Migration - Alexander Rubel - E-Book

Migration E-Book

Alexander Rubel

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Beschreibung

Seit es Menschen gibt, erschließen sie sich neue Gebiete, begeben sich auf Wanderschaft und wechseln ihre Aufenthaltsorte. Manche freiwillig, um ihre Lebenssituation zu verbessern oder aus Neugier und Abenteuerlust. Andere unfreiwillig, um einer drohenden Gefahr zu entgehen. Migration und Mobilität sind eine historisch fassbare Konstante der Menschheitsgeschichte und wohl Teil unseres biologischen Programms. Ja, sie charakterisieren uns Menschen geradezu und sind durch alle Zeiten hindurch integraler Bestandteil unseres Menschseins, der conditio humana. Hunderttausende von Jahren, in welchen der homo sapiens und seine aufrechten Vorfahren durch Savannen und Steppen wanderten, haben sich vielleicht mehr in unser Erbgut und unsere kulturellen Muster eingeprägt, als wir das aus "wüstenrotscher Bausparerperspektive" wahrhaben wollen. Daher verfolgt Alexander Rubel die Migrationsgeschichte der Menschheit bis zu deren Anbeginn und nicht lediglich bis zur Neuzeit zurück, in der die Wanderungsbewegungen weltweit in aller Deutlichkeit sichtbar werden. Migrationsgeschichte wird von ihm vor allem kulturgeschichtlich gedeutet: Durch von Migranten vermittelten Kulturkontakt und -austausch entsteht Neues. Ja man kann sogar sagen, der "Fortschritt" und die Entstehung neuer Kulturtechniken sowie ihre Verbreitung sind Konsequenzen menschlicher Wanderungen. In knappen Zügen streicht der Autor die Entwicklungslinien der Migration über die Jahrhunderte und Jahrtausende heraus, zeigt Konstanten und Verwerfungen auf und entwickelt so klare Sichtachsen von der Gegenwart bis in die fernste Vergangenheit. Gerade die Darstellung von Wanderungsbewegungen in der Ur- und Frühgeschichte sowie die einem breiten Publikum wahrscheinlich weniger bekannten Belege für Migration aus klassischem Altertum und Mittelalter können für eine Akzentverschiebung bei der Beurteilung von Migration führen, die oft weitgehend oder gar ausschließlich auf neuzeitliche oder gegenwärtige Aspekte gegründet ist. Ein absolutes Muss für jeden, der sich für Migration interessiert.

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Seitenzahl: 614

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Titelei

Zitat (KeinKT)

Einleitung

Über dieses Buch

Migration als Teil der »conditio humana«

Migration und Weltgeschichte

Eurozentrismus

Migrationsgeschichte als Kulturgeschichte

Gegenwärtiges und allzeit Gültiges

Die Ideologie der Sesshaftigkeit bestimmt unseren Blick auf Migration

Wie sesshaft sind wir wirklich?

Hinweise zur Benutzung dieses Buches

Warum wandern Menschen und wohin? Grundbegriffe der Migration

Annäherungen

Historische und aktuelle Fragen

Formen der Migration. Eine kleine Phänomenologie

Warum wandern Menschen?

Wohin wandern Menschen aus?

Räumliche und zeitliche Kategorien: Kultur- und Sprachgrenzen überwinden

Ansiedlung, Kolonisation und Eroberung

Zirkuläre Migration

Heiratsmigration

Kettenmigration

Rückkehrer

Teil I Entwicklungsgeschichtliche Zugänge: Migrationsgeschichte als Menschheitsgeschichte

1 »Homo sapiens migrans«: Vor- und Frühgeschichte der Migration

1.1 Die Eroberung der Welt

1.2 Die Unterwerfung der Welt

1.3 Die Verwandlung der Welt

2 Migration in der Antike: Vom archaischen Griechenland bis zur Zeit der »Völkerwanderung«

2.1 Tomis und die Westküste des Schwarzen Meeres: Ein Streifzug durch antike Migrationsgeschichte

2.2 Die griechische Kolonisation

2.3 Das Alexanderreich und die Zeit des Hellenismus

2.4 Das römische Imperium

2.5 Spätantike und »Völkerwanderung«

3 Das Mittelalter

3.1 Vom »arabischen« zum »lateinischen« Mittelalter

3.2 Sizilien als Fallbeispiel: Araber, Stauffer und Normannen

3.3 Normannen in England

3.4 Die deutsche Ostsiedlung

3.5 Migration als Motor von Wissens- und Kulturtransfer: Von Westeuropa zum Reich der Mongolen

4 Intermezzo: Ist die Neuzeit wirklich eine Zäsur in der Migrationsgeschichte?

5 Die Neuzeit

5.1 Migrationsgeschichte wird Weltgeschichte: Die Entdeckung Amerikas, Kolonialismus und Frühkapitalismus

5.2 Glaubensspaltung und Migration im Europa der Frühen Neuzeit

5.3 Europäische Auswanderung nach Nordamerika und die Geschichte einer gescheiterten Rückwanderung

5.4 Migration und Nationalstaat: Rassismus und ethnische Zuordnungen

6 Das kurze 20. Jahrhundert: Ethnische Säuberungen, Zwangsarbeit, Vertreibung, Dekolonialisation

6.1 Kulturelle Fremdheit am Ende des 19. Jahrhunderts und das Erbe des Kolonialismus

6.2 Der Erste Weltkrieg und die Folgen: Das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« beendet die alte Weltordnung

6.3 Der Zweite Weltkrieg: Alle Dimensionen werden gesprengt

6.4 Dekolonisation und Migration: Die bunte Welt am Ende des 20. Jahrhunderts

6.5 Das 20. Jahrhundert: Ein neues Kapitel der Migrationsgeschichte?

Teil II Kulturgeschichtliche Zugänge

7 Kulturgeschichte und Kulturtransfer

8 Von Kaufleuten, Seefahrern und Abenteurern: Händler als Wegbereiter von Migration und Austausch

9 Der Kapitalismus als »game changer«? Massenmigration und Kapital in der Neuzeit

10 Die Ideologie der Sesshaftigkeit: Bürgertum und Eigentum

11 Die Erfindung des Passes: Grenzregime und Verhinderung von Migration

Teil III Migration gestern und heute

12 Migration als anthropologische Kategorie in der Menschheitsgeschichte

13 Das Rätsel der relativen Immobilität: Warum gibt es so wenige Migranten (aus dem globalen Süden)?

14 Aktuelle Debatten und unzeitgemäße Betrachtungen zur Kulturgeschichte der Migration

Anhang

Danksagung

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Antike und mittelalterliche Quellen (chronologisch sortiert)

Für das Gesamtthema relevante Titel

Zitierte Literatur und relevante Titel zu Teilaspekten

Abbildungsverzeichnis

Personen- und Sachregister

Der Autor

Alexander Rubel ist Direktor des Archäologischen Instituts der Rumänischen Akademie der Wissenschaften in Iași. Seine Arbeiten behandeln unterschiedliche Aspekte der griechisch-römischen Antike und ihres Nachwirkens. Derzeit forscht er vor allem auf dem Gebiet der Kulturkontakte zwischen dem Römischen Reich und den »Barbaren« während der römischen Kaiserzeit und der Spätantike in den Randzonen des Imperium Romanum. Er ist auch als Autor von Sachbüchern für ein breites Publikum hervorgetreten (Die Griechen, 3. Aufl. 2021, Kult und Religion der Germanen 2016).

Alexander Rubel

Migration

Eine Kulturgeschichte der Menschheit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Umschlagabbildung: bettysphotos – stock.adobe.com1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-044528-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044529-1epub: ISBN 978-3-17-045452-1

»›Ich werde ein Schiff nach Teneriffa oder Las Palmas auf den Kanarischen Inseln nehmen. Und dort werde ich meinen Beruf ausüben‹ – ›Als Seemann?‹ – ›Nein, Monsieur. Als Abenteurer. Ich will alle Völker und alle Länder der Welt sehen.‹«

(Bruce Chatwin im Gespräch mit einer Reisebekanntschaft)

Einleitung

Über dieses Buch

»Migration ist: schrecklich, schrecklich, schrecklich! Man muss sich ja mal vorstellen: Hinter jeder Migration steht ja auch ein Schicksal!« Mit diesen Worten eröffnete im Jahr 2003 eine völlig unvorbereitete, aber dennoch sehr selbstbewusste Leiterin des Goethe-Instituts in Bukarest eine mit Mitteln des »Stabilitätspakts für Südosteuropa« durchgeführte Tagung zum Thema Migration. Geladen waren die Granden der deutschen und internationalen Migrationsforschung sowie Vertreter aus Politik und Diplomatie. Mit jedem der drei »Schrecklich« versank der Kulturattaché der deutschen Botschaft, wie ein Boxer von harten Schlägen getroffen, tiefer im gepolsterten Gestühl. Die versammelten Fachleute schauten betreten auf ihr Schuhwerk, ließen sich aber nichts weiter anmerken und präsentierten in der Folge unbeeindruckt ihre Referate.

Unsinniger hätte man eine Veranstaltung zum Thema Migration kaum einleiten können. Migration, wie immer man ihre mannigfachen Formen bewerten will, ist zunächst einmal nicht »schrecklich«, sie findet einfach statt, und zwar überall auf der Welt und zu allen Zeiten. Über Bewertungen mag man streiten. Ein russischer Oligarch wird seine Migration an die Côte d'Azur vielleicht anders bewerten als ein bosnischer Kriegsflüchtling seine Flucht nach Deutschland, Warren Hastings, der Generalgouverneur von Indien (1774 – 1785), seine Zeit in Kalkutta wiederum anders als der Gote Fritigern, der mit seinen Leuten im Jahr 376 vor den Hunnen an die Donau geflohen war, seine Zeit als Landsuchender auf dem Balkan oder als Thomas Mann sein Exil in Kalifornien (1942 – 1952), wo einige seiner bedeutendsten Werke entstanden. »Schrecklich« wird nur in den seltensten Fällen das treffende Adjektiv sein.

