Menschenleben - Band 2 - Ute Mrozinski - E-Book

Menschenleben - Band 2 E-Book

Ute Mrozinski

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Beschreibung

Der Mensch ist auch nur ein Virus. Der zweite Band der "Menschenleben"-Reihe. Die siebzehnjährige Melanie Fischer kommt von einer Party nicht zurück. Ronnie Sandmann, ihr Freund, wird blutüberströmt im Wald auf dem alten Bunker gefunden, erstochen! Später findet man Melanie schwer verletzt zwischen den Bäumen der Apfelplantage in den Armen eines verstörten, siebzehnjährigen Jungen - Tommi Bungert, Sohn des Hauptkommissars Heiko Bungert. Am Tag zuvor hatte Tommi sich mit Ronnie Sandmann um die Gunst von Melanie Fischer geschlagen. Mord aus Eifersucht? Einen Tag später verschwindet Tommi aus dem Krankenhaus und Lilli Lennartz, Melanies Freundin kommt nicht nach Hause. In Ronnies Blut werden Drogen gefunden. Ist es doch nicht so einfach? Geht dieser Fall tiefer, ist er gefährlicher, als die ermittelnden Beamten sich vorgestellt haben? Heiko Bungerts schwerster Fall.

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Der Mensch ist auch nur ein Virus Der zweite Band der »Menschenleben«-Reihe

Die siebzehnjährige Melanie Fischer kommt von einer Party nicht zurück. Ronnie Sandmann, ihr Freund, liegt blutüberströmt im Wald auf dem alten Bunker, erstochen! Später findet man Melanie schwer verletzt zwischen den Bäumen der Apfelplantage in den Armen eines verstörten, siebzehnjährigen Jungen – Tommi Bungert, Sohn des Hauptkommissars Heiko Bungert. Am Tag zuvor schlug Tommi sich mit Ronnie um die Gunst von Melanie Fischer. Mord aus Eifersucht? Einen Tag später verschwindet Tommi aus dem Krankenhaus, Lilli Lennartz, Melanies Freundin, kommt nicht nach Hause. In Ronnies Blut werden Drogen gefunden. Ist es doch nicht so einfach? Geht der Fall tiefer, ist er gefährlicher, als die ermittelnden Beamten sich vorgestellt haben? Heiko Bungerts schwerster Fall.

Die Autorin

Ute Mrozinski wurde 1961 in Düsseldorf geboren, ist verheiratet und lebt mittlerweile in einer kleinen Stadt im Rheinland. Sie ist Altenpflegerin i. R. und freischaffende Autorin. Ihre Werke sind vielfältig, auf kein Genre begrenzt. Sie hat angefangen mit Science-Fiction und Fantasy. Zuletzt den Roman Raumzeitlegende, das zweibändige Werk»Keines Menschen Fuß«, Teil I u. Teil II.Danach folgte ein phantastischer Psychothriller,»Aufstand der Wölfe.«Ute Mrozinskis Romane handeln von menschlichen Dramen und Abgründen. Die Autorin wünscht ihren Lesern viel Spaß beim Schmökern.

Danksagung

Danke an meinen allerbesten Freund und schärfsten Kritiker Albert Mrozinski, zuständig für Logik und Spannung. Cover, Pixaby.

Anmerkung der Autorin

Namen, Orte, Institutionen, Vereine und handelnde Personen, entspringen lediglich der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder noch lebenden Personen, sind rein zufälliger Natur. Ute Mrozinski, 26.09.2023

Inhaltsverzeichnis

Der Mensch ist auch nur ein Virus

Kapitel 1: Abstieg in die Schattenwelt …

Kapitel 2: Razzia … zehn Jahre später

Kapitel 3: Ein Jahr später …

Kapitel 4: Zwischenspiel – Die Journalistin

Kapitel 5: Drei Stunden vor der Party …

Kapitel 6: Das Interview …

Kapitel 7: Geburtstagsfeier …

Kapitel 8: Der Professor

Kapitel 9: Am Tatort

Kapitel 10: Väter und Töchter

Kapitel 11: Am Alten Bunker

Kapitel 12: Schwere Gedanken

Kapitel 13: Der Polizist

Kapitel 14: Nicht unser Sohn

Kapitel 15: Erwachen …

Kapitel 16: Vater, Sohn und andere Gespräche

Kapitel 17: Lilli

Kapitel 18: Klassenkameraden …

Kapitel 19: Konspirative Gespräche …

Kapitel 20: Desaster …

Kapitel 21: Dienstbesprechung

Kapitel 22: Linda …

Kapitel 23: Galerie der Erinnerung …

Kapitel 24: Aufbruch

Kapitel 25: Reden ist Gold

Kapitel 26: Geschäfte und Politik

Kapitel 27: Verweigerung

Kapitel 28: Das Spukhaus

Kapitel 29: Am Ende des Weges

Kapitel 30: Jedem das Seine …

Epilog

Der Mensch ist auch nur ein Virus

Prolog … haben gestern rund 15.000 Menschen in der Kreisstadt Trettenheim vor dem Kreistagsgebäude demonstriert, in dem das hiesige Impfzentrum untergebracht war.

Sicherheitsabstände wurden nicht eingehalten, bisher getragene Masken vom Gesicht gerissen und auf das Pflaster in den Dreck getreten. Eine Zusammensetzung von Coronaleugnern, Impfgegnern, Rechtsextremen und Reichsbürgern begann plötzlich Reichsflaggen und Spruchbänder zu entrollen. Erst wenige und dann immer mehr Demonstranten stürmten in die Vorhalle des Kreistagsgebäudes, um die dort stattfindende Impfung zu stören. Ärzte, Helfer, zu Impfende wurden angegriffen, mit Tomaten und Eiern beschmissen, bespuckt oder geschlagen.

Nur dem beherzten Eingreifen der Polizei war es zu verdanken, dass es nicht zu schlimmeren Gewaltausbrüchen kam. Der Oberbürgermeister von Trettenheim Hans-Peter Danzer redete von einem beschämenden Angriff auf die Demokratie. Das habe nichts mehr mit der Freiheit des Einzelnen zu tun, sondern nur noch mit Hass, Willkür und dem Egoismus einzelner Bevölkerungsgruppen …

Kapitel 1 Abstieg in die Schattenwelt …

An diesem einen Tag vor zehn Jahren, war er gerade fünfunddreißig geworden. Als der Digitalwecker ihn morgens um sechs Uhr mit seinem dröhnenden Rap-Rhythmus aufweckte, fuhr er aus einem traumlosen Schlaf aus den Kissen in die Höhe. Knurrend schlug er mit der linken Hand auf den Abstellknopf. Er hasste Rap, gerade deshalb hatte Sandra diesen Rhythmus als morgendliche Weckmelodie für ihn gewählt. Damit er ja aufwachte. Knurrend sah er auf die linke Bettseite. Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Sandra war sicher unten in der Küche, um das Frühstück zu bereiten.

