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Schriftauslegung im Judentum Unter Midrasch versteht man die Erforschung der Bibel durch die jüdischen Gelehrten und ihr Ergebnis, die gleichnamige Literaturgattung. Midrasch ist aber auch Verkündigung, Lehre und Vermittlung. Gerhard Langer zeigt, mit welchen Mitteln und Methoden die jüdischen Gelehrten die Bibel zugänglich machten und sie lebendig hielten.
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Seitenzahl: 768
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Gerhard Langer
Midrasch
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Midrasch ist eine umfassende und facettenreiche Auseinandersetzung mit der Schrift, die ihre Wurzeln in der Bibel selbst hat und bis in die Gegenwart reicht. Dieses Buch nähert sich dem Phänomen Midrasch mit der Absicht an, es nicht nur zu definieren, sondern in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu beschreiben, seine Hermeneutik zu illustrieren und Anleitungen für den Umgang mit ihm zu bieten. Im Vordergrund steht dabei nicht die detaillierte Vorstellung einzelner Midraschschriften. Diesbezüglich sei auf Günter Stembergers Standardwerk Einleitung in Talmud und Midrasch (München 92011) verwiesen.
Nach einem Forschungsüberblick (I) ist zunächst zu klären, was Midrasch ist (II). Dabei geht es nicht nur um eine Begriffsbestimmung von darasch/Midrasch, sondern um den Referenzrahmen, in dem Midrasch entstand und in dem er verstanden und ausgelegt werden muss. Erläuterungen zu den hermeneutischen Grundlagen des Midrasch schließen sich an (III). Ein vierter Teil widmet sich der Herkunft des Midrasch in vorrabbinischer Zeit und der Entwicklung midraschischer Elemente außerhalb der rabbinischen Literatur. Ein Abschnitt thematisiert, wie Midrasch methodisch ausgelegt werden soll/kann (V). Ein weiterer Teil fokussiert auf einzelne Schritte des methodischen Vorgehens, so auf Formelemente des Midrasch (VI) und auf Redaktionskritik (VII). Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit Midrasch als Exegese (VIII), mit Midrasch im Kontext des Rechts (Halacha) (IX), der Haggada (X), der Liturgie (XI) und der Geschichtsbetrachtung (XII). In all diesen Abschnitten steht Midrasch als Phänomen der rabbinischen Epoche im Mittelpunkt. Diese wird in der Regel in der Zeitspanne zwischen der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n.Z. bis etwa um 1000 angesiedelt. Auch wenn Midrasch seine spezifische Ausprägung durch die Rabbinen bekommt und berechtigte Einwände gegen eine Ausweitung des Begriffs auf frühere oder spätere Epochen und Kontexte bestehen, so lassen sich seine Spuren bis in die Moderne verfolgen. In einem weiteren Teil wird daher die Entwicklung vom Mittelalter bis heute kurz in den Blick genommen (XIII). Dieser Abschnitt behandelt u.a. mittelalterliche Kommentare, Predigten, jiddische Bearbeitungen, Sammelwerke und Anthologien sowie so genannte moderne Midraschim. Am Ende des Buches steht eine kurze Faktensammlung zu den wichtigsten Midraschwerken (XIV).
|VI|Jedem Abschnitt (ab II) ist ein kurzes Literaturverzeichnis mit einigen wichtigen Referenzwerken der Sekundärliteratur vorangestellt. Am Schluss des Buches findet sich weiters eine ausführliche Literaturliste zu Primär- und Sekundärliteratur.
Mit seinen 14 inhaltlichen Einheiten (inklusive Faktensammlung) eignet sich das Buch als Grundlage für den Lehrbetrieb. Seine Adressatinnen und Adressaten sind darüber hinaus nicht nur Studierende der jüdischen Studien und verschiedener benachbarter Disziplinen, sondern all jene, die sich intensiver mit jüdischer Traditionsliteratur auseinandersetzen und ihre Arbeitsweisen und Hintergründe verstehen wollen.
Um einem so komplexen Phänomen wie Midrasch gerecht zu werden, reicht ein Lehrbuch keineswegs aus. Hier wird eine Auswahl an Themen, an Beispieltexten und an vorgestellter Sekundärliteratur geboten. Vieles wird nur angerissen, manches gar nicht behandelt, wie etwa Midrasch(-Materialien) in samaritanischen (vgl. dazu Crown, Samaritan Midrash) oder muslimischen Texten (vgl. dazu die Aufsatzsammlung von Schreiner, Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung).
Das Buch hat keine Fußnoten. Kurztitel verweisen auf das ausführliche Literaturverzeichnis, in dem schwerpunktmäßig jüngere Arbeiten verzeichnet sind und das keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wenn nicht anders angegeben, wurden die im Buch zitierten fremdsprachigen Texte von mir selbst übersetzt.
Rabbinische Quellentexte wurden, sofern nicht anders am Schluss des Zitates ausgewiesen, von mir aus der Datenbank Maʾagarim der hebräischen Sprachakademie übersetzt. Am Ende des Buches finden sich ein Überblick über die verwendeten Versionen und Übersetzungen, Abkürzungsverzeichnisse und weitere Indizes. Deutsche Übersetzungen wurden meist leicht bearbeitet (neue deutsche Rechtschreibung, Angleichung der Transkription, leichte Textadaptionen). Dies ist dann durch den Hinweis „Übersetzung nach NN“ gekennzeichnet.
An dieser Stelle möchte ich mich bei jenen Personen bedanken, die maßgeblich zu diesem Buch beigetragen haben. Dank geht an die Reihenherausgeber sowie an Dr. Henning Ziebritzki und Rebekka Zech vom Verlag für die hervorragende Betreuung und an Dr. Hans Cymorek für das überaus gründliche Lektorat. Der Kontakt vor allem zum Kollegen René Bloch als „Sprecher“ der Gruppe war stets ausgesprochen fruchtbar. Ich danke Paul Mandel und Azzan Yadin für zahlreiche anregende Mails und die Bereitstellung bislang unpublizierter wichtiger Beiträge. Armin Lange sei für seine Hilfe im Bereich der Qumrantexte bedankt, Agnethe Siquans für viele wichtige Informationen zu den Kirchenvätern, |VII|Dagmar Börner-Klein für den Austausch zu den von ihr übersetzten Texten und vor allem zu Jalqut, Lydia Miklautsch und vor allem Armin Eidherr für wichtige Hinweise zu jiddischen Quellen. Dank gilt auch Michael Fishbane und Joanna Weinberg, die ihren Band Midrash Unbound bereits vor dem offiziellen Erscheinen im Buchhandel zur Verfügung gestellt haben.
Eine Person ist hier besonders herauszugreifen, da sie seit vielen Jahren als Vorbild und wertvolle Unterstützung fungiert. Ich spreche von Günter Stemberger, dem Emeritus des Instituts für Judaistik in Wien, der unzählige Tipps für dieses Buch beigesteuert hat, mit dem er in verschiedenen Abschnitten vertraut war, dessen Arbeiten zu den Grundfesten der rabbinischen Forschung gehören, die nicht genug gewürdigt werden können. Danke für jedes Gespräch.
Speziell möchte ich Frau Dr. Constanza Cordoni hervorheben, die als meine Mitarbeiterin von Anfang an am Zustandekommen des Buches beteiligt war. Forschungsüberblick und Faktensammlung gehen maßgeblich auf sie zurück. Zahlreiche Hinweise, Beispiele, Korrekturen und Hilfen bei Übersetzungen sind ihr zu verdanken. Alle verbliebenen Fehler und Irrtümer gehen auf mich zurück.
Wien, April 2016
Der folgende Abschnitt widmet sich zentralen Tendenzen in der Erforschung des Midrasch. Hier ist grundsätzlich auch auf die Einleitung in Talmud und Midrasch von Günter Stemberger zu verweisen. Einen brauchbaren Literaturüberblick bieten auch Lennart Lehmhaus (As it is Written) und Lieve Teugels (Two Centuries).
Mit der Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden1819 setzt die neuzeitliche wissenschaftliche Beschäftigung mit Midrasch ein. Die wichtigste Persönlichkeit in dieser ersten Periode der Wissenschaft des Judentums war Leopold ZunzLeopold Zunz, der mit seinem Buch Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (1832) die Grundlagen für eine moderne Erforschung des Midrasch legte. Zunz gelang es, ohne auf Vorarbeiten zurückgreifen zu können, zahlreiche Werke der Midraschliteratur zu beschreiben und bedeutende Einführungen vorzulegen, aber auch einen Midrasch, Pesiqta de-Rav Kahana, zu rekonstruieren, der bislang nur aus verstreuten mittelalterlichen Zitaten und Anspielungen bekannt war.
