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Ovid

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Beschreibung

Apoll und Daphne, Daedalus und Ikarus, der Raub der Proserpina: Das sind nur drei Beispiele aus den vielen antiken Mythen, die Ovid in seinen "Metamorphosen" – den Verwandlungsgeschichten – erzählt. Von einer Sage geschickt in eine andere überleitend, erschuf Ovid mit gewaltigen sprachlichen Bildern und fantastischen Geschichten ein Epos in beinahe 12.000 Versen, das von William Shakespeare bis hin zu Salman Rushdie zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beeinflusste. Ovids Verwandlungssagen zählen zu den wirkmächtigsten Stücken römischer Literatur überhaupt, bis heute werden sie in Kunst und Literatur breit rezipiert. Die Übertragung des vielfach ausgezeichneten Heidelberger Emeritus Michael von Albrecht gilt als die beste Prosaübersetzung dieses bedeutenden antiken Werks. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 861

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Ovid

Metamorphosen

Aus dem Lateinischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Michael von Albrecht

Reclam

Meiner Frau und meinen Kindern

 

1994, 2018, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Perseus und Andromeda. © The Picture Art Collection / Alamy Stock Foto

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-960800-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020637-9

www.reclam.de

Inhalt

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Siebtes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Zehntes Buch

Elftes Buch

Zwölftes Buch

Dreizehntes Buch

Vierzehntes Buch

Fünfzehntes Buch

Anhang

Inhaltsübersicht

Anmerkungen

Verzeichnis der Eigennamen

Nachwort

Zeittafel

Erstes Buch

Vorwort des Dichters

Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter – habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt mein Beginnen und führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Ursprung der Welt bis zu meiner Zeit!

Entstehung der Welt und des Menschen

[5] Ehe es Meer, Land und den allumschließenden Himmel gab, hatte die ganze Natur ringsum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche Samen von Dingen, ohne rechten Zusammenhang. [10] Noch kein Titan spendete der Welt Licht, keine Phoebe ließ ihr Mondhorn immer wieder aufs neue nachwachsen. Keine Tellus schwebte in der Luft, die sich um sie ergoss, und hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht; keine Amphitrite hatte die Arme weit um den Rand der Länder gespannt. [15] Zwar gab es da Erde, Wasser und Luft; doch konnte man auf der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht. Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege stand eines dem anderen, weil in ein und demselben Körper Kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit Trockenem, [20] Weiches mit Hartem, Schwereloses mit Schwerem.

Diesen Streit schlichtete ein Gott und die bessere Natur. Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von der Erde die Gewässer, und er sonderte von der dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen Haufen genommen hatte, [25] trennte er sie räumlich und verband sie so in einträchtigem Frieden. Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht ihr die Luft, was die Leichtigkeit und den Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie zog die wuchtigen Elemente an sich [30] und wurde durch die eigene Schwere nach unten gedrückt. Ringsum strömte das Feuchte, nahm den Rand in Besitz und umschloss das feste Erdenrund.

Kaum hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte – das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen, damit sie auf allen Seiten gleich sei, [35] und gab ihr die Gestalt einer großen Kugel. Dann gebot er den Meeren, sich weithin zu ergießen, von stürmischen Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten der Erde rings zu umfließen. Dazu schuf er noch Quellen, unermessliche Seen und Teiche. Mit kreuz und quer sich hinschlängelnden Ufern umsäumte er die abschüssigen Ströme, [40] die, an verschiedenen Orten, teils von der Erde selbst verschlungen werden, teils ins Meer gelangen und, von der freieren Wasserfläche aufgenommen, statt an Flussufer an Meeresküsten branden. Er gebot auch den Feldern, sich auszubreiten, den Tälern, sich zu senken, den Wäldern, sich mit Laub zu bekleiden, und den steinigen Bergen, sich zu erheben. [45] Und wie den Himmel zwei Zonen zur Rechten und ebenso viele zur Linken durchschneiden, wobei die fünfte heißer ist als die anderen, so teilte des Gottes Vorsorge die vom Himmel umschlossene Erdmasse durch dieselbe Zahl, und gleich viele Zonen hat die schwere Erde. Die mittlere von ihnen ist wegen der Hitze unbewohnbar; [50] zwei Zonen bedeckt tiefer Schnee; ebenso viele hat der Gott dazwischengesetzt und ihnen ein gemäßigtes Klima gegeben, indem er Feuer mit Kälte mischte. Darüber schwebt Luft, die so viel schwerer ist als Feuer, wie Wasser leichter ist als Erde. Dort gebot er den Nebeln, dort den Wolken zu wohnen, [55] den Donnerschlägen, die Menschenherzen erschrecken sollten, und den Winden, die Blitze und Wetterleuchten bewirken. Doch auch ihnen überließ der Schöpfer der Welt die Luft nicht uneingeschränkt; selbst heute kann man ihnen nur mit Mühe verwehren, dass sie die Welt in Stücke reißen, [60] wo doch jeder von ihnen in einer ganz anderen Richtung weht; so groß ist die Uneinigkeit der Brüder. Der Ostwind entwich zur Morgenröte, zum Reich der Nabataeer, nach Persien und zu den Bergen, auf welche die ersten Strahlen des Tages fallen; der Abend und die Küsten, welche die untergehende Sonne wärmt, sind dem Zephyr am nächsten; in Scythien und dem Norden fiel der Nordwind ein, [65] der uns schaudern lässt; das entgegengesetzte Ende der Welt befeuchtet der Südwind beständig durch Regenwolken. Darüber stülpte der Schöpfer den klaren, schwerelosen Äther, dem gar kein irdischer Bodensatz anhaftet.

Kaum hatte er so alles mit klar umrissenen Grenzen aufgegliedert, [70] als plötzlich die Sterne, die lange von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen waren, am ganzen Himmel aufzuglühen begannen. Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei, die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, [75] die Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche Luft.

Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und berufen, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt, [80] sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, noch Samen des verwandten Himmels zurückbehielt; diese mischte der Spross des Iapetus mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt zur Erde blicken, [85] gab er dem Menschen ein emporblickendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel zu sehen und das Gesicht aufrecht zu den Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an.

Die vier Weltalter

Als Erstes entstand das goldene Geschlecht, das keinen Rächer kannte [90] und freiwillig, ohne Gesetz, Treue und Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren fern, keine drohenden Worte las man auf öffentlich angebrachten Erztafeln, keine bittflehende Schar fürchtete den Spruch ihres Richters, sondern sie waren auch ohne Rächer geschützt. Noch nicht war die Fichte gefällt und noch nicht, um ferne Länder zu besuchen, [95] von ihren Bergen in die klaren Fluten hinabgestiegen; und die Sterblichen kannten keine Küste außer ihrer eigenen. Noch umzogen keine steil abfallenden Gräben die Städte, es gab keine Tuba aus geradem, keine Hörner aus gekrümmtem Erz, keine Helme, kein Schwert: Ohne Soldaten zu brauchen, [100] lebten die Völker sorglos in sanfter Ruhe dahin. Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst. Und zufrieden mit den Speisen, die gewachsen waren, ohne dass jemand Zwang ausübte, sammelten sie Früchte vom Hagapfelbaum, Erdbeeren vom Berge, [105] Kornelkirschen, Brombeeren, die an stachligen Sträuchern hingen, und Eicheln, die von Iuppiters weit ausladendem Baum gefallen waren.

Ewiger Frühling herrschte, und sanfte Westwinde streichelten mit lauen Lüften Blumen, die ungesät entsprossen waren. Bald trug ungepflügte Erde auch Getreide, [110] und ohne nach einer Brache neu bearbeitet zu sein, war der Acker weiß, voll schwerer Ähren. Ja, Ströme von Milch, ja, Ströme von Nektar flossen, und gelb tropfte Honig von der grünenden Steineiche.

Als Saturn in den dunklen Tartarus verstoßen war und die Welt Iuppiter unterstand, folgte ein silbernes Geschlecht, [115] geringer als Gold, wertvoller als rötliches Erz. Iuppiter verkürzte die Dauer des ehemaligen Frühlings, und durch Winter, sommerliche Gluten, ungleichmäßige Herbstzeiten und kurzen Lenz gliederte er das Jahr in vier Zeiträume. Damals erglühte zum ersten Mal die Luft von dörrender Hitze und, [120] im Winde erstarrt, hingen Eiszapfen. Damals suchte man zum ersten Mal Unterschlupf in Häusern; als Haus dienten Höhlen, dichtes Gebüsch und mit Rinde verflochtene Reiser. Damals versenkte man zum ersten Mal Samen der Ceres in langen Furchen, und die Pflugstiere stöhnten unter der Last des Joches.