Plötzlich musste er lächeln. Bestimmt hatte sie früh am Morgen den Tisch in der Küche gedeckt und einen selbst gebackenen Kuchen auf den Tisch gestellt. Schnell sprang er aus dem Bett, huschte unter die Dusche. Danach schlüpfte er in ein kurzärmeliges, blau kariertes Hemd und stolperte die kleine Wendeltreppe hinunter, die vom Schlafzimmer direkt in die Küche führte. Am Fuß der Treppe standen sie, die schlanke Sandra mit den langen blonden Haaren, der kleine Tommi, dessen kurze Locken genauso hell leuchteten.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Papa! Mama hat Kuchen gebacken, und ich habe die Kerzen alle draufgesteckt.« »Tja«, grinste Sandra, »die wirst du jetzt alle ausblasen müssen. Tommi besteht darauf. Herzlichen Glückwunsch.« Nachdem Heiko unter dem lauten Gejohle seines Sohns die Kerzen ausgeblasen, außerdem zwei Stück Kuchen verschlungen hatte, machte er sich schweren Herzens auf zur Arbeit. Noch Jahre danach hatte er das Bild im Kopf. Sandra mit wehenden, durcheinandergewirbelten Locken. Tommi mit seinen raspelkurzen, igelstachligen Haaren, der wie ein Ball in die Luft sprang, mit den kleinen Füßen abfedernd, wieder auf dem Boden aufkam, die Hände in die Luft gestreckt.

Sandra Bungert lächelte, als sie auf dem Hof der Grundschule stand und Tommi nachwinkte. Er war erst vor einer Woche eingeschult worden. Bald würde er sich zu groß fühlen, um seiner Mama noch zurückzuwinken. In wenigen Tagen schon würde ihm das peinlich sein.

Sie drehte sich schließlich um und verließ den Spielhof des Kindergartens mit schnellen Schritten.

Gedankenvoll bog sie nach rechts ab zur Hauptstraße.

Dort begann auf der anderen Seite das kleine Einkaufszentrum von Mohnfeld. Sie musste noch ein paar Sachen für die Grillparty besorgen, vielleicht konnte sie sich hinterher einen Kaffee und ein Stück Kuchen im hiesigen Bäckereicafé gönnen.

Sandra warf einen Blick auf die dicht befahrene Hauptstraße.

Ein Auto nach dem anderen. Sie stand noch ein paar Meter von der Ampel entfernt, als sie registrierte, dass die Ampel schon längst auf Grün gesprungen war und die Leute über die Straße strömten.

Bis sie dort war, würde schon längst wieder alles auf Rot umgesprungen sein. Vor dem Übergang stand ein einzelner schwerer Lastwagen, einsam und allein. Die Straße war für kurze Zeit frei. Das musste sie ausnutzen, also rüber, dort, wo sie war. Sie lief los. Sandra war mitten auf der Fahrbahn, als von hinten brummend und zischend ein roter Blitz mit ungebremster Geschwindigkeit auf sie zukam. Sie hatte noch nicht einmal Zeit, Angst zu haben …

Als er seinen Wagen auf dem Parkplatz vor der Polizeistation parkte, brach die Sonne durch die Wolken.

Heiko hoffte, dass es so blieb, dann konnten sie nachmittags auf der Terrasse grillen. »Hey«, hatte Greta grinsend gerufen, als er um sieben Uhr dreißig das Büro betrat, »heute Morgen schon gefeiert? Herzlichen Glückwunsch! Ich hab da auch direkt ein paar nette Schlägereien unter Drogeneinfluss und ein paar Coronaverstöße. Illegale Partys und andere Veranstaltungen!« »Eine Schachtel Zigaretten wäre mir lieber gewesen!« »Das könnte dir so passen!« Gretas Stimme klang plötzlich hart, fast aggressiv. »Ich will nicht noch jemanden verlieren, den ich mag.« Er sah sie betroffen an. »Was ist passiert?«

»Mein Vater ist vor einem Jahr, genau an diesem Datum, seinem achtzigsten Geburtstag, gestorben. Nicht weil er alt war, sondern weil er Lungenkrebs hatte. Dieser verdammte Idiot. Na, da hat er ja noch ein paar gute Jahre gehabt, würden manche sagen. Von wegen! Mit siebzig hat sein Asthma den Höhepunkt erreicht. Zehn Jahre hat er sich mit Luftnot gequält, die immer schlimmer wurde. Nach acht Jahren wurde bei ihm dann der Krebs diagnostiziert. Dann kamen die Schmerzen hinzu. Er ist qualvoll gestorben. Wenn mir noch einer sagt: ›Na da ist er ja noch alt geworden‹, dann haue ich ihm in die Fresse!« Keuchend stieß sie die Luft aus, als hätte sie selber Atemnot.

In diesem Augenblick klingelte das Festnetztelefon auf Gretas Schreibtisch schrill.

Greta, die vorne auf der Schreibtischkante saß, drehte sich halb um, angelte mit dem linken Arm nach hinten und hob ab.

»Lindenstein?«

Nach einigen Sekunden angestrengten Lauschens strafften sich ihre Schultern, das Gesicht wurde bleich.

»Sind sie sicher? Ja, ja, danke. Ich kümmere mich drum.«

Dann legte sie auf, drehte sich langsam zu ihm um. Ihr starrer

Blick machte ihm Angst. Als sie dann sprach, wusste er auch, warum.

»Heiko«, sagte sie bebend, »du musst sofort ins Kreiskrankenhaus. Sandra … hatte … einen Unfall! Sie … es tut mir leid. Oh verdammt, es tut mir so leid. Ich fürchte, sie … sie ist tot!«

Sandra lag in der gerichtsmedizinischen Abteilung der Pathologie im Kreiskrankenhaus von Trettenheim. Zumindest das, was von ihr übrig war. Der kompakte Kleinwagen hatte ihren Unterkörper zerquetscht. Der Oberkörper war mit voller Wucht gegen den Lastwagen geschlagen. Nur der Kopf war noch einigermaßen intakt geblieben. Sandra musste deshalb noch wenige Minuten gelebt haben. Die Fahrerin des roten Kleinwagens war sofort tot gewesen.

»Ich fürchte, sie … sie ist tot! Ich fürchte … fürchte …« Er kannte den diensthabenden Pathologen. Einen freundlichen älteren Mediziner mit grauen Schläfen und schütterem Haar. »Herr Bungert? Setzen Sie sich doch.« Er reichte ihm die Hand zur Begrüßung und wies auf den bequemen Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch aus freundlichem hellem Holz. Heiko nahm wie in Trance Platz.

»Bei welchem Fall war er noch mal zuletzt hier gewesen?

Ich fürchte, sie … sie ist tot! Ich fürchte … fürchte …« »Möchten Sie ein Glas Wasser, einen Kaffee, einen Tee?« Die bewusste Sanftheit dieser Stimme bereitete ihm Kopfschmerzen. Er schüttelte wortlos den Kopf.

»Dann zeige ich Ihnen jetzt das Bild!« Der ältere Mann drehte seinen Laptop um. »Es tut mir leid, Herr Bungert. Wirklich, es tut mir so unglaublich leid. Sie hat nicht mehr lange gelitten!«

Heiko starrte auf das großformatige Foto auf dem Bildschirm.

Das war nicht Sandra! Nie im Leben war das Sandra. Diese schmale Gestalt, bis zum Kopf mit einer blauen Plastikplane bedeckt. Er sah nur den Kopf. Das zurückgekämmte blonde lange Haar. Das fein geschnittene, regungslose Gesicht. Die rot geschminkten Lippen, den blassen Teint, die geschlossenen Augen. Das konnte nicht Sandra sein! Nie im Leben würde sie sich die Lippen knallrot schminken.

Er wollte brüllen. Nein, nein, das ist sie nicht!

Doch dann nickte er nur, unterschrieb das Dokument, in dem er bestätigte, dass dieses regungslose, puppenhafte Wesen auf dem Foto Sandra war.

Wie durch eine Wand aus Wasser hörte er die Frage, ob alles in Ordnung sei. Er legte den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und dachte noch: »Natürlich ist alles in Ordnung.

