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Migrationspolitik ist eines der Politikfelder, die innerhalb der EU noch unzureichend geregelt sind, in Zukunft aber immer mehr an Bedeutung gewinnen werden. Während für die meisten EU-Mitgliedsstaaten die Regelung der Zuwanderungsströme von Asylsuchenden, Flüchtlingen oder Arbeitsmigranten die größte Herausforderung darstellt, haben die baltischen Staaten vor allem mit der Abwanderung großer Teile ihrer arbeitsfähigen Bevölkerung zu kämpfen. Dieses Buch erörtert die Migrationspolitik der drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland jeweils anhand der Bereiche Migrationsgeschichte, Emigration, Immigration und Minderheiten und macht dabei deutlich, dass deren Migrationspolitik trotz vieler Gemeinsamkeiten auch signifikante Unterschiede aufweist.
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Seitenzahl: 78
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Für Lolita in Liebe und Dankbarkeit
Migrationspolitik ist eines der Politikfelder, die innerhalb der EU noch unzureichend geregelt sind, in Zukunft aber immer mehr an Bedeutung gewinnen werden. Während für die meisten EU-Mitgliedsstaaten die Regelung der Zuwanderungsströme von Asylsuchenden, Flüchtlingen oder Arbeitsmigranten die größte Herausforderung darstellt, haben die baltischen Staaten vor allem mit der Abwanderung großer Teile ihrer arbeitsfähigen Bevölkerung zu kämpfen.
In Politik und medialer Berichterstattung werden die drei Staaten Litauen, Lettland und Estland gemeinhin zusammen als „baltisch“ bezeichnet und dabei oft undifferenziert gleichgesetzt. Gründe dafür sind vor allem die gemeinsamen Erfahrungen der drei Völker im 20. Jahrhundert – von der Besetzung im Zweiten Weltkrieg über die sowjetische Besatzung bis zur Erlangung der erneuten Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den baltischen Staaten aber signifikante historische, kulturelle, religiöse, sprachliche und ethnologische Unterschiede. Ein Bereich, in dem es zwischen den drei Staaten neben zahlreichen Gemeinsamkeiten auch erhebliche Unterschiede gibt, ist der Bereich der Migrationspolitik. Ziel dieses Buches ist es daher, die Migrationspolitik der drei baltischen Staaten anhand von drei Aufsätzen vergleichend gegenüberzustellen. Jeder der folgenden Aufsätze beleuchtet die Migrationspolitik eines baltischen Staates dabei unter Berücksichtigung seiner jeweiligen geschichtlichen Entwicklung. Die Migrationspolitik nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1991 wird dann für jeden baltischen Staat unterteilt in die Bereiche Emigration, Immigration und Minderheiten dargestellt.
Istanbul, im April 2015
Dr. Dr. Arndt Künnecke
Die Migrationspolitik Litauens
Einleitung
Migrationsgeschichte bis 1990
Migrationspolitik seit der Unabhängigkeit 1991
Emigration
Immigration
Minderheiten
Fazit
Die Migrationspolitik Lettlands
Einleitung
Migrationsgeschichte bis 1990
Migrationspolitik seit der Unabhängigkeit 1991
Emigration
Immigration
Minderheiten
Fazit
Die Migrationspolitik Estlands
Einleitung
Migrationsgeschichte bis 1990
Migrationspolitik seit der Unabhängigkeit 1991
Emigration
Immigration
Minderheiten
Fazit
Litauen ist der größte der drei baltischen Staaten. Es grenzt im Norden an Lettland, im Osten an Weißrussland und im Süden an Polen sowie an die russische Enklave Kaliningrad. Seine Unabhängigkeit hat es im August 1991 auf Grundlage der legalen Fortführung seiner von 1918 bis 1940 andauernden Staatlichkeit wiedererlangt.1 Am 17. September 1991 wurde Litauen Mitglied der Vereinten Nationen und am 1. Mai 2004 wurde das Land im Rahmen der EU-Osterweiterung in die EU aufgenommen. Die litauische Ostgrenze ist seitdem zugleich auch die Außengrenze der EU. Seit dem 21. Dezember 2007 ist Litauen Mitglied des Schengen-Raums und seit dem 1. Januar 2015 Mitglied der Eurozone. Politisch ist Litauen ein Zentralstaat mit fünf Regionen, zehn Bezirken, 44 Landkreisen und 55 Gemeinden.
