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Beim Cruisen auf dem Kennel-Parkplatz lernen sich Jo und Micha kennen. Ist es Liebe auf den ersten oder zweiten Blick? Schnell wird aus der Zufallsbekanntschaft mehr. Doch Jo trägt Geheimnisse mit sich herum, an denen ihre frisch gefundene Liebe scheitern könnte. Denn Jo muss eine Entscheidung treffen: Waldmeister oder Zitrone ...
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Seitenzahl: 286
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Sandra Busch
© dead soft verlag, Mettingen 2013
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://daylinart.webnode.com/
Motiv:
© Markus Gann – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-944737-12-6 (print)
ISBN 978-3-944737-13-3 (epub)
Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet – in der Hoffnung auf eine Tupperdose voll Milchreis.
Piep!
Bei Erektion denke ich immer an Ikea-Regale:
Hoffentlich hält’s fünf Minuten.
(Harald Schmidt)
Langsam fuhr Joachim auf den großen Parkplatz. Um niemanden zu verärgern hatte er die Scheinwerfer auf Standlicht geschaltet. Sein Gesicht klebte fast an der Windschutzscheibe, als er die Dunkelheit mit den Blicken zu durchdringen suchte und so gelang es ihm seinen dunkelblauen Golf in einem der hinteren Winkel des Parkplatzes zu bugsieren, ohne jemanden zu überfahren. Erleichtert atmete er auf, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer ganz aus. Und nun? Er hatte sich vorher keinen Plan zurechtgelegt, sondern lediglich spontan seinem Verlangen nachgegeben. War einfach losgefahren, ehe ihn der Mut wieder verließ.
Ein wenig scheu blickte er sich um. Drei ebenfalls parkende Wagen wirkten verlassen. Dagegen brannte in zwei weiteren die Innenbeleuchtung. Sie erschienen Joachim wie leuchtende Inseln inmitten eines dunklen Meeres von einander suchender Leidenschaft. Zwischen den Wagen huschten schattenhafte Gestalten beinahe verstohlen durch das Mondlicht. Joachim war zum ersten Mal um diese Uhrzeit an diesem Ort. Zu dieser späten Stunde wirkte der Kennelparkplatz, der seinen Namen vom angrenzenden Schwimmbad hatte, seltsam anders. Fast wie fremdes Terrain. Er hatte gar nicht gewusst, dass es so nah an der Innenstadt einen Treffpunkt gab und war erst durch Zufall im Internet darauf gestoßen. Es war schon erstaunlich, was das Internet alles preisgab.
Sollte er jetzt aussteigen oder ebenfalls die Innenbeleuchtung einschalten? Und wie lange dauerte es eigentlich, bis die Innenbeleuchtung eine Autobatterie erschöpfte? Nichts wäre peinlicher, als einen Abschleppwagen ausgerechnet hierher zu ordern. Also blieb die Innenbeleuchtung aus. Und nun? Doch aussteigen? Unsicher schaute Joachim aus dem Seitenfenster und zuckte erschrocken zusammen. Er starrte mitten in ein fremdes Gesicht, das sich zu einem sympathischen Lächeln verzog. Eine Hand tauchte auf und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe. Langsam, mit vor Aufregung schweißnassen Händen, kurbelte Joachim das Fenster hinunter.
„Willst du?“, fragte der Fremde. Seine Stimme war dunkel und ein wenig rau. Sein Haar war vielleicht eine Spur zu lang, um modisch zu sein und ein Dreitagebart zierte ein sehr ebenmäßiges Gesicht, das von einer Römernase dominiert wurde. Die Augen schienen hell zu sein. Genau konnte es Joachim in der Dunkelheit nicht erkennen. Vielleicht hellblau, vielleicht grau. Und diese Augen sahen ihn direkt und geradeheraus an. Das gefiel ihm. Er nickte schnell, bevor er die Flucht ergreifen konnte und sich später zu Hause über seine Feigheit ärgerte.
Der Fremde trat einen Schritt zurück, damit Joachim aussteigen konnte. In seiner Aufregung blieb er mit dem Fuß am Türschweller hängen und prallte stolpernd gegen den Fremden, der ihn rasch am Arm festhielt.
„Hoppla!“ Joachim blickte verlegen auf den tölpelhaften Fuß hinunter. Wie konnte man nur so ungeschickt sein?
