Türkei und EU - Arndt Künnecke - E-Book

Türkei und EU E-Book

Arndt Künnecke

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Beschreibung

Nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 und dem erfolgreichen Referendum zur Einführung des Präsidialsystems in der Türkei vom April 2017 sind die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU an einem Tiefpunkt angelangt. Nachdem es bereits in den vergangenen Jahren keinerlei nennenswerte Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen gab, drohen nun beide Seiten offen mit deren Abbruch. Dieses Buch zeigt anhand verschiedener Szenarien Perspektiven auf, wie sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU in Zukunft entwickeln könnten. Dazu werden zunächst die lange Geschichte der beiderseitigen Beziehungen, die grundsätzlichen Problemfelder eines türkischen EU-Beitritts sowie die gegenwärtigen Spannungsfelder zwischen beiden Partnern ausführlich erörtert, bevor auf dieser Grundlage die einzelnen Szenarien aufgezeigt und analysiert werden.

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Für meine Freunde und Kollegen

in der Türkei

Vorwort

Seit nunmehr über 50 Jahren steht die Türkei vor den Toren Europas und wartet vergeblich auf Einlass. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union (EU) gleichen dabei einer Achterbahn. Seit dem türkischen Antrag auf assoziierte Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vom Juli 1959 folgten auf Phasen der gegenseitigen Annäherung regelmäßig Phasen gegenseitiger Entfremdung.

Oftmals wurde die Beziehung der Türkei zur EU mit der einer verschmähten Liebe verglichen. Die Türkei wollte mit der EU gerne den Bund fürs Leben schließen, wurde jedoch vonseiten des stolzen Bräutigams regelmäßig zurückgewiesen. Doch nicht nur das: Der enttäuschten Liebe wurden im Laufe der Jahrzehnte regelmäßig andere Bräute vorgezogen, die der Bräutigam attraktiver fand als die verschmähte Braut vom Bosporus. Nun aber scheint die enttäuschte Braut ihr Werben um den Bräutigam eingestellt zu haben. Ihre bislang treue Liebe scheint erloschen zu sein. Sie himmelt den Bräutigam nicht mehr an, sondern geht nun sogar öffentlich auf diesen los.

Ist das jetzt das Ende einer Partnerschaft, die so vielversprechend begann und mit der offiziellen Verleihung des Beitrittskandidatenstatus an die Türkei 2004 sogar bis zur Verlobung gelangte? Oder befinden sich beide Partner derzeit nur in einer schwierigen Phase ihrer Beziehung, die bald wieder vorübergehen wird und dem Fortbestand ihrer Partnerschaft nichts anhaben kann?

Insbesondere nach dem Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei, dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 und dem erfolgreichen Referendum zur Einführung des Präsidialsystems vom April 2017 steht die Türkei im Zentrum der europäischen Außenpolitik. Politiker beider Seiten gehen aufeinander los und sind dabei, vieles vom Hochzeitsporzellan zu zerschlagen, das sich beide Partner im Laufe ihrer jahrzehntelangen Beziehung mühsam gemeinsam erworben haben.

Die folgende Abhandlung möchte in dieser angespannten Atmosphäre einen Beitrag dazu leisten, die zunehmend emotionalisierte Diskussion wieder auf eine sachliche Grundlage zurückzuführen. Dazu zeichnet sie die wechselvolle Entwicklung der türkisch-europäischen Beziehungen nach, um zu verdeutlichen, warum beide Partner dorthin gelangt sind, wo sie gegenwärtig stehen. Im Anschluss daran werden die grundsätzlichen Problemfelder eines türkischen EU-Beitritts erörtert, bevor detaillierter auf die gegenwärtigen Spannungsfelder beider Partner eingegangen wird. Auf Grundlage dieser Spannungsfelder werden dann fünf Szenarien aufgezeigt, wie sich das Verhältnis zwischen Türkei und EU in näher Zukunft entwickeln könnte.