Charakteristisch für diese Periode in der Beschäftigung mit Midrasch und mit rabbinischer Literatur im Allgemeinen ist das Aufkommen der historisch-kritischen Methode, die sich in den deutschen Universitäten durchsetzt. Historische Fragen, Biografien, Philologie und Sprachwissenschaft stehen im Mittelpunkt des InteressesHistorische Fragen, Biografien, Philologie und Sprachwissenschaft stehen im Mittelpunkt des Interesses. In dieser Zeit werden zahlreiche Textausgaben angefertigt. Als Herausgeber wirken in Wien Adolf Jellinek (kleine Midraschim), Eisik Hirsch Weiß (Sifra, MekhJ) und Meir Friedmann (Sifre, MekhJ, PesR, SER); in Lemberg Salomon Buber (PesK, eine Tanchuma-Fassung, MidTeh, Sechel Tov) und in Breslau Hayyim Saul Horovitz. Louis Ginzberg legt mit den sieben Bänden seiner Legends of the Jews – eine Nacherzählung von Midrasch-Traditionen nach der Bibelchronologie (Genesis – Ester) – eine umfassende Midrasch-Kompilation vor. In den letzten Jahrzehnten des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts bemühen sich Salomon Buber, David Z. Hoffmann und Hayyim S. Horovitz um die Rekonstruktion nicht erhaltener Midraschim auf der Grundlage mittelalterlicher Texte (u.a. MHG, Jalqut). Deutsche Übersetzungen der klassischen Midraschim besorgt in dieser Zeit August Wünsche mit den fünf |2|Bänden seiner Bibliotheca Rabbinica (1880–1885) sowie mit den fünf Bänden kleinerer Midraschim, die unter dem Titel Aus Israels Lehrhallen zwischen 1907 und 1910 erscheinen.
Die Erforschung von Midrasch ist seit ungefähr 1970 durch Interdisziplinäre Methodologieninterdisziplinäre Methodologien und Fragestellungen charakterisiert, die das Verhältnis zwischen Text und Intertexten und soziohistorischen oder kulturellen Kontexten untersuchen. Pionierarbeit leistete in diese Richtung Jacob Neusner. In Development of a Legend trägt er die Traditionen von einer und über eine „Gründungsfigur“ der rabbinischen Bewegung, Jochanan ben Zakkai, in tannaitischen und amoräischen Quellen – d.h. nicht nur Midrasch-Kompilationen – zusammen und analysiert diese nach Kategorien, die der talmudischen Literatur eigen sind. Midrasch wird jetzt weniger als geschichtliche Quelle gelesen; die Untersuchung der rabbinischen Korpora oder Dokumente könne, so Neusner, höchstens zu einer approximativen Beschreibung der Weltanschauung, der Ideologie, der Mentalität der Rabbinen beitragen. Allerdings mehren sich in jüngerer Zeit erneut Ansätze, die rabbinischen Äußerungen wieder enger an die Personen zu binden und als authentisch zu betrachten.
Die literaturtheoretische Reflexion der 1970er und 1980er Jahre, kollektiv als New CriticismNew Criticism bezeichnet, übte großen Einfluss auf die Erforschung der rabbinischen Literatur in Amerika, Europa und Israel aus. Bei diesem textimmanenten Zugang zu Midrasch wird die rabbinische Literatur nicht (mehr) auf ihre historischen Kontexte und Entstehungsbedingungen befragt. Historische Fakten aus diesen Texten zu gewinnen verliert an Relevanz, sobald man anfängt, sie als didaktische Fiktionen zu betrachten, die bestenfalls Informationen über die Situation der rabbinischen Erzähler hergeben können. Ein wichtiges Beispiel dieser Übernahme von Methodologien anderer Disziplinen ist der Sammelband, den Hartman und Budick mit dem Titel Midrash and LiteratureMidrash and Literature1986 herausgaben. Hier wird auf die Vorgeschichte des Midrasch in der innerbiblischen Exegese (vgl. die Beiträge von Geoffrey Hartman und Michael Fishbane) sowie auf das Weiterleben der Formen und Themen der rabbinischen Exegese in der Literatur der Neuzeit und in der Gegenwart verwiesen. Vier zentrale Aufsätze – von Joseph Heinemann, Judah Goldin, James Kugel und David Stern – befassen sich mit Midraschim der klassischen Periode. Etliche ähnliche kollektive Unternehmungen sind seitdem erschienen, darunter The Midrashic ImaginationThe Midrashic Imagination, eine Festschrift für Yonah Fraenkel mit |3|älteren Beiträgen, die hauptsächlich von israelischen Forschern stammen.
Der Gedanke, dass Midrasch nicht auf die rabbinische Periode zu beschränken ist, steht im Zentrum von Susan Handelmans Monografie The Slayers of Moses. Es handelt sich dabei um eine Geschichte der Hermeneutik von den griechischen Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, die die hermeneutischen Prinzipien des klassischen Midrasch als immer da gewesene darstellt. Diese interpretiert Handelman als wirkungsvolle Herausforderung der griechisch-christlichen hermeneutischen Traditionen, insbesondere in den philosophischen und literaturkritischen Arbeiten jüdischer post-moderner Denker wie Jacques Derrida und Harold Bloom.
Daniel Boyarins Grundlagenwerk Intertextuality and the Reading of MidrashIntertextuality and the Reading of Midrash gehört zu dieser Phase der textimmanenten Lektüre von Midrasch als Literatur. Anhand einer Reihe von intensiven Analysen ausgewählter Passagen aus der Mechilta illustriert Boyarin die intertextuelle Arbeit des Midrasch, ihre charakteristischen Formen – die Verwendung von Belegversen aus anderen Büchern der Bibel bzw. aus anderen Teilen des Kanons, die Polyphonie der Meinungen der Rabbinen in Bezug auf einen unklaren Vers, die Erzählung von Meschalim/Gleichnissen als explizite Auslegung.
David Sterns Studie Midrash and TheoryMidrash and Theory widmet sich in einer Reihe von Essays der Verbindung von Midrasch und modernen Literaturtheorien, um zu eruieren, wie diese ein geeignetes Instrumentarium für die Lektüre von Midrasch bieten, die nach zentralen Aspekten wie der inhärenten Polysemie des Bibeltextes, den literarischen Formen, welche die Midrasch-Hermeneutik verwendet, dem Wesen einer Midrasch-Gattung u.a. fragt.
Die europäische Midrasch-Forschung ist durch die Arbeiten von Arnold GoldbergArnold Goldberg geprägt. Die von ihm vorgeschlagene exegetische Terminologie (citem, questem u.a.) hat sich jedoch nur begrenzt durchgesetzt. Er und seine Schülerinnen und Schüler in der so genannten Frankfurter Schule analysieren Midrasch-Werke zwar als Literatur, aber mit einem streng synchronen und strukturalistischen Ansatz, der formanalytischen Methode. Dabei werden die literarischen Formen und ihre Funktionen innerhalb des unmittelbaren Kontexts beschrieben. In zahlreichen Aufsätzen befasste sich Goldberg mit den Formen der so genannten homiletischen Midraschim (vgl. Gesammelte Schriften II). Lieve Teugels verwendet die formanalytische Methode u.a. in ihrer Studie der Midrasch-Traditionen zu Gen 24.
Goldbergs Formanalyse wurde von Philip S. Alexander um die Frage nach der Midrasch-Methode, d.h. dessen Hermeneutik und Schriftverständnis, erweitert. Auch in Alexander SamelyAlexander Samelys Untersuchung |4|der Funktion von Midrasch in der Mischna wirkt Goldberg weiter. Nicht nur mit kleineren Einheiten, sondern mit den meisten strukturell relevanten literarischen Merkmalen der antiken jüdischen Literatur, inklusive Midrasch, befasste sich ein an den Universitäten von Manchester und Durham abgeschlossenes Forschungsprojekt, an dem Alexander und Samely beteiligt waren (Samely, Profiling).
Midrasch als LiteraturMidrasch als Literatur fasste in dieser Zeit nicht nur in Amerika und Europa, sondern auch in Israel Fuß. Wichtige Beispiele dafür stellen die Beiträge des Erzählforschers Dov NoyDov Noy sowie die literarhistorisch ausgerichteten Arbeiten von Joseph HeinemannJoseph Heinemann und Yonah FraenkelYonah Fraenkel dar. Unbedingt zu erwähnen sind auch die Arbeiten von Joshua LevinsonJoshua Levinson. Yonah Fraenkels Darche ha-Aggada we-hamidrasch, nicht zu verwechseln mit der grundlegenden Arbeit von Isaak Heinemann, Darche ha-Aggada, klassifiziert und beschreibt Inhalt, Formen und hermeneutische Techniken von midraschischen und haggadischen Quellen aus der klassischen Periode, d.h. vom 1. Jh. v.Z. bis ins 6. Jh. n.Z. Diese Literatur, die als Produkt der rabbinischen Akademie (bet ha-midrasch) entstanden sein soll, die von Rabbinen für ihre Schüler konzipiert wurde, wird Fraenkels literaturwissenschaftlicher Analyse unterzogen. Fraenkel plädiert für eine Lektüre der rabbinischen Erzählungen, die ausschließlich auf deren Ästhetik fokussiert: Rabbinische Erzählungen sollen als kurze und geschlossene Kunstwerke angesehen werden, nicht als Darstellungen von Institutionen oder Praktiken. Fraenkel vergleicht Midrasch mit Spiel: wie im Spiel handelt Midrasch von Welten, die parallel zur und ähnlich der realen Welt existieren, in denen aber eigene Regeln herrschen, die in der realen Welt nicht gelten. In Bezug auf die Funktion von Midrasch beobachtet Fraenkel, dass es weniger auf Exegese als auf die Vermittlung von theologischen oder ethischen Konzepten ankomme.