Auch der Begriff »Schicksal« scheint sich kaum für den Zusammenhang Migration zu eignen. Laut Wörterbuch ist Schicksal nämlich ein »von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignendes, was jemandes Leben entscheidend bestimmt«. Wanderung hat fast immer mit individuellen Entscheidungen zu tun, mit – bisweilen limitierten – Handlungsmöglichkeiten, eben mit agency, wie man »neudeutsch« sagt. Auch bei Formen gewaltsamer Migration, wie etwa Flucht oder Vertreibung, sind es handelnde Menschen, die etwa als Kriegsherren für Wanderung mittelbar verantwortlich sind oder als Betroffene gegebenenfalls noch zwischen Fluchtzielen wählen können. Wiewohl also nicht hinter jeder Migration auch ein »Schicksal« stehen mag, so verbirgt sich hinter vielen Wanderungen, individuellen wie auch denen von Gruppen oder ganzen Gemeinschaften, oft eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Dieses Buch präsentiert einige solcher Geschichten, die im Zusammenhang ein repräsentatives Mosaikbild ergeben. Das Phänomen Wanderung oder Migration – also in einem allgemeinen Verständnis zunächst einmal die dauerhafte Verlegung des Wohnsitzes an einen anderen Ort bei gleichzeitiger Überschreitung von Begrenzungen oder Barrieren (geographische Grenzen, kulturelle oder sprachliche Barrieren) – wird in diesem Buch aus historischer Perspektive betrachtet. Mit dieser Perspektive und den verschiedenen analytischen Zugängen, die verständlich und mit Beispielen erläutert werden sollen, verbinde ich als Autor den Wunsch, dass der Leser am Ende der Lektüre weder mit dem Eindruck zurück bleibt, dass Migration »schrecklich« sei (weder für die Migranten, noch für Aufnahmegesellschaften), noch dass dieses Buch als Aufruf verstanden wird, Migration aus ökonomischen, sozialen und demographischen Gründen für überalterte Industriegesellschaften des globalen Nordens emphatisch zu begrüßen. Migration ist vielmehr – das wäre vielleicht die einfachste Formel, auf die man die Ergebnisse dieser historischen Wanderung herunterbrechen könnte, die auf den nächsten rund 300 Seiten vor dem Leser liegt – etwas ganz Normales, Alltägliches, das fast jeden Menschen auch in saturierten postindustriellen Gesellschaften direkt oder indirekt betrifft (genealogisch, Verwandte, Freunde, Nachbarn etc.). Auch wenn sich nicht für jeden damit ein besonderes »Schicksal« verbinden mag.

Unstreitig ist jedoch, dass Migration das Thema unserer Zeit ist, heute mehr noch als 2003, als die vom politischen Zusammenbruch des Ostblocks verursachten Umbrüche und Veränderungen in Europa bewältigt und im Goethe-Institut diskutiert wurden. Man kann die Zeitung beim Frühstück nicht aufschlagen, ohne auf Nachrichten und Reportagen zu stoßen, die von Menschen berichten, die in Schlauchbooten über das Mittelmeer Europa erreichen oder vor Putins Armee aus den ukrainischen Städten nach Westen fliehen.

Wir nehmen Migration durch die Vermittlung der Medien in erster Linie als ein Problem wahr, als Problem zudem, das spezifisch mit unserer Gegenwart, mit dem Zeitalter der Globalisierung, der weltweiten Kommunikation und einer beschleunigten Mobilität verbunden ist. Darüber hinaus erscheint das »Problem« Migration grundsätzlich als eines, das in erster Linie bildungsferne, geringqualifizierte Angehörige fremder Kulturen betrifft, die in die Nationalstaaten der »westlichen Welt« integriert oder gar assimiliert werden müssen. Elitenmigration, Karrieremigration oder temporäre Phänomene werden aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeklammert, genauso wie die historische Dimension von Migration oder die gewaltigen zeitgenössischen Wanderungsbewegungen in Asien. Ob nun die sinnvolle Integration oder die behördlich organisierte Zurückweisung der »Flut« der Migranten angestrebt wird: In der öffentlichen Diskussion über Migration überwiegen diejenigen Naturmetaphern, die mit Katastrophen verbunden sind. Mit Wellen, Fluten, Flüchtlingsströmen oder gar -tsunamis schwappen hydrologische Metaphern durch die Berichterstattung, auch durch die seriöse. Kurzum: Die seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts verstärkte und durch Klimawandel und die internationalen Konflikte der Gegenwart im Jahre 2015 zu einem vorläufigen Höhepunkt gelangte »Flüchtlingskrise« tritt ins öffentliche Bewusstsein als ein Sinnbild unserer Zeit.

Migration als Teil der »conditio humana«

Gegen die manchmal ausgesprochene, oft unausgesprochene Annahme, dass Migration ein Kennzeichen der Gegenwart, mindestens aber des zunehmend globalisierten Industriezeitalters der Zeitgeschichte sei, möchte dieses Buch historische Fakten und Argumente präsentieren. Aus historischer Perspektive ergibt sich ein Bild, das der öffentlichen medialen Wahrnehmung widerspricht: Im Folgenden werden wir sehen, dass Migration ein definitorisches Kennzeichen unserer Art, des homo sapiens, ist und dass es Migration schon immer gab. Migration ist integraler Teil des Menschseins, unserer conditio humana. Sie war und ist oft Motor des Fortschritts, des kulturellen Austauschs, des Wissenstransfers und der Verbreitung von Ideen, Techniken und Weltanschauungen, und vor allem: Migration ist entwicklungsgeschichtlich nichts Neues. Dieses Buch wird zeigen, dass Migration über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg ein in hohem Maße wiederkehrendes, zeitübergreifendes und weltweites Phänomen war und ist.

In diesem Aspekt unterscheidet sich der hier präsentierte Zugang nicht nur vom Bild in den Medien, sondern auch von anderen Studien zum Thema. Die weltweit vernetzte moderne Migrationsforschung hat nahezu ausschließlich die neuzeitliche Geschichte, etwa seit dem 17. Jahrhundert, im Blick. Vor allem die Arbeitsmigration über große geographische Räume hinweg, die erst seit der Industrialisierung eine bedeutendere Rolle zu spielen beginnt, beschäftigt aktuelle Studien zur Migrationsgeschichte überproportional. Auch die vermeintliche Verbindung des Anstiegs von Migrationsbewegungen in der Neuzeit mit dem Aufkommen des modernen Kapitalismus leitet oftmals das Interesse der Forscher. Der Schwerpunkt der Migrationsforschung, die mit beachtenswerten Detailstudien zum transatlantischen Sklavenhandel, zur Migration von mehr als 50 Millionen Europäern nach Nord- und Südamerika im 19. Jahrhundert und zu den auf die Weltkriege folgenden Wanderungsbewegungen hervorgetreten ist, liegt (neben der empirisch noch viel leichter zugänglichen Gegenwart) eben auf jenen Epochen und Zeitabschnitten der neueren Geschichte, die eine hohe Quellendichte produziert haben. Diese vielen und vielgestaltigen Quellen, Frachtpapiere, behördliche Einwanderungsregister, Passagierlisten, Auswandererbriefe usw., machen eine statistische Erfassung und Datenauswertung, eine Analyse von Motiven und das Aufstellen einer Typologie von Migrationsphänomenen und -gründen erst möglich. Verständlicherweise entsteht so – auch bei vielen Migrationsforschern selbst – die Überzeugung, Migration sei ein jüngeres Phänomen, das auch qualitativ von der Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse, der technischen Entwicklung und der durch die Globalisierung näher rückenden Räume geprägt worden sei. Durch das Quellenmaterial entsteht bisweilen auch eine Verzerrung der Perspektive, denn staatliche Statistiken über Ein- und Auswanderung lenken den Blick des Forschers in Kategorien des Nationalstaats und lassen etwa einen Belgier, der ins französische Grenzgebiet »emigriert«, als Auswanderer und Migranten erscheinen. Eine Person aus Wladiwostok dagegen (vielleicht ein Angehöriger der koreanischen Minderheit dort), die nach Moskau zieht (ca. 6.500 km Luftlinie), wird statistisch als Binnenmigrant geführt und kann deswegen in nationalstaatlicher Logik nicht als »echter« Migrant gelten (auf solche Fallstricke haben die Migrationsforscher Jan und Leo Lucassen immer wieder hingewiesen). Gerade die politische Dimension des Phänomens befördert eine Konzentration auf jüngere Entwicklungen und aktuelle Untersuchungen zu Migration. Die Notwendigkeit von Politikberatung und konkreten administrativen Lösungen von Migrationsfragen legt vielen Migrationsforschern auch aus praktischen Gründen nahe, die Gegenwart in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen. Damit wird suggeriert, dass moderne Migration ein gesellschaftlicher Ausnahmetatbestand sei. Stillschweigend gehen viele Migrationsforscher bis heute davon aus, dass sich die Wanderungsmuster der Menschen je nach historischer Epoche grundlegend voneinander unterscheiden. So hätten für die Zeit vor der Sesshaftwerdung der ersten Ackerbauern andere Rahmenbedingungen gegolten als in der Ära der vorindustriellen und dann wiederum der industriellen Staaten, während in der heutigen Ära der Globalisierung und der Hochtechnologie, die transnationale Kommunikation in Echtzeit und häufiges Reisen ermöglicht, wiederum andere Bedingungen für Migration herrschten.

