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Die Einhornhöhle im Harz birgt unentdeckte Wunder. Eine Expedition macht sich auf den Weg unter Tage, um die Geheimnisse der Höhle zu erforschen. Darunter ist der schüchterne Petrograf Bernd Treiger, der eigentlich Angst vor der Dunkelheit hat. Aber in der Gruppe und mit erfahrenen Höhlenforschern kann ja nicht viel passieren. Oder? Die Chancen stehen bei minus zwei. Band 1 des Zweiteilers
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Seitenzahl: 311
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Teil 1
© dead soft verlag, Mettingen 2016
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© salajean – fotolia.com
1. Ausgabe
ISBN 978-3-945934-83-8
ISBN 978-3-945934-91-3 (epub)
Minus zwei – Into the dark
Die Einhornhöhle im Harz birgt unentdeckte Wunder. Eine Expedition macht sich auf den Weg unter Tage, um die Geheimnisse der Höhle zu erforschen. Darunter ist der schüchterne Petrograf Bernd Treiger, der eigentlich Angst vor der Dunkelheit hat. Aber in der Gruppe und mit erfahrenen Höhlenforschern kann ja nicht viel passieren. Oder? Die Chancen stehen bei minus zwei.
Die Einhornhöhle bei Scharzfeld im Harz gibt es tatsächlich. Wahr ist, dass man sie besichtigen kann und dass dort Filme gedreht worden sind. Ebenfalls real ist der Fund weiterer Höhlen unter der Blauen Grotte dieser Karsthöhle.
Der Rest dieser Geschichte, die Expedition und das weitere Abenteuer entstammen meiner blühenden Fantasie.
In der Stille der Dunkelheit kannst du die Trauer deines Herzens hören.
BERND
Unruhig zappelte Bernd herum, überprüfte bestimmt zum siebzehnten Mal seinen Rucksack, setzte den quietschgelben Helm erst ab und im nächsten Moment wieder auf. Es war windig, weshalb er den Reißverschluss seines Schlatzes bis ganz nach oben zog. Der extrem robuste, rote Overall war funkelnagelneu und wurde ihm von der Harzer Speläologie e.V. zur Verfügung gestellt. Noch nie zuvor hatte er ein derartiges Abenteuer unternommen. Mittlerweile war er sechsundreißig Jahre alt und endlich hatte sich ihm eine Gelegenheit geboten. Ohne groß zu überlegen hatte Bernd zugegriffen und sein Vater hatte ihn zusätzlich in dem Entschluss bestärkt.
„Wenn ich die Wahl zwischen einer zweiwöchigen Expedition und dem Sitzen an irgendwelchen Computern und Messgeräten im Landesamt hätte, müsste ich nicht lange überlegen. Das ist weit besser, als Steine von links nach rechts zu schieben“, hatte sein Vater gesagt und ihm anerkennend auf die Schulter geklopft. Bernd war völlig seiner Meinung gewesen. Seine Mutter betrachtete diese Expedition eher skeptisch. Aber Mütter hatten ja immer Bedenken.
Zappelig reckte er den Hals. Was dauerte das bloß so lange? Er begann unruhig an der Nagelhaut seines Zeigefingers herumzupuhlen.
„Ich glaube, es geht gleich los.“ Dorothea Pernheim schien nicht minder aufgeregt. Sie war Kartografin, Hobby-Alpinistin und ein zähes kleines Luder. Im Augenblick hüpfte sie an Bernds Seite von einem Fuß auf den anderen und lächelte ihm zu. Dabei entblößte sie eine deutliche Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen. Unwillkürlich lächelte er, denn es sah niedlich aus.
„Hoffentlich hast du recht. Sonst muss ich noch mal aufs Klo.“
Sie lachten. Es hörte sich prima an, kameradschaftlich. Es ließ ihn vergessen, dass sie sich erst seit einer Woche kannten. Viel zu kurz, wie er fand. Gewöhnlich benötigte er eine Weile, bis er zu jemandem Vertrauen fasste. Mit Dorothea war er jedoch sofort warm geworden. Sie war eine tolle Frau.
Bernd atmete tief ein, um sich endlich etwas zu beruhigen, und musterte die Runde. Ihre Expedition bestand aus einem bunt zusammengewürfelten Team. Neben ihm und Dorothea gehörten auch Georg (Vermessungstechniker), Marianne (Biologin), Jonas (Klimatologe), Peer (Archäologe), Steven (Geowissenschaftler) sowie Christian, Martin und Lukas (Höhlenforscher) und Tiger (Survival-Spezialist) zu der auserlesenen Truppe. Er selbst war Petrograf von Beruf.
Tiger … Bernd hatte den Mund nicht mehr zubekommen, als sich der durchtrainierte Mann vorgestellt hatte, nachdem er gestern am späten Abend überraschend zu ihnen gestoßen war. Denn eigentlich hatte er die Expedition abgesagt. Einen Ersatzmann für Tiger hatte die Harzer Speläologie e.V. nicht gesucht, da er das Team der drei Höhlenforscher lediglich unterstützen sollte. Nicht einmal englisch ausgesprochen hatte er seinen Namen, sondern sich einfach Tiger genannt, als wäre er eine gefährliche Raubkatze.
EinSpitzname, dachte sich Bernd. Und ein ausgesprochen blöder. Hält dieser Überlebenskünstler bestimmt für passend.
Tiger schien der Einzige zu sein, der in einer unbeschreiblichen Gemütsruhe auf den Startschuss wartete. Lässig saß er mit seinem Rucksack zwischen den Füßen auf einem großen Stein, ebenfalls in einen roten Schlatz gekleidet und mit einem leuchtend gelben Helm auf dem Kopf. Das Outfit stellte ihre Standardausrüstung dar. „Ich bin echt gespannt, was wir entdecken werden“, sagte Dorothea. „Hoffentlich ist nicht schon nach ein paar kurzen Kilometern Schluss.“
„Zumindest haben wir etliche Gänge vor uns, die wir untersuchen können“, antwortete Bernd mit einer Mischung aus Zuversicht und kribbelnder, ängstlicher Nervosität. Es wäre ja wohl gelacht, wenn sein erstes unterirdisches Abenteuer gleich nach ein paar Stunden vorbei wäre.