Zwei Monografien haben sich eingehend mit einer Gattung, die in der Spannung zwischen Interpretation und Erzählung besteht, befasst: der exegetischen Erzählung. Ofra Meirs The Exegetical NarrativeThe Exegetical Narrative und Joshua Levinsons The Twice-Told TaleThe Twice-Told Tale. Letzterer bedient sich eines veritablen literatur- und kulturwissenschaftlichen theoretischen Arsenals, das Erzählforschung, klassische Narratologie, biblische Erzähltheorie, Strukturalismus, New Historicism und Marxismus, Reader Response-Theorien, die Studien zur Folklore und wichtige Arbeiten zu den biblischen Erzählungen umfasst. Die exegetische Erzählung ist nach Levinson durch die intensive Begegnung zwischen dem biblischen Text und der rabbinischen Kultur bestimmt und hilft sowohl die im Schrifttext eruierten Probleme als auch jene der aktuellen kulturellen Entwicklung in der rabbinischen |5|Welt zu lösen. Im Kern entspricht dies der von Foucault in der Ordnung des Diskurses formulierten These zum Thema Kommentar:
Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methoden er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist. Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an einem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand – das bloße Rezitieren. Der Kommentar bannt den Zufall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst gesagt und in gewisser Weise vollendet wurde. (S. 19–20)
Neu und alt werden verbunden. Der Kommentar gewinnt seine Bedeutung gerade durch seine Verbindung zum autoritativen Text. Nicht zufällig nannte Levinson sein Buch im Hebräischen ha-sippur sche-lo suppar, die „nicht erzählte Geschichte“, was an Foucaults „was eigentlich niemals gesagt worden ist“ erinnern soll. Levinsons Studien zeigen ein Doppeltes. Zum einen sind sie ein Plädoyer für eine Sicht auf rabbinische Texte im Kontext literaturwissenschaftlicher Theorien, um die komplexen Aspekte des Zusammenspiels von biblischem Text und rabbinischer Erzählung zu begreifen; zum anderen erwächst daraus kein Widerspruch zu einer Betrachtung der rabbinischen Erzählung als Ausdruck der konkreten Lebenswelt der Rabbinen, ihrer Probleme und historischen Bedingungen.
Als Gegenbewegung zum New Criticism entwickelten sich in der neueren Midrasch-Forschung Tendenzen, die dem New HistoricismNew Historicism verwandt sind. In diesem Zusammenhang werden Midrasch-Texte als Teil größerer soziokultureller Diskurse oder Praxissysteme erneut in einen historischen Kontext gesetzt, betrachtet und untersucht. Es lassen sich dabei thematische bzw. methodologische Schwerpunkte unterscheiden, wie einige ausgewählte Monografien oder Sammelbände illustrieren, auf die im Folgenden eingegangen wird. So bietet Jeffrey Rubenstein in seinen Talmudic StoriesTalmudic Stories nicht nur genaueste close readings von sechs talmudischen Erzählungen, sondern auch Überlegungen zur Kultur, die sie hervorbrachte. Eine dieser Erzählungen, bAvoda Zara 2a–3b, die er als homiletical story (in Ofra Meirs Terminologie „sippur darschani“) bezeichnet, ist eine literarische Form, die häufig in Midrasch-Kompilationen vorkommt.
Aus der volkskundlichen Erzählforschung stammen die Beiträge einiger Jerusalemer Wissenschaftler wie Dan Ben Amos, Eli Yassif, Dina Stein und Galit Hasan-Rokem. Letztere verwendet in Web of LifeWeb of |6|Life Kategorien der Erzählforschung für eine kulturwissenschaftlich und feministisch orientierte Lektüre von EkhR. In Tales of the NeighborhoodTales of the Neighborhood befasst sie sich mit rabbinischen Erzählungen, in denen kulturelle Nachbarschaft und literarische Nachbarinnen den Ausgangspunkt für Lektüren bilden, in denen es um die Konzeptualisierung von Alltag, Geschlecht, Grenzen, Identität, Körper u.a. geht.
Der feministische Zugang zu MidraschDer feministische Zugang zu Midrasch befasst sich mit der Darstellung und Konzeption der Frau im rabbinischen Korpus. Spezifische Themen dieser feministischen Lektüren umfassen so genannte „female-male plot structures“, Onomastik (vgl. Ilan, Silencing, Kap. 8), die frauenspezifische (inhärente) Alterität, den Diskurs über die Menstruation, den Körper der Frau (vgl. Fonrobert, Purity, S. 29–39), das Subversive, das Verhältnis der Frauen zur Macht, die Sexualität, die Familie, das Problem der Unfruchtbarkeit, die Genealogie u.a. Die Literatur zu diesen Fragen ist äußerst umfangreich. Es sei in diesem Rahmen nur auf eine Auswahl repräsentativer Publikationen hingewiesen. In Rereading the RabbisRereading the Rabbis geht Judith Hauptmann auf die wichtigsten Themen der rabbinischen Literatur ein, die Frauen als Protagonistinnen haben, u.a. den Sota-Prozess, den Ehevertrag/die Ketubba, die Regelungen in Bezug auf die Menstruation. Als Textgrundlage verwendet Hauptmann vor allem die Mischna und den babylonischen Talmud, vereinzelt aber auch halachische Midraschim. Judith Baskin fokussiert ihre Studie zur Konzeptualisierung der Frau in Midrashic WomenMidrashic Women auf haggadische Quellen aus Talmud und Midrasch.
Die Studien von Tal IlanTal Ilan zeigen, wie man u.a. aus rabbinischen Quellen historische Informationen zu einzelnen Frauenfiguren (wie der Frau von Rabbi Aqiva oder der Königin Schlomtzion/Salome Alexandra) und ihren geschichtlichen Kontexten sowie zu den Rollen der Frauen in der sozio-ökonomischen, politischen, intellektuellen und religiösen Geschichte des Zweiten Tempels und der rabbinischen Periode gewinnen kann, um eine Geschichte der Frauen zu schreiben. Was die verwerteten Midrasch-Quellen angeht, liegt Ilans Fokus auf halachischen Dokumenten, obwohl haggadische Quellen in Midraschim nicht ausgeschlossen werden. In Mine and Yours: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature (Kap. 4 und 5) handelt sie über die Kontexte, in denen Frauen in halachischen Midraschim konstruiert werden, sowie über die spezifische Sprache, die verwendet wird, um Rollen und Funktionen der Frauen auszudrücken. Interessant ist die Erkenntnis Ilans, dass Namen, die midraschisch ausgelegt werden, ein Hinweis dafür seien, dass die Namen erfunden sind. Kapitel 5 von Silencing the Queen zeigt die Verfahren, mit denen Frauen u.a. in halachischen |7|Midraschim zum Schweigen gebracht bzw. diskreditiert werden.
Naomi GraetzNaomi Graetz ist Autorin von zwei feministischen Monografien zu Midrasch-Quellen. Im Zentrum von Unlocking the Garden (vgl. in diesem Buch Kap. XIII.7) stehen Figuren als Metonymien für soziokulturelle Institutionen (Patriarchat, Ehe, Unfruchtbarkeit). Mit S/he created them: feminist retellings of Biblical stories liefert Graetz ein Beispiel von „zeitgenössischem Midrasch“, indem sie biblische Erzählungen mit einer weiblichen Stimme ergänzt und neu erzählt.
Die textuelle Konstruktion von Sexualität bildet einen weiteren Schwerpunkt der kulturpoetologischen Studien zu Midrasch und zur rabbinischen Literatur im Allgemeinen, wobei der Babylonische Talmud die erste Textgrundlage darstellt. Einige wichtige Beispiele umfassen zwei Werke von Daniel Boyarin – Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture und Unheroic Conduct: The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man – sowie Michael Satlows Tasting the Dish: Rabbinic Rhetorics of Sexuality, das vor allem tannaitische Midraschim und Talmudim behandelt. Gwyn Kessler veröffentlichte 2009 eine Monografie zur haggadischen Embryologie, in der sie Erzählungen über den Fötus in Midrasch-Kompilationen auswertet.
Aktuelle Studien sind nicht zuletzt komparatistisch ausgerichtetAktuelle Studien sind nicht zuletzt komparatistisch ausgerichtet, wobei rabbinische Auslegungspraktiken und -tendenzen im größeren Kontext (Judentum, Christentum und Islam) betrachtet und die Möglichkeit einer kulturellen Wechselwirkung analysiert werden (vgl. u.a. Visotzky, Midrash, Christian Exegesis and Hellenistic Hermeneutic und Stern, Ancient Jewish Interpretation of the Song of Songs in Comparative Context; Hirshman, Rivalry).
Jüngere Aufsätze, Monografien und Sammelbände wie die von Shaye Cohen (u.a. Beginnings, z.B. S. 293–298), Philip Alexander (Quid Athenis), Catherine Hezser (Rabbinic Law; Interfaces; Chrie), Lee I. Levine (Judaism and Hellenism), Pieter van der Horst (Hellenism), John Collins und Gregory Sterling (Hellenism) oder Carol Bakhos (Ancient Judaism) haben neuere Erkenntnisse in Bezug auf Hermeneutik und RechtHermeneutik und Recht in der rabbinischen Literatur im Rahmen der griechisch-römischen Welt erbracht.