Glaubt man dem sich so ergebenden Bild, müssten sich die Wanderungsbewegungen der Ur- und Frühgeschichte, die man bis vor wenigen Jahren aufgrund weniger archäologischer Funde nur erahnen konnte, und diejenigen der klassischen Antike, die sich nur durch wenige Quellen belegen lassen, die zudem Ausmaß und Motive im Dunkeln lassen, von den neuzeitlichen Formen der Migration grundlegend unterscheiden. Einer der wichtigsten soziologischen Vertreter der Migrationsforschung, Wilbur Zelinsky, hat den frühen Epochen der Menschheitsgeschichte sogar jegliches Migrationspotential abgesprochen. Diese Phasen seien allenfalls von Mobilität in Form von Nomadismus geprägt gewesen. Zelinsky betrachtete Migrationsgeschichte evolutionistisch: Mit steigender Komplexität und Urbanisierung von Gesellschaften nähmen auch die Migrationsphänomene zu und differenzierten sich auch qualitativ aus. Darüber hinaus galt auch das europäische Mittelalter, das lange Zeit den historiographischen Humus für die Meistererzählungen nationalstaatlicher Geschichtsschreibung bilden musste, als Zeitalter der Sesshaftigkeit, Bodenständigkeit und Stabilität von Populationen. Erst neuere Forschungen verweisen auf die enorme Mobilität und die Bevölkerungsverschiebungen, die schon das Mittelalter auch jenseits der bekannten Elitenwanderungen in die Kreuzfahrerstaaten oder der Übernahme Englands durch die Normannen kennzeichneten.

Diese Beobachtungen zu den bislang in der Migrationsforschung stark vernachlässigten Epochen lassen den Rückschluss zu, dass die grundlegenden Mechanismen von Migration seit der Entstehung unserer Art weitgehend die gleichen sind. »Fortschritt« und Technologie sowie die Entstehung größerer Populationen, die bisweilen Phänomene von Massenmigration hervorrufen können, haben allein das Ausmaß und bestimmte Charakteristika neuzeitlicher und moderner Wanderungen beeinflusst (man denke an das moderne Transport- und Kommunikationswesen). In den letzten Jahren mehren sich entsprechend diejenigen Stimmen, die einen »anthropologischen« Zugang zum Forschungsfeld fordern und Migration mit all ihren möglichen Motiven und Ausprägungen als ein epochenübergreifendes Muster menschlichen Verhaltens begreifen. Dennoch dominiert in fast allen allgemeinen Darstellungen die Neuzeit, wobei zudem das 19. und das 20. Jahrhundert immer überrepräsentiert sind.

Migration und Weltgeschichte

An der oben beschriebenen Sicht, dass »echte« Migration ein Kennzeichen der globalisierten Neuzeit sein müsse – eine Sicht, die in den letzten Jahren im Rahmen einer »Renaissance der Weltgeschichte« immer mehr zugunsten einer globalgeschichtlichen und epochenübergreifenden Betrachtung des Phänomens Migration korrigiert wird –, trägt nicht nur die Fixierung der Zunft auf das umfangreichere und oftmals leichter zu interpretierende Quellenmaterial der Neuzeit die Schuld. Auch die Zersplitterung der Fachdisziplinen und ihre anhaltende Untergliederung lässt eine Vielzahl neuer wissenschaftlicher Bäume erwachsen, die den Blick auf den Wald oftmals erschweren. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft, eine stetig wachsenden Großdisziplin, in der Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Altertumswissenschaften und der Archäologie nur noch in Ausnahmefällen von Neuzeithistorikern wahrgenommen werden. Doch gerade die Ur- und Frühgeschichte vermeldet spektakuläre neue Einsichten: Erst in der zurückliegenden Dekade haben neue Verfahren der Gentechnik und der Naturwissenschaften allgemein zusammen mit Ergebnissen aus der archäologischen Forschung bahnbrechende Erkenntnisse über großräumige Wanderungen von Frühmenschen und unserer eigenen Spezies in der Vorgeschichte ermöglicht, die uns geradezu dazu zwingen, die Geschichte unserer Spezies von Anbeginn bis heute als Migrationsgeschichte zu begreifen. Was weitsichtige Historiker der Neuzeit wie Klaus Jürgen Bade (2000, 11) anhand der für ihre Untersuchungszeiträume sehr reichhaltigen Quellen immer schon vermutet haben, bestätigen jetzt die neuen naturwissenschaftlich gewonnenen Daten und Quellen für die Vorgeschichte: »Den ›Homo migrans‹ gibt es, seit es den ›Homo sapiens‹ gibt«.

Migration ist ein Phänomen, das nicht nur epochenübergreifend gesehen werden muss, sie ist auch von welthistorischer Bedeutung. Während das Hauptaugenmerk vieler Forscher auf den rund 55 Millionen europäischen Auswanderern liegt, die zwischen ca. 1815 und 1914 die Amerikas erreichten, oder auf den rund 12 Millionen versklavten Afrikanern, deren Zwangsmigration zwischen dem 17. Jahrhundert und 1880 einen besonderen Schwerpunkt innerhalb der Forschung bildet, kommen die präkolonialen und auch modernen Wanderungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent oder in Südostasien allenfalls in Spezialstudien zur Sprache. Zu einem Teil lässt sich das durch die schlechte Quellenlage rechtfertigen, da etwa für Mittelalter und Frühe Neuzeit aus dem subsaharischen Afrika kaum belastbare Informationen vorliegen (beispielsweise lässt sich die Ausbreitung der Bantu nur durch Sprachwissenschaft und Archäologie rekonstruieren). Aber auch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts übertrafen Wanderungsbewegungen nach Südost- oder Zentralasien die europäische Auswanderung zahlenmäßig um fast das Doppelte (einen historischen Überblick bietet ein Aufsatz von Adam McKeown aus dem Jahre 2004). Nur zum Vergleich: Allein 1937 flohen rund 100 Millionen Chinesen vor den japanischen Invasoren. Im Jahr 2013 verzeichneten die zehn ASEAN-Staaten in Südostasien rund 28 Millionen interregionale Migranten (Hugo et al. 2015); im Jahr der »Flüchtlingskrise« 2015 kamen dagegen nur etwas mehr als eine Million Menschen, meist Kriegsflüchtlinge, ins Europa der seinerzeit 28 Mitgliedsstaaten. Ein Seitenblick auf die in den Migrationsgeschichten nicht immer gebührend berücksichtigten Kontinente jenseits der atlantischen Verbindung kann durchaus Akzentverschiebungen bei der Beurteilung der Sachverhalte und Größenverhältnisse mit sich bringen.

Eurozentrismus

Dennoch ist auch dieses Buch, von Seitenblicken abgesehen, eher auf Europa zentriert. Nicht nur die in Europa gelegenen Forschungsschwerpunkte des Autors aus der klassischen Antike und der Völkerwanderungszeit legen dies nahe, sondern auch die Rücksichtnahme auf die intendierte Leserschaft. Dieser, so die Überlegung, mögen vielleicht europäische (oder gar mitteleuropäische und deutsche) Beispiele und Entwicklungen vom Verständnis und auch vom Wiedererkennungswert her einleuchtender erscheinen. Auch ein ganz gegenwärtiger Aspekt könnte diese Perspektive rechtfertigen, obwohl dieses Buch kein Beitrag zu aktuellen Migrationsdebatten sein soll: Die europäischen Gesellschaften – darauf hat bereits der Historiker Heinz Schilling (2002, 67) hingewiesen – können durchaus auf jahrhundertealte Erfahrungen zurückgreifen, wenn es darum geht, »die Zuwanderungs- und Integrationsprobleme der Gegenwart sachgerecht zu handhaben« (wie wir sehen werden spätestens seit den alten Griechen).

Aber auch ein weiterer, politisch nicht ganz korrekter Grund könnte eine bevorzugte Berücksichtigung Europas legitimieren. Wer weltgeschichtliche Betrachtungen anstellt, kommt nicht umhin zu bemerken, dass diejenigen Kräfte, die in den letzten beiden Jahrtausenden organisatorisch und ökonomisch erfolgreich waren sowie durch technische und strukturelle Überlegenheit ihre Macht und Wirtschaftsweise imperial ausdehnten, vom Mittelmeerraum bis nach China dem eurasischen Kontinentalgefüge angehören, seit der Neuzeit sogar im engeren Sinne dem »Westen« (Morris 2011). Diese Kräfte sind auch in entscheidendem Ausmaß an der neuzeitlichen interkontinentalen Migration beteiligt. Die Annahme einer spezifisch (west-)‌europäischen Einzigartigkeit, welche die schöpferischen Leistungen in Wissenschaft und Kunst seit den alten Griechen exklusiv als europäisch ausweist und kulturgeschichtlich begründet, kann angesichts der empirischen Materialfülle von anderswo (chinesische und arabische Hochkulturen während des Mittelalters, nur z. B.) einer Kritik nicht standhalten. Die Sache an sich bleibt aber erklärungsbedürftig. Der Anthropologe Jared Diamond hat in seinem einflussreichen Buch Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften vorgeschlagen, in der europäischen Erfolgs- und Dominanzgeschichte das frühe Wirken geographischer Ursachen zu erkennen. Bereits in der menschlichen Vorgeschichte seien die entscheidenden Weichen für die weitere Entwicklung gestellt worden: Weil günstige klimatische Bedingungen in Eurasien gekoppelt waren mit einer breiten – und in anderen Weltregionen nicht verfügbaren – Vielfalt an domestizierbaren Tieren und Pflanzen, habe der eurasische Kontinent über einen Standort- und Entwicklungsvorteil verfügt, der auch durch die geographisch und klimatisch ungehinderte Ausbreitung von Kultur und Innovation von Westen nach Osten und umgekehrt (über die zusammenhängende Landmasse im gleichen Breitengradspektrum) begünstigt worden sei. Dies ermöglichte die Entstehung agrarischer Gesellschaften und dadurch die Erwirtschaftung von Nahrungsmittelüberschüssen, die wiederum einen Bevölkerungsanstieg, Innovationen und Technologien wie die Metallbearbeitung und arbeitsteilige Gesellschaften ermöglichten. In der Folge konnten komplexe politische Systeme, gesellschaftliche Hierarchien und effizientere Verwaltung entstehen, das wiederum zog die Entwicklung der Schrift nach sich. Die Bewohner der eurasischen Landmasse waren so dem Rest der Welt aufgrund der geographisch-klimatischen Gegebenheiten einfach ein wenig voraus und hatten bessere Startbedingungen. Diamonds geographischer Determinismus hat einiges für sich, wenngleich er die »zivilisatorische« Entwicklung der Menschheit und den technischen Fortschritt zu linear und zielgerichtet darstellt. Wie bei der Evolution, so muss man auch beim sogenannten »Fortschritt« mit dem Zufall rechnen. Der aufmerksame Beobachter der Gegenwart wird ohnehin bemerken, dass gerade eine epochale Verschiebung stattfindet und Asien mit China an der Spitze die historisch etablierten geopolitischen Verhältnisse grundlegend verändern könnte.