„Das ist so aufregend.“ Dorothea drückte hibbelig seinen Arm. Vor ihnen kam Bewegung in die Gruppe.
„Es geht los!“, rief Lukas, der ihre Expedition anführen sollte, da er in den letzten Jahren mehrere Touren dieser Art geleitet hatte und entsprechende Erfahrung besaß. „Will jemand hierbleiben? Dann muss er sich jetzt entscheiden.“
Kollektives Kopfschütteln und ein paar dumme Sprüche beantworteten seine Frage. Natürlich würde keiner zurückbleiben, jeder von ihnen wollte dabei sein, wenn hoffentlich neue Wunder entdeckt wurden.
Sie schulterten ihre Rucksäcke und schritten einer nach dem anderen geradezu feierlich auf den mit Feldsteinmauern umsäumten Eingang der Einhornhöhle zu. Bernd blickte zu dem künstlichen Knochenskelett eines dieser Fabeltiere hoch, das rechts neben dem überdachten Eingang Wache stand.
Die Einhornhöhle lag in der Nähe von Scharzfeld und stellte eine der größten Karsthöhlen des Harzes dar. Sie war für die Öffentlichkeit freigegeben, eine sogenannte Schauhöhle. Im 16. Jahrhundert wurde sie zuerst erwähnt, wobei allerdings Vermutungen bestanden, dass sie schon lange zuvor als Kultstätte benutzt worden war. Der Eingang war ein künstlich angelegter Stollen am eigentlichen Ende der Höhle. Der 365 Meter lange Führungsweg, für den man etwa fünfundvierzig Minuten brauchte, leitete den Besucher an verschiedenen großen Hallen vorbei bis hin zur Blauen Grotte, wo der Ausgang lag. Ihren Namen hatte die Einhornhöhle von den zahlreichen Tropfsteinen, die gewiefte Schlitzohren vor dem 19. Jahrhundert als Hörner der mystischen Tiere ausgaben und für medizinische Zwecke verkauften.
Für die geplante Höhlenforschungstour hätte die Expedition natürlich abkürzend den Ausgang als Einstieg nutzen können, da ihr Ziel die Blaue Grotte war, die dort lag. Hier hatten wissenschaftliche Messungen die Vermutung bestätigt, dass weitere Höhlenräume vorhanden waren. Daraufhin erfolgten Bohrungen, die ein im Kreis Osterode für die Gipsindustrie tätiges Unternehmen für Sprengtechnik sowie eine weitere Firma bei Osterode-Ührde finanzierten. Und tatsächlich entdeckte man in circa elf Metern Tiefe eine weitere Höhle. Eine Kamera lieferte genauere Maßangaben über ihre Größe und es wurden Bärenknochen gefunden, die Spekulationen zuließen, dass diese Höhle entweder mit der bereits bekannten in Verbindung stand oder es weitere Wege ins Freie gab. Bei näheren Untersuchungen dieses Fundes stießen die Wissenschaftler auf einen schmalen Spalt, der tief in den Berg hineinführte, tiefer, als man zuerst geahnt hatte. Ihre Expedition sollte genau dort starten und die Geheimnisse des Berges enthüllen. Mehr noch, sie sollten die Gänge und Hallen vermessen, kartografieren, Gesteinsproben nehmen und die vorhandene Flora und Fauna vermerken.
Bernd stieg vorsichtig als Letzter hinter Dorothea und Georg die Stufen zum sogenannten WeißenSaal hinab. Es machte ihm nichts aus, das Schlusslicht zu bilden, er hielt sich ohnehin lieber im Hintergrund. Seine Erwartungen an diese Tour waren hoch. Was für Mineralien würde er entdecken? Welche wundersamen Gesteine und Kristalle warteten unter Tage auf ihn? Vielleicht ein prachtvoller Raum mit außergewöhnlich schönen Tropfsteinen? Auf unterirdische Welten mit sonderbaren Geschöpfen brauchte er sicherlich nicht zu hoffen, selbst wenn er abenteuerliche Geschichten wie Jules Vernes’ Die Reise zum Mittelpunkt der Erde gelegentlich gerne las.
Warte es ab und lass dich überraschen, dachte er, amüsiert über seine eigene Ungeduld. Trotz aller Vorfreude hatte er auch ein bisschen Angst, was sich in schweißnassen Händen äußerte, die er verstohlen an seinem Schlatz abwischte.
Ihre Wanderung über den offiziellen Führungsweg der Einhornhöhle sollte der Auftakt ihrer Expedition sein, sie auf das Kommende einstimmen und gleich als passender Auftritt für die in der Blauen Grotte wartenden Reporter dienen. Bis auf Tiger kannte längst jeder von ihnen die Höhle. Seitdem feststand, dass die Expedition starten sollte, waren sie häufig hier gewesen, um sich seelisch darauf vorzubereiten und ihre Vorgehensweise in passender Umgebung abzusprechen.
„Im Jahr 2010 hat man an diesem Ort TomSawyer neu verfilmt“, rief der vorausgehende Lukas, damit die ganze Gruppe ihn verstehen konnte. Er ahmte perfekt den Touristenguide nach und wartete nun mit allgemeinen Neuigkeiten auf. Bislang hatte jedes Gespräch um die Höhlen ihre Expedition zum Thema gehabt.
„Das war ein ungeheures Spektakel und hat die Einhornhöhle ein Stück weit berühmt gemacht“, fuhr Lukas fort. „Benno Führmann hat den Indianer Joe gespielt. Gebt also acht, damit ihr nicht versehentlich über ihn stolpert.“
Bernd grinste und fand, dass dieser Ort tatsächlich die geeignete Kulisse für den Film bot. Zwischen den gewaltigen Felsen zu kauern und auf das Erscheinen der schaurigen Figur des Indianer Joe zu warten, war einfach ideal.
„Aber das war nicht der einzige Film, für den die Einhornhöhle den Drehort bot“, fuhr Lukas fort. „Auch DasGeheimnis der Zwerge kam in diesen Höhlen in den Kasten. Und Andreas Kieling drehte eine Dokumentation über Eiszeit-Tiere. Dafür wurden lebensgroße Modelle von Bären und Höhlenlöwen herangeschleppt.“
„Nur uns filmt keiner“, sagte Peer mit einigem Bedauern.
