurufen, ihre Stimme versagte.

»Junge Frau! Wie fühlen Sie sich?«

Rote Jacken und Helme auf dem Kopf! Immer diese Fragen, das war ihr langsam zu blöd. Sie würde einfach nicht mehr antworten! Schwindel!

Kräftige Hände hoben sie hoch, beförderten sie in einen Wagen. Schock! Klappernde Türen, das Geräusch der Sirenen! Nebel!

Weißer dichter Nebel! Schweigen!

Verwirrt schlug sie die Augen auf. Wo war sie hier? Das war nicht ihr Zimmer! Ein hellgrüner Raum. Ein weißes hohes Metallbett, links und rechts noch zwei Betten aufgeschlagen, ungemacht, keiner lag dort drin.

Was war das hier? Ein Krankenhaus natürlich.

Aber wieso?

Dann fiel ihr Blick auf den Nachtschrank, da lag ein Buch. Der Park, der Albtraum, die Realität!

Tränen schossen in ihre Augen und schließlich fing sie laut an zu schluchzen.

Die Zimmertür öffnete sich, eine Krankenpflegerin kam herein.

Eine ältere etwas pummelige Frau.

»Aber, junge Frau«, sagte sie und nahm Alexandra spontan in den Arm.

»Beruhigen Sie sich doch. Hier sind Sie in Sicherheit.«

»Nein«, Alexandras Stimme bebte, »nein! Ich will keine Beruhigungsspritze! Ich will mich an alles erinnern können!

Die Polizei soll kommen!«

»Keiner wird Ihnen eine Beruhigungsspritze geben, wenn Sie keine brauchen oder wollen!«, sagte die Krankenschwester mit sanfter Stimme.

»Niemand hier ist daran interessiert, dass Sie sich nicht erinnern. Die Polizei ist schon lange verständigt.«

Die Pflegerin ließ sie los und zog ihr Funktelefon aus der Tasche.

»Dr. Scholz, können Sie bitte kommen? Die Patientin von hundertfünf ist gerade aufgewacht … Ja, in Ordnung!«

Die Schwester drehte sich um. »Dr. Scholz kommt in zehn Minuten.«

Alexandra nickte, noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Die Minuten bis zur Untersuchung dehnten sich endlos. Als es so weit war, ließ Alexandra alles gleichgültig über sich ergehen. Auf die Fragen des Arztes, ein hagerer Mann um die sechzig mit Glatze, antwortete sie einsilbig.

»So weit ist körperlich alles in Ordnung«, sagte er beruhigend, als er abschließend Blutdruck und Puls gemessen hatte. Das Stethoskop klischeemäßig um den Hals gehängt, trat er von ihr zurück und sah sie befangen an. »Bleibt nur noch eine Frage, haben …«

»Nein«, unterbrach Alexandra ihn. »Nein, das haben sie nicht, aber es wäre fast dazu gekommen.«

Der Arzt nickte verlegen und gleichzeitig erleichtert. »Wir behalten sie noch einen Tag zur Beobachtung.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ hastig mit großen Schritten den Raum, als wolle er fliehen.

Es war eine Stunde später, als die Polizei kam.

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten schon das Zimmer.

Alexandra hatte geduscht und die Haare gewaschen. Sie schrubbte ihre Haut, bis sie rot wurde und brannte. Doch sie wurde das Gefühl von heißen, schwitzenden Händen auf ihrer Haut nicht los.

Als sie in den Spiegel des winzigen Badezimmers geschaut hatte, verzog sie erschrocken ihr Gesicht.

Sie sah furchtbar aus, die Haare von Dreck verklebt, alles Übrige ließ auch zu wünschen übrig.

Sie fühlte sich fürchterlich wütend und enttäuscht.

Sie hatte wirklich gedacht ihre Mutter würde am Rad drehen, wenn sie eine ganze Nacht verschwand.

Aber gar nichts passierte. Nur Ärger mit diesen perversen Typen von der Schule hatte sie sich eingehandelt.

Vielleicht glaubten die Bullen ihr gar nicht! Außerdem, der schöne Andi war ihnen ja auch noch entwischt.

»Mann«, dachte sie, »das sind alles Söhnchen aus dem Promiviertel! Was bin ich dagegen? Wenn die Polizei noch erfuhr, dass ihre Mutter in ihrem eigenen Schnaps ersoff, prost Mahlzeit!«

Schwester Anna, die Pflegerin, die sie betreute, hatte gesagt, die Polizei würde im Personalaufenthaltsraum auf sie warten.

Zögernd klopfte sie an die Tür mit der Aufschrift »Personal«.

»Herein!« Eine weibliche Stimme drang an ihr Ohr. Alexandra atmete einmal tief durch und betrat den Raum.

Der Aufenthaltsraum des Personals war bestückt mit einer kleinen Cafébar, auf deren Theke eine große moderne Kaffeemaschine stand, die je nach Wunsch jede Kaffeesorte ausspuckte. Mehrere quadratische Tische aus hellem Holz waren im Raum verteilt, an denen vier Personen Platz hatten.

In diesem Augenblick war Alexandra dankbar dafür, dass die Krankenschwester in der Kleiderkammer des Krankenhauses gewühlt hatte und ein passendes Nachthemd mit Bademantel gefunden hatte.

An einem Tisch links von der Tür saßen zwei Personen, eine ungefähr fünfzigjährige Frau und ein junger Mann.