Litauen ist ein Auswanderungsland mit einer eher restriktiven Einwanderungspolitik, die ihre Ursachen in der wechselvollen Geschichte des Landes hat. Zur Darstellung der litauischen Migrationspolitik und ihres rechtlichen Rahmens wird daher zunächst die Migrationsgeschichte vor Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit nach dem Ende des Kalten Krieges erläutert. Danach werden die verschiedenen Phasen der litauischen Migrationspolitik und ihre rechtlichen Hintergründe, unterteilt nach den Zielgruppen der Emigranten, Immigranten und Minderheiten, ausführlich dargestellt.
Wegen seiner besonderen geographischen Lage geriet Litauen abwechselnd in die Einfluss- und Interessensphäre Polens, Deutschlands und der Sowjetunion. Nach der Realunion von 1569 wurde das litauische Gebiet in die drei polnischen Teilungen (1772, 1793, 1795) mit einbezogen und kam damit unter russische Herrschaft. Im 16. und 17. Jahrhundert wanderten regelmäßig Deutsche in das litauische Gebiet ein. Erst im 19. Jahrhundert änderte sich die Migrationsrichtung: Immer mehr Deutsche wanderten ab und größere Gruppen der einheimischen Bevölkerung wanderten durch die Industrialisierung bedingt nach Russland oder nach Nordamerika aus.2 Bis zum Ersten Weltkrieg hatte bereits etwa ein Drittel der Litauer das Land Richtung Übersee (USA und Kanada) verlassen. In den litauischen Städten nahm der Bevölkerungsanteil der Russen, Polen und Juden immer mehr zu, so dass in den beiden größten Städten Vilnius und Kaunas die Litauer bis ins 20. Jahrhundert in der Minderheit blieben.3 Nach der Staatsgründung im Jahr 1918 befand sich Litauen in einer Konsolidierungsphase, zu deren Beginn von den 550.000 sich in Russland befindenden Flüchtlingen bis zum Jahr 1924 fast zwei Drittel wieder zurückkehrten. Im Rahmen der litauischen Repatriierungspolitik der 1920er Jahre verstärkten sich die nationalistischen Strömungen und nicht-litauische Gruppen – insbesondere Juden – wurden als Bedrohung für die staatliche Einheit angesehen.4 Im Zweiten Weltkrieg wurde Litauen als Folge des Hitler-Stalin-Paktes zunächst durch sowjetische Truppen besetzt, dann durch deutsche. Nach der Annexion des litauischen Staatsgebiets durch die Sowjetunion im Jahr 1940 wurden große Teile der litauischen Bevölkerung vertrieben. Von diesen Deportationen waren insbesondere die litauische Bildungselite sowie die Angehörigen der in Litauen ansässigen ethnischen Minderheiten betroffen.5 Der Bevölkerungsverlust Litauens durch den Zweiten Weltkrieg betrug 15 Prozent seiner Gesamtbevölkerung. Im Vergleich zu den anderen baltischen Staaten büßte Litauen damit anteilig den geringsten Teil seiner Bevölkerung ein.6 Zwischen 1940 und 1958 verlor Litauen aufgrund der Kriegsverluste, des Holocausts, anschließender Deportationen und Abwanderung von Teilen seiner Bevölkerung insgesamt etwa eine Million seiner Einwohner, darunter viele Baltendeutsche, Schweden und fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Zusammensetzung der litauischen Bevölkerung aufgrund der sowjetischen Siedlungspolitik erheblich: Um die bis zu ihrer Annexion durch die Sowjetunion selbstständigen baltischen Republiken enger an Moskau zu binden, wurden ethnische Russen und andere Bevölkerungsgruppen aus dem Staatsgebiet der Sowjetunion – vornehmlich aus der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrussland – nach Litauen, Lettland und Estland umgesiedelt. Unter Herrschaft der Sowjets kamen im Zuge der Industrialisierung zudem zahlreiche Arbeitsmigranten aus der Sowjetunion nach Litauen. Als einziges der baltischen Länder drohten die Litauer durch den vermehrten Zuzug russischsprachiger Migranten aber nicht zur Minderheit im eigenen Land zu werden.7 Der Anteil der ethnischen Litauer blieb nahezu konstant bei etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Allerdings stieg der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung – bei einer jährlichen Nettoeinwanderung von 6.000 bis 8.000 Personen8 – von 2,5 Prozent im Jahr 1923 bis 12,3 Prozent im Jahr 1989.9 Am Vorabend des Zusammenbruchs der Sowjetunion betrug der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung Litauens etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung.10