Dennoch muss auch sachlich festgehalten werden, dass der Moment, in dem Geschichte um 1500 herum Weltgeschichte wurde, genau jene Zeit war, in der sich Europa der Welt bemächtigte und mittels gesellschaftspolitischer »Copy-Paste«-Methode seine politische, religiöse und ökonomische Kultur der »neuen« und sogleich gewaltsam vereinnahmten Welt aufzwang, ja die Welt wirtschaftlich als »Weltsystem« (Immanuel Wallerstein) zu organisieren begann. Das gelang besonders leicht in den Amerikas, wo europäische Krankheitserreger die ansässige Bevölkerung weit effizienter auszurotten halfen, als spanischer Stahl das vermochte. Selbst alte Kulturen, die sich lange gegen den europäischen Einfluss abschotten konnten, wie etwa Siam (das heutige Thailand) und Japan, gerieten in den Sog weltwirtschaftlicher Systeme und konnten der massiven, vor allem von wirtschaftlichen Interessen getriebenen Beeinflussung durch Europa nicht entgehen. Diese Prägung, die heute nicht mehr als segensbringend und zivilisatorisch gesehen wird, sondern als historische Begründung eines Systems weltweiter Ungleichheiten, war so dominant, dass selbst weltgeschichtliche Betrachtungen außereuropäischer Historiker, die sich dezidiert als »Antiwestler« verstanden, oft die Perspektive der weißen Herrn der Welt einnahmen. Implizit übernahmen sie so Ideen der imperialen Fortschrittsgeschichte und legitimierten das europäische Selbstbild von außen (etwa Liang Qichao in seiner Aufsatzreihe Neue Historiographie von 1902; Liang plädierte dafür, die chinesische Geschichte nicht mehr nach Dynastien, sondern analog zur europäischen Epocheneinteilung – Altertum, Mittelalter, Neuzeit – zu behandeln, hierzu Chang 1971). Dieser Sachverhalt, so bedauerlich das aus postkolonialer Perspektive sein mag, macht die mit der Entdeckung Amerikas erst wirklich entstehende Weltgeschichte zu einer eminent europäischen Weltgeschichte. Kolonialismus und Imperialismus sind zweifellos nicht die historischen Erinnerungsfiguren, mit denen sich heutige Europäer gerne brüsten, dennoch sind es genau diese Schmuddelkinder der neuzeitlichen Geschichte, die zusammen mit ihrem Bastardstiefbruder Kapitalismus die heutige Welt geformt haben. Daran werden auch die Rückgabe der Benin-Bronzen und die Demontage der Cecil-Rhodes-Statue in Oxford nichts ändern.

In seinem bemerkenswerten Buch über die Strukturen imperialer Herrschaft mit dem bezeichnenden Titel Why the West Rules gibt Ian Morris als Einleitung eine Episode aus dem Fundus fiktiver »ungeschehener Geschichte« zum Besten: Queen Victoria empfängt im Jahr 1848 unterwürfig den Gesandten des chinesischen Kaisers, der auf der kaiserlichen Dschunke die Themse hinauffährt. Die Chinesen hatten nach 1815 die englische Flotte zerstört und Admiral Nelson aufgeknüpft, jetzt war England tributpflichtig, die Königin kniet vor dem Vasallen des Kaisers und muss ihren geliebten Prinz Albert als Geisel nach Peking schicken. Es war, wie man aus der Geschichte weiß, jedoch umgekehrt: Die Engländer demütigten China im Ersten Opiumkrieg (1839 – 1842) und fluteten den nun »geöffneten« Markt weiterhin gegen den Willen des Kaisers mit bengalisch-indischem Opium, um günstiger und mit ausgeglichener Handelsbilanz an den Tee der Chinesen heranzukommen. Jegliche Versuche der Gegenwehr wurden gewaltsam im Keim erstickt, China stürzte in ein politisches Chaos, die Qing-Dynastie hatte abgewirtschaftet. Die historisch evidente europäische Dominanz in der neuzeitlichen Welt (kulturell und auch teilweise politisch über den »Ableger« USA bis heute), die Vorherrschaft des »Westens« im Sinne von Morris, zu erklären oder zu hinterfragen, ist nicht Aufgabe dieses Buches. Die plakativ-kontrafaktische Anekdote macht jedoch deutlich, dass eine alle Ebenen von Geschichte, Gesellschaft und Kultur betreffende Prägung nicht wegdiskutiert oder ignoriert werden kann. Diese Feststellung eines Sachverhalts bedeutet ja keineswegs, dass moderne Weltgeschichte deshalb – wie bis Mitte des 20. Jahrhunderts üblich – als Erzählung von der Schaffung von Ordnung im Chaos, von Kultur aus Natur »durch den energischen Eingriff rational denkender und wohlmeinender Europäer« daherkommen muss, wie Jürgen Osterhammel und Jan C. Jansen (2017, 31) diese Form von Geschichtsschreibung in ihrer Kolonialismus-Geschichte treffend bezeichnet haben. Die durch Vergewaltigung gezeugten Kinder können ja nicht für die Umstände ihrer Zeugung verantwortlich gemacht werden, ihre Existenz lässt sich indes nicht verschweigen. Deswegen bietet sich auch hinsichtlich neuzeitlicher Migrationssysteme, die teils eng mit der Geschichte der »europäischen Expansion« verbunden sind, die politisch wenig korrekte eurozentrische Perspektive als die naheliegende an.

Aber auch vor dem Hintergrund einer etwas wohlfeilen Konzentration auf die »alte Welt« wird Migrationsgeschichte hier als Weltgeschichte verstanden und präsentiert. Wanderungen menschlicher Gruppen fanden und finden weltweit und unabhängig vom Kulturraum statt. Die derzeit zu beobachtende »Renaissance der Weltgeschichte« innerhalb der Geschichtswissenschaft ist in erster Linie eine Folge des Wegfalls ideologischer Gegensätze nach 1989 und der auch unmittelbar erfahrbaren voranschreitenden Globalisierung. Für die Migrationsgeschichte darf der welthistorische Zugriff jedoch nicht einem Trend geschuldet bleiben, sondern muss als konstituierende Voraussetzung betrachtet werden. Mit Blick auf die Geschichte und Entwicklung unserer Art erweist sich Migration als anthropologische Konstante und nicht als späte Erscheinung einer seit dem 19. Jahrhundert stetig zunehmenden Globalisierung. Die weltgeschichtlichen Seiten- und Überblicke sowie der die Vorgeschichte und das Altertum einschließende, ja sogar besonders stark gewichtende Ansatz sind die wichtigsten Alleinstellungsmerkmale, die diese weitgreifende, aber dennoch – zumindest am Gegenstand gemessen – knappe Darstellung ausmachen. Gerade eine Darstellung von Wanderungsbewegungen in der Ur- und Frühgeschichte sowie die einem breiten Publikum wahrscheinlich weniger bekannten Belege für Migration aus dem klassischen Altertum und dem Mittelalter, die in diesem Buch präsentiert werden, können für eine Akzentverschiebung bei der Beurteilung von Migration führen.

Migrationsgeschichte als Kulturgeschichte

Darüber hinaus wird Migration in diesem Buch als so wichtiger Aspekt von Kulturgeschichte verstanden, dass es den vielleicht etwas anmaßend wirkenden Untertitel »Eine Kulturgeschichte der Menschheit« trägt. Zum einen haben Mobilität, Einwanderungen und Kulturkontakte den Austausch von Informationen und Wissen und die Verbreitung von Ideen und Techniken befördert. Ein einschlägiges Beispiel für eine solche Verbreitung von Ideen ist die Geschichte der Ausbreitung des Christentums, zuerst durch die Jünger Jesu, die »in alle Welt« ausgesandt wurden, das Evangelium zu verkünden, später die iroschottische Mission des frühen Mittelalters und die anhaltende Missionstätigkeit in Ländern der sogenannten »Dritten Welt«. Die frühen Missionare waren Migranten aus dem Lehrbuch. Der heilige Pirmin (ca. 670 – 753) etwa, ein aus dem fränkischen Kernland um Paris stammender Bischof, missionierte im Auftrag der Karolinger im östlichen Frankenreich und bei den Alemannen. Seine Klostergründungen bei Pirmasens in der Pfalz, in Murbach im Elsaß und vor allem auf der Insel Reichenau im Bodensee sind berühmte bleibende Zeugnisse eines einflussreichen Migranten, der sein Leben hunderte Kilometer von seinem Geburtsort entfernt beschloss. Überhaupt setzt Verbreitung von Wissen und »Knowhow« in schriftlosen Kulturen generell die Mobilität von Personen, mitunter gar ganzer Bevölkerungsgruppen voraus. So lässt sich die Gestaltung der einzigartigen Lehmziegelmauern der keltischen Festung Heuneburg (6. Jahrhundert v. Chr., Landkreis Sigmaringen) nur durch aus dem Mittelmeerraum importierte Spezialkenntnisse erklären (griechische Fachkräfte und »Ingenieure«). Mobilität ist damit zugleich eine Bedingung für Migration. Aus Formen von Mobilität kann Migration entstehen. Zunächst einmal sind auf Mobilität gegründete Netzwerke (etwa die von Kaufleuten, Abenteurern, Entdeckern oder Nomaden) Voraussetzung für Information und Austausch über weite Strecken hinweg. Über diese Netzwerke gelangen Informationen über Zielgebiete, über Länder, in denen »Milch und Honig« fließen, zu Menschen und Gruppen, die selbst mobil werden und sich auf den Weg machen, um sich temporär oder dauerhaft an einem anderen Ort niederzulassen.