Natürlich, du Arschloch. Schließlich ist ja nur Sandra tot, zerquetscht durch einen Kleinwagen, der sie an einen Lastwagen genagelt hat!«

Danach fing er an zu schreien … Doch so laut er auch schrie, Sandra wachte nicht mehr auf. Die darauffolgenden Monate liefen in seinem Kopf ab wie ein Traum, wie ein Film, den man schon einmal gesehen hatte, an den man sich aber nur noch lückenhaft erinnerte. In dieser Zeit war er nicht fähig, irgendetwas Sinnvolles zu tun.

Er war nicht fähig zu arbeiten oder gar seinen kleinen Sohn nur zu versorgen. Er brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, warum seine Mami nicht mehr kam. Sein Geist, sein Selbst war wie versteinert.

Tommi wohnte und lebte in dieser Zeit im Haus einer Pflegefamilie, die für ihn sorgte.

Endlich, nach gefühlt langer Zeit war Heiko wieder fähig, sich dem Leben zu stellen. Doch Vater und Sohn hatten noch eine lange Reise vor sich, niemand wusste, ob sie je enden würde.

Kapitel 2 Razzia … zehn Jahre später

Sechzehn Uhr am Nachmittag. Die Sonne schien durch die zwei großen Fenster eines kleinen flachen Backsteingebäudes. Links über dem großen zweiflügligen Eingang aus Glas und Metall stand in großen hellen Leuchtbuchstaben Heimatverein Trettenheim – Haus der Jugend.

Der Raum hinter der Tür war groß, etwa fünfzig bis sechzig Jugendliche passten dort rein, im Notfall noch mehr. Hinter einer hölzernen Theke mit Hockern aus Metall und Kunststoffbezügen wurden lediglich antialkoholische Getränke ausgeschenkt. Was manche Jugendlichen nicht daran hinderte, bei den Kontrollen Weizenbier oder Pils in den entsprechenden Flaschen als Apfelsaft zu verkaufen. Das klappte zwar nicht immer, aber manchmal schauten die hiesigen Jugendleiter großzügig darüber hinweg.

Auch Zigaretten mit und ohne Nikotin wurden sehr oft akzeptiert. Ronnie Sandmann und seine drei Freunde hatten heute allerdings Pech.

Sie waren die Ersten, die den Raum betraten, denn sie waren die Band, die heute Nachmittag spielen sollten.

Sie waren die Tigercrawls und spielten harten, düsteren Death Metal mit gesellschaftskritischen, aber heimatverbundenen Texten. So wurde das auf jeden Fall von allen, die hier verkehrten, interpretiert. Ronnie Sandmann, der Bandleader und Sänger, war ein großer, kräftiger Junge von siebzehn Jahren. Als er mit seinen Jungs den Raum betrat und auf die dreistufige Bühnenempore aus Metallstangen und Kunststoffplatten zusteuerte, wurde er von einem Mann um die vierzig mit rötlichen kurzen Stoppelhaaren und breiten Schultern aufgehalten. »Halt, Jungs, Taschen, leeren!« Die vier Jungs blieben abrupt stehen. »Mensch, König«, seufzte Ronnie und fuhr sich mit der linken Hand durch das lockige schulterlange Haar. »Was ist heute los mit dir? Wir sind die Band, okay?«

»Nichtsdestotrotz müsst ihr euch genauso wie alle anderen hier an die Regeln halten. Also Taschen leeren und alles, was hier nicht hingehört, bei mir abgeben. Ihr bekommt euren Scheiß wieder zurück, keine Angst.«

»Ja klar«, murrte Ronnie, »gegen einen gesalzenen Anteil.«

»Werde bloß nicht frech«, sagte der Mann und baute sich breitschultrig vor ihm auf. »Sonst könnte der Heimatverein sich überlegen, ob er euch nicht die Polizei auf den Hals schickt wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.

Dann geht das Konzert flöten, und ihr habt den Ärger am Hals.

Ihr Jungs seid keine Weltstars. Denk mal daran, denkt vor allen Dingen an eure respektablen Familien.«

»Komm schon«, murrte ein blonder, schmaler Junge hinter ihm. »Gib ihm, was er will. Sonst haben wir unnötig Ärger.«

Ronnie zog wütend die Augenbrauen zusammen.

»Nun gut, Sebastian, okay!«, stieß er hervor, griff in seine Sporttasche, holte einen kleinen blauen Kulturbeutel hervor und reichte ihn an den Mann weiter. Der nickte, grinste breit und steckte den Beutel in die Innentasche seiner Jeansjacke.

Dann verbeugte er sich und wies mit einem seiner kräftigen Arme auf die Bühne: »Weitermachen!« Schließlich standen die jungen Männer auf der Bühne.

Der Raum war gefüllt. Sie schauten auf mindestens sechzig junge Leute. Eine schwarz-silberne Gitarre um den Hals, die für ihn mehr ein Schmuck war als ein Instrument, stand Ronnie am Mikrofon. Er war der Sänger der Tigercrawls. Aus seinem schwarzen T-Shirt mit der scharfen, blutigen Tigerkralle ragten seine muskulösen Arme, die langen Finger waren auf die Gitarrensaiten gelegt.

Hinter ihm, ebenfalls mit einer E-Gitarre bestückt, stand der Sologitarrist, der schmale, groß gewachsene Sebastian Fuhrmeister mit den blonden, fast ordentlich gescheitelten Haaren, die ihm in einer Tolle ins Gesicht fielen.

Marian Vogler, die langen dunkelbraunen Haare nach hinten gebunden, spielte die Rhythmusgitarre. Zuletzt kam Leon Vogler, der Schlagzeuger, mit dem kurzen roten Schopf.

Alles war bereit. Es summte im Raum wie in einem Bienenstock. Es war schwül, obwohl der September schon fast dem Ende zuging. Das junge Volk stand dicht gedrängt.

»Anfangen, anfangen, anfangen!« Sechzig Fäuste reckten sich nach oben. Ronnie gab das Zeichen, als er einen hellen, kreischenden Ton auf seiner Gitarre spielte. Doch bevor die Band anfangen, richtig loslegen konnte, wurden plötzlich die Flügeltüren zur Seite gedrückt und eine Schwadron von Männern und Frauen in Polizeiuniform drang mit erhobenen Schusswaffen in den Raum, verteilte sich in Windeseile um die Jugendlichen herum.

»Okay, Leute«, brüllte ein rothaariger, grau melierter Mann in Polizeiuniform. »Das wars dann. Der Spaß ist vorbei!« Es waren nur einige junge Leute, und nicht nur Mädchen, die vor Schreck anfingen zu schreien. Der Rest verstummte. Die jungen Musiker stellten langsam ihre Gitarren an die Wand hinter der Bühne.

»Was soll das?«, brüllte Ronnie wütend ins Mikrofon. »Warum ist die Polizei hier? Wir sind Künstler! Wir machen einfach nur Musik!«

»Das sehe ich auch so. Was will die Polizei hier? Hier ist alles friedlich!« Der rothaarige kräftige Riese mit den Stoppelhaaren stemmte die Arme in die Seiten. Zwei andere Jugendleiter des Heimatvereins, ein Mann und eine junge Frau, die später hinzugekommen waren, standen mit zusammengekniffenen Lippen hinter der Theke und sagten kein Wort.

Aus dem Kreis der uniformierten Polizisten löste sich eine Frau mit graubraun melierten Haaren, straff zurückgebunden, ein großer schlanker Mann mit dunkelbraunem Pferdeschwanz und Spitzbart trat neben sie. Beide trugen Zivilkleidung und winkten mit ihren Dienstausweisen.

»Hauptkommissarin Greta Lindenstein mit Kollege Oberkommissar Heiko Bungert!«, rief sie.