„Keine Sorge. Die Reporter warten längst. Und selbstverständlich werden wir diesen bedeutsamen Moment festhalten. Vor dem Abstieg wird ein Gruppenbild gemacht.“ Lukas winkte sie weiter.
Da sie ja kein Sightseeing betrieben, gelangten sie schon nach kurzer Zeit an der Blauen Grotte und dem Bohrloch an. Etliche Reporter der umliegenden Presse begannen sie sofort zu fotografieren und stellten lautstark und alle gleichzeitig ihre zahlreichen Fragen. Im ersten Augenblick wirkte das recht erschlagend.
„Haben Sie ein bisschen Erbarmen“, überschrie schließlich Professor Dr. Eichenberg den Lärm. Er war der Vorsitzende der Harzer Speläologie e.V., die diese Expedition finanzierte. Zusammen mit den Reportern hatte er auf die Teilnehmer gewartet und währenddessen der Presse Rede und Antwort gestanden. „Wenn Sie ein solches Chaos veranstalten, kann Sie ja niemand verstehen.“
„Wie fühlen Sie sich so kurz vor dem Abstieg?“ Einer der Reporter nutzte schnell die kurze Stille.
„Ich denke, dass ich für meine Kameraden spreche, wenn ich sage, dass wir furchtbar gespannt sind, auf das, was wir entdecken werden“, erwiderte Lukas. „Wie Sie sicherlich von Professor Dr. Eichenberg erfahren haben, sind wir ein kunterbunter Haufen, zusammengesetzt aus den verschiedensten Berufssparten rund um die Höhlenforschung. Wir werden uns daher bestimmt mit unseren verschiedenen Fähigkeiten prima ergänzen. Einige haben bereits Erfahrungen mit solchen Touren, andere sind Neulinge. Trotzdem weckt das Betreten einer neuen, unerforschten Höhle in jedem von uns den Entdeckergeist. Wünschen Sie unserem Team bitte Hals- und Beinbruch. Ich bin sicher, dass wir erfolgreich zurückkehren werden und Ihnen die Wunder unter Tage präsentieren können.“
Sie johlten wie die kleinen Kinder und applaudierten zu Lukas’ Worten. Danach stellten sie sich für das versprochene Gruppenbild auf. Blitzlichter flammten wie ein Gewitter auf und Bernd fürchtete langsam, dass ihm das Lächeln im Gesicht festwuchs.
Ich gehöre dazu, dachte er glücklich. Wirklich dazu. Mit dieser Tour ging für ihn ein Kindheitstraum in Erfüllung.
TIGER
Die Höhle unter der Blauen Grotte war nur einige Meter breit und sie mussten sich nach wenigen Schritten mit ihrem Gepäck durch den entdeckten Spalt quetschen. Dahinter war es deutlich kühler und sie gelangten in eine gewaltige Halle, die mit gewaltigen Felsformationen aufwartete, ansonsten war sie ziemlich unspektakulär. In den folgenden Stunden sprach kaum jemand. Die Teammitglieder schienen mit ihren jeweiligen Gedanken beschäftigt und blickten sich auf den ersten Kilometern neugierig um. Tiger rückte sich den Rucksack zurecht. Natürlich hatte er zu viel eingepackt. Ein extra Kletterseil, zusätzliche Haken, Dörrfleisch … und sein Glücksschwein namens Sau. Er hoffte inständig, dass es keine Pannen geben würde.
Zurzeit kamen sie wenigstens gut voran. Der Boden war einigermaßen eben und Lukas suchte ihnen einen bequemen Weg zwischen den Felsen entlang. Die Luft roch feucht und mineralhaltig.
„Hast du schon mal eine Tour dieser Art mitgemacht?“ Marianne gesellte sich an seine Seite und versuchte offenbar, ihn ein wenig kennenzulernen. Er fand das nett, insbesondere, weil er kurzfristig zu der Truppe gestoßen war. Eigentlich hatte er die Tour abgesagt, als Professor Dr. Eichenberg ihn anrief und dazu einlud. Sie kannten sich von einem Survival-Ausflug, den der Professor für einige seiner Mitarbeiter als Bonus für gut geleistete Arbeit organisiert hatte. Die Woche zuvor hatte Tiger in den Alpen verbracht und dort eine Bergführung veranstaltet. Das war sein Leben und machte ihm Spaß. Sehr zum Leidwesen seines Freundes, der ein absoluter Stubenhocker war. Ihm ging es auf die Nerven, dass Tiger ständig tagelang unterwegs war. Aus diesem Grund hatte Tiger gestern beim Heimkommen eine leergeräumte Wohnung vorgefunden. Und einen Zettel mit der erschütternden Nachricht, dass er wieder Single war. Kurz entschlossen hatte er zum Telefon gegriffen und seine vorherige Absage zu der Expedition zurückgenommen. Daher war er erst gestern am späten Abend zu seinen neuen Kameraden gestoßen.
„Ich bin Survival-Experte und leite selbst Führungen“, erklärte er Marianne. „In einer Höhle war ich allerdings noch nie unterwegs.“
Marianne hatte ein rundes Puppengesicht unter ihrem Helm und trug dazu einen knallroten Lippenstift, der mit der Farbe des Schlatzes harmonierte. Warum sie sich schminken musste, wenn man sie lediglich betrachten konnte, sobald man die Stirnlampe auf sie richtete, erschloss sich Tiger nicht. Das würde ein weibliches Geheimnis bleiben.
„Es ist auch mein erstes Mal“, sagte sie in einem leicht anzüglichen Ton. „Wäre es nicht fantastisch, wenn wir auf Fundstücke wie Knochen oder Versteinerungen stoßen würden? Vielleicht haben hier einst Menschen gelebt. Oder wir entdecken Fossilien. Hach!“ Sie seufzte ein wenig theatralisch. „Nun weiß ich, warum ich dieses endlose Biologiestudium hinter mich gebracht habe.“
Pflichtschuldig lächelte er, was Marianne gar nicht bemerken konnte, weil ihre Lampe nach vorne leuchtete und den Rücken von Martin erhellte, der direkt vor ihnen ging. Martin war ein erfahrener Höhlenforscher, genau wie Lukas und Christian. So viel hatte Tiger inzwischen herausgefunden. Aufgefallen war ihm jedoch der Petrograf, der gestern Abend still bei einem alkoholfreien Bier in der Runde gesessen hatte.