Zum anderen erscheint die Verwendung des Begriffs Kulturgeschichte im Zusammenhang mit Migration auch deswegen gerechtfertigt, weil die wichtigsten Texte der abendländischen Kultur (und nicht nur dieser) Migrationsgeschichten sind. Mit den Irrfahren des Odysseus, der zwanzig Jahre unterwegs ist, nach zehn Jahren vor Troja noch sieben Jahre mit der Nymphe Kalypso auf deren Insel lebt, beginnt die europäische Kulturgeschichte mit einer Migrationsgeschichte. Von kulturgeschichtlichem Rang noch einflussreicher ist die Migrationsgeschichte eines Volkes: Gleich nach der Schöpfungsgeschichte und der Erzählung von den Erzeltern berichtet die Bibel vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, die erst nach langen Wanderungen und vielen Unbilden angeführt von Moses das gelobte Land Kanaan erreichen. Die babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel (597 – 539 v. Chr., im Gegensatz zur ägyptischen historisch glaubwürdig belegt) ist literarisch nicht nur Gegenstand der Bibel, sondern auch der berühmten Ballade »Belsatzar« von Heinrich Heine sowie des 70er Jahre Schlagers »On the Rivers of Babylon« der Gruppe Boney M (der Song zitiert Psalm 137). Goethe hat nicht nur in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Exil und Migration in der Folge der Französischen Revolution direkt thematisiert. Er ist auch selbst durch sein Wesen und seine Biographie beredtes Beispiel für das Hin- und Hergerissensein zwischen dem Bedürfnis nach bürgerlicher Heimat und dem Drang, vor gerade dieser zu fliehen. Seine »italienische Reise« war vor allem von seinem langen Aufenthalt in Rom bestimmt (insgesamt etwa ein Jahr und vier Monate) und erfüllt damit zumindest den Mindeststandard der UNO für internationale Langzeitmigration (mindestens ein Jahr). Diese wenigen Beispiele zeigen auf, wie tief verwurzelt und fast selbstverständlich Migration und Migrationserfahrung sind. Sie sind eben auch Bestandteil oder gar Kern wichtiger literarischer und historischer Texte von der Bibel bis zu Fenimore Coopers »Lederstrumpf« (Die Ansiedler). Von Odysseus bis zum Planwagen-Treck im Westernfilm wird Migration in unserer Kultur gespiegelt. Aber nicht nur in unserer: Auch ein emblematisches Werk der klassischen chinesischen Kultur (nur als Beispiel), die Reise nach Westen, erzählt von den langjährigen Wanderungen des Affenkönigs Sun Wukong und des Mönches Tang Seng die Seidenstraße entlang nach Indien, die dann mit den Lehren des Buddha nach China zurückkehren. Migrationsliteratur ist also keinesfalls eine neue Strömung der jüngsten Gegenwartsliteratur, wie neuere Germanistikseminare glauben machen wollen. Besonders die amerikanische Literatur der Moderne ist per definitionem Migrationsliteratur und thematisiert entsprechend oft Migrationserfahrung, aber nicht den selbstverständlichen und unhinterfragten »Migrationshintergrund« der Autoren (Frank McCourt, Louis Begley, Vladimir Nabokov, Toni Morrison, Henry Miller u. v. m.).

Gegenwärtiges und allzeit Gültiges

Die gegenwärtige Diskussion um Migration und Zuwanderung in Europa, die besonders seit 2015 intensiv geführt wird, spielt in diesem Buch eine sehr untergeordnete Rolle. Sie kommt eigentlich nur in dieser Einleitung und einem abschließenden Ausblick kurz vor. In diesem Buch geht es mir in erster Linie um die vom Gegenwärtigen losgelösten allgemeinen Charakteristika von Migration, um die über Jahrtausende hinweg gültigen Muster, die grundlegenden Strukturen, nach denen Migrationsbewegungen gewöhnlich und typisch erfolgen und die Geschichte der Menschheit im Sinne einer anthropologischen Konstante prägen. Denn trotz diverser Akzentverschiebung durch Kapitalismus, Industrialisierung, Globalisierung und Beschleunigung zeigt sich beim Blick auf die Menschheitsgeschichte, dass wir als Spezies seit unserer »kognitiven Revolution«, also seit wir etwa vor 70.000 Jahren das Sprechen gelernt haben, ständig zielgerichtet unterwegs sind.

Um diese thematische Breite und zeitliche Tiefe abbilden zu können, kann dieses Buch keine lineare Wiedergabe aller bedeutenden Migrationsereignisse zu allen Zeiten bieten. Ich verwende deshalb die Technik des Schlaglichts, um wie in der Malerei bestimmte Akzente zu setzen, die dem Leser bedeutende und einprägsame Entwicklungen mit Erzählungen und Quellenzitaten plastisch vor Augen führen sollen. In gewisser Weise kommt dabei die Neuzeit zu kurz. Ihr ist nur ein vergleichsweise übersichtlicher Abschnitt gewidmet. Diese Verkürzung lässt sich damit rechtfertigen, dass die emblematischen Wanderungen der Neuzeit, etwa die europäische Auswanderung in die Amerikas oder Migrationen der Zeitgeschichte, bei den Lesern weit bekannter sein dürften, als die selten behandelten Wanderungen früherer Epochen, die hier im Vordergrund stehen. Darüber hinaus ist die Neuzeit, besonders die jüngere seit dem 19. Jahrhundert, umfassend erforscht worden und viele Sachbücher haben diese uns näherstehenden Epochen auch hinsichtlich migrationsgeschichtlicher Prozesse für interessierte Leser leicht zugänglich aufgearbeitet.

Generell müssen in dieser weit ausgreifenden historischen Erzählung viele sehr komplexe Sachverhalte vereinfacht dargestellt werden, was hoffentlich der Verständlichkeit zugutekommt und gleichzeitig die Akkuratesse nicht über Gebühr beeinträchtigen wird. Dennoch ist das Material im ersten Teil weitgehend chronologisch geordnet und ich habe versucht, einen roten Faden, eine durchgehende Linie aufscheinen zu lassen. Ein zweiter, thematischer Teil versammelt Kapitel zu unterschiedlichen Aspekten wie etwa über Kulturtransfer (▸ Kap. 7) oder über die Bedeutung des Kapitalismus im Rahmen der Beschleunigung von Migrationsprozessen (▸ Kap. 9). Eigentlich geht es mir, um es ganz direkt auszusprechen, in beiden Teilen um einen verbindenden roten Faden, um die Analyse des Phänomens Migration in seiner Gesamtheit als wichtiger, oft impulsgebender Teil der Menschheitsgeschichte. In diesem Sinne vertritt mein Text ganz klassisch eine These, die der gesamten Darstellung zugrunde liegt: Migration und Mobilität sind historisch fassbare Phänomene der Menschheitsgeschichte, sogar Teil unseres biologischen Programms, sie charakterisieren uns und sind durch alle Zeiten hindurch integraler Bestandteil unseres Menschseins, der conditio humana. Hunderttausende von Jahren, in denen der homo sapiens und seine aufrechten Vorfahren durch Savannen und Steppen wanderten, haben sich vielleicht mehr in unser Erbgut und unsere kulturellen Muster eingeprägt, als wir das aus wüstenrotscher Bausparerperspektive wahrhaben wollen. Der britische Schriftsteller Bruce Chatwin (1993, 284), der davon überzeugt war, dass der Mensch von seinen biologischen Anlagen her zum Wandern bestimmt sei, sagte einmal: »Des Menschen wahre Heimat ist nicht ein Haus, sondern die Straße, und das Leben selbst ist eine Reise, die zu Fuß unternommen werden muss«.

Die Ideologie der Sesshaftigkeit bestimmt unseren Blick auf Migration

Dennoch gilt der dauerhafte Ortswechsel über Kultur- und Sprachgrenzen hinaus in der allgemeinen Wahrnehmung als ein sozialgeschichtlicher Sonderfall und erscheint zunächst suspekt. Sesshaftigkeit und Bodenständigkeit von Individuen und Populationen gelten nicht nur als Normal-‍, sondern auch als Idealfall. Auch wird stillschweigend davon ausgegangen, dass ein Ortswechsel, wenn überhaupt, nur einmal von A nach B erfolgt, wobei die gewanderten Menschen dann in B erneut Wurzeln schlagen. Nomadismus und mit unsteter Mobilität verbundene Lebensformen werden dagegen gerade aus der Perspektive der Moderne generell eher argwöhnisch und ablehnend betrachtet und oft wie selbstverständlich mit Randgruppen in Verbindung gebracht (etwa »Zigeuner«). Migranten aller Art bilden generell ein dubioses Prekariat, erst recht Einwanderer, die aufgrund ihrer Sitten und ihrer Erscheinung als Fremde wahrgenommen werden. Dabei ist die mit der bäuerlichen Lebensweise verbundene Sesshaftigkeit eine in der Geschichte unserer Gattung geradezu neuartige Lebensform: Erst vor etwa 8.000 Jahren begann sich diese neue Lebensweise langsam von Anatolien aus auszubreiten. In der Bibel sind die Rollen noch anders verteilt: Der sesshafte Bauer Kain ist der böse, neidische Bruder, der dem freien Hirten Abel neidet, dass Gott dessen Brandopfer bevorzugte. Das Kainsmal zeichnet ihn nicht nur als ersten Mörder, es zeigt auch an, dass er unter Gottes Schutz steht. Jedoch ist damit der Paradigmenwechsel schon vorgezeichnet: Abel ist tot, dem sesshaften Bauern gehört die Zukunft, auch wenn der aus der Gemeinschaft ausgestoßene Kain nach der Tat selbst ein unstetes Leben führen muss.