»Ihnen ist schon klar, dass dies hier eine nicht genehmigte Versammlung ist? Die Veranstaltung wurde von Ihnen nicht angemeldet. Sie tragen hier zweitens alle keine Maske! Der nötige Abstand ist drittens auch nicht gegeben, weil hier zu viele Personen in einem Raum sind.« »Na dann verschwindet doch endlich«, rief jemand laut. Greta ging nicht darauf ein.

»Dafür wird der Heimatverein aller Wahrscheinlichkeit nach eine saftige Geldstrafe einstreichen. Aber das, mein Herr«, wandte sie sich an den rothaarigen Riesen, »nur nebenbei.

Wir müssen den Bandleader der jungen Musiker bitten, zum Verhör mit auf die Wache zu kommen.« »Verdammt, aus welchem Grund denn?«, schrie Ronnie.

»Verhaftet ihr jetzt schon kritisch denkende Künstler?« »Nein«, rief Heiko. »Wir verhaften Sie nicht. Wir laden Sie zum Verhör, Herr Sandmann. Die Helmkameras der Polizei haben Sie auf der nicht genehmigten, in Gewalttätigkeit ausgearteten Demo vor dem Kreistagsgebäude in Trettenheim gefilmt.«

Sebastian umklammerte den Hals seiner Gitarre mit beiden Händen, als ob er sie wie einen Knüppel nach oben reißen wolle.

»Darf man in diesem Staat nicht mehr demonstrieren?«

»Doch«, antwortete Greta und wandte sich jetzt Ronnie zu, »aber, man darf keine Polizisten oder anders denkende Menschen ohne Grund angreifen, schlagen oder bespucken!

Das hat nämlich nichts mehr mit der Freiheit des Einzelnen zu tun, sondern eher mit Willkür. Deshalb kommen Sie jetzt mit zum Verhör, Herr Sandmann. Dann können wir alles klären!«

»Das ist unglaublich«, brüllte Ronnie. »Ich werde meinen Vater anrufen. Mein Vater ist Staatsanwalt. Außerdem sind ich und meine Jungs alle erst siebzehn! Sie dürfen gar nicht …«

»Sie glauben gar nicht, was wir alles dürfen«, unterbrach ihn Heiko. »Kommen Sie jetzt freiwillig von der Bühne herunter, oder müssen wir Sie holen?«

Ronnie runzelte die Stirn, warf kurz einen Blick zu dem Riesen hinüber, der nickte unmerklich.

»Okay«, zischte Ronnie. »Ich komme ja schon mit.« Dann schaute er wieder zu dem rothaarigen Mann. »Du siehst nach meinen Sachen, nicht wahr?« Der Mann nickte ernst. »Na klar, Ronnie.« Dann zu Heiko gewandt sagte er: »Das werden Sie noch bereuen.«

Die Kommissare redeten kein Wort mehr. Greta nickte dem grau melierten Polizisten zu. »Euer Part, Timo.«

Langsam, mit erhobenen Händen, kamen die Jungs von der Bühne herunter. Die Personalien wurden festgestellt, dann patrouillierten Timo und zwei seiner Leute den Jungen aus dem Raum und führten ihn zu einem der weißen Polizeitransporter mit blau-gelben Streifen. Greta und Heiko stiegen vorne zu Timo, der den Wagen fuhr. Die anderen Polizisten waren dazu abgestellt, die Veranstaltung aufzulösen.

Sie fuhren vom Jugendheim aus vorbei am Naturschutzgebiet durch die Straßen von Trettenheim. Heiko warf ab und zu einen Blick nach hinten. Doch niemand regte sich oder sagte ein Wort. Nur Ronnie Sandmann sprach in sein Handy. Einer der Polizisten nickte Heiko zu. »Er ruft seinen Vater an, den Staatsanwalt!«.

Heiko verzog das Gesicht und drehte sich wieder um.

Greta sprach gerade über das Funkgerät. »Ihr wisst also Bescheid. Strafbefehl ist ausgeführt. Wir sind mit der verhafteten Person auf dem Weg ins Präsidium. Ja, Kriminaloberrat Fiedler weiß Bescheid.« Es war siebzehn Uhr, als sie auf die Hauptstraße von Mohnfeld einbogen und schließlich auf dem Parkplatz der Mohnfelder Polizeiwache anhielten. Mohnfeld war jetzt zwar ein Stadtteil der Kreisstadt Trettenheim, aber das Polizeigebäude gegenüber der örtlichen Volksbank hatte sich nicht verändert.

Es war immer noch das alte lang gezogene dreistöckige Gebäude aus Glas und Metall. Die Schiebetüren gingen elektronisch auf.

Timo rief den Polizeipförtner über das Funkgerät an.

»Timo hier, Günther, mach die Tore weit. Wir haben einen Verdächtigen zum Verhör. Festnahme, Strafbefehl von Kriminaloberrat Martin Fiedler.«

»Alles klar«, hörte Heiko Günthers Stimme aus den Lautsprechern, dann gingen die Tore auf. Greta und Heiko sprangen aus dem Wagen, zogen ihre Masken hoch und betraten mit raschen Schritten das Erdgeschoss, während Timo mit seinen Leuten den Jungen aus dem Wagen scheuchten und in das Gebäude brachten.

»Der junge Herr hier soll uns nach oben ins KK 11 begleiten.

Gewaltdelikte!«, sagte Greta mit kalter Stimme. In einer Kanzel aus Plexiglas saß ein schon etwas angegrauter Polizist mit leichtem Bauchansatz hinter einem Schreibtisch mit Computer. Durch seine dicke schwarze Brille starrte er angestrengt auf den Bildschirm. Er nickte schließlich.

»Fahrt durch in die zweite Etage. Greta und Heiko, ihr sollt noch vor der Vernehmung zum Chef ins Büro. Greta runzelte die Stirn und pustete eine vorwitzige Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Was will er?« Günther zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Frag ihn doch. Ihr sollt so lange mit der Vernehmung warten, bis das geklärt ist.«

»Okay«, sagte Greta gedehnt. Aus den Augenwinkeln glaubte sie den jungen Ronnie lächeln zu sehen.

Oben angekommen, eskortierten Timo und einer seiner Leute Ronnie Sandmann nach rechts über den langen Flur zum Verhörraum, während Greta und Heiko nach links zwei Türen weiter zum Büro des Kriminaloberrats Martin Fiedler gingen.

Als sie vor der halb offenen Tür standen, schauten sie sich kurz an, Heiko zuckte mit den Schultern. Greta seufzte und klopfte kurz an.

»Herein!« Die dunkle, bewusst kultiviert klingende Stimme des Kriminaloberrats drang an ihre Ohren.

»Oh, Maestro«, murmelte Heiko leise, als sie den Raum betraten. Greta stieß ihn unauffällig an.

Martin Fiedler schaute aus dem Fenster, als sie eintraten. Er war ein großer, schlank aussehender Mann mit vollen eisengrauen Haaren. Greta fand ihn durchaus gut aussehend, aber erstens stand sie nicht auf Männer und zweitens war er ihr zu extravagant, zu sehr von sich selbst überzeugt. »Guten Tag, Herr Kriminaloberrat«, sagte Greta laut. »Sie wollten uns sprechen? Wir sollten es kurz machen. Wir haben noch was zu tun.«

Fiedler drehte sich langsam um. Jetzt sah man, dass ein kleiner Bauch sein weißes Hemd spannte und sein Gesicht tiefe Falten hatte. »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe Sie kommen lassen, Greta, um Ihnen etwas Arbeit abzunehmen.