„Was ist eigentlich mit diesem Bernd?“, fragte Tiger.
„Was soll mit ihm sein?“
„Ich habe bemerkt, dass er sich etwas absondert.“ Das machte Tiger ein bisschen Sorgen. Solche Leute stellten oft ein Problem in der Gruppe dar, weil sie meist anders tickten als die übrigen Teammitglieder. Tiger hatte mehrfach erlebt, wie solche Außenseiter auf harmlose Bemerkungen hin ausrasteten oder sich in ihrem Stolz gekränkt fühlten und die Mitarbeit verweigerten. Bei einer Expedition wie dieser wusste Tiger gerne im Voraus über mögliche Querulanten Bescheid.
„Bernd ist tatsächlich einer von der stillen Sorte“, antwortete Marianne. „Das mag daran liegen, dass er seit ein paar Monaten geschieden ist.“
„Ach?
„Seine Frau hat wohl den Konkurrenzkampf gegen die Steine verloren.“
Arbeit und eine Trennung vom Partner. Davon konnte Tiger ein Lied singen. Mitfühlend verzog er das Gesicht.
„Er hat einen Doktor in Petrografie und soll unterwegs Gesteinsproben sammeln“, erzählte Marianne. „Ich stelle es mir ziemlich langweilig vor, Steine zu untersuchen. Kein Wunder, wenn ihm die Frau davonläuft. Da ist ein Naturbursche wie du schon interessanter.“
Nicht zu fassen, die flirtet mit mir. Tiger grinste amüsiert. „Und was ist mit dir? Was sagt dein Partner dazu, dass du dich unter Tage begibst?“
„Ich bin solo“, gestand Marianne freimütig.
„Warum? Du bist hübsch, intelligent …“ Er schmeichelte ihr bewusst.
„Zu intelligent für manchen Mann. Viele wollen nur ein Frauchen, das sexy und dumm ist, damit sie jemanden haben, dem sie imponieren können. Ich dagegen brauche einen Kerl, der mir auf Augenhöhe begegnet und mir ebenbürtig ist.“
„Schade“, sagte Tiger belustigt. „Ich habe lediglich einen Hauptschulabschluss.“ Er ging einen Schritt schneller, um zu Martin aufzuschließen und Marianne die Gelegenheit zu geben, sich ihn als potenziellen Vater zukünftiger Kinder aus dem Kopf zu schlagen.
„Baggert sie dich an?“ Martin stieß ihm kumpelhaft in die Seite, als würden sie sich ewig kennen.
„Ja“, brummte er, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte.
Martin lachte. „Sie hat nahezu jeden Single unter uns angegraben. Ich war bislang nicht an der Reihe. Und? Interessiert?“
„Nein, bin ich nicht.“
„Also hast du kein Problem, wenn ich es bei ihr versuche? Ich finde sie eigentlich ganz süß.“
„Tu dir keinen Zwang an. Gutes Gelingen.“
Martin klopfte sich Erfolg heischend gegen den Helm, blieb stehen und wartete, bis Marianne aufgeholt hatte. Tiger seufzte. Kaum waren sie unterwegs, bildeten sich Pärchen. Ein kurzes Kopfdrehen zeigte ihm, dass Martin seinen Charme spielen ließ und Marianne einzuwickeln begann. Was kümmerte es ihn? Vielleicht waren die beiden füreinander bestimmt und er registrierte das aus der Perspektive eines sitzengelassenen Neiders.
Denk nicht darüber nach, forderte er sich stumm auf. Der Drops ist gelutscht. Lieber konzentrierte er sich auf die fremde Umgebung. Lichtflecken von den Stirnlampen tanzten über die Felswände, die von schlammbrauner Farbe waren. Rote und weiße Einschüsse bildeten Gesichter im Stein, wenn man etwas Fantasie besaß, um sie zu erkennen. Dort eine traurige Altmännermiene und da hinten eine Koboldfratze. Anzeichen von Leben entdeckte er dagegen nicht. Keine Fledermäuse oder Krabbeltiere, dafür tauchten kleine Wasserlachen auf, die wenige Zentimeter tief waren. Inzwischen hatten sie das Ende der riesigen Halle erreicht. Sie schritten zwischen mehreren schlanken Felssäulen hindurch, die wie ein riesiges Tor anmuteten. Lukas machte kurz hinter den Säulen Halt, wo die Halle endete. Dafür hatten sie fünf Möglichkeiten, in welche Richtung sie weitergehen konnten, da mehrere Stollen tiefer in diese unterirdische Welt führten.
„Welchen Weg sollen wir nehmen?“, fragte Lukas. Unentschlossen standen sie da. Begehbar schienen auf den ersten Blick alle Tunnel zu sein.
„Können wir nicht in jeden Stollen ein Stückchen hineinlaufen und uns dann entscheiden?“, fragte Peer.
„Gute Idee. Georg und ich bleiben in der Halle. Wir machen ein paar Fotos und eine grobe Vermessung.“ Dorothea setzte ihren Rucksack ab und zog sich den Riemen ihrer Kamera über den Kopf. In den letzten Stunden war immer wieder unerwartet ein Blitzlicht aufgeflammt, was Tiger mächtig genervt hatte, da es im Dunkeln blendete.
„Okay, fünfzehn Minuten Pause.“ Lukas hatte sich entschieden. „Martin und Christian untersuchen die beiden linken Tunnel, Steven und ich die drei anderen. Einverstanden, Steven, oder möchtest du ebenfalls lieber ausruhen?“
„Nein, nein, ich bin mit dabei“, sagte der Geowissenschaftler.
„Fünf Minuten für jeden Stollen, danach treffen wir uns hier. Und seid vorsichtig.“ Lukas winkte Steven, ihm zu folgen, und die vier Kundschafter schwärmten aus.
Tiger setzte seinen Rucksack neben einem hockerförmigen Felsen ab und ließ sich einigermaßen bequem darauf nieder. Ihm fiel auf, dass der ruhige Bernd irgendwie verloren abseitsstand und Dorothea und Georg bei der Arbeit zuschaute. Marianne, Jonas und Peer bildeten für sich eine Gruppe und unterhielten sich angeregt.