[125] Als Drittes folgte darauf das eherne Geschlecht; es war grausamer von Natur und schneller bereit, zu den schrecklichen Waffen zu greifen, doch nicht frevelhaft. Das letzte ist von hartem Eisen. Alsbald brach in das Zeitalter des schlechteren Metalls alle Sünde ein, es flohen Scham, Wahrheitsliebe und Treue; [130] an ihre Stelle rückten Betrug, Arglist, Heimtücke, Gewalt und die frevelhafte Habgier. Segel setzte der Seemann den Winden aus – er war mit ihnen bisher nicht vertraut –, die Bäume, die lange auf hohen Bergen gestanden hatten, tanzten übermütig als Schiffe auf Fluten, die sie noch nicht kannten, [135] und den Erdboden, der zuvor Gemeingut gewesen war wie das Sonnenlicht und die Lüfte, zeichnete der umsichtige Feldmesser mit einer langen Grenzlinie. Und man forderte vom ertragreichen Boden nicht nur Saaten und die Nahrung, die er uns schuldig war, sondern man wühlte sich in die Eingeweide der Erde. Und die Schätze, die sie nah bei den Schatten der Styx verborgen hatte, [140] gräbt man aus – Anreiz zu allem Bösen. Schon war das gefährliche Eisen erschienen und das Gold, das noch gefährlicher ist als Eisen. Da erscheint der Krieg, der beides zum Kampf verwendet und mit blutiger Hand klirrende Waffen schüttelt. Man lebt vom Raub; kein Gastfreund ist vor dem Gastfreund sicher, [145] kein Schwiegervater vor dem Schwiegersohn, auch zwischen Brüdern ist Einvernehmen selten. Der Mann trachtet der Frau nach dem Leben und sie dem Gemahl; schreckliche Stiefmütter mischen bleichmachendes Gift; der Sohn forscht vor der Zeit nach der Lebensfrist des Vaters. Besiegt liegt die fromme Scheu darnieder; und die Jungfrau Astraea hat [150] als letzte der Himmlischen die blutgetränkte Erde verlassen.

Die Giganten

Und damit der hohe Äther nicht sorgloser sei als die Erde, sollen die Giganten, voll Gier nach der Herrschaft im Himmel, Berge zusammengetragen und bis an die Sterne empor getürmt haben. Da zerschmetterte der allmächtige Vater mit einem Blitzstrahl den Olymp [155] und schlug den Pelion von dem darunterliegenden Ossa. Als die ungeschlachten Leiber von ihrem eigenen Bauwerk erdrückt dalagen, soll die Erde von dem reichlich strömenden Blut ihrer Söhne feucht geworden sein und das warme Blut beseelt und in Menschengestalt verwandelt haben, damit an ihre Nachkommenschaft eine Erinnerung bleibe. [160] Aber auch diese Brut verachtete die Himmlischen, lechzte nach grausamem Mord und war gewalttätig: Sie war ja auch aus Blut geboren.

Die Götterversammlung (I)

Kaum hat der Vater Saturnius dies von der höchsten Himmelshöhe gesehen, seufzt er auf; und in Erinnerung an das grässliche Mahl an Lycaons Tisch [165] – die Tat war noch frisch und nicht allgemein bekannt – wird sein Herz von gewaltigem Zorn ergriffen, wie er Iuppiters würdig ist, und er beruft eine Versammlung ein; die Gerufenen kommen ohne Zaudern.

Hoch oben gibt es eine Straße; sie ist bei heiterem Himmel zu sehen. Milchstraße heißt sie, schon am weißen Lichtschimmer ist sie leicht zu erkennen; [170] auf ihr führt der Weg die Himmlischen zum Hause des großen Donnerers und zum Königspalast. Rechts und links von ihr stehen die Hallen der vornehmen Götter; die Türflügel sind für die zahlreichen Besucher geöffnet. Das einfache Volk wohnt an einem ganz anderen Ort; hier haben die mächtigen und angesehenen Himmelsbewohner ihre Penaten aufgestellt. [175] Dies ist die Stätte, die ich, wenn man mir den kühnen Ausdruck erlaubt, ohne Scheu das Palatium des Himmels nennen möchte.

Sobald also die Himmlischen im Marmorgemach saßen, schüttelte Iuppiter, auf seinem erhöhten Thron sitzend und auf das elfenbeinerne Zepter gestützt, drei-, viermal sein furchterregendes Haupthaar, [180] mit dem er Erde, Meer und Sterne bewegte; dann tat er seinen Mund auf und sprach voll Entrüstung folgendermaßen:

»Um die Weltordnung habe ich mir nicht einmal damals größere Sorgen gemacht, als jeder der Schlangenfüßler sich anschickte, den Himmel mit hundert Armen zu ergreifen und gefangenzunehmen. [185] Denn obwohl der Feind grimmig war, ging doch jener Krieg nur von einer Gruppe aus und hatte einen einzigen Ursprung; jetzt aber muss ich, so weit Nereus rings um den ganzen Erdkreis rauscht, das sterbliche Geschlecht vernichten. Ich schwör’ es bei dem Strom in der Tiefe, der unter der Erde im stygischen Hain dahingleitet! [190] Zwar muss man vorher alles versuchen; aber ein unheilbar kranker Körperteil muss mit dem Stahl abgeschnitten werden, damit das Gesunde nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich habe Halbgötter, ich habe ländliche Gottheiten: Nymphen, Faune, Satyrn und Silvane, die auf den Bergen hausen. Da wir ihnen ja noch nicht die Ehre zuerkennen, im Himmel zu weilen, [195] müssen wir sie doch ganz gewiss die Erde bewohnen lassen, die wir ihnen gegeben haben! Glaubt ihr etwa, ihr Himmlischen, sie seien künftig hinreichend sicher, da doch selbst mir, der ich den Blitz, der ich sogar euch zu eigen habe und regiere, der wegen seiner Grausamkeit bekannte Lycaon einen Hinterhalt gelegt hat?«

Da murrten alle und forderten mit glühendem Eifer die Bestrafung dessen, der solches gewagt hatte. [200] So ergriff, als die Rotte der Frevler grausam im Caesarenblut den römischen Namen auslöschen wollte, das Menschengeschlecht tiefes Entsetzen angesichts des plötzlichen Sturzes, und der ganze Erdkreis schauderte. Und dir, Augustus, ist die Anhänglichkeit der Deinen nicht weniger willkommen, [205] als sie es damals Iuppiter war. Nachdem er durch Wort und Gebärde dem Murren Einhalt geboten hatte, schwiegen alle. [Als das Geschrei sich legte, unterdrückt von der Würde des Herrschers, brach Iuppiter zum zweiten Mal das Schweigen und sprach Folgendes:]

Lycaon

»Er wenigstens hat die verdiente Strafe erlitten – macht euch darüber keine Sorgen! [210] Was aber seine Schuld ist und was die Sühne, will ich euch mitteilen. Zu Ohren gekommen war mir der üble Ruf der Zeit. Im Wunsch, ihn widerlegt zu sehen, schwebe ich vom hohen Olymp hinab und ziehe in Menschengestalt durch die Lande, obwohl ich ein Gott bin. Es würde zu weit führen aufzuzählen, wie viel Sünde überall zu finden war. [215] Das Gerücht war sogar weniger schlimm als die Wirklichkeit. Ich hatte die Maenalushöhen überschritten; sie sind schaurig, weil dort wilde Tiere hausen; hinter mir lagen auch Cyllene und die Pinienwälder des eisigen Lycaeus. Hierauf betrete ich den Wohnsitz und das ungastliche Haus des arcadischen Tyrannen, als die späte Abenddämmerung die Nacht nach sich zog. [220] Ich gab Zeichen, dass ein Gott gekommen sei, und das Volk hatte begonnen zu beten. Zuerst verspottet Lycaon die frommen Gelübde, dann sagt er: ›Ich will herausfinden, ob dies ein Gott oder ein Sterblicher ist, und zwar durch eine eindeutige Prüfung; an der Wahrheit wird man nicht mehr zweifeln können.‹ Bei Nacht versucht er, während der Schlaf auf mir lastet, mich meuchlings zu ermorden. [225] Das ist seine Art, die Wahrheit herauszufinden. Und auch das genügt ihm noch nicht: Einer Geisel vom Molosserstamm öffnet er mit einem Dolch die Kehle; teils kocht er die erst halbtoten Glieder in siedendem Wasser, teils hat er sie auf dem Feuer geröstet.

[230] Sobald er dies aufgetischt hatte, ließ ich mit rächender Flamme das Dach auf die Penaten stürzen, die ihres Herrn würdig waren; erschrocken flieht er selbst in die ländliche Stille, heult dort auf und versucht vergeblich zu sprechen. Seinem Wesen entsprechend atmet sein Rachen rasende Wut; seine gewohnte Mordlust [235] lässt er am Kleinvieh aus und freut sich auch jetzt noch am Blutvergießen. In Zotteln verwandeln sich die Kleider, in Schenkel die Arme. Er wird zum Wolf und behält dabei Spuren seiner früheren Gestalt: Die Grauhaarigkeit ist geblieben, geblieben die gewalttätige Miene, geblieben die leuchtenden Augen, geblieben das Bild der Wildheit.