Ich fürchte nämlich, wir müssen den jungen Ronnie Sandmann wieder ungefragt nach Hause schicken.«

Greta riss die Augen auf. »Wie bitte? Was ist passiert?«

»Eigentlich«, sagte Fiedler und starrte sie eine Sekunde regungslos an, »eigentlich ist nichts passiert, und das ist das Problem. Wir können Ronnie Sandmann nichts nachweisen.

Das Einzige, was wir ihm vorwerfen können, ist die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration und eventuell noch diese Veranstaltung heute Nachmittag. Aber dafür gibt es lediglich eine saftige Geldstrafe, und die bezahlt der Vater aus der Portokasse.«

»Jetzt machen Sie aber mal halblang, Chef!«, rief Heiko wütend. Das kann ja wohl nicht sein! Die Helmkamera von Timo Becker hat das Geschehen aufgenommen. Ronnie Sandmann hat den Polizisten mit einer Hand am Kragen gepackt und fast die Luft abgeschnürt! Deutlicher geht es doch gar nicht mehr.«

Fiedler machte einen Schritt auf seinen Schreibtisch zu und drückte auf eine Taste des aufgeklappten Notebooks, dann drehte er es herum.

»Sie sehen das Bild, Herr Bungert, Frau Lindenstein?«

»Natürlich«, schnaufte Greta, »es zeigt genau das, was Herr Bungert eben beschrieben hat!«

»Mitnichten! Schauen Sie genauer hin, dann sehen Sie es auch. Timo Becker hat ihn nämlich gleichfalls am Kragen. Er hat das T-Shirt des Jungen schon so fest zusammengedreht, dass nämlich Ronnie kaum noch Luft bekommt. Leon Sandmann, sein Vater, wird das nämlich als Angriff des Polizisten sehen, gegen den der Junge sich wehren musste.

Ein Polizist darf das nicht, auch nicht im Einsatz bei verbotenen Demonstrationen!«

»So? Was darf er denn?«, fauchte Heiko. »Sich erwürgen lassen?« Greta legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte leicht den Kopf.

»Kommen wir zum Punkt«, sagte sie leise, jeden Buchstaben betonend. »Was sollen wir jetzt machen? Alles sausen lassen? Den Jungen wieder nach Hause schicken?«

»Ich will gar nichts«, sagte Fiedler und zupfte an seiner Krawatte. »Ich muss mich danach richten, was momentan anwendbares Recht ist. Sonst kriegen wir hier den Ärger unseres Lebens. Sie wissen, dass der Vater von Sebastian Fuhrmeister einer der größten Zeitungsmagnate in der Gegend ist, dass ihm außer ein paar anderen Zeitschriften auch das Boulevardblatt Land und Leute gehört. Leon Sandmann und Johann Fuhrmeister werden sich gegenseitig ergänzen. Der eine wird sich lauthals beschweren und seine Rechte einfordern, der andere wird es postwendend in die Zeitung setzen. Und deswegen ja – wir müssen den Jungen wieder nach Hause schicken, mit einem saftigen Strafbefehl gegen den Vater, da Ronnie Sandmann ja erst siebzehn ist.

Leon Sandmann wird den erheblichen Betrag bezahlen, Ronnie wird von der Schule gehen und sich für ein Jahr in einem Internat wiederfinden. Wenn er sich geändert hat, darf er im letzten Jahr wieder zurück nach Trettenheim ins Humboldt-Gymnasium. Man muss der Jugend eine Chance geben!« Heiko ballte die Fäuste und öffnete den Mund, doch Greta durchbohrte ihn geradezu mit einem intensiven, dunklen Blick.

Der Hauptkommissar schnappte nach Luft und schloss den Mund wieder.

»Gut«, sagte Greta tonlos, »dann werden wir diesem gebeutelten jungen Mann jetzt Bescheid geben.«

Sie stieß Heiko unsanft in den Rücken. Er stand immer noch da wie ein wütender Stier. Tief durchatmend wandte er sich zur Tür, quetschte sich an ihr vorbei und verließ den Raum.

Als Greta ebenfalls durch die Tür verschwinden wollte, legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken drehte sie sich um. »Was? Herr Fiedler, was kann ich noch für Sie tun?«

»Frau Lindenstein«, seine Stimme klang plötzlich weich und milde. »Es tut mir leid, dass wir so auseinandergehen.

Glauben Sie mir, ich will das auch nicht. Lassen Sie uns das doch noch einmal bei einem exklusiven italienischen Essen besprechen, bei Wein und Pasta sozusagen. Ich lade Sie …«

»Tut mir leid, Herr Fiedler«, sagte sie schroff, »aber meine Frau macht heute Abend schon Lasagne und die ist besser als in jedem italienischen Restaurant. Außerdem ist sie sehr eifersüchtig. Ich möchte doch keinen Ehestreit riskieren.«

Dann blieb sie extra einen Moment stehen. Als sie sah, wie er rot anlief, drehte sie sich um und ging mit festen Schritten Heiko hinterher.

Kapitel 3 Ein Jahr später …

Große Pause im Humboldt-Gymnasium. Es war zehn Uhr am Vormittag, als die Schüler aus dem roten dreistöckigen Backsteingebäude durch die breite, sich automatisch öffnende Glastür auf den Schulhof strömten. Es war tatsächlich ein Hof. Ein riesiger Vorplatz, gepflastert mit breiten grauweißen Platten aus weichem Material. Linker Hand stand eine Kletterwand, die von den unteren Klassen ständig besetzt wurde. Rechts gab es ein großes Schachspiel mit Figuren so groß wie ein kleines Kind, darum hatte man ein paar Sitzbänke gruppiert. In der Mitte des Schulhofs stand eine große alte Eiche, darunter eine Bank. Darauf hatten sich hastig zwei Mädchen breitgemacht, bevor sich andere dort hinsetzen würden, denn das war ihr Stammplatz.

Doch in diesen Zeiten brauchten sie eigentlich gar keine Angst zu haben, dass ihnen jemand den Platz wegschnappen würde. Der Schulhof war nur zur Hälfte besetzt. Die Coronapandemie erforderte eine Begrenzung der Schülerzahl.

Zwei Klassen pro zwanzig Schüler vormittags, die anderen vierzig kamen am Nachmittag. So konnte man die Hygieneregeln gut einhalten. Da das Humboldt-Gymnasium noch echte Fenster und keine Belüftungsanlagen hatte, funktionierte das Tragen der Masken auch in den Klassenräumen.

Auf dem Schulhof waren Masken nur Pflicht, wenn man in kleinen Grüppchen zusammenstand. Doch daran hielten sich die wenigsten Schüler. Die meisten übersahen geflissentlich, dass man eigentlich nur in Zweiergruppen zusammenkommen durfte. Außer ein paar sogenannten übereifrigen Lehrern achtete keiner darauf.

Die zwei Mädchen hatten es sich mittlerweile auf der Bank unter der Eiche bequem gemacht.

Mit übereinandergeschlagenen Beinen saßen sie da und sogen an einem Strohhalm, der in einer Dose irgendeines süßen Energydrinks steckte.

Das Mädchen auf der rechten Seite hatte kurze schwarze Haare, die von ihrem Kopf abstanden wie Igelstacheln. Braune Augen leuchteten lebendig und wach aus dem runden Gesicht hervor. Ihr Mund war grellrot geschminkt. Ein dunkelgrünes T-Shirt mit einem brüllenden Tiger hing locker über ihrer engen Jeans und verdeckte die etwas pummelige Figur. Leise seufzend musterte sie immer wieder heimlich ihre Freundin, die sich gertenschlank, mit langen dunkelblonden Haaren neben ihr rekelte.