Bislang kam Tiger ihre Tour wenig spektakulär vor, mehr wie ein Ausflug in die Berge, lediglich mit dem Unterschied, dass kein Himmel zu erkennen war und sie sich im Finsteren bewegten. Sollte das auf diese Weise weitergehen, würde es in den maximal zwei Wochen, die für die Erforschung der Unterwelt angedacht waren, ziemlich langweilig werden. Natürlich gab es gelegentlich eine besonders skurrile Felsformation, die ihnen entweder ein ,Ah‘ oder ein ,Oh‘ entlockte. Aber das war es auch schon. Zudem war es unwahrscheinlich, dass sie gleich auf den ersten Metern auf interessante Knochen, Fossilien oder eine Goldader stießen. Und dass sie nicht – wie im Film – in ein prähistorisches Tal mit Sauriern und botanischen Highlights stolpern würden, war ihm natürlich klar. Dieser Ort war nicht die Welt eines Jules Vernes oder eines anderen berühmten Utopisten, sondern die nackte Realität. Tiger hätte es sich bloß gewünscht, dass er ein wenig von den Gedanken an André abgelenkt worden wäre. André und ihre verbockte Beziehung. Sein Lebensgefährte – nein, sorry, einstiger Lebensgefährte – war genau das Gegenteil von ihm. Kleiner, runder, unsportlich, ein TV-Junkie und Pizzaliebhaber. Dafür war er wahnsinnig liebenswert. Und unheimlich überrascht, dass sich jemand für ihn begeisterte, der kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen hatte und mit einem Waschbrettbauch aufwarten konnte. Sie verliebten sich schnell ineinander. Der Sex miteinander funktionierte und Tiger hatte kein Problem damit, über Andrés Kugelbauch hinwegzusehen. Ihm kam es nicht auf die Optik, sondern auf den Charakter an. Dagegen hatte André häufig mit Eifersucht zu kämpfen, weil Tiger unweigerlich die Aufmerksamkeit jagdwütiger Singles anzog. Ständig hatten sie deswegen Streit, weil ihm André Fremdgehen unterstellte. Da zeigte es sich, dass sein Exfreund zwar unter seiner Figur litt, allerdings außerstande war, etwas daran zu ändern. Er fühlte sich von Tigers Fitnessbegeisterung unter Druck gesetzt und reagierte mit Chipstüten darauf. Die paar Versuche, die André in sportlicher Hinsicht unternahm, scheiterten bereits nach wenigen Stunden. Sich länger zu bewegen, war unweigerlich anstrengend und zehn Liegestütze hintereinander schaffte man mit etlichen Kilos zu viel natürlich nicht beim ersten Anlauf. Da er nicht gleich und sofort einen Erfolg verzeichnen konnte, zog sich André resignierend auf das Sofa zurück. Damit hatte Tiger kein Problem. Schade war nur, dass sie aus diesem Grund zu wenig zusammen unternahmen. Im Gegensatz zu seinem Partner konnte er seine sportlichen Aktivitäten nicht reduzieren. Erschwerend kam hinzu, dass er damit seinen Lebensunterhalt bestritt. Wäre er nicht dermaßen verliebt gewesen, hätte er vielleicht eher bemerkt, dass ihre Beziehung zum Scheitern verurteilt war, und wäre heute nicht ganz so enttäuscht gewesen. Eigentlich war Tiger ja zu dieser Expedition gestoßen, um sich von seinem frisch errungenen Beziehungsstatus als Singles abzulenken. Der Schuss war leider nach hinten losgegangen, denn hier, umgeben von Dunkelheit, musste er dauernd darüber nachdenken, was er in dieser Beziehung falsch gemacht hatte.
Er kam zu dem Schluss, dass sich Gegensätze zwar anziehen mochten, allerdings nicht für die Ewigkeit miteinander funktionieren mussten.
Licht fiel auf ihn und er hob den Kopf. Bernd hatte sich ihm genähert. Ein schüchternes Lächeln begrüßte ihn.
„Hi.“
„Hi“, antwortete Tiger.
Eine Hand streckte sich ihm entgegen. „Ich bin Bernd. Bernd Treiger.“
„Tiger Jaschiniok.“ Wenn er sich nicht irrte, dann entdeckte er ein winziges verächtliches Zucken um Bernds Mundwinkel, als er seinen Namen nannte. Tja, der Tiger stand halt in seiner Geburtsurkunde, er hatte es sich nicht aussuchen können. Seine Eltern hatten ihm einen besonderen Namen geben wollen. Manchmal fragte er sich aber, genau wie manch anderer, ob sie bei der Auswahl unter Drogen gestanden hatten. Der Standesbeamte lachte sicherlich heute noch. Bernds Händedruck war jedenfalls fest und angenehm. Lag vielleicht daran, dass er es mit Steinen zu tun hatte, denen es nicht schadete, wenn man ordentlich zupackte. Dagegen hatte Stevens Händedruck den Anschein erweckt, als hätte er einen Waschlappen am Arm hängen.
„Die Viertelstunde ist beinahe um“, sagte Bernd und zeigte in Richtung der Stollen. Christian und Martin waren längst wieder da. Das hatte Tiger gar nicht bemerkt, weil er zu tief in Gedanken versunken gewesen war.
„Es geht bestimmt gleich weiter.“
Bernd nickte zustimmend.
Du liebe Güte! Das Gespräch drohte anstrengend zu werden.
Komm, Bernd, sag was. Irgendwas!
„Ich habe gehört, dass du Survival-Touren anbietest?“
Ein bisschen niedlich war es ja schon, wie sich Bernd angestrengt um Small Talk bemühte.
„Das ist richtig. Ich biete Ausflüge in unterschiedlichen Gegenden an. Sogar im Ausland. Ich möchte den Leuten die Natur näherbringen und ihnen zeigen, wie man ohne jeglichen Komfort oder in einem Notfall überleben kann.“
„Ist das hier anders als deine üblichen Ausflüge?“
„Zumindest ist es dunkler.“
Bernd lächelte und enthüllte damit ein Grübchen in seiner Wange. Lächelnd war er ganz attraktiv, stellte Tiger fest. Die Lippen waren nicht zu dünn und nicht zu fleischig, zudem machte er in dem Schlatz eine gute Figur. Mehr war in dem Licht der Stirnlampen nicht zu erkennen, wollte er Bernd nicht direkt in die Augen leuchten.