Die Götterversammlung (II)

[240] Untergegangen ist ein Haus, aber nicht nur ein Haus verdiente unterzugehen; so weit die Erde reicht, herrscht die wilde Erinys. Man möchte meinen, sie hätten sich verschworen, Verbrechen zu begehen. Schnell mögen alle die Strafe empfangen, die sie verdient haben. So ist’s beschlossen.«

Ein Teil billigt Iuppiters Worte durch Zuruf und spornt den Wutschnaubenden an, [245] andere bekunden ihren Pflichteifer durch Zustimmung. Dennoch schmerzt alle der Verlust des Menschengeschlechtes, und sie fragen, welche Gestalt die Erde ohne Menschen haben werde, wer dann Weihrauch zu den Altären bringe und ob Iuppiter die Erde den wilden Tieren zur Verwüstung überlassen wolle. [250] Während sie solches fragen, verbietet ihnen der König der Himmlischen, sich zu beunruhigen – denn er werde für alles Übrige sorgen. Und er verspricht ihnen ein Menschengeschlecht, dem früheren Volk nicht ähnlich und von wunderbarem Ursprung.

Die Sintflut

Schon wollte er über alle Lande Blitze ausstreuen, doch befürchtete er, so viele Feuer könnten den heiligen Äther [255] in Flammen setzen und die lange Himmelsachse entzünden. Auch erinnert er sich eines Schicksalsspruchs, es werde die Zeit kommen, da Meer, Erde und Himmelsburg in Brand geraten und das Weltgebäude in schwerer Bedrängnis ist. Er legt die Waffen beiseite, die von Cyclopenhand gemacht sind, [260] und entscheidet sich für die entgegengesetzte Strafe: das sterbliche Geschlecht im Wasser zu ertränken und vom ganzen Himmel Regengüsse niedergehen zu lassen.

Alsbald verschließt er in den aeolischen Höhlen den Nordsturm und alle Winde, die heraufgezogene Wolken vertreiben, und lässt den Südwind los: Der Südwind fliegt auf feuchten Schwingen heraus, [265] das furchterregende Gesicht mit pechschwarzer Finsternis bedeckt. Der Bart ist schwer von Regen, vom grauen Haar fließt Wasser, an der Stirn ruhen Nebelschwaden, von Tau triefen die Federn und das Gewand. Kaum hat er mit der Hand die weit und breit am Himmel hangenden Wolken gepresst, platzen sie mit Getöse; dann gießt es vom Himmel in Strömen. [270] Die Botin der Iuno, Iris im bunten Farbenkleide, zieht Wasser empor und bringt den Wolken Nahrung. Zu Boden gedrückt werden die Saaten; beweint liegt die Frucht darnieder, um welche die Bauern gebetet haben, und die Arbeit eines langen Jahres ist verloren und vertan.

Und Iuppiters Zorn beschränkt sich nicht auf seinen Himmel; [275] ihn unterstützt sein wasserblauer Bruder mit helfenden Wellen. Er ruft die Flussgötter zusammen. Nachdem sie das Haus ihres Tyrannen betreten hatten, sprach er: »Es bedarf jetzt keiner langen Ermahnung. Lasst euren Kräften freien Lauf! So muss es sein. Öffnet eure Pforten, beseitigt die Dämme [280] und lasst euren Strömen ganz und gar die Zügel schießen!« Soweit sein Befehl; sie kehren heim, öffnen die Schleusen der Quellen und wälzen sich in entfesseltem Lauf zum Meer. Der Meister selbst hat die Erde mit seinem Dreizack erschüttert; sie erzitterte, und ihr Beben bahnte dem Wasser neue Wege. [285] Die Flüsse verlassen ihr Bett, stürzen durch das offene Feld und reißen zugleich mit den Saaten Büsche, Vieh und Menschen, Häuser und geweihte Räume samt den heiligen Götterbildern mit sich fort. Und wenn ein Gebäude erhalten blieb und noch standhielt, ohne von dem verheerenden Unglück in Trümmer gelegt zu sein, stehen doch die Fluten höher als sein First, [290] und tief unter dem Strudel sind die Türme versteckt. Schon gab es zwischen Wasser und Land keinen Unterschied; alles war ein einziges Meer; und das Meer hatte keine Küsten.

Der eine besetzt einen Hügel, der andere sitzt im gebogenen Nachen und rudert dort, wo er neulich gepflügt hat; [295] jener segelt über Saaten oder über Dächer eines versunkenen Landhauses hin; dieser fängt im Ulmenwipfel einen Fisch. Der Anker senkt sich, wenn es der Zufall will, in eine grüne Wiese, oder die gebogenen Kiele streifen darunterliegende Weingärten; und wo eben noch magere Ziegen Grashalme rupften, [300] legen sich jetzt hässliche Robben zur Ruhe. Die Nereiden bewundern unter dem Wasser Haine, Städte und Häuser, Delphine wohnen in Wäldern, stoßen an hohe Zweige und schlagen an Stämme, die nachschwingen. Es schwimmt der Wolf mitten unter Schafen, die Woge trägt gelbbraune Löwen, [305] die Woge trägt Tiger; seine Kraft, die dem Blitze gleicht, hilft dem Eber nicht; die schnellen Schenkel nützen dem Hirsch nicht, der hinweggespült wird; und nachdem der flüchtige Vogel lange nach Land gesucht hat, auf dem er sich niederlassen könnte, fällt er schließlich mit ermatteten Schwingen ins Meer. Die See hatte in ihrer unermesslichen Zügellosigkeit die Hügel bedeckt, [310] und ungewohnte Fluten schlugen an Berggipfel. Die meisten Menschen werden von der Woge dahingerafft, und die wenigen, welche die Woge verschont hat, zermürbt endloser Hunger; denn sie finden keine Nahrung.

Deucalion und Pyrrha

Phocis trennt die Aonier von den oetaeischen Gefilden, ein fruchtbares Land, solange es Land war, damals aber war es [315] ein Teil des Meeres und eine neu entstandene große Wasserfläche. Dort strebt ein Berg mit zwei Gipfeln steil zu den Sternen empor, er heißt der Parnass, und seine Spitzen überragen die Wolken. Sobald Deucalion hier – alles übrige hatte nämlich das weite Meer bedeckt – mit seiner Ehefrau auf einem kleinen Floß gestrandet ist, [320] beten sie zu den corycischen Nymphen, zu den Berggottheiten und zur schicksalverkündenden Themis, die damals das Orakel innehatte. Es gab zu jener Zeit keinen Mann, der besser gewesen wäre, keinen, der Recht und Billigkeit mehr geliebt hätte, und keine gottesfürchtigere Frau.

Als Iuppiter sah, dass der Erdkreis ein Sumpf von stehenden Gewässern war [325] und dass von so vielen Tausenden, die soeben noch lebten, nur ein Mann und von so vielen Tausenden nur eine Frau übrig war, beide schuldlos, beide Verehrer der Gottheit, zerstreute er die Wolken, vertrieb die Regengüsse durch den Nordwind und zeigte dem Himmel die Erde und der Erde den Himmel. [330] Auch die Wut der See dauert nicht an; der Meeresbeherrscher legt den Dreizack beiseite, glättet die Wogen und ruft den wasserblauen Triton, der über die Meerestiefe hinausragt – auf seinen Schultern wachsen Purpurschnecken –, und befiehlt ihm, in die tönende Muschel zu blasen und durch ein Zeichen die Fluten und Flüsse zurückzurufen. [335] Er nimmt das hohle Horn, das schneckenförmig von der untersten Windung in die Weite wächst; sobald dieses Horn mitten auf dem Meer Luft aufgenommen hat, füllt seine Stimme die Küsten, die gen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang liegen. So geschah es auch jetzt: Kaum hatte es den Mund des Gottes berührt, dessen nasser Bart von Wasser troff, [340] und, wie befohlen, zum Rückzug geblasen, hörten es alle Wasser, die des Festlandes und die des Meeres, und alle, die es hörten, wies es in die Schranken. Schon hat das Meer eine Küste, jedes Flussbett nimmt seinen Strom voll auf, die Fluten fallen, und man sieht die Hügel auftauchen. [345] Es hebt sich der Erdboden: Das Land wächst, indem das Wasser abnimmt. Und nach langer Zeit zeigen die Wälder ihre bloßgelegten Wipfel und tragen noch Reste von Schlamm auf dem Laub.