Eine Reihe von Arbeiten von Daniel BoyarinDaniel Boyarin hat die Diskussion massiv angeregt, inwieweit rabbinische Literatur durch das aufkommende Christentum beeinflusst sei bzw. darauf reagiere. Dazu gehören Thesen wie die einer Grauzone zwischen jüdischen und christlichen Gruppen in den ersten Jahrhunderten (Jewish Gospels; Borderlines/Abgrenzungen), von der Beeinflussung jüdischer Martyriumsvorstellungen durch christliche Märtyrertexte (Dying for |8|God), von der schrittweisen Herausbildung einer jüdischen Orthodoxie als Reaktion auf die christliche etc. Für Boyarin findet eine entscheidende Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum in der Behandlung des Themas der göttlichen Einheit oder Zweiheit (Binitarianismus; vgl. dazu auch die Arbeit von Segal, Two Powers) statt. Die Rabbinen reagierten auf die Logostheologie, die vor allem in den Targumim begegnende Rede von der Memra (personifiziertes Wort Gottes) und die Engelverehrung und damit auf die theologische Bedeutung von Jesus als Heilsbringer in göttlicher Position. Boyarins Thesen radikalisieren sich zusehends, wenn er viele Entwicklungen des rabbinischen Judentums fast ausschließlich als Antwort auf das Christentum betrachtet. Die jüdische Rede von der Minut (Apostasie) ist dann Ergebnis der christlichen Häresiedebatte, die Erzählungen von der Gründung Javnes als neues rabbinisches Zentrum nach der Tempelzerstörung entsprächen einer Reaktion auf die Beschreibung der mit dem Konzil von Nicäa verbundenen christlichen Selbstdefinition durch den Kirchenvater Athanasius. Neben Boyarin ist hier auch Seth SchwartzSeth Schwartz zu erwähnen, der ebenfalls von christlichem Einfluss auf die Entwicklung des rabbinischen Judentums ausgeht (Imperialism; Culture). David Halperin (Origen and Seder Eliyahu) sieht Einflüsse des Origenes vor allem auf das Textkorpus von Seder Elijahu.
Mitunter auch in kritischer Distanz zu Daniel Boyarin hat vor allem Peter SchäferPeter Schäfer (u.a. Jewish Jesus) in jüngerer Zeit anhand einiger Beispiele illustriert, dass und wie rabbinische Texte als Reaktion auf die christliche Herausforderung gelesen werden können.
Erwähnt werden soll hier auch der Sammelband von Lieve Teugels und Rivka UlmerLieve Teugels und Rivka Ulmer (Midrash and Context). Er enthält Beiträge zum hellenistischen und christlichen Kontext des rabbinischen Midrasch, darunter von Matthew Kraus (zur Vulgata), von Joshua Moss (zur Bedeutung des Tempels) oder von Annette Yoshiko Reed (zum Vergleich von BerR und Augustinus).
Vergleichende StudienVergleichende Studien existieren z.B. zu den rabbinischen und neutestamentlichen Gleichnissen (Dschulnigg), zu Halacha bzw. Midrasch bei Paulus (Tomson, Halakha; Grohmann, Aneignung, S. 169–187), zu rabbinischen und neutestamentlichen Auslegungsmethoden (vgl. schon Bonsirvens Studie zu Paulus und der rabbinischen Exegese); David Wenkel untersucht die Bezüge von gezera schawa und dem Hebräerbrief. Informativ ist die umfassende Sammlung und Analyse von Robert PriceRobert Price (New Testament), die sich allerdings auf Evangelien und Apostelgeschichte beschränkt.
Zu den Bezügen zwischen den Rabbinen und den Kirchenvätern sind nicht zuletzt die Studien von Philip S. AlexanderPhilip S. Alexander (Intertexts), Burton VisotzkyBurton Visotzky (Fathers of the World; Jots and Tittles), Judith |9|Baskin (Contacts), Adam KamesarAdam Kamesar (Church Fathers) und Annette Yoshiko Reed (Reading Augustine) zu nennen. Informativ ist die kleine Monografie von Marc HirshmanMarc Hirshman (Rivalry). Darin widmet er sich den Kirchenvätern in Palästina zwischen dem 3. und 5. Jh. im Vergleich mit rabbinischen Texten dieser Ära. Er analysiert Texte von Justin, Origenes und Hieronymus, stellt vorsichtige Vermutungen über mögliche Kenntnisse der jeweilig anderen Überlieferungen an und reflektiert über Polemik, aber auch über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Midrasch und antiker Rhetorik.
Eine andere Form des „Vergleichs“ wird in den Untersuchungen Steven FraadeSteven Fraades deutlich. Er betreibt „comparative Midrash“, um Spezifika der verschiedenen exegetischen Gattungen der jüdischen Gemeinden der Antike zu beschreiben. Weitere Werke dieser Richtung umfassen James Kugels In Potiphar’s House – wo die Motive der narrativen Erweiterung biblischer Erzählungen in exegetischer Literatur, aber auch im Koran oder der Kunst, untersucht werden – und The Bible as it was u.a. Für eine vergleichende, allerdings innerrabbinische und auf die Dokumente ausgerichtete Midrasch-Lektüre plädiert Jacob Neusner, der einige Bände zu diesem Thema vorlegte.
Das Thema der mündlichen ÜberlieferungThema der mündlichen Überlieferung und die Performanz-Frage stehen im Zentrum einiger Beiträge zu Midrasch (u.a. Martin Jaffee, Torah in the Mouth; Steven Fraade, From Tradition to Commentary; vgl. auch Goldberg, Sprechakt, und Nelson, Orality).
Oft befasst sich die Forschung mit einzelnen Midrasch-KompilationenMidrasch-Kompilationen, wie sie etwa BerR oder EkhR darstellen. Umfassend sind die Untersuchungen zu PesR (seltener zu PesK), in Bezug auf Werke der gaonäischen Periode (z.B. Tanchuma) nicht zuletzt zu PRE.
ARN, gewissermaßen ein Midrasch zum Mishnatraktat Avot, bildet die Textgrundlage für einige Beiträge zum Thema Ethik im rabbinischen Judentum, wie Jonathan Wyn Schofers Buch The Making of a Sage.
Bedeutsam sind Neubewertungen von klassischen MidraschimNeubewertungen von klassischen Midraschim, so Visotzkys Untersuchung zu WaR, die diesen Midrasch als faszinierendes Sammelwerk zeigt, das als Zeichen einer fundamentalen Änderung in der jüdischen Frömmigkeit gelesen werden kann, die in einer Distanzierung von den Themen um den Tempelkult und einer konsequenten „Rabbinisierung“ des Buches Levitikus besteht. Die Monografie befasst sich mit der Struktur des Werkes, der thematischen Einheit der 37 Kapitel, mit einzelnen sprachlichen Aspekten sowie mit der vermittelten Anthropologie und Theologie.
Die Hermeneutik der halachischen Midraschim der Schule JischmaelsSchule Jischmaels, Mechilta und SifBem, wird von Azzan Yadin in seinem Buch Scripture as LogosScripture as Logos untersucht. Yadin arbeitet äußerst textimmanent und erlaubt sich Kritik am Dialog zwischen Midrasch |10|und literaturwissenschaftlicher Theorie, wie dieser von Handelman oder Hartman/Budick vertreten wird. Ein wichtiges Anliegen Yadins ist zu zeigen, wie die halachischen Midraschim der Schule Jischmaels die Freiheit der Lesenden steuern bzw. in Grenzen halten. 2014 folgte mit Scripture and Tradition. Rabbi Akiva and the Triumph of Midrash eine vergleichbare Studie zu Sifra.
Unter den Subgattungen des Midrasch, die als Mikroformen oder literarische Formen bezeichnet werden können, nimmt das Gleichnis (Maschal)Gleichnis (Maschal) einen besonderen Platz in der Forschung ein (vgl. die Arbeiten von Stern). Das mehrbändige Projekt von Thoma/Lauer/Ernst, Die Gleichnisse der Rabbinen bietet Übersetzung und Klassifikation von Gleichnissen in exegetischen und homiletischen Midrasch-Kompilationen. Alan Appelbaum (King-Parable) widmet sich dem Maschal im 3. Jh., wobei er bei der Frage nach einer antirömischen bzw. antikaiserlichen Tendenz u.a. auf postkoloniale Studien verweist.
Jüngere Arbeiten beschäftigen sich auch wieder intensiver mit der Form der Peticha (Proömium)Peticha (Proömium) und den so genannten homiletischen Midraschim (vgl. Kap. VII.3).
Die Rekonstruktion nicht erhaltener haggadischer MidraschimRekonstruktion nicht erhaltener haggadischer Midraschim ist eine wichtige Aufgabe der Midrasch-Forschung, bleibt aber trotz der enormen technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte ein Desideratum, wie Myron Lerner in einem Beitrag zu den Estermidraschim beobachtet. Was kritische Ausgaben angeht, werden vor allem SynopsenSynopsen als fertige Publikationen oder als Vorarbeiten für Editionen, wie Chaim Milikowskys Transkription von WaR (vgl. http://www.biu.ac.il/JS/midrash/VR/) oder Louis Barths versuchte DigitalisierungDigitalisierung der PRE (vgl. http://www.usc.edu/projects/pre-project/index.html) veröffentlicht. Unbedingt zu erwähnen ist das Midrash Project des Jerusalemer Schechter InstituteJerusalemer Schechter Institutes (http://www.schechter.edu). Dieses will wenigstens acht kritische Midrasch-Editionen herausbringen bzw. Midraschsynopsen online zugänglich machen. Die Ausgaben sollen das beste Manuskript, alternative Lesarten, einen Kommentar und eine Verweisliste auf rabbinische Parallelen enthalten. Bislang ist eine Ausgabe von Midrasch Samuel erschienen (Hg. B. Lifshitz) sowie Zeilensynopsen zu Midrasch Ester (Hgg. J. Tabory/A. Atzmon), Qohelet Rabba (S. Baruchi) und Schir ha-Schirim Rabba (Hg. T. Kadari). Erarbeitet werden weiters Rut Rabba (Hg. M. Bialik Lerner) und Echa Rabba (Hg. P. Mandel).
|11|Einige ÜbersetzungenÜbersetzungen, hauptsächlich ins Englische (vgl. Neusners Analytical Translations) sind in den letzten Jahren erschienen; ins Deutsche wurden die MekhJ (Stemberger), SifBem, SifZ, die Estermidraschim, die PRE, das Alphabet des Ben Sira oder kleinere Midraschim des Mittelalters (Börner-Klein) übersetzt.