„Interessierst du dich für Survival-Touren?“
Bernd zuckte mit den Schultern, was mit dem Rucksack ein bisschen lächerlich wirkte. Warum setzte er das Ding nicht ab?
„Ich habe nie darüber nachgedacht, ob solche Unternehmungen etwas für mich wären.“
Hilfe! Das Gespräch war wirklich für die Füße. Tiger war dankbar, als er Lukas rufen hörte. Offenbar war eine Entscheidung gefällt worden, welchen Stollen sie nehmen würden. Er hob sein Gepäck auf und folgte Bernd zu ihrem Anführer.
BERND
Der linke Tunnel endete laut Christian und Martin nach etwa fünfzig Metern an einem Einsturz, der jedoch etliche Jahrzehnte her sein musste. Der nächste Gang war schmal und zahlreiche Tropfsteine würden ihr Vorankommen ziemlich behindern. Stückweise würden sie kriechen müssen. Tunnel drei und vier wirkten dagegen vielversprechend. Die Nummer fünf führte nach einer Weile steil nach oben. Eine Münze entschied schlicht zwischen drei und vier. Damit gewann die vier.
Beinahe hätte Bernd gelacht. So schaute also die Wahl bei einer wissenschaftlichen Expedition aus. Lukas zückte eine Spraydose und sprühte mit weißer Farbe einen Pfeil an die Wand, der in die Richtung zeigte, die sie einschlagen würden. Darunter sprühte er das Datum und die Uhrzeit. Dorothea fotografierte auch das. Sie wirkte glücklich und in ihrem Element, hielt sich dicht neben Georg, der während des Gehens rasch einige Notizen auf einen Block kritzelte. Hinter Bernd lief Steven und brummelte etwas in sein Diktiergerät, das er gelegentlich einschaltete, um seine Eindrücke und Ortsbeschreibungen aufzunehmen.
Natürlich hatte sich Bernd ab und an nach einem Stein gebückt oder eine Stelle in der Felswand näher begutachtet. Ein bisschen Katzengold, Eisenpyrit und körnigen Flint hatte er entdeckt. Nichts Aufregendes, was sich zum Notieren lohnte. Möglicherweise entdeckte er ein paar gute Gesteinsproben, wenn sie etwas tiefer in den Berg vorgedrungen waren. Seine Sinne nahmen den intensiven Geruch nach Stein wahr. Dass Steine über einen eigenen Geruch verfügten, hatte er als Jugendlicher herausgefunden. Je nachdem, um welche Sorte Stein es sich handelte, variierte der Duft. Er war schwach, aber durchaus vorhanden. Bernd wusste nicht genau, was ihn seit jeher an Steinen derartig faszinierte. Stundenlang konnte er einen Felsbrocken zwischen den Fingern drehen, ihn von sämtlichen Seiten betrachten und seiner Form und Beschaffenheit nachspüren. Seine Eltern hatten einmal im Scherz gesagt, dass man ihm lediglich eine Tüte Kies schenken müsste, um ihn glücklich zu machen. Glücklich war er auch mit Carola gewesen. Das hatte er zumindest gedacht. Bis etwa vor drei Jahren das Gezeter anfing. Sie wollte ihn, sie wollte plötzlich Kinder, sie wollte sein Geld, sie wollte seine Zeit, sie wollte, wollte und wollte. Anfangs hatte er sich bemüht, ihre Wünsche zu erfüllen. Irgendwann war ihm aufgegangen, dass sie ihn nie fragte, welche Wünsche und Pläne er eigentlich hatte. Das war am Anfang ihrer Beziehung und in den ersten Jahren ihrer Ehe anders gewesen. Ihm fiel weiterhin auf, dass sie sich mit einem Mal vor Freunden und auf Partys mit seinem Doktortitel brüstete und ihn deswegen stets als etwas Besonderes hinstellte. Es dauerte nicht lange und seine Freunde hielten ihn für versnobt und zogen sich von ihnen zurück. Dies stimmte Carola selbstverständlich genauso wenig zufrieden. Und an wem ließ sie ihre Laune aus? Natürlich an ihm. Ein weiterer Punkt, an dem sie sich häufig rieben, waren eigene Kinder. Bernd hatte von Anfang an klargemacht, dass er keine Kinder haben wollte. Er konnte mit sabbernden, greinenden und Windeln vollscheißenden Gören nichts anfangen. Carola hatte das gewusst und sich ähnlich dazu geäußert. Wann sie ihre Meinung geändert hatte, konnte Bernd lediglich erraten. Wahrscheinlich hing es mit dem Kinderboom in der Nachbarschaft und in dem damals noch vorhandenen Freundeskreis zusammen. Carola konnte von heute auf morgen nicht mehr mitreden, als sich die Gesprächsthemen ihrer Freundinnen immer häufiger um Babybasare, die perfekte Windel und geeignete Kindergartenplätze drehten. Bei Kindern hörte seine Kompromissbereitschaft allerdings auf. Als er dies Carola nachdrücklich verdeutlichte, eskalierte ihr Streit dermaßen, dass sie lauthals schreiend mit sämtlichen Gegenständen, derer sie habhaft werden konnte, nach ihm warf. Auf eine solche Attacke war Bernd nicht gefasst gewesen. Er endete in der Notaufnahme, weil eine Platzwunde an seinem Stirnansatz geklammert werden musste, und erhielt einige Tage später einen Brief von dem Rechtsanwalt seiner Frau, die mit diesem bedeutungsvollen Schreiben die Scheidung einleitete. Bernd seufzte. Zumindest musste er keinen Unterhalt für seine Frau bezahlen – Entschuldigung, Exfrau –, denn in ihrem Ehevertrag hatten sie einen gegenseitigen Unterhaltsverzicht festgelegt. Carola war das Kind vermögender Eltern, die ihr schon zu Lebzeiten ihre prachtvolle Villa vermacht hatten, damit Carolas ungeliebte Schwester, das schwarze Schaf der Familie, diese nicht irgendwann erben konnte. Nie im Leben hätte Carola ihn an ihrem Elternhaus teilhaben lassen. Dabei war ihm die Villa völlig schnurz. Mit seinem Einkommen hatte er sich ein eigenes nettes Häuschen gebaut, das er nach Carolas Auszug in einer kostspieligen Aktion umgestaltet hatte. Fliesen wurden ausgetauscht, andere Tapeten angebracht, neue Möbel gekauft. Nichts sollte ihn mehr an die Streitereien und seine Ex erinnern. Eine Architektenfirma verwandelte seinen Garten in eine Wohlfühloase und Bernd stellte fest, dass ihm Unkrautzupfen und Blumenzwiebelsetzen Spaß bereitete. Trotzdem verbrachte er die meiste Zeit in seinem Institut, analysierte die Zusammensetzung von Gesteinsproben, schrieb Berichte darüber und fuhr gelegentlich in irgendwelche Steinbrüche, Bergwerke und andere Förderanlagen, um selbst Proben zu entnehmen. Und heute befand er sich viele Meter unter der Einhornhöhle und wanderte hinter einem Team von Wissenschaftlern und Gleichgesinnten durch dunkle Tunnel. Er war nie ein großer Redner gewesen, aber sein Gespräch mit Tiger war ihm regelrecht peinlich. Warum hatte er nicht vernünftig mit ihm reden können? Sicherlich hielt ihn Tiger nun für einen Idioten. Na ja, egal. Die zwei Wochen würde er mit ihm aushalten. Er musste sich schließlich nicht mit ihm unterhalten, wenn er es nicht wollte. Und nach dieser Expedition würden sie sich ohnehin niemals wiedersehen.