Neu geschenkt war die Erde. Kaum hat Deucalion gesehen, dass sie leer ist und dass in den trostlosen Landen tiefe Stille herrscht, [350] treten ihm Tränen in die Augen, und er spricht folgendermaßen zu Pyrrha: »Schwester, Gattin, einzig überlebende Frau, dich verband mit mir zuerst unsere gemeinsame Herkunft – denn unsere Väter sind Brüder –, dann das Ehebett und jetzt verbindet uns auch noch die Gefahr. Von allen Ländern, welche die aufgehende und die untergehende Sonne sieht, [355] sind wir beide die gesamte Bevölkerung; alles Übrige hat das Meer in Besitz genommen. Auch jetzt sind wir unseres Lebens noch nicht ganz sicher. Die Wolken machen mir immer noch Angst. Wie wäre dir jetzt zumute, wenn du ohne mich dem Tode entrissen worden wärest, du Ärmste? Wie könntest du, ganz allein, [360] die Furcht ertragen? Wer würde dich in deinem Schmerz trösten? Denn hätte das Meer auch dich verschlungen, würde ich dir folgen, Gattin, glaub mir! Dann hätte das Meer auch mich verschlungen. O könnte ich doch durch meines Vaters Künste die Völker neu erschaffen und dem geformten Lehm Leben einhauchen! [365] Nun ist das Geschlecht der Sterblichen nur noch in uns beiden vorhanden – so hat es den Göttern gefallen –, und wir bleiben als einzige Vertreter der Menschheit übrig.«

Er hatte geendet, und sie weinten. Da beschlossen sie, zur himmlischen Gottheit zu beten und bei dem heiligen Orakel Hilfe zu suchen. Unverzüglich gehen sie zusammen zu den Wellen des Cephisus, [370] die zwar noch nicht klar waren, sich aber wieder das gewohnte Flussbett bahnten. Dort schöpfen sie Wasser, besprengen Gewänder und Haupt und lenken ihre Schritte zum Tempel der heiligen Göttin; dessen Giebel war grau von hässlichem Moos, und der Altar stand ohne Feuer. [375] An den Tempelstufen angelangt, werfen sich beide vornüber zu Boden. In heiliger Scheu küssten sie den eiskalten Stein und sprachen: »Wenn Gottheiten sich durch berechtigte Bitten erweichen lassen, wenn sich der Zorn der Götter besänftigen lässt, dann sag uns, Themis, auf welche Weise der Verlust wieder ausgeglichen werden kann, den unser Geschlecht erlitten hat, [380] und komm, du Gnadenreiche, der untergegangenen Welt zu Hilfe!« Die Göttin ließ sich rühren und gab ein Orakel: »Geht hinweg vom Tempel, verhüllt euer Haupt, entgürtet eure Gewänder und werft hinter euren Rücken die Gebeine der großen Mutter!«

Lange standen sie starr. Als erste bricht Pyrrha das Schweigen, [385] weigert sich, dem Befehl der Göttin zu gehorchen, und bittet mit angstvoller Stimme um Vergebung; fürchtet sie doch durch das Werfen der Gebeine den Schatten der Mutter zu kränken. Inzwischen wiederholen sie still für sich die dunklen, geheimnisvollen Worte des Orakels und wenden sie im Gespräch hin und her. [390] Da beruhigt der Sohn des Prometheus die Tochter des Epimetheus mit sanften Worten: »Entweder täuscht mich mein Scharfsinn, oder der Orakelspruch ist fromm und rät zu keinem Frevel: Die große Mutter ist die Erde. Ich vermute, dass die Steine im Leib der Erde als Gebeine bezeichnet werden; diese sollen wir hinter unseren Rücken werfen.«

[395] Obwohl die Titanentochter von der Deutung, die ihr Mann dem Spruche gab, beeindruckt war, ist dennoch die Hoffnung ungewiss; so sehr misstrauen die beiden dem himmlischen Gebot. Aber was kann ein Versuch schaden? Sie entfernen sich, verhüllen ihr Haupt, entgürten ihre Kleider und werfen, wie befohlen, die Steine hinter ihre Fußspuren. [400] Wer möchte dies glauben, wenn nicht das Alter der Sage einen Zeugen ersetzen würde? Die Steine begannen ihre Härte und ihre Starre abzulegen, allmählich weich zu werden und, einmal weich geworden, Gestalt anzunehmen. Sobald sie dann gewachsen sind und ihnen eine sanftere Natur zuteil geworden ist, [405] lässt sich die Andeutung einer Menschengestalt erkennen – freilich noch nicht offenkundig, sondern wie ein eben in Arbeit genommener Marmorblock, nicht ganz ausgeführt, unfertigen Bildwerken sehr ähnlich. Was an jedem Stein feucht und erdig war, kam den Muskeln zugute; was fest ist und sich nicht biegen lässt, verwandelt sich in Knochen; [410] das Geäder aber blieb Geäder. Und in kurzer Zeit bekamen durch die Macht der Götter die von Männerhand geworfenen Steine das Aussehen von Männern; und aus den Steinen, welche die Frau warf, erstand das weibliche Geschlecht aufs Neue. Daher sind wir ein harter, ausdauernder Menschenschlag [415] und legen Zeugnis davon ab, woraus wir entstanden sind.

Die Urzeugung

Die übrigen Lebewesen in ihrer Vielgestaltigkeit brachte die Erde von selbst hervor, nachdem alte Feuchtigkeit vom Feuer der Sonne durchwärmt, Schlamm und nasse Sümpfe von der Hitze schwanger geworden und die fruchtbaren Samen der Wesen, [420] im lebenskräftigen Boden genährt, wie im Mutterleib gewachsen waren und mit der Zeit ein bestimmtes Aussehen bekommen hatten. So ist es, wenn der siebenarmige Nil die überschwemmten Äcker verlassen und seine Strömung ins alte Flussbett zurückgelenkt hat und der frische Schlamm vom ätherischen Gestirn erhitzt ist: [425] Dann finden die Bauern beim Umhacken der Schollen sehr viele Lebewesen, darunter manche, noch kaum angedeutet, im Augenblick nach der Entstehung, manche unvollendet und ohne die artgemäßen Glieder; und in ein und demselben Körper lebt oft die eine Hälfte, während die andere noch ungeformte Erde ist. [430] Denn sobald sich Feuchtigkeit und Wärme im rechten Verhältnis gemischt haben, vollzieht sich Empfängnis, und ausgehend von diesen beiden entsteht alles. Und obwohl Feuer dem Wasser feind ist, bringt feuchte Hitze alle Dinge hervor, und zwieträchtige Eintracht ist für die Zeugung angemessen.

Apollo tötet Python

Sobald also die Erde unmittelbar nach der Sintflut schlammig [435] und wieder vom ätherischen Sonnenschein, der Glut aus der Höhe, erhitzt war, brachte sie unzählige Arten hervor und bildete dabei teils frühere Gestalten nach, teils schuf sie neue Ungeheuer. Zwar hätte sie es lieber nicht getan, aber sie gebar auch dich damals, riesiger Python, und du – eine Schlange, wie man sie noch nicht gekannt hatte – [440] warst der Schrecken der neuentstandenen Völker. So viel Raum nahmst du am Berg ein! Der bogentragende Gott, der solche Waffen zuvor nur an Damhirschen und flüchtigen Rehen erprobt hatte, tötete diesen Drachen, der von tausend Pfeilen starrte – der Köcher war beinahe leer – und aus schwarzen Wunden sein Gift verströmte. [445] Und damit die Zeit den Ruhm nicht auslösche, setzte er die heiligen Spiele mit ihren vielbesuchten Wettkämpfen ein, die nach der besiegten Schlange die Pythischen heißen. Hier erhielt jeder junge Mann, der mit der Hand oder im Wettlauf oder im Wagenrennen gesiegt hatte, Eichenlaub als Ehrung. [450] Noch gab es keinen Lorbeer, und Phoebus schmückte seine schönen langhaarigen Schläfen mit Kränzen von jedem beliebigen Baum.