Dass Nomaden keine gute Presse haben, liegt nicht nur an einer verbreiteten und auch psychologisch erklärbaren Furcht vor Andersartigkeit, vor »dem Fremden«, sondern auch an einer bestimmten historischen und sozialen Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte, die unsere Anschauungen bis heute entscheidend prägt: dem historischen Sieg des Bürgertums. Das Bürgertum war Motor der Modernisierung und Träger einer nach der Entmachtung der alten Eliten neu etablierten gesellschaftlich prägenden Kultur. Die Veränderungen nach der Französischen Revolution und der bürgerlichen 1848er Revolution haben nicht nur nach und nach die alten Eliten entmachtet und neue wirtschaftliche Produktionsformen hervorgebracht (Handel statt Grundbesitz, Industrialisierung anstatt Agrarwirtschaft), sondern auch eine kulturelle Revolution befördert. Theater, Literatur, vor allem aber Schulwesen und Universitäten wurden zu direkten und indirekten Bildungsanstalten des Bürgertums. Mit diesem Kantersieg gewann das Bürgertum schon im 19. Jahrhundert die Deutungshoheit über die »Meistererzählungen«, die unsere in Wahrheit womöglich eher chaotische und wenig zielgerichtete Geschichte zu sinnvollen Zusammenhängen im Sinne von »Nationalgeschichte« geordnet haben. In der Nationalgeschichte, in der im Falle des Deutschen Reiches etwa die deutschen Stämme nach dem Ende der »Völkerwanderung« dem Ziel ihrer nationalen Einigung zielgerichtet entgegenstrebten und insbesondere die hochmittelalterlichen Könige und Kaiser die nationale Einheit bereits prophetisch vorgebildet hatten, war kein Platz für Migrationsgeschichten. Während der Territorialstaat des Ancien Régime in Europa tendenziell gleichgültig gegenüber der ethnischen Zugehörigkeit seiner Bürger war, strebte der Nationalstaat die Vereinigung von staatlicher Organisation und ethnischer Homogenität seiner Bewohner an. In dynastischen Staaten wie dem preußischen Ständestaat wurden dagegen vertriebene protestantische Franzosen (Hugenotten) aus pragmatischen Motiven aufgenommen und Friedrich der Große konnte bemerken: »und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land Pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen«. Die Nationalstaaten und ihre Meistererzählungen grenzten dagegen zunehmend »Fremde« aus oder zwangen sie zur Assimilation. Europaweit erfolgte die »Nationsgründung aus stillgestellter Mobilität« (die Germanenstämme lassen sich nieder, Aeneas kommt von Troja nach Italien), was Wanderungen als dauerhafte Normalität kategorisch ausschloss (Osterhammel 2009, 199). Dies spiegelt sich bis heute in unserem Blick auf Migration wider. Die fachwissenschaftliche Geschichtsschreibung hat dieses statische Bild natürlich längst korrigiert und Migration auch für frühere Epochen welthistorisch neu bewertet. Dennoch tradieren Schule und Institutionen bei allen meist auf die Zeitgeschichte beschränkten Differenzierungen eine nationalstaatlich grundierte Meistererzählung der modernen Geschichte, in der Migration als »Problem« oder Teil europäischer und weltweiter Leidensgeschichte verstanden wird. Migration erscheint so als oft gewaltsame Störung der normalen und idealen Sesshaftigkeit der europäischen Populationen, die ethnisch und sprachlich gegliedert sind.

Wie sesshaft sind wir wirklich?

Sesshaftigkeit und Bodenständigkeit, so wird dieses Buch zeigen, sind jedoch bei genauerer Betrachtung nur Chimären biedermeierlicher Bürgerphantasie. Vor dem 19. Jahrhundert war Sesshaftigkeit zwar seit Jahrhunderten gelebte Realität, besonders innerhalb der bäuerlichen Bevölkerungsgruppen, die oftmals aufgrund ihres Status und diverser Formen von Leibeigenschaft keine volle Bewegungsfreiheit genossen, jedoch keinesfalls ein zu Ideologie verdichteter Idealzustand. Auch nach der Sesshaftwerdung der meisten Menschen (nomadische Lebensformen, die bis heute existieren, werden von der klassischen Geschichtsschreibung weitgehend übergangen) waren gerade die Eliten hoch mobil und migrierten auch dauerhaft über weite Regionen. Äußere Einwirkungen (Hungersnöte, Naturkatastrophen, Pandemien, Kriege, politische und religiöse Unterdrückung), aber gerade auch individuelle Entscheidungen haben auch in der Neuzeit der Nationen für Bevölkerungsbewegungen gesorgt, die alle sozialen Schichten betrafen.

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mir das in Ihrer behaglichen Stube nicht recht glauben und angesichts eines solchen Unsinns das Buch schon enttäuscht aus der Hand legen oder gar ins offene Feuer des biedermeierlichen Kamins werfen wollen, bitte ich Sie, einmal kurz innezuhalten und ein wenig Familiengeschichte zu rekapitulieren: Stammen Ihre vier Großeltern alle aus dem Ort, an dem Sie selbst leben, oder zumindest aus dem, an dem Sie aufgewachsen sind? Oder können Sie – wenn nicht bei den Großeltern, so wenigstens bei den Urgroßeltern – mindestens einen »Migranten« ausmachen, der aus einer ökonomisch und kulturell deutlich unterscheidbaren Region des deutschsprachigen Raums oder gar von weiter weg stammt, also eine soziale, kulturelle oder sprachliche Grenze überwinden und sich in einem neuen Umfeld zurechtfinden musste? Auch wenn Sie nicht Katschmarek heißen und aus dem Ruhrgebiet stammen oder ihr Nachname nicht Ateş oder Coşkun lautet, sondern Müller, ist die Chance groß, dass der Großelterncheck Ihren persönlichen Migrationshintergrund offenbart.

Bei dem Wort »Migrationshintergrund« denken die meisten Zeitgenossen reflexhaft an »verdächtige« Eigenschaften wie (in Schattierungen) dunklere Hautfarbe oder fragwürdige Integrationsbereitschaft, eben an unterschiedliche Formen und Stufen von Fremdheit. Wenige werden an Altbundespräsident Horst Köhler oder an den Inbegriff von spleeniger »Britishness«, Ex-Premierminister Boris Johnson, denken. Horst Köhler entstammt jedoch einer Familie, die in Bessarabien (der heutigen Republik Moldau, östlich von Rumänien) beheimatet war. Er wurde im östlichen Polen, an der Grenze zu Russland geboren (im seinerzeit, 1943, dem Deutschen Reich einverleibten Generalgouvernement Polen). Sein Fall ist typisch für »Etappenmigration«, die seine Familie von Bessarabien über Ostpolen als Zwischenstation bis nach Deutschland führte. Boris Johnson hat einen berühmten Urgroßvater namens Ali Kemal, der 1919 letzter Innenminister des Osmanischen Reiches gewesen war und einem politischen Mord zum Opfer fiel. Johnsons Großvater Osman Ali kam 1922 nach London und nahm den ur-angelsächsischen Namen Wilfred Johnson an. Ein weiteres Urgroßelternpaar des englischen Politikers, die Eheleute Lowe, waren litauische Juden, die nach New York ausgewandert waren. Mit unterschiedlichen Graden und je nach Definition kann man daher einem großen Teil der heutigen Bevölkerung Europas einen »Migrationshintergrund« attestieren – bis hin zu den vielen teilweise landsmannschaftlich organisierten Schwaben in Berlin, wenn man die Überwindung sprachlicher und kultureller Grenzen als das entscheidende Kriterium für Migration ansetzt.

Hinweise zur Benutzung dieses Buches

Auf den Lesefluss unterbrechende Anmerkungen und Fußnoten wurde generell verzichtet. Nur direkte Zitate oder Verweise auf Theorien und Ideen werden unmittelbar mit Angaben in Klammern belegt. Am Ende des Buches finden sich für jedes Kapitel nur die notwendigsten Literaturhinweise, die knapp kommentierend auf diejenigen Werke verweisen, die für jeweiligen Abschnitt einschlägig und zur Vertiefung bestimmter Aspekte nützlich sind. Die umfangreiche Fachliteratur, auf deren Basis dieses Buch verfasst wurde, konnte leider nicht in der sonst üblichen Form eines ausführlichen Literaturverzeichnisses angefügt werden, weil dies mindestens weitere fünfzig Druckseiten erfordert hätte. Stattdessen umfasst die gedruckte Bibliographie nur die allerwichtigsten Standardwerke und die direkt zitierten Arbeiten. Ein ausführliches Verzeichnis der verwendeten Literatur (mit Auflösung der Siglen und Abkürzungen) sowie nach den Kapiteln des Buchs gegliederte ausführliche kommentierte Hinweise zur Forschungsliteratur finden sich auf der Internetpräsenz des Verlages als pdf-Datei.

https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-044528-4

Wissenschaftliche Konzepte, die nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, und für die Darstellung notwendige Fachbegriffe werden dort, wo sie erstmals auftauchen, in grau unterlegten Kästen gesondert erklärt. Historische Daten vor der Zeitenwende werden mit Beginn der Sesshaftwerdung der Menschen zu Beginn des Holozäns, der Warmzeit, in welcher wir uns immer noch befinden, mit der bekannten Angabe »v. Chr.« (vor Christi Geburt) versehen, frühere Daten aus dem Pleistozän (Eiszeiten) werden mit »BP« (before present, also »vor heute«) angegeben.

Dieses Buch richtet sich an eine Leserschaft, für die es im Deutschen keine rechte Bezeichnung gibt. Im Englischen gibt es sie jedoch: Der general oder common reader ist kein Fachmann, aber jemand, der als interessierter und aufgeschlossener Laie neue Erkenntnisse über ein ihm fremdes Gebiet gewinnen will, ohne dafür über Spezialkenntnisse jenseits der Allgemeinbildung verfügen zu müssen. Auch Studentinnen und Studenten (inklusive fortgeschrittene Semester) und Oberstufenschülerinnen und -schüler, die Überblickswissen schätzen, gehören in meiner Vorstellung zur intendierten Leserschaft. Eine 1931 von Douglas Walpes in einer öffentlichen Bibliothek von Chicago durchgeführte Untersuchung über die Präferenzen des general reader ergab, dass sich Leser besonders zwei Dinge wünschen: Zum einen wollen sie »über Dinge von wirklich herausragender Bedeutung« lesen. Dass das Thema dieses Buches von grundsätzlicher, gar welthistorischer Wichtigkeit ist, behaupte ich hier einmal in aller Vermessenheit. Dass es tagespolitisch hochaktuell ist, ist für mich als Autor eher störend, kann aber vielleicht das Interesse mancher Leser wecken, die nach der Lektüre hoffentlich nicht gar zu sehr enttäuscht sein werden, dass hier keine aktuellen Phänomene im Mittelpunkt stehen, sondern Migration als Menschheitsgeschichte behandelt wird. Zum anderen wünschten sich die general reader aus Chicago, vor allem »über sich selbst zu lesen«. Das kann ich für dieses Buch nun wirklich garantieren: Es ist ein Buch über den homo sapiens und seine Migrationsgeschichte, eine Geschichte über uns alle. Dieses Buch soll nämlich auch zeigen, dass nicht nur die gerade mal 20 % der deutschen Bevölkerung, für die das statistische Bundesamt einen »Migrationshintergrund« attestiert, Migrationserfahrung als Teil ihrer Identitäten oder Familiengeschichte haben. Ein Blick auf den Opa aus Breslau oder den in ein indisches Ashram ausgewanderten verrückten Onkel können auf die Faktizität und Alltäglichkeit von Migration in der ganzen Gesellschaft hinweisen, selbst wenn Migration keine identitätsstiftende Kraft entfaltet. Am Ende bleibt auch noch das genetische Faktum, dass wir alle, die gesamte Weltbevölkerung, von Migranten aus Afrika abstammen.