Nach der allgemein anerkannten Unabhängigkeit Litauens 1991 knüpfte die litauische Nationalitätenpolitik bewusst wieder an die Minderheitenpolitik der Zwischenkriegszeit (1918-1939) an. So basieren die migrationspolitischen Maßnahmen der Regierung und des Parlaments auf dem Verständnis einer konservierenden und protegierenden Minderheitenpolitik, die die neu gewonnene staatliche Identität durch eine allmähliche Assimilierung der in Litauen lebenden Minderheiten und Migranten im Zeichen einer gesellschaftlichen und staatlichen Modernisierung stärken will.11 Die mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit verbundenen Wandlungsprozesse in der Migrations- und Minderheitenpolitik betrafen in Litauen vor allem die innenpolitischen Problemfelder der Arbeitsmigration, des Staatsangehörigkeitsrechts, der Sprachenfrage sowie der Minderheitenrechte. Als Leitlinien ihrer Migrationspolitik setzte die litauische Regierung dabei folgende Prioritäten fest: (1) die Förderung zirkularer Migration, (2) die Bekämpfung illegaler Migration, (3) die Förderung der Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte in bestimmten Bereichen, (4) die gezielte Unterstützung der Integration von Migranten, beispielsweise durch Sprachkurse sowie (5) die gezielte Förderung der Einwanderung aus Nachbarländern mit Nähe zur litauischen Kultur.12 Litauens Migrationspolitik seit Erlangung seiner Unabhängigkeit lässt sich in drei Phasen einteilen: Die Phase der restriktiven Migrationspolitik von 1990 bis 1998, in der mit dem Gesetz zur Rechtsstellung von Ausländern vor allem der unkontrollierte Zuzug von Einwanderern aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion verhindert werden sollte. Die Phase der EU-Beitrittsbemühungen von 1998 bis 2004 mit der schrittweisen Anpassung der Migrationsstandards an EU-Normen. Sowie die Phase nach dem EU-Beitritt 2004 mit der Übernahme der Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU sowie dem Beitritt zum Schengen-Raum 2007.13
Litauen ist ein Auswanderungsland. Innerhalb der EU ist es eines der wenigen Länder mit einem negativen Migrationssaldo.14 Derzeit ist Litauen sogar das EU-Mitglied mit der höchsten Auswanderungsrate.15 Hinsichtlich ihrer Umstände und Beweggründe lässt sich die Emigration aus Litauen nach dem Ende des Kalten Krieges in vier Phasen unterteilen:
Die Phase nach dem Fall der Berliner Mauer bis 1993 lässt sich als Phase der Repatriierung bzw. Entsowjetisierung bezeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung kehrten sich die bis dahin vorherrschenden Migrationsbewegungen um: Russen, Weißrussen und Ukrainer wanderten nicht mehr nach Litauen ein, sondern kehrten aus Litauen in ihre ebenfalls wieder unabhängig gewordenen Heimatländer zurück. Zugleich nutzen viele Litauer die neu gewonnene Reisefreiheit und wanderten legal und dauerhaft gen Westen aus. Migrationsantrieb war in dieser Phase die freie Wahl des Wohnortes.16
Das auf die Konsolidierung des neuen Staates folgende Jahrzehnt von 1993 bis 2004 war durch den Wandel zur Marktwirtschaft geprägt und führte zu neuen Formen der Migration. Zunächst verließen viele Litauer im „kleinen Grenzverkehr“ das Land, um bei Kurzaufenthalten in den Nachbarländern einzukaufen oder Handel zu treiben. Darauf folgten immer ausgedehntere Geschäftsreisen, die sich nicht mehr nur auf die unmittelbaren westlichen Nachbarländer beschränkten, sondern allein aus wirtschaftlichen Motiven die Länder zum Ziel hatten, in denen für die eigenen Waren oder Arbeitskraft am meisten bezahlt wurde. Ebenso zog es viele litauische Studenten in westliche Länder, die sich von der dortigen Ausbildung zunächst bessere Qualifikationen und später höhere Verdienstmöglichkeiten versprachen. So blieben zahlreiche Litauer auf diese Weise dauerhaft im westlichen Ausland, ohne formell auszuwandern.17
Die Phase von 2004 bis 2008 mit dem Beitritt Litauens zur EU im Jahr 2004 und der damit verbundenen Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte hatte erhebliche Auswirkungen auf die Migrationsbewegungen in Litauen. So wurden die Staaten der EU – allen voran das Vereinigte Königreich und Irland, die beide als erste EU-Staaten ihre Arbeitsmärkte für die neuen Mitgliedsländer geöffnet hatten – zu den bevorzugten Zielen litauischer Auswanderer.18