Einige SammelbändeSammelbände zum Thema Midrasch sind in den letzten Jahren erschienen. Dazu zählt etwa Mark Lee Raphaels Agendas for the Study of MidrashAgendas for the Study of Midrash in the Twenty-first Century von 1999. Darin findet sich u.a. ein Beitrag von Fraade zu den Bezügen zwischen den Qumranfunden und Midrasch, einer von Dvora Weisberg zu Frauen in rabbinischer Darstellung oder ein Artikel von Bregman zu visuellen Elementen im Midrasch.
Drei weitere Bände, von Rivka Ulmer und Lieve Teugels 2005 (Schwerpunkt auf Philologie bzw. Textkritik), 2007 und 2008 herausgegeben, versammeln Beiträge des jährlichen Kongresses der Society for Biblical Literature. 2006 wurden die Current Trends in the Study of MidrashCurrent Trends in the Study of Midrash von Carol Bakhos ediert. Diese Bände enthalten in der Regel Beiträge zu klassischen rabbinischen Midrasch-Kompilationen, aber auch zum Weiterleben von dem, was als „midrashic dimension“ bezeichnet wird, in verschiedenen Gattungen der jüdischen (und sonstigen) Literatur des Mittelalters und der Neuzeit.
The Literature of the SagesThe Literature of the Sages, der zweite Teil eines Projekts, dessen erster Teil 1984 erschien, umfasst drei ausführliche Kapitel zu Midraschim. Myron Lerner befasst sich dort mit den so genannten haggadischen Midraschim: Die „departmental analysis“ stellt einen Ansatz dar, bei dem mehrere Midraschim, die dasselbe biblische Buch auslegen, als Korpus untersucht werden: Die erhaltenen Texte werden nach formalen Kriterien in Kategorien unterteilt, beschrieben, die Sekundärliteratur referiert (vgl. Schäfers Editionen von Hechalot-Literatur und Reegs Midrasch von den zehn Märtyrern, Lerners Beitrag zu den Estermidraschim).
2005 erschien die von Jacob Neusner und Alan Avery-Peck herausgegebene Encyclopedia of MidrashEncyclopedia of Midrash. Die zwei Bände umfassen 56 Artikel, die allgemeine Themen (mündliche Tora, Liturgie etc.), dem rabbinischen Midrasch vergleichbare Phänomene in der jüdischen und christlichen Literatur, die rabbinische Lektüre biblischer Bücher sowie die Theologie der klassischen Midraschim behandeln.
2011 erschien in Israel eine Einführung in Midraschliteratur von Anat Reizel (Hebr.).
|12|Ein Klassiker im deutsch- und englischsprachigen Raum ist Günter Stembergers Einleitung in Talmud und MidraschEinleitung in Talmud und Midrasch, die im dritten Teil eine konzise Darstellung der meisten Midraschim und die dazugehörige vermutlich ausführlichste Bibliographie enthält. Vom selben Autor erschien 1989 ein Buch zu Midrasch, das nach einer kurzen Einführung zahlreiche Textbeispiele anführt und kommentiert, die entweder repräsentativ für die drei klassischen Midrasch-Gattungen – d.h. die halachischen, exegetischen und homiletischen Midraschim – sind oder eine literarische Form wie die nacherzählte Bibel, wie sie in späteren Werken der rabbinischen Literatur verwendet wird, illustrieren. Die 2010 erschienenen zwei Sammelbände Judaica MinoraJudaica Minora enthalten einige Artikel Stembergers mit Bezügen zum Midrasch. Ebenfalls zahlreich sind die Beispiele in Jacob Neusners What is Midrash?What is Midrash? und A Midrash Reader.
Ende 2013 brachten Michael Fishbane und Joanna Weinberg eine Sammlung wichtiger Beiträge zum Thema Midrasch unter dem Titel Midrash UnboundMidrash Unbound heraus. In vier Teilen, die von den Anfängen bis zum modernen Chabad-Chassidismus chronologisch fortschreiten, wird das Phänomen Midrasch in seiner Bandbreite im historischen Wandel ausführlich beleuchtet.
In der Forschung der letzten Jahrzehnte findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen und DefinitionenInterpretationen und Definitionen von Midrasch, die nicht selten als Widerschein wissenschaftlicher Zeitströmungen zu lesen sind (vgl. den Überblick bei Bakhos, Matters; Grohmann, Aneignung, S. 107–129). In der Vielzahl der Definitionen ist zu bemerken, dass manche sich stärker auf die literarische Struktur, andere mehr auf die aktualisierende Funktion, nicht selten gepaart mit der Bedeutung für die religiös-kulturelle Entwicklung des Judentums konzentrieren. Im Folgenden seien einige Ansätze kurz beschrieben. Gewisse Übereinstimmung herrscht in der Funktion des Midrasch für die Gemeinde und die GottesbeziehungFunktion des Midrasch für die Gemeinde und die Gottesbeziehung. Diese wurde bereits von Renée Bloch (Midrash) oder Roger Le Déaut (A-propos) betont. Auch Addison Wright (Literary Genre) hob die Bedeutung von Midrasch als religiöse Schrift hervor. Großen Einfluss übte Isaak HeinemannIsaak Heinemann (Darche ha-Aggada) mit seiner maßgeblich betonten Funktion der Haggada als „schöpferische Geschichtsschreibung“ und „schöpferische Philologie“ aus. Daran orientiert formuliert Ithamar GruenwaldIthamar Gruenwald, dass Midrasch den Versuch darstelle, „Schrift als die normative Konstante des Judentums zu behaupten“ (Midrash, S. 6), über Brüche und Krisen hinweg |13|und als intellektuelle Herausforderung, die Mut und religiöse Sensibilität verlangt. In seinem Bemühen, die „mentale Haltung oder Disposition“ zu beschreiben, die er mit dem Stichwort „midrashic condition“ verbindet, greift er auf Heinemanns Konzept zurück und spricht davon, dass nicht der bloße Akt des Verstehens zähle, sondern die Schaffung von Bedeutung, die mit den Bibelversen verbunden sei. Gruenwald gesteht den Midraschautoren großen Spielraum in der Macht über den Text zu, die jedoch durch die Tradition beschränkt sei, die auf die göttliche Inspiration der Schrift und grundlegende moralische Haltungen sowie die Bedeutung des Kultes Wert lege.
Uneinigkeit herrscht darüber, ob Midrasch eher Ein literarisches Genre oder eine Methode des Textzugangesein literarisches Genre oder eine Methode des Textzuganges ist. Addison WrightAddison Wrights Definition geht von einem literarischen Genre aus, das aktualisierende Bedeutung hat. Schrifttext und Kommentar müssen dabei getrennt sein:
Als Name einer literarischen Gattung bezeichnet das Wort Midrasch eine Komposition, die einen Schrifttext der Vergangenheit verstehbar, gebrauchsfähig und relevant für die religiösen Bedürfnisse einer späteren Generation zu machen sucht. Es ist so eine Literatur über eine Literatur […]. Ein Midrasch ist immer explizit oder implizit in den Kontext des biblischen Texts gestellt, den er kommentiert. (Literary Genre, S. 143)
Midrasch ist demnach Auslegung von Schrift um der Schrift willen. Das Genre Midrasch beschränkt sich nach Wright aber nicht nur auf jüdische Texte, sondern kann beispielsweise auch auf pagane ägyptische Prophetentexte mit ähnlicher Struktur angewendet werden. Auch christliche Rezeption der hebräischen Bibel lässt er als Midrasch gelten. Andere Schriften, die Text und Kommentar aus seiner Sicht zu wenig trennen, schließt er jedoch vom Genre Midrasch aus.
Lieve TeugelsLieve Teugels diskutiert in ihrem Buch Bible and Midrash: The Story of „The Wooing of Rebekah“ (Gen. 24) (vgl. auch ihren Beitrag Midrash in the Bible) Ansätze von Addison Wright, Robert Le Déaut, Daniel Boyarin, Michael Fishbane, Jacob Neusner und Gary Porton und stützt sich auf die formanalytische Definition Arnold GoldbergArnold Goldbergs, die sie übernimmt und erweitert. Goldberg hatte in mehreren Aufsätzen unterstrichen, dass der Begriff Midrasch ausschließlich für die rabbinische Literatur zu verwenden sei und von seiner Form bestimmt werden müsse. Demnach ist Midrasch immer Erläuterung des zitierten Bibeltextes, des Lemmas (Lemma der Offenbarungsschrift). Der Midraschsatz besteht aus Lemma, der Operation und dem Ergebnis (Dictum), schematisch „L“ „on“ → „D“ oder „D“ ← „on“ „L“. Im Midraschschriften vorkommende Formen wie Maschal oder Maʿase (dazu mehr unter VI) |14|sind kein Midrasch, wohl aber tritt Midrasch in Mischna oder den Talmudim auf.