Apollo und Daphne

Die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die Tochter des Penëus; diese Leidenschaft gab ihm nicht der blinde Zufall ein, sondern der wilde Zorn des Liebesgottes. Der Gott von Delos, stolz auf seinen Sieg über die Schlange, [455] hatte jüngst gesehen, wie Amor die Sehne anzog und die Hörner des Bogens spannte. Da hatte er gesagt: »Was willst du, loser Knabe, mit männlichen Waffen? Diese Zier steht meinen Schultern an; kann ich doch dem wilden Tier und auch dem Feind unfehlbar Wunden schlagen. Eben erst habe ich den aufgeblasenen Python, der mit seinem giftigen Bauche so viele Morgen weit das Land bedeckte, [460] mit zahllosen Pfeilen niedergestreckt. Gib du dich damit zufrieden, mit deiner Fackel irgendwelche Liebeshändel anzustiften, und maße dir nicht meinen Ruhm an!« Ihm antwortete der Sohn der Venus: »Mag dein Bogen alles treffen, o Phoebus – meiner trifft dich! [465] Dein Ruhm ist um so viel geringer als der meine, wie alle Lebewesen einem Gotte nachstehen.« Sprach’s, schlug mit den Flügeln, flatterte durch die Luft, und flink stellte er sich auf den schattigen Gipfel des Parnass. Aus dem Köcher, der die Pfeile barg, nahm er zwei Geschosse von entgegengesetzter Wirkung: Das eine vertreibt, das andere erregt Liebe. [470] Der Pfeil, der Liebe erregt, ist vergoldet und hat eine blinkende, scharfe Spitze; der sie vertreibt, ist stumpf und trägt Blei unter dem Schaft. Mit dem einen traf der Gott die Nymphe, die Penëustochter, mit dem andern schoss er Apollo durch die Knochen bis ins Mark. Sofort ist der eine verliebt; die andere flieht schon vor dem Wort »Geliebte«. [475] Sie hat nur Freude an Schlupfwinkeln im Wald und an Fellen gefangener Tiere; so eifert sie der unverheirateten Phoebe nach. Eine Binde umschloss das ungeordnet herabwallende Haar. Viele warben um sie. Sie aber verschmäht alle Freier, hat keinen Mann und will von keinem wissen, streift durch unwegsames Gehölz [480] und fragt nicht nach Hymen, Amor und Ehe. Oft sagte der Vater: »Tochter, du schuldest mir einen Schwiegersohn.« Oft sprach er: »Mein Kind, du schuldest mir Enkel!« Sie aber hasst die Hochzeitsfackeln wie ein Verbrechen; ihr schönes Gesicht war von schamhafter Röte übergossen, [485] und indem sie mit schmeichelnden Armen am Halse ihres Vaters hing, sprach sie: »Lass mich, liebster Vater, ewig Jungfrau bleiben; dies hat auch Vater Iuppiter der Diana gewährt.« Zwar erfüllt er die Bitte; aber dir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch. [490] Phoebus liebt! Kaum hat er sie gesehen, begehrt er Daphne zu heiraten; und was er begehrt, erhofft er: Da täuscht ihn sein eigenes Orakel! Wie leichte Stoppeln in Brand gesteckt werden, nachdem die Ähren abgeerntet sind, wie Zäune sich an Fackeln entzünden, die zufällig ein Wanderer zu nahe an sie heranbrachte oder im Morgengrauen zurückließ, [495] so ist der Gott in Liebe entbrannt, so glüht sein ganzes Herz und hegt hoffnungsvoll eine fruchtlose Liebe. Er sieht, wie das schmucklose Haar bis zum Hals herabhängt. »Ei«, sagt er, »wenn es erst noch frisiert würde!« Er sieht die sternengleichen Augen Funken sprühen; er schaut das Mündchen an [500] und will sich mit dem bloßen Anschauen nicht begnügen; er lobt die Finger, die Hände, die Arme und die Oberarme, die bis über die Mitte entblößt sind; und was verborgen ist, stellt er sich noch schöner vor. Sie aber flieht schneller als der leichte Lufthauch, ohne auf seine Worte hin stehen zu bleiben, mit denen er sie zurückruft:

»Nymphe, Penëustochter, bitte, bleib stehn! Ich folge dir nicht als Feind. [505] Nymphe, bleib stehn! So flieht das Lamm vor dem Wolf, die Hirschkuh vor dem Löwen, so fliehen vor dem Adler die Tauben mit ängstlich schlagenden Flügeln – ein jedes vor seinem Feind; Liebe ist der Grund, warum ich dich verfolge. Weh mir! Stürz nicht vornüber und lass die Dornen nicht deine Schenkel ritzen, die keine Verwundung verdienen. Ich will dir keinen Schmerz zufügen. [510] Die Gegend, durch die du dahineilst, ist rau. Lauf, bitte, langsamer und zügle deine Flucht! Dann werde ich dich langsamer verfolgen. Frag wenigstens, wessen Wohlgefallen du erregst! Kein Bergbewohner, kein Hirte bin ich, kein struppiger Wächter von Zug- und Herdentieren. Du weißt nicht, Unbesonnene, du weißt nicht, [515] vor wem du fliehst. Und nur darum fliehst du. Mir dient das delphische Land, Claros, Tenedos und die patareische Königsburg. Iuppiter ist mein Vater. Ich offenbare, was sein wird, was war und was ist; ich lasse Gesang und Saitenspiel harmonisch zusammenstimmen. Mein Pfeil trifft zwar ins Ziel, doch gibt es einen Pfeil, [520] der noch genauer ins Ziel geht; der hat meinem noch freien Herzen eine Wunde geschlagen! Die Heilkunst ist meine Erfindung, die Welt nennt mich den Heilbringer, und die Kraft der Kräuter steht mir zu Gebote. Weh mir, dass gegen die Liebe kein Kraut gewachsen ist und dass die Künste, die allen nützen, ihrem Herrn und Meister keinen Nutzen bringen!«

[525] Er wollte noch mehr sagen, doch die Tochter des Penëus entfloh ihm in angstvollem Lauf, ließ ihn hinter sich und mit ihm seine Rede, mit der er noch nicht zu Ende war. Auch in diesem Augenblick sah sie reizend aus. Windstöße entblößten ihren Körper, der entgegenkommende Luftzug ließ die Kleider, auf die er traf, flattern, ein leichtes Lüftchen ließ das Haar nach hinten wehen, [530] und die Schönheit steigerte sich durch die Flucht. Doch der jugendliche Gott erträgt es nicht länger, Schmeichelworte zu verschwenden. Und wie Amor selbst es ihm eingab, folgt er mit beschleunigtem Schritt ihren Spuren. Wie wenn ein Jagdhund aus Gallien auf dem offenen Feld einen Hasen erspäht hat und der eine nach seiner Beute, der andere um sein Leben rennt [535] – der eine sieht aus, als wolle er schon zubeißen, hofft von einem Augenblick zum andern zuzupacken und streift mit vorgestreckter Schnauze die Fersen der Beute; der andere ist sich im Zweifel, ob er schon gefangen ist, entzieht sich gerade noch den zuschnappenden Zähnen und lässt das Maul, das ihn schon berührt, hinter sich –: So erging es dem Gott und der Jungfrau; den einen beflügelt die Hoffnung, die andere die Furcht. [540] Doch der Verfolger, dem Amor Schwung verleiht, ist schneller und gönnt ihr keine Rast. Die Fliehende spürt ihn schon unmittelbar im Rücken, und sein Hauch streift ihr Haar, das ihr in den Nacken fällt. Schließlich versagten ihr die Kräfte, sie erblasste, von der Mühe der raschen Flucht erschöpft, und blickte zu den Wassern des Penëus. [545] »Vater, komm mir zu Hilfe«, sprach sie, »sofern ihr Flüsse göttliche Macht besitzt! Zerstöre durch eine Verwandlung diese Gestalt, in der ich allzusehr gefiel!« Kaum hat sie ihr Gebet beendet, da kommt über ihre Glieder eine lastende Starre. Um die zarte Brust legt sich dünner Bast. [550] Das Haar wächst sich zu Laub aus, die Arme zu Ästen; der eben noch so flinke Fuß haftet an zähen Wurzeln, das Gesicht hat der Wipfel verschlungen: Allein der Glanz bleibt ihr. Auch so liebt Phoebus sie noch. Er legt die rechte Hand an den Stamm und fühlt noch, wie die Brust unter der frischen Rinde bebt, [555] umschlingt mit den Armen die Äste, als wären es Glieder, küsst das Holz – doch das Holz weicht den Küssen aus. Zu ihr sprach der Gott: »Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein. Stets werden mein Haupthaar, mein Saitenspiel, mein Köcher dich tragen, Lorbeer! [560] Du wirst den latinischen Feldherrn nahe sein, wenn frohe Stimmen das Triumphlied singen und das Capitol den langen Festzug sieht. Du wirst auch als treue Wächterin der Türpfosten am Hause des Augustus vor dem Eingang stehen und den Eichenkranz, der in der Mitte hängt, beschützen. Und wie mein Haupt im ungeschorenen Haarschmuck stets jugendlich ist, [565] so trag auch du fortwährend als Ehrenschmuck dein Laub.« Paean war zu Ende; der Lorbeer nickte mit den neuentstandenen Ästen und schien den Wipfel wie ein Haupt zu bewegen.

Iuppiter und Io (I)

In Haemonien liegt ein Hain, rings von bewaldeten Steilhängen umschlossen; er heißt Tempe. Durch dieses Tal wälzt der Penëus, [570] der tief im Pindus entspringt, seine schäumenden Wellen, und in wuchtigem Absturz ballt er Wolken zusammen, von denen zarte Nebelschleier flattern; den Gischt lässt er auf die Wipfel des Waldes regnen, und sein Getöse ermüdet nicht nur die Nachbarschaft.

Dies ist das Haus, dies der Wohnsitz, dies sind die Gemächer des großen Stromes; [575] hier thronte er in einer Felsengrotte und sprach Recht über Wellen und Nymphen, die sie bewohnten. Dort kommen zuerst die Flüsse der Gegend zusammen, ohne so recht zu wissen, ob sie den Vater beglückwünschen oder ihm Trostworte zusprechen sollen: Spercheus, von Pappeln umsäumt, der rastlose Enipeus, [580] der altersgraue Apidanus, der sanfte Amphrysus und Aeas; bald kamen noch andere Flüsse, die, vom Schwung fortgetragen, ihre Wogen, der Irrwege müde, ins Meer münden lassen.