Im englischen Sprachraum erwartet der Leser auch von Sachbüchern einen gewissen Unterhaltungswert jenseits der reinen Informationsvermittlung. Der common reader liest nämlich, wie Virginia Woolf feststellte, zu »seinem eigenen Vergnügen«. Dies entspricht nun gar nicht der deutschen Tradition, und ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, den teilweise gewichtigen und komplexen Inhalten als Konterbande einen leichten Ton beizufügen, der die Lektüre auch ein wenig unterhaltsam macht. Dass dieses Buch in England konzipiert und auch zu Teilen dort geschrieben wurde, lässt mich hoffen.

Fachleute aller Art, Prähistoriker, Genetiker, Anthropologen, Historiker und Sozialwissenschaftler, vor allem auch eingefleischte Migrationshistoriker der Neuzeit, deren Arbeitsgebiete ich nolens volens streifen muss, werden viele Details vermissen, vielleicht auch manchmal Grobheiten bemängeln. Dennoch habe ich Hoffnung, dass nicht alle von ihnen den hier vorgetragenen Ansatz verdammen werden.

Warum wandern Menschen und wohin? Grundbegriffe der Migration

Was ist eigentlich »Migration«? Eine einigermaßen um Systematik bemühte Darstellung kommt nicht darum herum, zu Beginn ein paar definitorische Klarstellungen zu versuchen. Das sollte im Falle des alltäglich gebrauchten Begriffs »Migration« eigentlich recht einfach sein. Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt jedoch, dass dem gar nicht so ist, besonders wenn soziologische Arbeiten mit reichlich Fachjargon konsultiert werden. Gerade hinsichtlich einer allgemeingültigen, über Epochengrenzen hinweg anwendbaren Definition dessen, was wir unter Migration zu verstehen haben, wird nicht immer Einigkeit zu erzielen sein. Die niederländischen Migrationshistoriker Jan und Leo Lucassen, die zu den renommiertesten Vertretern ihres Faches gehören, beklagen in einem Aufsatz aus dem Jahre 2015, dass es Historikern und Sozialwissenschaftlern nicht einmal in Schlüsselfragen des Arbeitsgebiets gelungen sei, Einigkeit zu erzielen. Nicht einmal über Definitionen und Typologien zur vergleichenden historischen Betrachtung des Phänomens Migration habe man sich verständigt. Der aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff selbst hat sich im deutschen Sprachgebrauch eigentlich erst Mitte des 20. Jahrhunderts gegen den früher üblichen (und synonymen) Terminus »Wanderung« durchgesetzt. In den 1930er Jahren taucht »Migration« erstmals neben bzw. anstelle von »Wanderung« in der Fachliteratur auf. Migrare meint im Lateinischen tatsächlich genau den Sachverhalt, den der moderne Begriff meistens beschreiben möchte: »Mit seiner Habe nach einem anderen Orte ziehen, um da zu wohnen«, so der Georges, ein einschlägiges Latein-Wörterbuch.

Wie bereits in der Einleitung kurz angesprochen, ist der Migrationsbegriff auch nicht ganz leicht von dem der Mobilität abzugrenzen, man kann ihn durchaus als eine Funktion des letzteren betrachten. Migration wäre also ein Sonderfall von Mobilität: Mobilität unter bestimmten räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen. Eine vielzitierte und für ihren Zweck auch nützliche Definition stammt von der UNO. Danach ist »das Verlassen des gewöhnlichen Wohnsitzes (place of usual residence)« zentrales Kennzeichen von Migration, die dann – bei den Vereinten Nationen naturgemäß – unter dem Gesichtspunkt von Nation weiter ausdifferenziert wird: entweder als »internationale Migration« oder als »Binnenmigration«, je nachdem ob Migranten Staatsgrenzen überschreiten.

Annäherungen

Für unsere Zwecke und vor dem Hintergrund des hier betonten historischen Interesses müssen wir noch ein wenig vereinfachen und verallgemeinern. Einerseits geht die den politischen Gegebenheiten der internationalen Gemeinschaft entsprechende UNO-Definition von der Existenz klar definierter Staatsgrenzen aus, andererseits unterstellt sie grundsätzlich die Sesshaftigkeit als Normalfall der Lebensform. Beide Elemente dieser Definition sind für einen historischen Zugang ungeeignet: Nationalstaaten sind eine Form der Vergesellschaftung, die historisch betrachtet sehr spät entstanden und auch keineswegs alternativlos ist. Der zweite Aspekt hat darüber hinaus einen leicht ideologischen Beigeschmack: Migration wird als Ausnahme, als Abweichung von der Norm beschrieben, da die Migranten per definitionem über einen place of usual residence verfügten. Jemand, der sein Heimatland länger als ein Jahr verlässt, wird nach der Definition der Vereinten Nationen zu einem »Dauer- oder Langzeitmigranten (long-term migrant)«. Diese Bedingung erfüllten wie erwähnt allerdings bereits sowohl Odysseus – nach seinem genau einjährigen Aufenthalt bei der Zauberin Kirke, die sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso machen ihn vielleicht zum very-long-term migrant – als auch Goethe, der seinen Geheimratspflichten in Weimar entfloh und 16 Monate in Italien weilte.

Viel nützlicher und auch aus historischer Sicht für unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Migration anwendbar erscheint mir der Ansatz des amerikanischen Migrationsforschers Patrick Manning zu sein, den in der Forschung auch die Gebrüder Lucassen aufgegriffen haben. Migration ist demnach zunächst einmal ganz einfach nur die Bewegung von Individuen oder Gruppen von einem Ort an den anderen. Entscheidender Faktor ist dabei, dass Grenzen (boundaries) im weitesten Sinne, nicht unbedingt Staatsgrenzen (borders), überschritten werden. Manning betont, dass diese Grenzen in erster Linie sprachlich, kulturell und sozial gezogen sind, nur im Einzelfall (bei Beispielen aus der Moderne oder der Gegenwart) handelt es sich auch um Staatsgrenzen.

Diese Kultur- und Sprachgrenzen überschreitende Bewegung, die verschiedene Adaptionsleistungen von Migranten und auch von den Aufnahmegesellschaften verlangt, unterscheidet nach Manning einfache Mobilität von Migration. Mit diesem Konzept einer cross-community migration lassen sich die meisten Fälle historischer, aber auch moderner Wanderungen erfassen und mit dem Kriterium sprachlich-kultureller Grenzüberschreitung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. Auch können auf diese Weise Formen der Migration, welche die Vereinten Nationen als Binnenmigration werten würden, sozialgeschichtlich viel besser erfasst werden. Man kann hier etwa an Menschen denken, die aus der chinesischen Provinz Sichuan nach Shanghai an die Ostküste wandern. Sowohl sprachlich als auch kulturell liegen dazwischen Welten. Indien, wo über 120 grundverschiedene Sprachen aus teils unterschiedlichen Sprachfamilien gesprochen werden, zählte 2011 etwa 450 Millionen Binnenmigranten, etwa 15 % davon wanderten zwischen den kulturell sehr unterschiedlichen Bundesstaaten. Diese fast 70 Millionen Menschen tauchen in den Statistiken der UNO jedoch nicht als Migranten auf, im Gegensatz etwa zu den ca. 5,8 Millionen Nachkommen der rund 700.000 Araber, die im Jahr 1948 aus Palästina geflüchtet sind und seit drei Generationen in den arabischen Nachbarstaaten leben: Gleichwohl gelten sie für die UNO als Flüchtlinge. Manning betont überzeugend die Rolle von Sprachgemeinschaften, als die sich gesellschaftliche Gruppen in der Regel grundsätzlich konstituieren. Die Tatsache, dass nur die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft es den Menschen möglich macht, untereinander auf komplexe und symbolische Weise zu kommunizieren, verweist auf die soziale Bedeutung dieser Kulturtechnik.

Dennoch bleiben einige definitorische Unschärfen bestehen. So bleibt es im Einzelfall oft schwierig, exakt zwischen Mobilität und Migration zu unterscheiden. Ein italienischer Stahlarbeiter, der um 1900 auf Anraten ausgewanderter Landsleute nach Pittsburgh übersiedelt, um dort für mehrere Jahre im Stahlwerk an der Seite von italienischen Arbeitern aus der gleichen Herkunftsregion zu malochen, und der in einer italienischen community im Stadtviertel Bloomfield seine Bleibe gefunden hat, muss weniger Adaptionsleistungen erbringen als ein dem Gesinde angehörendes mittelloses Mädchen aus Oberösterreich, für das auf dem Berghof kein Auskommen mehr ist, und das sich als Dienstmagd in einem bürgerlichen oder gar adligen Haushalt in der Hauptstadt verdingt. Auf dem geographisch gar nicht so weiten Weg in die Stadt überschreitet sie mehrere Grenzen: vom Land in die Stadt, von der ländlichen Unterschicht in eine völlig andere soziale Klasse, von einem Dialekt und einem Soziolekt in einen gänzlich anderen. Derartige historische Nuancen lassen erahnen, dass je nach historischer Landschaft, Epoche und Zeitstellung die Auswirkungen und auch die Wahrnehmungen von Migrationsformen ganz unterschiedlich sein können. Was heute als weitgehend unproblematische Binnenwanderung gesehen werden könnte, wenn etwa ein junger Arbeitssuchender aus einer ländlichen Gegend in eine Kreisstadt oder Großstadt in der näheren Umgebung zieht, war im Mittelalter unter Umständen mit der Änderung des Rechtsstatus und mit großen kulturellen Anpassungsleistungen verbunden. Ein Höriger etwa, der seine Grundherrschaft verlassen hatte, trat in ein neues und anders Herrschaftsgefüge ein und veränderte auch seinen sozialen Status.