Teugels diskutiert auch die kritischen Ergänzungen Goldbergs durch Philip Alexanders Hinweis auf die „Methoden“ (Midrash and the Gospels) und sieht neben den formalen Kriterien für Midrasch ein Alleinstellungsmerkmal in der Mündlichkeit der Überlieferung und der Annahme der göttlichen Offenbarung. Midrasch ist ihrer Definition nach beschränkt auf „rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“„rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“ (Bible and Midrash, S. 168).
Und weiter:
Nach der Diskussion über die Natur des rabbinischen Midrasch möchte ich die Verwendung des Begriffes „Midrasch“ für jegliche Literatur außerhalb des rabbinischen Korpus zu verhindern suchen. Mein Hauptgrund besteht darin, dass es besser ist, gleichwertige aber unterschiedliche Dinge zu vergleichen, als sie alle auf einen Haufen zu werfen und damit zu enden, dass man nichts mehr zum Vergleichen hat. Wenn wir Bibelauslegung innerhalb der Schrift (innerbiblische Exegese), die Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament, die Bibelauslegung in Qumran, in der Literatur des Zweiten Tempels, bei Philo etc., all diese unterschiedlichen Arten von Bibelauslegung getrennt betrachten, haben wir etwas zu vergleichen. Wenn wir alle diese Formen der Bibelauslegung „Midrasch“ nennen, machen wir die Dinge unklar. (Bible and Midrash, S. 169)
Dieses pragmatische Argument hat einiges für sich und wurde z.B. 2006 vom „international research project for the study of the Rewritten Bible“ übernommen. Erkki Koskenniemi und Pekka Lindqvist halten im ersten Band der akademischen Reihe Studies in Rewritten BibleStudies in Rewritten Bible fest,
dass das Wort Midrasch für frühe jüdische Exegese verwendet oder besser auf rabbinische Exegese beschränkt werden soll, dabei z.B. der kompakten Definition von Lieve Teugels folgend. (S. 18)
Die Goldbergschülerin Rivka UlmerRivka Ulmer hat 2006 in einem Beitrag mit dem Titel The Boundaries of the Rabbinic Genre Midrash ebenfalls jegliche Verwendung des Begriffes Midrasch außerhalb des rabbinischen Kontextes abgelehnt. Midraschim seien „nachbiblisch und auf den biblischen Text […] bezogen, bedienen sich typischerweise namentlich genannter Ausleger (der Rabbinen) und spezifischer Auslegungsregeln (der Middot)“ (Boundaries, S. 63). Ulmer sieht Midrasch vor allem als Ausdruck der rabbinischen Theologie und weniger als exegetische Methode. Midrasch als „literarisches Genre“ ist für sie durch die soziale Gruppe, die es schafft, definiert. Mittelalterlicher „Midrasch“ sei durch eine Schwächung der Form gekennzeichnet. Ulmer betont die Voraussetzungen des Midrasch. Die Gegenwart der Rabbinen bestimmt den Kontext der Schrift, |15|auch wenn die Bedeutung der Schrift noch viele weitere Möglichkeiten beinhalten mag.
Teugels oder Ulmers Definition von Midrasch ist klar und eng umrissen: Da er durch die Hermeneutik und die Theologie der Rabbinen bestimmt ist, kann es keine außerrabbinischen Midraschim geben.
Gegenüber einem Verständnis von Midrasch als literarischem (rabbinischem) Genre wurde in verschiedenen Ansätzen dieser stärker als Eine Methode des Textzugangeseine Methode des Textzuganges begriffen. Deutlich haben dies Avigdor Shinan und Yair Zakovitch so zu beschreiben versucht:
Midrasch ist eine Methode des Textzugangs – abgeleitet aus einer religiösen Weltsicht und durch verschiedene Erfordernisse motiviert (historische, moralische, literarische etc.) –, die es ermöglicht und ermutigt, viele und sogar sich widersprechende Bedeutungen im Text zu entdecken, während die Intention des Autors oder der Autoren sich als schwer fassbar erweist. (Midrash, S. 258)
In diesem Zusammenhang sind die 1983 in der Zeitschrift Prooftexts erstmals erschienenen Two Introductions to MidrashTwo Introductions to Midrash von James KugelJames Kugel zu nennen. Er versteht Midrasch als „ein interpretatives Verfahren, einen Weg, einen heiligen Text zu lesen“ (Two Introductions, S. 91). Damit definiert er Midrasch als eine Hermeneutik, die er sowohl in den Targumim, dem qumranischen Genesis Apokryphon als auch dem mittelalterlichen Sefer ha-Jaschar wiederfindet, in Predigten, Gebeten und Gedichten, und natürlich im rabbinischen Midrasch, in Mischna und Gemara, „denn im Grunde ist Midrasch nichts Geringeres als der Grundstein des rabbinischen Judentums, und dabei so divers wie die rabbinische Kreativität selbst“ (S. 92). Kugel erkennt selbst, dass die weite Deutung von Midrasch als „Recherche, welche die Schrift interpretiert und in allen Arten von Kontexten Ausdruck findet“ (S. 92), zu breit angelegt ist, und widmet sich danach dem konkreten Vorgehen. Dazu gehöre die Erklärung von Problemen in den biblischen Versen, genauer in einzelnen Worten des biblischen Verses, etwas, das später Boyarin mit dem „filling of gaps“ bezeichnen wird. Nach Kugel ist Midrasch am Vers, nicht an größeren biblischen Einheiten orientiert, wobei der Kontext der Auslegung die ganze Schrift, der Kanon, ist, „eine Situation vergleichbar bestimmten politischen Organisationen, in denen es keine eigenen Staaten, Provinzen oder ähnliches gibt, sondern nur das Dorf und das Königreich“ (S. 93). Diese Interpretationen einzelner Verse seien unabhängig von größeren Einheiten zirkuliert, ähnlich wie moderne Witze, „und wie Witze wurden sie überliefert, modifiziert und verbessert, als sie […] durch das Lernen mit dem Bibeltext selbst überliefert wurden“ (S. 95).
|16|Daniel BoyarinDaniel Boyarins 1990 erschienene Studie Intertextuality and the Reading of MidrashIntertextuality and the Reading of Midrash greift Kugels Analyse positiv auf und ist deutlich von der Literaturtheorie der Zeit und ihren Proponenten wie Roland Barthes, Julia Kristeva oder Mikhail Bakhtin bzw. von der Intertextualitätskonzeption von Michael Riffaterre beeinflusst. Im Zentrum steht die Schrift als ein Dokument, das auf vielfältige Weise (polyvalent) ausgelegt werden kann und ausgelegt wurde. Im ersten Kapitel mit dem Titel Toward a New Theory of Midrash kritisiert Boyarin Heinemanns Ansatz der kreativen Geschichtsschreibung und will Midrasch
zuallererst als Lesen verstehen, als Hermeneutik, als in der Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text begründet, der für sie sowohl normativ als auch göttlichen Ursprungs war. (Intertextuality, S. 5)
Boyarin richtet sich hier gegen eine Position der Auslegung von Midrasch, die dessen hermeneutisches Grundanliegen zuallererst und vorrangig als Reaktion auf zeitgenössische Probleme und Zustände versteht.
Auch Jacob NeusnerJacob Neusner, der in seinen zahlreichen Publikationen immer wieder auch die Bedeutung des Midrasch thematisiert (Funktion, Struktur, Theologie etc.), was in diesem Buch nur ansatzhaft aufgezeigt und ihm damit auch nur in Teilen gerecht werden kann, neigt in seiner Deutung zu einem Verständnis, wonach Midrasch „einem Zweck dient, der nicht durch die Schrift, sondern durch den Glauben bestimmt ist, der sich in Entwicklung befindet und dabei ist, sich zu artikulieren“ (Midrash: An Introduction, S. xi). Für den Midrasch forme die Schrift ein „dictionary“, das zahlreiche Möglichkeiten der Auslegung biete oder eine Reihe von Farben, die für ein Gemälde zur Verfügung stehen.
Nach Boyarin ist Midrasch demgegenüber in erster Linie einmal als „Lesen eines Textes“ ernst zu nehmen, was er näher als „Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text“ bestimmt. Midrasch setzt die literarische Aktivität als Reflexivität und Interpretation, die innerhalb der Bibel beginnt, fort und vergegenwärtigt die biblische Vergangenheit. Die Texte reflektieren also die historischen Entstehungsbedingungen einerseits, wie sie andererseits auch auf diese selbst zurückwirken. Zentrales Stichwort der Midraschanalyse Boyarins ist hier „Intertextualität“„Intertextualität“, deren Kennzeichen, ganz im Kontext postmoderner Literaturtheorie, von der bewussten und unbewussten Zitation vorhandener Texte und Diskurse bestimmt ist. Biblische Texte, und um sie geht es ja im Midrasch, werden aufeinander bezogen, stehen im beständigen Dialog. Die Rabbinen haben die Welt durch die Brille |17|der Bibel betrachtet, genauer gesagt durch „ihre ideologisch gefärbte Brille“ (Intertextuality, S. 15), denn kulturelle Codes bestimmen, bewusst oder unbewusst, die Erzeugung wie das Verstehen von Texten. Die intertextuelle Lesepraxis der Rabbinen baut auf innerbiblischer Lesepraxis auf. Der Bereich der Interpretation ist der biblische Kanon, in dessen Licht eine einzelne Stelle interpretiert wird. Daher ist Midrasch im Grunde „radikales intertextuelles Lesen des Kanons“ (S. 16), wobei die sich beim Lesen ergebenden Fragen, die so genannten gaps, eine zentrale Rolle spielen, welche nun gefüllt werden. Im Prinzip kann Midrasch daher als intertextuelles – also textlich dialogisches – Erklären von Unklarheiten, Lücken, offenen FragenErklären von Unklarheiten, Lücken, offenen Fragen, also der gaps verstanden werden.