Der Tunnel verengte sich. Inzwischen mussten sie hintereinander laufen und gelegentlich wurde der Gang dermaßen schmal, dass sie sich seitwärts weiterquetschen mussten. Allmählich wurde Bernd müde. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass sie bereits seit sechs Stunden unterwegs waren. Es war kurz nach 15:00 Uhr. Sein Magen knurrte. Natürlich konnten sie jetzt nicht einfach eine Rast einlegen, sondern mussten warten, bis sie eine dafür geeignete Stelle entdeckten. Daher griff er in die Tasche seines Schlatzes und zog einen Schokoladenriegel hervor. Hastig wickelte er die Süßigkeit aus und begann sie zu verspeisen. Allzu schnell war der Riegel gegessen, dafür stellte sich ein anderes Problem ein. Er musste pinkeln. Das war sicherlich der viele Kaffee, den er heute Morgen beim Frühstück getrunken hatte. Der Kaffee hatte ihn munter machen sollen, da er in der Nacht zuvor furchtbar schlecht geschlafen hatte. Das hatte einzig und allein an seiner Aufregung gelegen. Nun zurückzubleiben, sodass sich die Nachfolgenden an ihm hätten vorbeidrängen müssen, war ihm peinlich. Natürlich konnte er hinter den anderen still und leise an die Felswand pinkeln, doch sie würden diesen Weg später auch für den Rückmarsch nutzen. Und selbst wenn sein Urin bis dahin getrocknet wäre, war es ihm unangenehm. Es war etwas gänzlich anderes, als im freien Gelände. Er versuchte an etwas anderes zu denken. Das Licht seiner Stirnlampe hüpfte auf dem Rücken des roten Schlatzes seines Vordermannes auf und ab. Georg drehte sich nicht einmal nach ihm um. Er war zu sehr in sein Gespräch mit Dorothea vertieft. Daher verlief der Marsch ziemlich eintönig und Bernd wäre beinahe in ihn hineingerannt, als Georg plötzlich stehen blieb. Der Tunnel wurde niedriger, sie mussten sich auf Hände und Knie hinabbegeben und weiter vorwärts krabbeln. Kurze Zeit später waren sie sogar gezwungen, sich mehrere Meter auf dem Bauch kriechend fortzubewegen. Dabei war Bernd ganz froh, einen Helm zu haben, weil er mehrfach mit dem Kopf gegen die Felsen anschlug. Hinter diesem Stück schwierigen Weges verbreiterte sich der Tunnel endlich. Die Expedition versammelte sich erleichtert um Lukas, der geduldig darauf wartete, bis der Letzte die mühevolle Stelle passiert hatte.
„Wir machen hier Rast und essen etwas. Inzwischen hat bestimmt jeder von euch Hunger und ihr merkt es selbst, dass die Örtlichkeiten bestimmen, wann gelagert wird und wann nicht. Wenn jemand ein dringendes Bedürfnis verspürt, schlage ich vor, dass ihr eure Verrichtungen hinter diesem Felsen dort erledigt. Der Höflichkeit halber haben die Damen Vortritt.“
Zum ersten Mal seit ihrem Marschantritt nahm Bernd seinen Rucksack ab. Jeder von ihnen schleppte Unterwäsche zum Wechseln, Schlafsack und Isomatte, seine Rationen an Fertiggerichten und einen großen Vorrat an Wasser mit. Die Messungen hatten ergeben, dass sie auf unterirdische Rinnsale stoßen würden, an denen sie ihre Flaschen auffüllen konnten. Sollte dem nicht so sein, würden sie ihre Expedition vorzeitig abbrechen müssen. Gerätschaften wie einen Campingkocher oder die benötigten wissenschaftlichen Geräte für Messungen und Ähnliches waren unter den Mitgliedern der Expedition aufgeteilt worden. Vorräte und Medikamente trug jeder für sich mit. Die Rucksäcke waren daher recht schwer, doch ihr Gewicht würde im Laufe der nächsten Tage abnehmen. Nacheinander wanderten alle zu der ausgewiesenen Stelle, um ihren natürlichen Bedürfnissen nachzugeben.