»Sag mal, Melanie«, stichelte die Pummelige, »wie lange trägst du eigentlich schon dieses schwarze T-Shirt mit dem Konterfei von Ronnie und seiner Band? Eine Woche? Zwei Wochen? Ich habe langsam den Eindruck, du wäschst es nie und schläfst sogar nachts darin!« Melanie stellte die Dose mit dem süßen Getränk neben sich.

Ihre braunen Augen funkelten Lilli an.

»Verdammt, du bist doch nur neidisch! Gibs zu. Ich bin mit Ronnie jetzt fast ein Jahr zusammen und du warst drei Monate mit Hagen Gronauer unterwegs, diesem Fuzzi von der Diskothek Lightshow! Dann hast du entdeckt, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Du kannst froh sein, dass deine Mutter das nicht mitbekommen hat. Die hätte dir monatelang den Zeigefinger vors Gesicht gehalten. Mit den Worten »Sieh´ste wohl. Ich hab´s ja gleich gesagt. Das hat man davon. Und jetzt hast du dir auch noch deine schönen langen Haare kurz schneiden lassen, nur um Hagen zu ärgern, der auf lange Haare stand. Das hast du doch wirklich nicht nötig oder?«

Lilli starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Ferne. Verdammt, Melanie hatte ja eigentlich recht. Aber sie konnte das ja nicht zugeben – oder? Wenn er sie wirklich abgeschleppt hätte, damals in der Disco, wer weiß, vielleicht wäre sie jetzt schwanger und müsste die Schule sausen lassen. Ihren Traum zu studieren, Lektorin zu werden und vielleicht auch mal Schriftstellerin könnte sie dann erst mal vergessen.

»Wie auch immer«, brummte sie. »Ich hab ihn ja noch rechtzeitig abgesetzt.« Nein, hatte sie nicht. Er hatte sie abgesetzt, als er merkte, dass die Sache ernst werden könnte.

Mehr als ein kleiner Flirt! »Da hinten«, sagte sie laut, »kommt übrigens der Albtraum deiner schlaflosen Nächte. Bleibe stark«, kicherte sie. »Tommi Bungert ist im Anmarsch. Ich wette, er will dich wieder zu irgendetwas einladen.«

Melanie stöhnte leise, zuckte dann aber gleichgültig mit den Schultern. »Eben, kurz vor der Pause, hat Ronnie mir eine Nachricht geschickt, dass er gleich mit drei seiner Jungs vorbeikommt. Wenn Tommi sich wieder aufspielen will, könnte das diesmal sehr interessant für ihn werden.«

Ihr Smartphone hupte schon wieder. Hastig tippte sie mit ihren langen rosa Fingernägeln auf einen stilisierten Flieger, und schon erschien die Nachricht. »Hallo, Mädels! Wir stehen am anderen Ende des Schulhofs bei den Schachfiguren. Aber wir lassen uns nicht wie die hin und her schieben! Ist das nicht ein Zeichen? Herr König und seine Königin sind in ihr Königreich abgedüst, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Ihr kennt ja die Regeln und wisst, woran ihr euch zu halten habt! Der König hat ja so recht, nicht wahr? Ich komme mit Fabian, Leon und Marius rüber zu euch. Wenn das Königspaar zurückkommt, sausen wir auseinander!«

Melanie Fischer schaute nach rechts zu den Schachfiguren.

Von dort aus bahnten sich Ronald und zwei seiner Jungs schon einen Weg zu ihnen. Sie winkte und lächelte breit.

Gleichzeitig kam aber auch vom Schulgebäude ein lang aufgeschossener blondhaariger Junge mit kurzen wuscheligen Lockenhaaren auf sie zu. Die blauen Augen schienen hoffnungsfroh zu leuchten. Seine dünnen, sehnigen Arme ragten wie Stecken aus dem schwarzen T-Shirt mit dem Abbild einer Rockgitarre und den Köpfen der Rockgruppe Deep Purple, quer darüber in roter Schrift – Smoke on the Water. Allein seine Beine, die in kurzen hellen Jeansshorts steckten, wirkten kräftiger.

»Oh nein! Schon wieder dieser blondhaarige Tölpel.

Hoffentlich will er mich nicht schon wieder auf seinem Rad mitnehmen! Kapiere es doch endlich mal. Du bist es nicht! Ich will nichts von dir. Ich hab schon einen Freund!« Doch Tommi schien es nicht zu verstehen. Mit breitem Lächeln kam er näher. Drei Dosen Cola in der Hand stand er schließlich vor den Mädchen.

»Hey, Mädels«, rief er mit seiner hellen Stimme. »Ziemlich heiß heute, was? Ich hab noch zwei Colas übrig, wollt ihr auch eine?«

Lilli hätte ihm am liebsten gesagt, er solle besser sofort verschwinden, wenn er keine blauen Flecken davontragen wolle. Doch da war es schon zu spät.

»Wie ist es?«, fragte er. »Wollt ihr beiden Mädels heute direkt nach der Schule einen großen Eisbecher im Luigis löffeln? Ich geb einen aus. Ich habe nämlich Geburtstag. Ich bin siebzehn geworden!«

Melanie stieß einen leisen Seufzer aus. »Tommi …«, begann sie.

In diesem Augenblick ertönte eine dunkle, raue Jungenstimme. »Es reicht jetzt langsam, Little Bull! Bist du eigentlich taub, blöd oder was? Kapier es, sie will nichts von dir. Wenn das nicht endlich in dein Gehirn geht, solltest du eins haben, dann muss ich dir eine verpassen. Vielleicht verstehst du ja nichts anderes!«

Tommis Blick schnellte nach rechts. Ein großer, kräftiger Junge mit schwarzen, nach hinten gebundenen Haaren schaute ihn an. Seine dunklen Augen sprühten Feuer, seine Hände waren geballt.

Bevor Tommi irgendwie reagieren konnte, schnellte Ronnies rechte Faust vor, packte den Jungen am Kragen seines T-Shirts und drehte es eng am Hals zusammen. Tommi keuchte.

»Ein für alle Mal, Little Bull, du lässt mein Mädchen in Ruhe, ist das klar? Sonst hast du mehr blaue Augen und Flecken, als du gebrauchen kannst!«

Der Junge nickte, holte gurgelnd Luft, dann schoss seine eigene rechte Hand nach oben, packte Ronnies Hand an seinem Kragen und bog seine Finger in einem brutalen Kraftakt nach hinten. Ronnie schrie vor Überraschung und Schmerz, sprang nach hinten, ballte abermals die rechte Hand zur Faust und holte aus.

Melanie und Lilli schauten sich an, sprangen nach vorne und packten Ronnie an den Schultern.

Eine kräftige Männerstimme übertönte plötzlich das einsetzende Stimmengewirr auf dem Schulhof und ließ alle erstarren. Eine Gasse öffnete sich für den muskulösen, hochgewachsenen Mann mit den stoppelkurzen rötlichen Haaren, seine Stimme drang in alle Ecken. »Hey, Leute, was soll das? Auseinander! Kennt ihr die Regeln nicht mehr?

Kleiner Pubertätsschub, was? Ihr habt wohl zu viel Testosteron im Blut!«

Der zusammengerottete Haufen Jugendlicher spritzte auseinander. Die zwei Mädchen, Ronnie, seine Jungs und Tommi erstarrten mitten in der Bewegung.