Nur Inachus fehlt. Tief unten in seiner Höhle versteckt, vermehrt er sein Wasser durch Tränen und trauert – der Ärmste! – um seine Tochter Io, [585] als hätte er sie verloren. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben ist oder schon unter den Toten weilt; doch, da er sie nirgendwo findet, glaubt er, sie sei nirgends, und befürchtet im Herzen das Schlimmste.

Iuppiter hatte sie vom väterlichen Strom heimkehren sehen und zu ihr gesagt: »Mädchen, du bist Iuppiters würdig, und doch wirst du [590] durch dein Ehelager nur irgendeinen gewöhnlichen Sterblichen glücklich machen. Geh in den Schatten der tiefen Wälder«, und er hatte auf die schattige Stelle hingewiesen, »während es heiß ist und die Sonne in der Mitte ihrer Bahn am höchsten steht. Wenn du dich aber fürchtest, allein deinen Fuß in die Schlupfwinkel der wilden Tiere zu setzen, so wisse: Du wirst die Abgeschiedenheit des Waldes unter dem Schutze eines Gottes betreten, [595] und zwar keines Plebejers unter den Göttern: Ich bin’s, der das Himmelszepter in der gewaltigen Hand hält, der die zuckenden Blitze schleudert. Flieh nicht vor mir!« Sie floh nämlich. Schon hatte sie die Triften von Lerna und das mit Bäumen bepflanzte lyrceische Gefilde verlassen, als der Gott die Lande weit und breit in Nebel hüllte, [600] die Fliehende aufhielt und ihr die Ehre raubte.

Unterdessen schaute Iuno mitten auf die Felder hinab und wunderte sich, dass am hellichten Tage die flüchtigen Nebel den Eindruck erweckten, als wäre es Nacht, und bemerkte, dass sie weder vom Fluss kamen noch von der feuchten Erde aufstiegen. [605] Dann schaut sie sich um, wo ihr Mann wohl sei; kannte sie doch die Schliche ihres Gemahls, den sie schon so oft ertappt hatte. Nachdem sie ihn im Himmel nicht gefunden hatte, sprach sie: »Täuscht mich nicht alles, so werde ich hier getäuscht.« Sie ließ sich von der Höhe des Äthers herab, stellte sich auf den Erdboden und gebot den Nebeln zu weichen. [610] Iuppiter hatte das Kommen seiner Gattin vorausgeahnt und die Inachustochter in eine strahlend weiße Kuh verwandelt. Auch als Rind ist sie schön! Saturnia lobt, obwohl es ihr schwerfällt, das Aussehen der Kuh und fragt, wem sie gehöre, wo sie herkomme und aus welcher Herde sie sei – als wüsste sie die Wahrheit nicht. [615] Iuppiter lügt, sie sei aus der Erde entstanden, um die Fragen nach der Herkunft abzuschneiden. Da erbittet Saturnia die Kuh als Geschenk. Was tun? Grausam ist’s, die Geliebte zu verschenken; sie nicht herzugeben ist verdächtig; zu dem einen rät die Scham, von dem andern rät die Liebe ab. Über die Scham hätte die Liebe den Sieg davongetragen; [620] aber würde der Schwester und Gattin ein so kleines Geschenk wie eine Kuh abgeschlagen, dann könnte es so aussehen, als wäre es keine Kuh. Nachdem sie die Nebenfrau zum Geschenk erhalten hatte, legte die Göttin dennoch nicht sofort alle Furcht ab; sie hatte Angst vor Iuppiter und argwöhnte Untreue, bis sie Io dem Argus, dem Sohn Arestors, zur Bewachung übergab.

[625] Am Haupt des Argus waren ringsum hundert Augen; je zwei davon ruhten sich abwechselnd aus, die übrigen wachten und blieben auf ihrem Posten. Wie er sich auch immer hinstellen mochte, er blickte auf Io. Vor Augen hatte er Io, auch wenn er sich abwandte. [630] Bei Tageslicht lässt er sie weiden; ist die Sonne tief unter der Erde verschwunden, schließt er die Kuh ein und legt ihr eine Fessel um den Hals, der dies nicht verdient. Vom Laub der Bäume nährt sie sich und von bitteren Kräutern, und statt sich auf ein Polster zu legen, streckt sie sich auf dem Erdboden aus, der nicht einmal immer mit Gras bewachsen ist, die Unglückliche! Schlammiges Flusswasser trinkt sie. [635] Als sie noch flehend die Arme zu Argus ausstrecken wollte, hatte sie keine Arme, um sie zu Argus auszustrecken, und beim Versuch zu klagen, stieß sie ein Muhen aus, ängstigte sich vor dem Klang und erschrak über die eigene Stimme.

Sie kam auch an das Ufer, an dem sie oft zu spielen pflegte, [640] ans Ufer des Inachus. Und kaum hatte sie im Wasser ihre neuen Hörner erblickt, wurde sie von Furcht ergriffen und floh in hellem Entsetzen vor sich selbst zurück. Die Naiaden wissen nicht, wer sie ist; selbst Inachus weiß es nicht. Sie aber folgt dem Vater, folgt den Schwestern, lässt sich von ihnen berühren und bietet sich ihren staunenden Blicken dar. [645] Der bejahrte Inachus hatte Kräuter gepflückt und ihr gereicht; sie leckt ihm die Hände, bedeckt die Handflächen des Vaters mit Küssen und hält die Tränen nicht zurück. Gehorchten ihr nur die Worte, sie bäte gern um Hilfe, würde gern ihren Namen nennen und von ihrem Unglück sprechen. Anstelle der Worte leisteten Buchstaben, die ihr Huf im Staube zog, [650] den traurigen Dienst, ihre Verwandlung anzuzeigen. »Weh mir«, ruft der Vater Inachus und umklammert Hörner und Hals der stöhnenden schneeweißen Kuh. »Weh mir!«, wiederholt er. »Bist du es, die Tochter, die ich in allen Ländern gesucht habe? Solang ich dich noch nicht entdeckt hatte, [655] war die Trauer um dich erträglicher als jetzt, da du gefunden bist. Du schweigst und antwortest nicht auf unsere Worte; nur Seufzer lässt du aus tiefster Brust aufsteigen und tust das Einzige, was du kannst: Du antwortest mir mit Muhen. Und ich bereitete nichts ahnend für dich ein Ehegemach und Hochzeitsfackeln vor und hoffte zuerst auf einen Schwiegersohn, dann auf Enkel. [660] Jetzt musst du einen Gatten aus der Herde und einen Sohn aus der Herde haben! Und ich darf meinem grenzenlosen Schmerz nicht durch Selbstmord ein Ende setzen: Dass ich ein Gott bin, schadet mir jetzt, und weil mir das Tor des Todes verschlossen ist, verlängert sich meine Trauer in alle Ewigkeit.« Während er mit solchen Worten klagt, drängt ihn der sternübersäte Argus hinweg, [665] entreißt dem Vater die Tochter und zerrt sie auf einen entfernten Weideplatz. Er selbst bezieht in der Ferne Stellung auf einem hohen Berggipfel; dort sitzt er und hält nach allen Richtungen Ausschau.

Doch der Herrscher der Himmlischen kann die namenlosen Leiden der Phoronis nicht länger mitansehen. Er ruft seinen Sohn, den die strahlende [670] Pleiade geboren hat, und befiehlt ihm, Argus zu töten. Es dauert nicht lange, und Mercur hat die Flügelsohlen angelegt, die einschläfernde Gerte in die zaubergewaltige Hand genommen und sich den Hut aufs Haar gesetzt; so ausgerüstet, springt Iuppiters Sohn von der väterlichen Burg auf die Erde hinab. Dort nimmt er die Kopfbedeckung ab [675] und legt das Gefieder beiseite, nur die Gerte behält er. Mit ihr treibt er wie ein Hirte Ziegen, die er unterwegs aufgetrieben hat, quer durchs Gelände und bläst auf seiner selbstgebastelten Rohrflöte.

Der von Iuno bestellte Wächter war von dem neuen Ton und der Kunstfertigkeit wie gebannt. »Wer du auch sein magst, du könntest dich auf diesen Stein zu mir setzen«, [680] sprach Argus. »Wächst doch nirgends reichlicher Gras für das Vieh, und du siehst auch, dass es hier für uns Hirten behaglichen Schatten gibt.« Da setzte sich der Enkel des Atlas, redete viel und ließ den lieben langen Tag unter Gesprächen verstreichen. Dabei versucht er, die wachsamen Augen durch sein Flötenspiel zu bezwingen. [685] Argus freilich kämpft gegen den sanften Schlummer an, und obwohl sich ein Teil seiner Augen schon dem Schlaf ergeben hat, ist ein anderer Teil noch wach. Auch fragt er – die Hirtenflöte war nämlich erst vor kurzem erfunden worden –, wie es zu dieser Erfindung gekommen sei.