Es wird etwas später noch zu zeigen sein, dass schon innerbiblisch eine große schöpferische Freiheit bestand, vorhandenes Traditionsgut weiterzuentwickeln und neuen Bedingungen anzupassen. Und es wird gezeigt werden, dass die rabbinischen Midraschim sehr wohl ein Gespür für die (Lösung der) im Bibeltext inhärenten Problemstellungen hatten. In den halachischen Midraschim (dazu mehr unter IX) zeigten sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen im Blick auf die Verwendung von außerbiblischer Halacha. Doch bleibt auch hier grundsätzlich zu betonen, dass das Ziel am Ende die Übereinstimmung mit der biblischen Botschaft ist.
Eine der bis heute am häufigsten zitierten Definitionen von Midrasch ist die von Gary PortonGary Porton aus seinem wichtigen Aufsatz Defining Midrash, die nach einem Bekenntnis zu einer notwendigen Klärung der „literarischen Aspekte“ folgt. Midrasch sei demnach
eine Literaturgattung, mündlich oder schriftlich, die in direkter Beziehung zu einem festgelegten, kanonischen Text steht, der vom Midraschist und seiner Hörerschaft als autoritatives und geoffenbartes Wort von Gott betrachtet wird, und in der dieser kanonische Text explizit zitiert oder klar auf ihn hingewiesen wird (S. 62; deutsch in: Midrasch: Die Rabbinen und die Hebräische Bibel, S. 134).
Vielfach wurde die Unschärfe und Unklarheit dieses Ansatzes kritisiert, vor allem in Bezug auf den Begriff „kanonisch“ und den expliziten Bezug auf die Einstellung der Leserinnen und Leser/Zuhörerinnen und Zuhörer. Wie kann man diese erfragen? Unabhängig davon eröffnet Porton eine relativ weite und offene Deutung, die auch Targumim, Rewritten Bible (Liber Antiquitatum Biblicarum, Genesis Apokryphon, Jubiläenbuch etc.) sowie die Pescharim von Qumran umfasst, auch wenn diese sich nach Porton in einer Reihe von Punkten von den rabbinischen Midraschim unterscheiden. In Definitions of Midrash hat er 2005 gleich zu Beginn des Artikels die Definition etwas geschärft:
|18|Rabbinischer Midrasch ist eine von den Rabbinen verfasste/zusammengestellte (composed) mündliche oder schriftliche Literatur, die ihren Ausgangspunkt in einem fixierten kanonischen biblischen Text hat. Im Midrasch wird dieser Originaltext, der als geoffenbartes Wort Gottes durch den Midraschisten und sein Publikum angesehen wird, explizit zitiert oder deutlich darauf angespielt. In der wissenschaftlichen Literatur, wie im Judentum selbst, wird der Begriff Midrasch auf drei verschiedene Arten verwendet: 1) bezogen auf eine einzelne exegetische Perikope […], 2) um die rabbinische Methode der Bibelauslegung zu beschreiben […] und 3) um die Zusammenstellungen der rabbinischen exegetischen Darlegungen zu bezeichnen, die in der Spätantike produziert wurden. (Definitions, S. 520)
Nach Porton besteht das Hauptanliegen des Midrasch, als eine von mehreren intellektuellen Auseinandersetzungen der Rabbinen mit der Schrift, darin, die enge Verbindung zwischen der rabbinischen Welt und der Welt der Tora darzulegen. Dazu kommt:
Die Rabbinen näherten sich der Tora mit all ihren intellektuellen und imaginativen Kräften an. Die Tora war ihr heiligstes Gut, und sie waren die Gestalter, Erhalter und Leiter dieser Kultur. Wenn die Tora auf das gesamte Leben einer Person Einfluss nimmt, dann sollten die Rabbinen fähig sein, sich ihr mit all ihrem Sein, mit ihren intellektuellen und rationalen Fähigkeiten wie auch mit ihrer imaginativen und spielerischen Seite anzunähern. Nur Midrasch legt Zeugnis von den gesamten intellektuellen Möglichkeiten des Verstandes und der Vorstellungskraft der Rabbinen ab. Je vertrauter ein Gelehrter mit der Tora wurde, der ultimativen Quelle seiner Heiligkeit, umso mehr Autorität und Status erhielt er innerhalb der rabbinischen Klasse und letztlich unter der jüdischen Bevölkerung. Fähig zu sein, der schriftlichen Tora neue Bedeutungen zu entlocken, oder die Möglichkeit zu haben, ihre explizite und implizite Bedeutung zu erläutern, erhöhte einen Rabbi unter seinen Kollegen. Midraschische Befähigung bestätigte und unterstützte den Anspruch des Rabbis, ein Rabbi zu sein. Seine Fähigkeit, mit der heiligen schriftlichen Tora zu arbeiten, kennzeichnete ihn als heiligen Mann. (Definitions, S. 526–527)
In Anbetracht dieser Forschungsgeschichte und der Definitionsversuche empfiehlt es sich, zwischen Midrasch/Midraschim als Textsorte/Schrift/Dokument und Midrasch als hermeneutischem Verfahren und auch Genre zu unterscheiden und dabei die Trägergruppe im Auge zu behalten. Auf der Basis der eben dargelegten Definitionsversuche und grundlegenden Beobachtungen zum Midrasch ist die Frage „Was ist Midrasch?“ in der Folge ausführlicher zu beantworten.
Gerlemann, Gillis/Ruprecht, Eberhard, „drš: fragen nach.“ ThWAT I (1984), S. 460–467.
Gruber, Mayer I., The Term Midrash in Tannaitic Literature. In: Ulmer, Rivka (Hg.), Discussing Cultural Influences. Text, Context and Non-Text in Rabbinic Judaism. Lanham 2007, S. 41–58.
Lim, Timothy H., Origins and Emergence of Midrash in Relation to the Hebrew Bible. In: Encyclopedia of Midrash I, S. 595–612.
Maier, Johann, „dāraš; midrāš.“ ThWQ I (2011), Sp. 725–737.
Mandel, Paul, Legal Midrash between Hillel and Rabbi Akiva: Did 70 Make a Difference? In: Schwartz, Daniel/Weiss, Zeev (Hgg.), Was 70CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple (Ancient Judaism and Early Christianity 78). Leiden – Boston 2012, S. 343–370; ders., „Darash Rabbi Peloni. A New Study.“ Dappim: Research in Literature16–17 (2008), S. 27–54 [Hebr.]; ders., the Origins of Midrash in the Second Temple Period. In: Bakhos, Carol (Hg.), Current Trends in the Study of Midrash (JSJ Supplements 106). Leiden – Boston 2006, S. 9–34; ders., „Midrashic Exegesis and Its Precedents in the Dead Sea Scrolls.“ Dead Sea Discoveries8 (2001), S. 149–168.
Stemberger, Günter, Zum Verständnis der Tora im rabbinischen Judentum. In: Zenger, Erich (Hg.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen (HBS10). Freiburg 1996, S. 329–343; ders., Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung – Texte – Erläuterungen. München 1989.
Maʿase (Ereignis/Fallbericht) über R. Jochanan b. Beroqa und R. Leazar Chisma, die von Javne nach Lod kamen und vor R. Jehoschua in Peqiin die Aufwartung machten.
R. Jehoschua fragte sie: Was gab es heute Neues im Lehrhaus?Was gab es heute Neues im Lehrhaus?
Sie antworteten ihm: Wir sind deine Schüler und trinken dein Wasser (= lernen von dir).
Er sagte zu ihnen: Es ist unmöglich, dass es nicht Neues im Lehrhaus gibt. Wessen Sabbat war es (= wer war zum Auslegen eingeteilt)?
Sie antworteten ihm: Es war der des R. Leazar b. Azarja.
Er fragte sie: Was war die Haggada?
„Versammle die Männer und Frauen und Kinder“ (Dtn 31,12).
|20|Er fragte sie: Was hat er dazu ausgelegt (ma darasch ba)?
Sie antworteten ihm: So hat er ausgelegt (kach darasch ba): Die Männer kommen, um zu lernen, die Frauen kommen, um zu hören. Warum kommen die Kinder? Um denen Lohn zu geben, die sie bringen.
Dieser kurze Bericht aus der Tosefta (Sota 7.9) über einige bekannte Rabbinen enthält wichtige Informationen zum Begriff darasch und zum Midrasch.
Der Gegenstand der Auslegung ist ein Stück aus der Bibel,
vorgetragen in einem ganz bestimmten Ort und Kontext, in der Versammlung der Rabbinen im Lehrhaus.
Die Auslegung hat Neuigkeitswert, fördert also eine Information aus dem Bibeltext zutage, die nicht ohne weiteres schon selbstverständlich und jedermann einsichtig wäre.
Es lohnt, ausgehend von diesem kurzen Beispiel, einen Blick auf einige Voraussetzungen zu werfen, die für den Midrasch in seiner klassischen Form gelten. Man kann dies Referenzrahmen nennen. Im folgenden Abschnitt (II.3) wird zu zeigen sein, dass Midrasch nicht von Anfang an und grundsätzlich als Auslegung von Schrift verstanden werden kann, sondern mit der Verkündigung und Interpretation von vorhandenem Recht zu tun hat – mit oder ohne Bibelbezug. Der weitaus überwiegende und maßgebliche Teil des Midrasch basiert aber auf der Auslegung von Schrift. Dazu gehört einmal ein Bewusstsein von einem autoritativen TextBewusstsein von einem autoritativen Text der Bibel. Auch wenn im Detail die Frage der Zugehörigkeit gewisser Bücher zu einem anerkannten Kanon lange im Fluss sein mag, so setzt Midrasch ein Korpus religiös-autoritativer Schriften voraus.