Historische und aktuelle Fragen

Dennoch wird in diesem Buch diejenige Perspektive dominieren, die wir im Kontext der Moderne als »internationale Migration« bezeichnen würden. In deren Verlauf überschreiten Migranten Sprach- und Kulturgrenzen und müssen komplexe Integrationsleistungen erbringen, Prozesse, die in der Alltagssprache gerne vereinfachend als Aus- oder Einwanderung bezeichnet werden. Diese Begriffe implizieren jedoch einen einmaligen Wanderungsvorgang mit Ausgangspunkt und klarem Ziel. Der Herkunftsort (das Geburtsland in Zeiten moderner Staatlichkeit) wird verlassen, um an einem neuen Ankunftsort dauerhaft zu verweilen. Dass die Sachlage wesentlich komplizierter ist, wurde bereits angedeutet und wird im Verlauf der Darstellung noch deutlicher werden. Migrationen erfolgten und erfolgen oft prozesshaft, über Etappen, manchmal mit dem (verwirklichten oder aufgegebenen) Wunsch nach Rückkehr. Sie können individuell, im Familienverband, mit »Vorauskommandos«, in Gruppen stattfinden. Die Komplexität der Prozesse und Entwicklungen kann beim Zuschnitt dieses Buches nicht immer gebührend und terminologisch präzise abgebildet werden, andernfalls würde der definitorische Aufwand den Rahmen sprengen und sozialwissenschaftliche Wortdrechslereien müssten inflationär verwendet werden. Obwohl die Rede von »internationaler Migration« im historischen Kontext also wenig aussagekräftig ist, dient der Begriff trotz seiner Ungenauigkeit in unserem Zusammenhang dem Zweck, bei Bedarf an aktuelle Fragestellungen heutiger Migration anknüpfen zu können. Entsprechend werden auch grobe Begriffe wie Einwanderung und Auswanderung weiterhin verwendet werden, jedoch immer eingedenk der hinter den vereinfachenden Begrifflichkeiten lauernden Abgründe der historischen Realität.

Einige gesellschaftlich brennende Fragen, die auch in der Migrationsforschung höchst kontrovers diskutiert werden, müssen wir an dieser Stelle erst einmal zurückstellen. Sie können erst am Ende dieses Buches ihren Platz finden, zumal es sich um Fragen handelt, die auf der Ebene der individuellen Bewertung des Phänomens Migration angesiedelt sind und in der aktuellen Debatte zum Streit darüber führen, ob Einwanderung von Nutzen für die Gesellschaft ist oder eine Gefahr darstellt; auf eine simple Formel gebracht, ob sie »gut« oder »schlecht« ist.

Wiewohl ich mich in dieser auf das Gesamtphänomen Migration gerichteten Betrachtung um eine möglichst neutrale und unbefangene Darstellung, sine ira et studio, bemühe, bleiben am Ende doch einige grundlegende, historisch dokumentierte Sachverhalte unstrittig. Die Tatsachen etwa, dass Wissens- und Technologietransfer nicht nur abstrakt über Bücherwissen, sondern vor allem durch Migration und Kulturkontakte erfolgt, dass kreative Neuerungen, Moden, Motive in Kunst und Kultur mit Menschen wandern, Erfindungen oft Synthesen aus verschiedenen Traditionen sind, liefern keine Antwort auf die vieldiskutierte Frage, ob Migration »gut« oder »schlecht« sei. Dieser Befund zeigt aber ohne jeden Zweifel, dass Fortschritt und Verbreitung von Wissen an die Mobilität von Menschen gebunden sind, außerdem auch, dass Kategorien wie »gut« oder »schlecht« bei der historischen Analyse nicht wirklich weiterhelfen.

Formen der Migration. Eine kleine Phänomenologie

An dieser Stelle müssen wir noch einige Begriffe und Unterfunktionen des Konzepts Migration erwähnen, um ein wenig Ordnung in die verschiedenen Ausprägungen historischer und aktueller Wanderungsbewegungen zu bringen. In der Tat hat die moderne sozialwissenschaftlich orientierte Migrationsforschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als man erstmals ernsthaft über die demographischen Auswirkungen der Industrialisierung nachzudenken begann, nach Modellen und Definitionen gesucht, die das Phänomen allgemeingültig erfassen helfen könnten. So wurden eine Reihe von allgemeinen Voraussetzungen sowie gewisse wiederkehrende Muster im Verlauf von Wanderungen von Menschen anhand empirischer Daten benannt. Erscheinungen wie Kolonisation, Kettenmigration, zirkuläre Migration oder Heiratsmigration sind Ausprägungen von Wanderungsphänomenen, die von der Forschung umfassend beschrieben und definiert worden sind. Um diese teils komplexen theoretischen Grundlagen nicht nach Handbuchart »trocken« referieren und einzeln abhaken zu müssen, habe ich mich entschieden, eine konkrete und den meisten Lesern sicher bekannte, archetypische Migrationsgeschichte als Beispiel zu benutzen und auch ansonsten möglichst wenig Soziologenfachjargon zu verwenden. Es handelt sich um das Grimm'sche Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, das an dieser Stelle zur Erinnerung in Gänze wiedergegeben wird:

Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende gingen, so daß er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da dachte der Herr daran, ihn aus dem Futter zu schaffen, aber der Esel merkte, daß kein guter Wind wehte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen; dort, meinte er, könnte er ja Stadtmusikant werden. Als er ein Weilchen fortgegangen war, fand er einen Jagdhund auf dem Wege liegen, der jappte wie einer, der sich müde gelaufen hat. »Nun, was jappst du so, Packan?« fragte der Esel. »Ach,« sagte der Hund, »weil ich alt bin und jeden Tag schwächer werde, auch auf der Jagd nicht mehr fort kann, hat mich mein Herr wollen totschlagen, da hab ich Reißaus genommen; aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?« – »Weißt du was?« sprach der Esel, »ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant, geh mit und laß dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute und du schlägst die Pauken.« Der Hund war's zufrieden, und sie gingen weiter. Es dauerte nicht lange, so saß da eine Katze an dem Weg und macht ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. »Nun, was ist dir in die Quere gekommen, alter Bartputzer?« sprach der Esel. »Wer kann da lustig sein, wenn's einem an den Kragen geht,« antwortete die Katze, »weil ich nun zu Jahren komme, meine Zähne stumpf werden, und ich lieber hinter dem Ofen sitze und spinne, als nach Mäusen herumjagen, hat mich meine Frau ersäufen wollen; ich habe mich zwar noch fortgemacht, aber nun ist guter Rat teuer: wo soll ich hin?« – »Geh mit uns nach Bremen, du verstehst dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du ein Stadtmusikant werden.« Die Katze hielt das für gut und ging mit. Darauf kamen die drei Landesflüchtigen an einem Hof vorbei, da saß auf dem Tor der Haushahn und schrie aus Leibeskräften. »Du schreist einem durch Mark und Bein,« sprach der Esel, »was hast du vor?« – »Da hab' ich gut Wetter prophezeit,« sprach der Hahn, »weil unserer lieben Frauen Tag ist, wo sie dem Christkindlein die Hemdchen gewaschen hat und sie trocknen will; aber weil morgen zum Sonntag Gäste kommen, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen und hat der Köchin gesagt, sie wollte mich morgen in der Suppe essen, und da soll ich mir heut abend den Kopf abschneiden lassen. Nun schrei ich aus vollem Hals, solang ich kann.« – »Ei was, du Rotkopf,« sagte der Esel, »zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall; du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren, so muß es eine Art haben.« Der Hahn ließ sich den Vorschlag gefallen, und sie gingen alle vier zusammen fort.

Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen Baum, die Katze und der Hahn machten sich in die Äste, der Hahn aber flog bis an die Spitze, wo es am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Winden um, da deuchte ihn, er sähe in der Ferne ein Fünkchen brennen, und rief seinen Gesellen zu, es müßte nicht gar weit ein Haus sein, denn es scheine ein Licht. Sprach der Esel: »So müssen wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die Herberge schlecht.« Der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch dran täten ihm auch gut. Also machten sie sich auf den Weg nach der Gegend, wo das Licht war, und sahen es bald heller schimmern, und es ward immer größer, bis sie vor ein helles, erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der größte, näherte sich dem Fenster und schaute hinein. »Was siehst du, Grauschimmel?« fragte der Hahn. »Was ich sehe?« antwortete der Esel, »einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen daran und lassen's sich wohl sein.« – »Das wäre was für uns,« sprach der Hahn. »Ja, ja, ach, wären wir da!« sagte der Esel. Da ratschlagten die Tiere, wie sie es anfangen müßten, um die Räuber hinauszujagen und fanden endlich ein Mittel. Der Esel mußte sich mit den Vorderfüßen auf das Fenster stellen, der Hund auf des Esels Rücken springen, die Katze auf den Hund klettern, und endlich flog der Hahn hinauf, und setzte sich der Katze auf den Kopf. Wie das geschehen war, fingen sie auf ein Zeichen insgesamt an, ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte. Dann stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, daß die Scheiben klirrten. Die Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschrei in die Höhe, meinten nicht anders, als ein Gespenst käme herein, und flohen in größter Furcht in den Wald hinaus. Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, nahmen mit dem vorlieb, was übriggeblieben war, und aßen nach Herzenslust.