Pan und Syrinx

Darauf sagte der Gott: »In dem eisigen Bergland Arcadiens [690] war unter den Hamadryaden von Nonacris eine Naiade besonders berühmt; die Nymphen nannten sie Syrinx. Mehr als einmal hatte sie Satyrn, die ihr nachstellten, zum besten gehabt und allerlei Götter, die im schattigen Wald und auf dem fruchtbaren Lande wohnen. Ihre Jagdleidenschaft und ihre Keuschheit machten sie zur Dienerin [695] der ortygischen Göttin; und da sie ihr Gewand nach Art der Diana hochschürzte, hätte sie das Auge täuschen und für Latonas Tochter gelten können, wenn nicht diese einen Bogen aus Horn, jene einen goldenen hätte. Auch so war sie ihr täuschend ähnlich. Während sie von der Höhe des Lycaeus heimkehrt, sieht Pan sie; und mit dem stachligen Fichtenkranz auf dem Haupte [700] spricht er folgendermaßen –« Übrig blieb noch, die Worte anzuführen und zu berichten, wie die Nymphe seine Bitten zurückwies und durch unwegsames Gelände floh, bis sie zur sanften Strömung des sandigen Ladon gelangte; wie hier das Wasser ihren Lauf hemmte; wie sie die Schwestern der Wassertiefe bat, sie zu verwandeln, [705] und Pan, als er glaubte, Syrinx schon ergriffen zu haben, anstelle der Nymphe Sumpfschilf im Arme hielt; wie, während er dort seufzte, die bewegte Luft im Rohr einen dünnen Ton erzeugte, der einer Klage glich; wie der Gott, von der neuen Kunstform und der Lieblichkeit des Klanges gebannt, sagte: [710] »Diese Art der Zwiesprache mit dir wird mir bleiben«; und wie er schließlich Rohre ungleicher Länge mit Wachs zusammenklebte und so seine Syrinx wenigstens dem Namen nach in der Hand hielt.

Iuppiter und Io (II)

Während er solches erzählen wollte, sah der Gott von Cyllene, dass alle Augen überwältigt waren; der Schlaf hatte ihre Lider verschlossen. [715] Sofort verstummt er und vertieft den Schlummer, indem er mit der Zauberrute über die müden Augen streicht. Unverzüglich verwundet er den Eingenickten, der immer noch nickt, mit dem Sichelschwert dort, wo der Kopf an den Hals grenzt, stößt den Blutenden vom Felsen hinab und befleckt die steil abfallenden Klippen mit Blut. [720] Argus, da liegst du, und das Licht, das dir für so viele Augensterne ausreichte, ist erloschen, und über die hundert Augen kommt eine einzige Nacht. Saturnia nimmt die Augen, versetzt sie auf das Gefieder ihres Vogels und füllt den Pfauenschweif mit sternengleichen Juwelen.

Und sogleich entbrannte sie in Wut, verschob nicht die Stunde des Zornes, [725] stellte der Nebenfrau aus Argolis die schauerliche Erinys vor das geistige Auge, senkte einen verborgenen Stachel in ihre Brust und scheuchte die Flüchtige durch die ganze Welt. Nil, du solltest die letzte Station ihrer unermesslichen Leiden sein! Dort angelangt, kniete sie am Uferrand nieder, [730] legte den Kopf zurück in den Nacken und hob das Gesicht steil zu den Sternen empor – nur diese Gebärde blieb ihr –; so schien sie unter Seufzern, Tränen und trauervollem Muhen sich bei Iuppiter zu beklagen und ihn zu bitten, ihren Leiden ein Ende zu setzen. Schmeichelnd legt er seiner Gemahlin die Arme um den Hals, [735] bittet sie, den Qualen endlich Einhalt zu gebieten, und spricht: »In Zukunft sei unbesorgt; diese wird dir nie mehr Schmerz bereiten.« Und er ruft die Styx an, seinen Eid zu bezeugen. Kaum ist die Göttin besänftigt, nimmt Io ihre frühere Gestalt an und wird, was sie vorher war: Am Leibe verschwinden die Borsten, [740] die Hörner schrumpfen, der Kreis des Auges wird enger, das Maul zieht sich zum Mund zusammen, Schultern und Hände kommen wieder, jeder Huf spaltet sich in fünf Nägel auf. Vom Rind ist nichts mehr übrig außer der weißen Schönheit; und die Nymphe, die sich jetzt damit begnügt, zwei Füße zu gebrauchen, [745] richtet sich auf, hat Angst zu sprechen, um nicht nach Art der Kühe zu muhen, und versucht nach der langen Unterbrechung nur schüchtern, Worte zu formen.

Jetzt wird sie umschwärmt von einer Schar in Leinengewändern und als Göttin verehrt. Jetzt glaubt man endlich, dass Epaphus vom Samen des großen Iuppiter ist, und neben seiner Mutter [750] besitzt er überall in den Städten Tempel.

Phaethon (I)

Ebenso alt und ebenso stolz war Phaethon, der Sohn des Sonnengottes. Als Phaethon einmal prahlte, dem Sohn der Io nicht nachstehen wollte und auf seinen Vater Phoebus pochte, ertrug es der Inachusenkel nicht länger und sprach: »Du Narr glaubst deiner Mutter alles und brüstest dich mit dem Ahnenbild eines erlogenen Vaters.« [755] Da errötete Phaethon, und Scham betäubte seinen Zorn. Vor seine Mutter Clymene brachte er die Schmährede des Epaphus. »Und um das Maß deines Schmerzes voll zu machen, Mutter«, sprach er, »ich Freimütiger, ich Stolzer – habe geschwiegen. Ich schäme mich, dass diese Beschimpfung gegen uns laut werden konnte und dass sie sich nicht widerlegen ließ. [760] Bin ich aber wirklich von himmlischem Stamme, so gib du mir einen Beweis für diese hohe Herkunft und erkläre, dass der Himmel einen Anspruch auf mich hat.«

Sprach’s, schlang die Arme um den Hals der Mutter und bat sie bei seinem Haupte, bei dem des Merops und bei den Hochzeitsfackeln der Schwestern, ihm Beweise dafür zu geben, dass Phoebus wirklich sein Vater war. [765] Clymene aber – tat sie’s, weil Phaethon sie bat, oder vielmehr aus Zorn über das Vergehen, das man ihr nachsagte? – streckte beide Arme zum Himmel, blickte zur hellen Sonne und sprach: »Bei diesem Licht, das glänzende Strahlen schmücken, das uns hört und sieht, schwör’ ich dir, mein Sohn, [770] dass du von diesem Sonnengott gezeugt bist, den du schaust und der die Welt ordnet. Wenn ich Erfundenes rede, soll er selbst mir seinen Anblick verweigern, und dieser Tag sei für meine Augen der letzte! Und du brauchst auch nicht lange Mühsal auf dich zu nehmen, um das Heim deines Vaters kennenzulernen. Das Haus, aus dem er aufgeht, ist unserem Lande benachbart; [775] wenn du Lust hast, geh; dann kannst du ihn selbst danach fragen.«

Kaum hat seine Mutter so gesprochen, stürmt Phaethon sofort freudig hinaus; er lebt nur noch im Gedanken an den Himmel, durchwandert sein Aethiopien, dann das Gebiet der sonnenverbrannten Inder und geht unverdrossen zum Aufgang seines Vaters.

Zweites Buch

Phaethon (II)

Der Palast des Sonnengottes stand stolz mit hochragenden Säulen da und strahlte von gleißendem Gold und feuerrotem Pyropus. Oben deckte den Giebel schimmerndes Elfenbein, und silberhell glänzten die beiden Torflügel. [5] Noch herrlicher als der Stoff war die Arbeit: Mulciber hatte nämlich dort in getriebenem Metall das Weltmeer dargestellt, wie es die Erde, die in der Mitte liegt, umgürtet; er hatte den Erdkreis gebildet und den Himmel, der sich darüber wölbt. Blaue Götter sind in den Wellen: Triton mit dem Muschelhorn, Proteus der Wandelbare, [10] Aegaeon, der mit den Armen riesige Walfischrücken drückt, Doris und ihre Töchter; einige von ihnen sieht man schwimmen; andere sitzen auf Felsen und trocknen ihr grünes Haar, manch eine reitet gar auf einem Fisch! Jede hat ein anderes Gesicht, und doch gleichen sie einander, wie es sich für Schwestern ziemt. [15] Die Erde trägt Männer und Städte, Wälder und wilde Tiere, Flüsse, Nymphen und andere Götter der Flur. Darüber steht das Bild des Himmels im Sternenglanz: sechs Tierkreiszeichen im rechten und ebenso viele im linken Türflügel.