Die zweite entscheidende Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Midrasch sind Die Rabbinendie Rabbinen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Z., mehr noch aber der gescheiterte Aufstand unter Bar Kochba um 135 n.Z. stellten die Weichen für diese Bewegung, die das Judentum im Laufe der Zeit maßgeblich beeinflusst. Anfangs sicherlich eine Minderheit in der jüdischen Bevölkerung, setzt sich diese Gruppe aus unterschiedlichen Strömungen zusammen, deren gemeinsames Ziel es ist, jüdische Identität auf der Grundlage der Überlieferungen zu sichern. Die zentrale Basis der Bewegung ist das Lehrhaus, wo junge Männer in enger Beziehung zu ihren Lehrern an der Bibel und an den sich entwickelnden weiterführenden Lehren ausgebildet werden. Ein Geheimnis des langsam wachsenden Erfolgs der rabbinischen Bewegung ist sicherlich ihre Bereitschaft, unterschiedliche Aspekte jüdischen wie nichtjüdischen Lebens und Denkens zu integrieren und so zu verarbeiten, dass sie ein eigenständiges rabbinisches Gepräge erhalten. So nimmt man priesterlich-kultische Vorgänge auf, aber |21|auch messianisch-apokalyptische Strömungen, esoterisch-magische Elemente bei gleichzeitiger Distanzierung und Vorsicht vor politisch ungeschicktem Aktivismus oder religiösem Fanatismus. Vergleichbar den griechisch-römischen Rhetoren sind Rabbinen ausgebildete Experten für jüdisches Recht, aber nicht selten auch Wundertäter und Heiler, Astrologen und vieles mehr. Üblicherweise werden die rabbinischen Gelehrten auch nach Zeitepochen unterteilt:
Tannaiten
von aram. teni bzw. hebr. schana = wiederholen, lehren, lernen
Amoräer
von amar = sagen, kommentieren
Savoräer
von savar = meinen
Geonim
von gaon = erhaben
Hillel und Schammai bis Jehuda ha-Nasi (Rabbi)
bis etwa 500 n.Z.
Bearbeiter des babylonischen Talmuds
6. und Beginn 7. Jh.
Schuloberhäupter Babyloniens
bis 11. Jh.
Midrasch basiert auf dem rabbinischen Verständnis von Schrift und Tora. Wie ist dies zu verstehen?
Dreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am SinaiDreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am Sinai. In SifDev § 313 zu Dtn 32,10 heißt es über die Offenbarung:
„Er gab ihm Einsicht (jevonenehu)“ – durch den Dekalog. Das lehrt: Als das Wort aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, kam, sahen es die Israeliten und verstanden es und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse.
Die Einsicht (bina), von der im Bibeltext die Rede ist, verweist nach rabbinischer Ansicht bereits auf die die darin enthaltene Auslegung. Der Text ist Träger von Bedeutung, die entschlüsselt, erarbeitet werden muss. Der Dekalog fungiert als paradigmatischer Text, der Sinai als paradigmatischer MomentSinai als paradigmatischer Moment in Bezug auf Midrasch. „Paradoxerweise entfaltet sich das göttliche Wort durch menschliche Rede. Als exegetischer Akt und Vorgang ist diese menschliche Rede Midrasch“ (Fishbane, Midrash, S. 14). Fishbane verwendet in diesem Zusammenhang die von de Saussure stammende Unterscheidung von langue und parole, um die Bedeutung des aktualisierenden Sprechakts (parole) des Midrasch für die kanonisierte langue der Tora zu verdeutlichen.
Die Rabbinen sehen die Tora als ein komplexes Bezugssystem an. Günter Stemberger formulierte es einmal so:
Rabbinische Tradition hat durch die Jahrhunderte an der These festgehalten, dass die am Sinai geoffenbarte Tora auch schon die spätere Auslegung mitenthält, das traditionelle Verständnis also schon mit dem Bibeltext mitgegeben |22|ist und an dessen Autorität teilhat, eine Auffassung, die gerade innerhalb orthodoxer Kreise des Judentums Auslegungsunterschiede oft zu Grundsatzfragen werden läßt. Jedenfalls ist damit grundgelegt, daß die auf den Buchstaben genau abgegrenzte Tora vom Sinai unendliche Bedeutungsfülle hat, die Tora unendlich erneuerungsfähig ist und ihr doch nie Neues hinzugefügt werden kann. Der liturgische Dichter Jannai (6. Jh.) hat es in einer Qerova zu Ex 34,27 prägnant formuliert: „Nichts in ihr wird erneuert – und wenn erneuert wurde, so ist es gar nichts Neues“. Oder in der Wendung des Ben Bag Bag: „Drehe und wende sie; denn alles ist in ihr“ (mAv 5,21). (Verständnis der Tora, S. 4)
Die Bibel kann gedreht und gewendet werden, alles ist in ihr. Sie ist ein Bezugssystem, in dem alle Bereiche miteinander in Beziehung stehen und daher auch für die Auslegung verwendet werden können. Hierzu ist das Stichwort der Intertextualität wichtig, das noch oft begegnen wird.
Der Bibeltext ist in hebräischer SpracheSprache überliefert. Sie ist die Sprache der Schöpfung und der Offenbarung. Auslegung kann sich daher nicht nur auf Inhalte beziehen, sondern nicht zuletzt auf die sprachliche Äußerung und Form. Worte und Sätze können als Buchstabenkombinationen verstanden werden, die neu arrangiert wiederum eine Fülle von Auslegungen in sich bergen.
Auch wenn die Völker der Welt (vor allem die Christen) über den Bibeltext Zugang zur Offenbarung gewonnen haben, bleibt nach rabbinischer Ansicht die Besonderheit Israels in der Spezialoffenbarung der so genannten mündlichen Tora. Unter dem Kapitel Hermeneutik wird ausführlicher über das Offenbarungsverständnis und die hermeneutischen Grundsätze der Rabbinen gehandelt. Es mag hier genügen, den Referenzrahmen kurz aufgezeigt zu haben. Er besteht in der Gruppe der Rabbinen, einem autoritativen Bibeltext und einem Verständnis von Offenbarung, das es ermöglicht, alle Teile dieser Bibel miteinander in Beziehung zu setzen und auszulegen. Die Notwendigkeit der Auslegung, aber auch ihre in den Tiefenschichten des Textes verborgene Bedeutung, ist Bestandteil der Offenbarung.
Midrasch ermöglicht die dauerhafte Gültigkeit der Offenbarung, „ist primär religiöse Betätigung, ewiger Dialog Israels mit seinem Gott“ (Stemberger, Midrasch, S. 26).
Der mit dem Stichwort Daraschdarasch verbundene Dialog mit Gott beginnt bereits in der Bibel. Wie Gerleman/Ruprecht (drš) zeigen, macht die Bedeutung des Begriffes darasch schon hier eine Entwicklung durch. In profaner Verwendung meint er zumeist ein sich |23|Erkundigen nach der Beschaffenheit einer Sache, aber auch das Streben und Trachten (vgl. z.B. Jes 1,17; 16,5; Am 5,14; Est 10,3) und sich um etwas Kümmern (vgl. Jer 30,14; Ps 142,5; Spr 31,13; 1 Chr 13,3). In der wesentlich häufigeren Verwendung im religiösen Kontext bedeutet darasch ein Fordern von Blut (z.B. Gen 9,5), eines Gelübdes (Dtn 23,22), Opfers (Ez 20,40) u.ä., vor allem aber die Befragung GottesBefragung Gottes durch einen Gottesmann, Seher, Propheten (u.a. in 1 Sam 9,9; 1 Kön 14,5; 22,7; 2 Kön 22,13). Auch fremde Götter oder Totengeister werden befragt (Dtn 18,11; Jes 8,19; 19,3; 2 Kön 1,2). Gerleman/Ruprecht konstatieren eine Veränderung der Bedeutung in der Exilszeit zu einem „Habitus des Frommen“ (Sp. 464). Dieser entsteht aus der Entwicklung von der aufgrund einer Notlage notwendigen Befragung, der Klage des Einzelnen (vgl. u.a. Ps 22,27; 34,5; 69,33; 77,3) und des Volkes (vgl. Jes 58,2) hin zu einem Habitus des sich an Gott Haltens. „Dieser Übergang ist vollzogen in der deuteronomistischen Theologie, wo Umkehr und neues Halten der Gebote auf Seiten des Menschen Voraussetzung wurde für Gottes Hören der Klage (vgl. z.B. 1 Sam 7,3–4; ferner Dtn 4,29; Jes 55,6f.; 58; Jer 29,13; 2 Chr 15,2 und 4)“ (Sp. 465–466). Diese Haltung steht in einem Gegensatz zum Götzendienst (Jes 65,1.10; Jer 8,2; Zef 1,6 u.a.). darasch wird geradezu zum Synonym für „die Gebote halten“ oder „den Willen Gottes erfüllen“ (1 Chr 22,19; 2 Chr 14,6; 31,21; Ps 14,2; 119,2.10). „An einigen späten Stellen können sogar die Gebote Objekt von drš sein (Ps 119,45.155; 1 Chr