»Scheiße«, murmelte Sebastian leise und fuhr sich durch das blonde Haar, »König Rupert ist wieder zurück.«

Ronnie schüttelte die Hände der Mädchen ab, ließ die Faust sinken und wies auf Tommi. »Der hat meine Freundin angegrapscht. Er hat sie an die Brust gepackt!«

Tommi zog die Brauen zusammen. »Das stimmt nicht, ich habe sie und Lilli nur zu einem Eis bei Luigis eingeladen.«

Eine schlanke Blondine, die bisher neben Rupert König gestanden hatte, trat einen Schritt vor, eine lange Strähne hatte sich aus ihren hochgesteckten Haaren gelöst. Sie warf dem Mädchen mit den dunkelblonden langen Haaren einen Blick zu. »Stimmt das, Melanie, hat er dich angepackt oder nicht?«

Melanie biss sich auf ihre Unterlippe, ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Ihr Blick schien die Spitzen ihrer Sportschuhe zu fixieren. Dann schaute sie Tommi ins Gesicht, als habe sie sich entschlossen.

»Auf jeden Fall hat Tommi mich angequatscht und wollte mich unbedingt zu irgendetwas einladen. Er versucht das mindestens dreimal die Woche, obwohl er genau weiß, dass Ronnie mein Freund ist und dass ich absolut nichts von ihm will!«

»Okay«, sagte die Lehrerin, »ich hoffe, Tommi, du hast gut zugehört! Trotzdem«, wendete sie sich an Ronnie, »ist das kein Grund, eine Schlägerei anzufangen.«

Ronnie warf einen finsteren Blick auf Melanie, dann sah er wieder zu Sandra König und öffnete den Mund.

Sofort hob Rupert die Hand, seine Stimme war hart. »So ist es. Ich denke, Tommi wird es jetzt begriffen haben. Du bist auch ein intelligenter Junge, Ronnie.« Leons Augen durchbohrten ihn fast. »Noch einmal, ihr kennt die Regeln. Wir haben schon öfter darüber geredet, nicht wahr, Ronnie? Also Masken auf, zurück in die Klassen! Die Vorstellung ist zu Ende!« Schulterzuckend, leise redend strömten die Jungs und Mädchen hinter dem Lehrerehepaar, zurück in das Schulgebäude. Nur Tommi Bungert stand noch immer an der Bank mit der Eiche. Ronnie warf ihm einen Blick zu, grinste und hob den Zeigefinger in die Luft. Die Jungs um ihn herum lachten höhnisch. Melanie vermied es ihn anzuschauen und beeilte sich, an Ronnies Seite zu bleiben. Nur Lisa warf Tommi einen mitleidigen Blick zu. Die Fäuste geballt, die Lippen zusammengepresst, schien er ins Leere zu starren.

In der Siedlung Am Berg saßen zwei Mädchen in einem geräumigen Zimmer auf einem Bett, beide mit untergeschlagenen Beinen, in der Hand irgendeinen süßen Energydrink, der versprach, Flügel zu verleihen.

Aus den zwei Lautsprechern, die links und rechts des Fensters in der Ecke standen, drang normale Hitparadenpopmusik, die für sie beide gerade noch zu ertragen war. Eigentlich standen die beiden auf Hardrockmusik. Lillis Eltern waren aber eher Schlagerfans, Hardrock konnte sich Lilli nur mit Kopfhörer anhören. Deshalb hatte sie sich mit ihrer Freundin auf diese Radiomusik geeinigt, um keinen Ärger zu kriegen. Melanie, die ihre dunkelblonden Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, musste grinsen. Lilli, die schon einen Schlafanzug trug, ein nachtblaues T-Shirt mit Schäfchen-Muster und Shorts, runzelte die Stirn. »Was ist los? Was findest du hier so lächerlich. Ich weiß, dass ich ein bisschen diäten müsste, aber …«

Melanie grinste noch breiter. »Ach was. Deswegen grinse ich doch gar nicht. Du siehst gut aus. Männer mögen es etwas fülliger. Was willst du eigentlich? Nee, ich habe gerade den Spruch auf der Dose gelesen. … verleiht Flüüügel!« Unversehens brach Melanie in Kichern aus und konnte gar nicht mehr aufhören.

»Hilfe!« Lilli verdrehte die Augen. »Hast du was genommen, bevor du zu mir gekommen bist?«

Melanie, die zwischendurch noch mal einen Schluck aus der Dose getrunken hatte, fing an zu prusten und verspritzte rote Saftflecken auf der hellblauen Bettdecke.

»Jetzt reichts aber«, schimpfte Lilli, nahm ihr die Dose aus der Hand und stellte sie auf den Nachttisch. »Was glaubst du, welchen Ärger ich mit meiner Mutter kriege, wenn sie das sieht. Was ist in dich gefahren?«

Melanie gluckste und hielt sich den Bauch. »Gar nichts«, stieß sie schließlich hervor. »Ich musste ganz einfach nur kichern, weil ich bisher noch nie Flügel hatte. Aber heute vielleicht welche bekommen werde. Mit aller Wahrscheinlichkeit aber nicht von dem Zeugs hier.«

Sie wies auf die verschmierte Dose auf dem Nachttisch.

Lilli riss die Augen auf. »Wird das etwa eine Drogenparty mit Hasch, Marihuana oder Ecstasy?«

Melanie warf die Arme in die Luft. »Ach, ich weiß nicht. Ronnie hat irgend so etwas angedeutet. Ich meine, dass es Stoff gäbe. Was zum Fliegen meinte er. Aber vielleicht wollte er nur ein bisschen angeben.«

Lilli fuhr sich durch die Haare. »Mensch, pass auf, Melli, das kann ganz schön in die Hose gehen. Das Zeugs kann gefährlich sein.«

Melanie winkte ab. »Ja, ja, ich weiß. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo! Uralt. Das Erziehungsbuch deiner Mutter. Lilli, ich bin nicht blöd. Ich weiß schon, was ich tue und was ich besser lasse. Ich bin auch schon fast achtzehn.«

»Wo findet eure Party eigentlich statt?«

Seufzend schüttelte Melanie den Kopf. »Darf ich nicht sagen.

Das weißt du doch.«

»Ich verrate es schon nicht meinen Eltern. Aber wenn irgendetwas passiert, dann kann ich …«

»Hey, was soll passieren? Wir zwei waren doch auch schon öfter auf Partys und Rockkonzerten. Erinnere dich an das erste Konzert der Tigercrawls, zu dem Ronnie uns eingeladen hat, als ich ihn kennengelernt habe.«

»Ja, aber das war doch was anderes. Das war in anderen Zeiten – vor diesem Virus.«

Melanie verdrehte die Augen. »Sei doch nicht so ein Angsthäschen. Wir sind jung, gesund und treiben Sport. Wir haben genug Abwehrstoffe. Oder willst du dich jetzt doch impfen lassen?«

Lilli schüttelte den Kopf und zupfte dabei nervös an den Augenbrauen. »Ich bin schon geimpft«, dachte sie, »aber das werde ich dir nicht sagen. Sonst flippst du ja aus.«

»Na also. Keine Angst, es wird nichts passieren. Ich bin schon groß. Ronnie ist ja auch dabei.«

»Eben«, dachte Lilli und zupfte unruhig an ihren Fingernägeln.

»Nun gut«, seufzte sie schließlich. »Besprechen wir noch mal kurz alles. Wir haben brav unsere Hausaufgaben gemacht, sitzen nach dem Abendessen in meinem Zimmer zusammen und hören Musik, quatschen über Jungs, Mode und Popstars, so wie es sich für junge Mädchen gehört.«

»Genau«, grinste Melanie. »Theoretisch interessiere ich mich zwar eher für Fotografie und du für Literatur, aber egal.