Istanbul, im Juni 2017

Dr. Dr. Arndt Künnecke

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Geschichte der türkischeuropäischen Annäherung

Grundsätzliche Problemfelder eines türkischen EU-Beitritts

Geografie

Demografie

Politik

Gegenwärtige Spannungsfelder zwischen der Türkei und der EU

Flüchtlingsabkommen EU-Türkei

Niederschlagung des Militärputsches

Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems

Szenarien für die zukünftigen Beziehungen zwischen Türkei und EU

Szenario 1: Weiter wie bisher

Szenario 2: Aussetzung oder Abbruch der Beitrittsverhandlungen durch die EU

Szenario 3: Beendigung der Beitrittsverhandlungen durch die Türkei und Abkehr von Europa

Szenario 4: Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens durch die Türkei

Szenario 5: Neuer Grundlagenvertrag zwischen der EU und der Türkei

Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Insbesondere nach den Ereignissen der letzten 12 Monate mit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vom Juli 2016, den anschließend in großem Stil durchgeführten staatlichen Säuberungen, dem erfolgreichen türkischen Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems vom April 2017 und der EU-feindlichen Rhetorik in dessen Vorfeld sind die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei beiderseitig auf den Prüfstand gekommen.

Wie soll es nun weitergehen zwischen den jahrzehntelangen Partnern? Soll man weitermachen wie bisher? Oder bieten diese einschneidenden Ereignisse für beide Seiten die Chance, die gegenseitigen Beziehungen zu überdenken, diese zu reformieren, zu vertiefen oder sogar einen kompletten Neuanfang zu starten?

Diesen Fragen geht die folgende Abhandlung nach. Sie beginnt mit einer Zusammenfassung der Entwicklung der türkisch-europäischen Annäherung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, ohne die das besondere Verhältnis der Türkei zur EU nicht hinreichend verständlich ist. Im zweiten Teil werden die grundsätzlichen Probleme der Türkei auf dem Weg zur EU-Vollmitgliedschaft erörtert, bevor dann näher auf die aktuellen Problemfelder des Flüchtlingsabkommens, des gescheiterten Putsches sowie des Referendums zur Einführung eines Präsidialsystems eingegangen wird. Schließlich werden am Ende fünf mögliche Szenarien aufgezeigt und erörtert, wie sich das künftige Verhältnis zwischen der Türkei und der EU entwickeln könnte oder gestalten ließe.

II. Geschichte der türkischeuropäischen Annäherung

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Diese reicht von der Ausbreitung der osmanischen Herrschaft in weiten Teilen Südosteuropas bis an die Grenzen Österreichs (1683) bis zur allmählichen Verdrängung der Osmanen aus diesem Raum. Sie kulminierte im Konflikt europäischer Machtpolitik über die „Orientalische Frage“ und führte schließlich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zum endgültigen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches.1

Seit der Tanzimat-Periode2 im Osmanischen Reich gab und gibt es auf dem Gebiet der Türkei zwei Lager mit gegensätzlichen Ansichten zu den türkischeuropäischen Beziehungen: Die Einen treten für Verwestlichung und die unbedingte Übernahme europäischer Werte und europäischen Lebensstils ein, wohingegen die Anderen vor unreflektierter Nachahmung des Westens warnen und die Eigenarten der türkischen Kultur betonen und bewahren wollen.3

Mit der Ausrufung der säkularen und laizistischen Republik Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk am 29.10.1923 und den anschließenden kemalistischen Reformen, deren Höhepunkt die Sprachreform mit Einführung der lateinischen Schrift und das Verbot des islamischen Rechts bei gleichzeitiger Übernahme europäischer Rechtsstandards bildeten, gewann der pro-westlich-europäische Flügel die Oberhand, und die Türkei vollzog endgültig den Schritt zur Modernisierung und Europäisierung.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Türkei eine geschickte und opportunistische Neutralitätspolitik verfolgte, kam es dann zur Wiederannäherung der Republik Türkei an Westeuropa.5 Es folgten bis heute über 60 Jahre politische sowie über 50 Jahre vertragliche Beziehungen der Türkei zu Europa.6

Als Gründungsmitglied der UN festigte die Türkei ihre Bindung zum westlichen Bündnis nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Mitgliedschaft in verschiedenen westlichen internationalen Organisationen. Bei der Gründung der OEEC im April 1948 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern. Seit 1949 ist die Türkei Mitglied des Europarates und Unterzeichnerin zahlreicher Verträge, die in dessen Rahmen geschlossen wurden. Im Juli 1950 stellte die Türkei einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft und wurde am 18.2.1952 zeitgleich mit Griechenland in das westliche Militärbündnis der NATO aufgenommen. Als NATO-Mitglied war sie zudem von Anfang an Teilnehmerin der KSZE (jetzt: OSZE).7