Lukas sprühte einem weißen Kreis an die Wand, ihr Zeichen für einen Lagerplatz, und fügte die Uhrzeit hinzu. Dorothea und Georg notierten dies in ihrem Buch. Auf diese Weise konnten sie festhalten, wie lange sie zurück zu der riesigen Halle benötigten. Danach kamen sie zu einer gemütlichen Runde zusammen und nahmen gemeinsam eine Mahlzeit ein, die heute aus belegten Broten, hart gekochten Eiern und in Christians Fall aus Schnitzelbrötchen bestand. Die Stimmung war gut, es wurde munter gequatscht und gekichert und jeder brachte seine bisherigen Eindrücke über dieses Höhlensystem zum Ausdruck. Bernd hielt sich hierbei zurück, denn er musste sich ehrlich zugestehen, dass er bislang nicht sonderlich beeindruckt war. Das mochte daran liegen, dass er offenbar zu hohe Erwartungshaltungen gehabt oder sich ein spektakuläres Abenteuer gewünscht hatte. Vielleicht hatte er auch bloß auf besondere und seltene Einschlüsse im Fels gehofft.
Was nicht ist, kann ja noch werden, dachte er sich. Er wollte seine Meinung in der Gruppe nur nicht äußern, weil er die Euphorie der anderen nicht bremsen und nicht als Spielverderber oder Stimmungskiller dastehen wollte. Ausgerechnet er, der Neuling auf diesem Höhlenforschungstrip, der dumme Kerl, der dermaßen in seine Arbeit verliebt war, dass ihm sogar seine Frau weglaufen musste. Dagegen kam ihm das unterirdische Picknick ein wenig sonderbar vor. Sie hockten im Dunkeln, die Lichtflecke ihrer Stirnlampen huschten bei jeder Bewegung wie wild umher und jeder schien sich zu unterhalten. Bernd fiel auf, dass er Tigers Stimme nicht vernahm. Hatte der Mann auf seinen Survival-Touren Spektakuläreres erlebt als das hier? Er konnte diesen Tiger überhaupt nicht einschätzen. Doch er ärgerte sich weiterhin, dass er sich ihm gegenüber wie ein Trottel verhalten hatte. Trotz allem war Bernd glücklich, an dieser Expedition teilnehmen zu können, und als Peer ihm kameradschaftlich in die Rippen stieß, beteuerte er, dass er dieses Unternehmen großartig fand.
Lukas gönnte ihnen keine lange Rast, sondern scheuchte sie bald auf. Es galt ein weiteres Stück Weg hinter sich zu bringen. Zumindest mussten sie aus diesem engen Tunnel heraus, damit sie ein halbwegs anständiges Nachtlager aufschlagen konnten. Zunächst wurde der Stollen zu ihrem Leidwesen unbequemer. Es schien, als hätte ein Riese mit gewaltigen Fäusten auf den Gang eingeschlagen, da sich die Decke immer wieder ein Stück senkte, sodass sie unter dem Fels entlangrutschen mussten. Oder der Gang wurde dermaßen schmal, dass sie Mühe hatten, die Engpässe mitsamt ihrem Gepäck zu passieren. Abwechslung bot eine Stelle, an der sie zu einer Kletterpartie gezwungen waren. Der Boden hob sich wie bei einer Welle und ihr Stollen führte etwa fünf Meter höher weiter als zuvor. Martin stieg zuerst hinauf. Es gab genügend Felsvorsprünge und Einschnitte, die Halt für Füße und Hände boten. An einem Kletterseil holte er hinterher seinen Rucksack nach. Marianne war die Nächste, die hinauf sollte. Sie und die Nachfolgenden wurden vorsichtshalber mit Hilfe eines Klettergeschirrs gesichert. Es waren lediglich fünf Meter, aber es waren auch fünf Meter und Lukas wollte kein Risiko eingehen. Wenn ein Stück Fels herausbrach, an dem sich jemand festklammerte, und es dadurch zu einem Absturz kam, konnte es zu bösen Verletzungen kommen. Ein solches Unglück würde bedeuten, dass ihre Expedition abgebrochen werden musste. Das Anlegen der Geschirre kostete Zeit, dauerhaft damit herumzulaufen war jedoch äußerst unbequem, darum wurden sie nach Gebrauch zurück in die Rucksäcke gestopft.
„Ich nehme an, dass hier vor Ewigkeiten ein Fluss entlangströmte“, sagte Steven.
Bernd gab ihm recht. Die Wände des Stollens waren glatt und die vereinzelt auf dem Boden liegenden Steine rund geschliffen. Dies bedeutete, dass sie aufgrund fließenden Wassers poliert worden waren. Vielleicht hatte ein Einsturz dem Verlauf des Flusses eine andere Richtung gegeben oder er war aus irgendwelchen Gründen einfach versiegt. Nun mussten sie sich beim Laufen bücken und vorsichtig weiterbewegen, weil es inzwischen leicht abwärts ging. Ihre Stirnlampen waren zwar als Beleuchtung ausreichend, trat man trotzdem auf einen losen, wegrutschenden Stein konnte man schnell stürzen. Mit dem Gepäck auf dem Rücken war das keine simple Angelegenheit. Bernd erinnerte sich daran, dass Lukas am Vorabend darüber gesprochen hatte, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn ihnen Verpflegung und Arbeitsmaterial ständig nachgeliefert wurden. Bei manchen Höhlenexpeditionen war das möglich. Da sie sich bei dieser Tour ständig durch schmale Spalten und Risse im Fels zwängen mussten, wäre ein solcher Versorgungstrupp viel zu aufwendig gewesen. Bernd war froh, dass er ein einigermaßen sportlicher Typ war. Vor seiner Arbeit ging er regelmäßig eine Stunde joggen und am Wochenende besuchte er ein Fitnessstudio. Seit seiner Scheidung von Carola war er dazu übergegangen, ab und an auch während der Woche ins Studio zu gehen, weil er sonst nicht gewusst hätte, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Seine Mutter brachte ihm neuerdings gelegentlich eine warme Mahlzeit, da sie wusste, dass Bernd in der Regel zu faul war, um sich nach der Arbeit ein anständiges Essen zu kochen. Seine Abende dauernd bei seinen Eltern zu verbringen, entsprach nicht Bernds Vorstellung eines eigenständigen Lebens, daher sorgte seine Mutter auf diese Weise dafür, dass er nicht vom Fleisch fiel. Die nächsten Wochen würde er allerdings auf leckere Hausmannskost verzichten müssen. Bernd grinste. Tut mir leid, ich kann an dieser Expedition nicht teilnehmen. Es sei denn, Sie nehmen meine Mama und ihre Einbauküche mit