Weiter. Einundzwanzig Uhr dreißig kommt mich Ronnie abholen, um zweiundzwanzig Uhr fängt die Party an. Er stellt seinen Wagen in der vom Haus rechtsabgehenden Querstraße Birkenallee ab. Dann wird er mir eine Nachricht aufs Handy schicken. Bis sechs Uhr morgens liefert er mich hier wieder ab.«

»Genau und du wirst dir ab sieben Uhr, wenn meine Eltern uns wecken, den Bauch halten, stöhnen, würgen und so aussehen, als hättest du dir den Magen verdorben.

Vollkommen unglücklich wirst du nach Hause schlurfen und dich von deinem Vater krank melden lassen. Ich nehme dann als gute Freundin deine Arbeit von gestern mit zur Schule, und alles ist wieder gut.«

»Braves Mädchen, genau so geht es. Ich werde mich schon mal auf die Party, auf das Konzert etwas einstimmen. Lies du ruhig dein Buch weiter.«

»Nee.« Lilli schüttelte den Kopf. »Ich werde an meiner Kurzgeschichte weiterschreiben. Du weißt doch, der Krimi, ›Dunkler Wald‹! Das Einreichungsdatum für den Schreibwettbewerb endet nächste Woche, und ich muss den Text noch überarbeiten!« Lilli seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Melanie saß wie ein Yogi mit überkreuzten Beinen und geschlossenen Augen auf ihrer Seite des Bettes, die winzigen Kopfhörer in die Ohren gestopft. Das weiße Kabel, an dem sie hingen, steckte in ihrem Smartphone. Metal-Musik von Ronnies Band, »They will make you crazy, Baby!«. Ein dunkler, zerstörerischer Rhythmus.

Doch ein Lächeln lag auf Melanies Gesicht.

Mit geschlossenen Augen ließ sie sich von dem dröhnenden, dunklen Bass hineinziehen in eine dunkle, angsteinflößende Welt. Das war zwar verrückt, aber andererseits auch wieder nicht. Rotes, blaues, gelbes, grünes Licht floss rhythmisch in kurzen Abständen durch Ronnies Schlafzimmer, ließ ihre Augen hin und her zucken, die Einrichtung nahm immer wieder andere Konturen an. Ronnies kräftiger, muskulöser Körper schien sich zu verschieben, rot, grün, blau, weiß. Ihr Gehirn, ihre Sinne konnten sich die Formen kaum merken.

Lachend, mit einem seltsam abgehobenen Gefühl, als ob sie irgendeine Droge genommen hätte, hob sie ihre Kamera, um die Formen wenigstens auf diese Weise einzufangen … Klick!

Es waren diese Töne, die sie so high machten, in ihren Ohren dröhnten. Eine Kakofonie aus Rap, Rock und Death Metal.

Mann, sie war so froh, dass sie Ronnie getroffen hatte. Sie kannte ihn noch nicht lange. Erst drei Monate, seit Anfang Juli.

Er war neu auf der Schule. Er kam mit seinen Eltern aus Trettenheim. Man sagte, seine Eltern hätten ein großes Grundstück mit Haus in der Siedlung Am Berg gekauft.

»Mensch, Melanie«, hatte ihre Freundin Lilli gesagt, als sie wieder auf der Bank unter der alten Eiche saßen. »Das ist doch in deiner Straße direkt gegenüber. Dieses riesige Grundstück mit dem Tennisplatz und dem Fischteich. Er soll verdammt gut aussehen, habe ich von Anna gehört!« Melanie verzog den Mund und winkte ab. »Ach Anna, dieses Blondchen, die läuft doch jedem männlichen Wesen hinterher, das Geld, Muskeln und einen …«

»Was hat?«, erklang eine dunkle, amüsierte Jungenstimme.

Erschrocken schauten die beiden Mädchen auf.

Sie waren so in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie ihn gar nicht kommen sahen. Groß und kräftig stand er vor ihnen mit langen schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, dunklen, glühenden Augen, einem schmalen, kantigen Gesicht, seine Gestalt groß gewachsen und sehnig! Er grinste die beiden Mädchen an, von einem Ohr zum anderen. Melanie hatte das Gefühl, dass er nur sie anlächelte, und für einen peinlichen Augenblick lang konnte sie nichts sagen. Sie öffnete den Mund, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Dann stotterte sie: »Na, ich meine, Anna, Anna steht auf Jungs mit … Geld und schnellen Wagen!« »Dann bin ich ja nicht ihr Typ«, sagte er trocken. »Ich steh auch eher auf Dunkelblond.« Sein Blick saugte sich an Melanie fest. »Ich stehe aber außerdem auch auf Mädchen mit Musikgeschmack.« Er wies mit der linken Hand auf ihr T-Shirt, das ein Foto von einer Trettenheimer Hardrockgruppe zierte.

Crawl of Tigers!

»Bist du, bist du auch Rockfan?«, fragte sie schließlich, als sie endlich ihre normale Stimme wiedergefunden hatte. Lisa, die mit verdrehten Augen neben ihr saß, war vergessen.

»Na klar«, sagte er lächelnd. »Was sonst. Aber ich bin nicht nur Fan. Ich spiele auch Rock. Richtigen Rock. Death Metal.

Crawl of Tigers eben. Ich bin der Band-Leader!«

Sie setzte ihren hochmütigsten Blick auf, fixierte ihn mit ihren kühlen blauen Augen. »Death Metal? Das ist doch nur Schrei und Kreisch und Haudrauf! Da wird man doch depressiv von und …«

»Und begegnet nachts in dunklen Kellern dem Teufel – huh!« Spöttisch lächelnd entblößte er zwei Reihen schneeweißer Zähne. »Ein Tigergebiss! Interview mit einem Vampir – huh!

Der sieht wirklich verdammt gut aus«, dachte sie.

»Wie ist das, habt ihr zwei Mädchen keine Lust, heute Nachmittag in den Stadtpark von Trettenheim zu kommen? Ich spiel dort mit meiner Gruppe. Keine Angst, alles ganz legal, mit Abstand, Maske und so weiter.«

Melanie nickte automatisch. »Na klar, wir kommen! Wann gehts los?«

So hatte alles angefangen.

Ronnie war schon achtzehn und stand kurz vor dem Abitur. Er würde es mit einer Doppel-Eins bestehen. Er hatte gewaltig was auf dem Kasten. Die Mädchen aus ihrer Klasse waren voll neidisch! Die eine Hälfte laberte einfach nur dummes Zeug.

Von wegen »Da hat sich Ronnie, der ach so tolle Mädchenschwarm, diesmal aber gehörig vertan! So eine dumme, unreife Zicke, und hässlich ist sie auch noch!« Konnte doch jeder dran fühlen, dass die neidisch waren. Dann kamen diejenigen, die angeblich als ihre Freundinnen sprachen und glaubten, mit ihren altklugen Bemerkungen zwischen ihr und Ronnie Misstrauen zu säen.

»Mensch, Melanie, merkst du denn nicht, was der eigentlich für ein Geschwafel ausstößt? Das ist doch einfach nur Mist!

Das hast du doch nicht nötig!

Die erzählten Mist und hatten einiges nötig! Sogar Lilli, ihre beste Freundin, fiel in diesen Kanon ein, fast hätten sie sich dabei vollkommen zerstritten.

Lilli hielt Ronnie für arrogant, brutal und besitzergreifend! Ha – der Neid schaute ihr aus den Augen. Lisa hatte noch nie einen festen Freund gehabt. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, das Thema nicht weiter auszubauen. Denn mit wem sollte sie sonst über ihre Probleme reden? Mit ihrem Vater?

Der interessierte sich eigentlich nur für seine Bücher und Forschungsprojekte.