Aufgrund ihrer geschichtlichen und politischen Bindungen zu Europa stellte die Türkei bereits am 31.7.1959 den Antrag auf Assoziierung mit der damaligen EWG. Nach zehn Verhandlungsrunden wurde das mit dem Wortlaut des von der EWG am 9.7.1961 mit Griechenland geschlossenen Athener Abkommens8 nahezu identische Assoziationsabkommen9 (sog. Ankara-Abkommen) am 12.9.1963 in Ankara unterzeichnet. Sein Inkrafttreten am 1.12.1964 markierte die formelle Aufnahme der Türkei in den Kreis der europäischen Staaten und sah die schrittweise Errichtung einer Zollunion in drei Phasen (Vorbereitungs-, Übergangs- und Endphase) vor.10 Die jeweils nächste Phase durfte demnach immer erst nach dem Erreichen bestimmter Vorgaben begonnen werden. Gemäß den Zusatzprotokollen sollte die Freizügigkeit bis 1986 und die Zollunion bis 1995 verwirklicht werden. Das durch eine Reihe von Protokollen und Beweisdokumenten ergänzte Assoziationsabkommen11 sollte nicht automatisch zu einer EWG-Mitgliedschaft der Türkei führen, sondern dem politischen Zweck dienen, einen eventuellen späteren Beitritt zu erleichtern.12 Darüber hinaus sollte der Türkei abkommensgemäß Wirtschaftshilfe zur Überwindung besonderer Probleme gewährt und ein paritätisch besetzter Assoziationsrat eingesetzt werden, dem als oberstes Assoziationsorgan die Aufgabe zufiel, die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelungen sicherzustellen.

Erklärtes Ziel der Vorbereitungsphase waren Exporterleichterungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse der Türkei sowie Finanzhilfen zum beschleunigten Ausbau der türkischen Wirtschaft. Diese Phase endete am 1.1.1973.13

In der daran anschließenden Übergangsphase sollte der zollfreie Verkehr für die Güter der 12-Jahres-Liste bis Januar 1985 verwirklicht werden. Ferner war in ihr die Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer innerhalb der EG14 ab dem 1.12.1986 vorgesehen.15 Wegen der häufig wechselnden türkischen Regierungen waren die türkischen Beziehungen zur EG während dieser Zeit wenig kontinuierlich. Als die EG der Türkei im Jahr 1978 einen Beitritt gemeinsam mit Griechenland anbot, lehnte die damalige türkische Regierung dies ab. Erst nach Ablösung der letzten Militärregierung, der u. a. Menschenrechtsverletzungen angelastet wurden, entspannten sich die Beziehungen zur EG im Anschluss an die Parlamentswahlen vom 6.11.1983 wieder.16

In der Endphase sollte der zollfreie Verkehr für Güter der 22-Jahres-Liste ab Januar 1995 gelten und Ende 1995 eine Zollunion mit der Türkei realisiert werden.17 Eingeläutet wurde diese Endphase mit dem türkischen Antrag auf EG-Mitgliedschaft vom 14.4.1987, mit dem die Türkei ihren Willen zur vollständigen Integration in die EG – zu einem für die Türkei allerdings äußerst ungünstigen Augenblick18 – bekräftigte. Die Außenminister der EG-Staaten behandelten den Antrag auf ihrer Sitzung und leiteten ihn an die EG-Kommission mit der Bitte um Stellungnahme weiter.19 Der EG-Ministerrat nahm den Beitrittsantrag sodann gem. Art. 237 des EWG-Vertrages entgegen.20 Insbesondere wegen des für die Zeit der türkischen Militärpräsens auf Nordzypern geltenden griechischen Vetos und der im Vergleich zum EG-Durchschnitt immer noch gravierend schlechteren wirtschaftlichen und sozialen Struktur wurde eine endgültige Entscheidung über den Beitritt der Türkei zunächst bis auf Weiteres aufgeschoben. Dies kam einer Zurückweisung des Beitrittsgesuchs auf unbestimmte Zeit gleich.21