Kaum ist der Spross der Clymene auf ansteigendem Pfad hier [20] angelangt und hat das Haus des Vaters, an dessen Vaterschaft er zweifelt, betreten, lenkt er alsbald seine Schritte vor das väterliche Angesicht; doch muss er weit entfernt stehen bleiben, denn aus größerer Nähe ertrug er das Licht nicht. In einem Purpurgewand saß Phoebus auf einem Thron, der von strahlenden Smaragden leuchtete. [25] Zur Rechten und Linken standen der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und in gleichmäßigen Abständen die Stunden. Da stand der junge Frühling im Blütenkranz, da stand der nackte Sommer und trug Ährengewinde, da stand auch der Herbst, bespritzt von den Trauben, die er gekeltert hatte, [30] und der eisige Winter im struppigen grauen Haar. Darauf erblickte der Sonnengott, der den Platz in der Mitte innehatte, mit den Augen, mit denen er alles sieht, den Jüngling, den die ungewohnten Wunderdinge einschüchterten, und sprach: »Was ist der Grund deiner Reise? Was suchst du in dieser Burg, Phaethon, mein Sohn? Dein Vater verleugnet dich nicht.« [35] Er erwidert: »Gemeinsames Licht der unermesslichen Welt, Phoebus, mein Vater, wenn du mir erlaubst, dich so zu nennen, und Clymene nicht unter trügerischer Maske eine Schuld verheimlicht, gib mir ein Pfand, mein Vater, damit man glaubt, dass ich wirklich dein Kind bin, und nimm von meinem Herzen diese Ungewissheit.« [40] Sprach’s; da legte der Vater den Strahlenkranz ab, der rings um sein Haupt blitzte, hieß ihn näher treten, umarmte ihn und sagte: »Du bist es wert, dass ich mich zu dir bekenne, und Clymene hat über deine Herkunft die Wahrheit gesagt. Und damit du nicht mehr zweifelst: Erbitte dir ein beliebiges Geschenk, um es aus meiner Hand zu empfangen. [45] Als Zeugen für dieses Versprechen rufe ich den Sumpf an, bei dem die Götter schwören müssen und den meine Augen nicht kennen.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da bittet der Knabe um den Wagen des Vaters und um das Recht, einen Tag die Rosse lenken zu dürfen, deren Füße geflügelt sind.

Da bereute der Vater seinen Schwur, schüttelte drei-, viermal [50] sein lichtglänzendes Haupt und sprach: »Leichtfertig ist mein Wort durch das deine geworden. O wäre es mir erlaubt, mein Versprechen nicht zu erfüllen! Ich bekenne es: Nur dies würde ich dir, mein Sohn, verweigern. Doch abzuraten steht mir frei. Was du dir wünschst, ist gefährlich. Etwas Großes begehrst du, Phaethon, eine Gabe, die diesen deinen Kräften [55] und deinen so jungen Jahren nicht entspricht. Dein Los ist es, sterblich zu sein; nicht sterblich ist, was du begehrst. Sogar mehr, als Göttern zuteil werden kann, beanspruchst du in deiner Unwissenheit. Mag auch jeder Gott viel von sich halten, so kann sich doch keiner außer mir auf die feurige Achse stellen. [60] Auch der Herrscher des großen Olymps, er, der mit furchtbarer Hand verheerende Blitze schleudert, wird diesen Wagen nicht lenken können; und was gibt es Größeres als Iuppiter?

Steil ist die erste Strecke des Weges; kaum bewältigen sie die Pferde, obwohl sie am Morgen ausgeruht sind. In der Mitte des Himmels ist die Bahn sehr hoch; [65] selbst ich fürchte mich oft, von dort auf Meer und Land hinabzublicken, und die Brust erbebt mir vor beklemmender Angst. Die letzte Strecke ist abschüssig und verlangt eine sichere Lenkung: Sogar Tethys, die mich dann im darunterliegenden Wasser auffängt, bangt oft, ich könnte in die Tiefe stürzen. [70] Außerdem ist der Himmel von einem ständigen Wirbel erfasst, zieht hoch oben die Sterne mit und dreht sie in raschem Umlauf. Ich stemme mich dagegen, mich überwältigt der Schwung nicht, der alles übrige mit sich fortreißt, und ich bringe meine Fahrt ans Ziel, der heftigen Kreisbewegung des Alls entgegen. Nimm an, ich hätte dir den Wagen gegeben. Was wirst du tun? Wirst du dich der Drehung der Himmelspole entgegenstemmen können, [75] so dass dich die schnelle Achse des Alls nicht mit sich fortreißt? Vielleicht stellst du dir vor, dass dort Haine und Städte der Götter sind und Heiligtümer, reich an Weihegaben? Nein, die Fahrt geht mitten durch Orte, an denen Schreckbilder von Tieren lauern. Und auch wenn du auf dem rechten Weg bleibst und dich von nichts beirren lässt, [80] wirst du doch zwischen den Hörnern des Stieres hindurchfahren, der sich dir entgegenstellt, vorbei am Bogen des haemonischen Schützen, am Rachen des reißenden Löwen, am Skorpion, der die unbarmherzigen Scheren in weitem Bogen krümmt, und am Krebs, der sie in anderer Richtung krümmt. Und du kannst nicht ohne weiteres die Rosse lenken; mit wildem Stolz beseelt sie das Feuer, [85] das sie in der Brust tragen und aus Maul und Nüstern ausstoßen; selbst mich dulden sie kaum, wenn einmal ihr heftiger Mut entflammt ist; und ihr Nacken widerstrebt den Zügeln. Du aber, nimm dich in acht, mein Sohn, dass ich dir nicht ein verhängnisvolles Geschenk geben muss, und solange du noch darfst, berichtige deinen Wunsch. [90] Natürlich, ein sicheres Unterpfand verlangst du, damit du glauben kannst, dass du Blut von meinem Blute bist. Ich gebe dir ein sicheres Unterpfand durch meine Furcht, und meine väterliche Angst um dich beweist, dass ich dein Vater bin. Hier: Sieh mein Gesicht! O könntest du in mein Herz blicken und darin die väterlichen Sorgen entdecken! [95] Und schau dir schließlich ringsum alles an, was die reiche Welt besitzt, und verlange irgendeines der so zahlreichen und großen Güter im Himmel, auf der Erde und im Meer! Du wirst keine Zurückweisung erfahren. Nur dies eine nimm, bitte, aus, das eigentlich eine Strafe, keine Ehre ist; eine Strafe erflehst du dir, Phaethon, als Geschenk. [100] Was umschlingst du meinen Hals, Ahnungsloser, mit schmeichelnden Armen? Zweifle nicht, du wirst alles bekommen, was du dir wünschst (ich habe bei den stygischen Fluten geschworen) – aber wähle einen vernünftigeren Wunsch!«

Er hatte seine Warnung beendet, doch Phaethon sträubt sich gegen die Worte, beharrt auf seinem Vorsatz und brennt vor Begierde nach dem Wagen. [105] Solange er durfte, hat der Vater gezögert. Nun führt er den Jüngling also zu dem hohen Wagen, einem Geschenk Vulcans. Golden war die Achse, die Deichsel golden, golden die Felge außen am Rad; die Reihe der Speichen war silbern. Am Joch spiegelten Chrysolithe und aufgereihte Edelsteine den Phoebus [110] und warfen sein strahlendes Licht zurück. Während der hochgemute Phaethon dies bewundert und das Kunstwerk betrachtet – siehe, da hat die wachsame Aurora im hellen Osten die purpurnen Tore und die rosengefüllten Hallen geöffnet: Die Sterne fliehen, ihren Zug beschließt [115] Lucifer und verlässt als letzter seinen Posten am Himmel. Als er sah, dass dieser sich der Erde zuwandte, die Welt sich rötete und die Ränder der Mondhörner sich gleichsam verflüchtigten, gebietet Titan den flinken Horen, die Pferde anzuschirren. Rasch führen die Göttinnen den Befehl aus, holen die feuerspeienden Rosse, [120] die sich an saftiger Ambrosia gesättigt haben, von den hohen Krippen herbei und legen ihnen das klirrende Zaumzeug an. Dann bestrich der Vater das Gesicht seines Sohnes mit einem heiligen Zaubermittel und feite es gegen die zehrenden Flammen, setzte ihm den Strahlenkranz aufs Haar und sprach, indem er [125] wiederholt aus tief besorgter Brust aufseufzte – denn er ahnte Schmerzliches –:

»Kannst du wenigstens diesen Ermahnungen deines Vaters gehorchen: Geh, Knabe, mit dem Stachel sparsam um und gebrauche kräftiger die Zügel! Aus eigenem Antrieb eilen die Rosse; die Arbeit besteht darin, ihren Eifer zu bändigen. Und wähle nicht den Weg, der geradlinig durch die fünf Zonen führt! [130] Schräg geschnitten verläuft in weitem Bogen die Bahn; sie gibt sich mit dem Bereich dreier Zonen zufrieden und meidet den Südpol und den Großen Bären mit seinen Nordwinden. So sei dein Weg! Deutlich wirst du die Radspuren sehen. Und damit Himmel und Erde gleichmäßig erwärmt werden, [135] drücke den Wagen nicht zu weit hinab und lenke ihn nicht durch den obersten Äther. Steigst du zu hoch empor, wirst du die himmlischen Hallen verbrennen, gehst du zu tief, die Erde; in der Mitte wirst du am sichersten fahren. Möge dich auch das Rad nicht zu weit nach rechts tragen zur Schlange, die sich ringelt, und auch nicht zu weit nach links zu dem tief am Himmel stehenden Altar! [140]