„Ist ja nichts passiert“, sagte der andere im beruhigenden Ton und fragte dann: „Top oder Bottom?“
Dieses Direkte war genau in Joachims Sinn. Nun kam allerdings der entscheidende Punkt: Wenn er nicht zu diesem Typen passte, würde der sich umdrehen, jemand anderen suchen und er hatte seine Chance vertan. Ob er den Mut aufbrachte, auf eine weitere Gelegenheit zu warten, bezweifelte Joachim.
„Bottom“, antwortete er. Vielleicht ein bisschen zu leise? Der andere sagte jedenfalls nichts, musterte Joachim einfach nur ruhig.
„Und du?“, fragte Joachim daher zurück.
„Ich switche“, erklärte der zu seiner größten Erleichterung. „Aber es gibt bei mir eine goldene Regel.“
Zu früh gefreut? Joachim blickte sich nervös um und schaute wieder den Fremden an.
„Okay. Und welche?“
„Bei mir gibt es kein Bareback.“
„Eine Regel ganz nach meinem Geschmack.“ Joachim war erleichtert. Wie selbstverständlich fasste der andere nach seiner Hand und zog ihn mit sich auf eine Gestrüppreihe zu.
Der Kennelparkplatz eignete sich gut zum Cruisen, wie Joachim nun feststellte: weitläufig genug, um ein wenig Abgeschiedenheit zu finden, ausreichend Gesträuch, das ein bisschen Alleinsein vermittelte, und keine abendlichen Spaziergänger.
„Ich heiße Michael. Micha, wenn du magst.“
„Jo“, sagte Joachim. Den Namen benutzte er immer, wenn er auf der Suche nach Sex war. Ansonsten sagten alle Achim zu ihm. Schon seitdem er durch eine Sandkiste gekrabbelt war. Dabei hasste er es, Achim genannt zu werden.
In der Dunkelheit konnte man kaum zehn Meter weit sehen, deshalb ließ er Micha den Vortritt. Der wusste offenbar genau, wo er hin wollte. Hintereinander schlüpften sie durch eine Lücke im Gestrüpp. Zwischen den Sträuchern und einem hohen Maschendrahtzaun verlief ein etwa zwei Meter breiter freier Streifen. Auf der anderen Zaunseite befanden sich weiteres Gesträuch mit kleineren Bäumen und Eisenbahngleise, die den Parkplatz nahezu ganz einschlossen. Außerdem lag das Kennelbad, ein familienfreundliches Naturbad mit 17.000 Quadratmetern Wasserfläche und einem Sandstrand wie am Meer, in direkter Nähe.
„Alles okay? Oder willst du doch nicht?“
„Nein. Alles ist gut. Warum?“
„Du wirkst so nervös. Ist das etwa dein erstes Mal?“ Michas Gesicht war in der Nacht nur ein dunkler Schatten. Gerne hätte Joachim darin gelesen. Dann wäre die Situation bestimmt einfacher gewesen.
„Nein.“ Das war eine glatte Lüge. „Ich war nur noch nie hier.“
„Wo gehst du denn üblicherweise hin?“, fragte Micha.
„Zum Bienroder See.“ Das stimmte sogar. Bloß da hatte es außer Fummeln und gegenseitiges Wichsen nichts weiter gegeben. Zu mehr hatte er sich nicht getraut. Joachims bisheriges Highlight war ein Bayer auf Urlaub, der ihm einen blies, nachdem er ihm eine Regenmütze über den Zipfel gestülpt hatte. Das war ein richtig geiles Gefühl gewesen. Später, zu Hause, hatte er allerdings festgestellt, dass ihm ein Blowjob eigentlich nicht reichte. Er wollte mehr. Er wollte alles. Er wollte endlich diesem drängenden Bedürfnis nachgeben und herausfinden, wie es war, wenn man mit einem Mann Sex hatte. Richtigen Sex! Beinahe schämte er sich vor sich selbst.
„Wollen wir anfangen?“, fragte Micha.
Erst jetzt bemerkte Joachim, dass sein heutiges Abenteuer bereits die Hose offen hatte und gerade dabei war, sich ein Kondom überzustreifen.
„Ja, na klar“, murmelte er nervös und knöpfte seine Jeans auf. Er ließ sie über die Hüften rutschen, spreizte wie ein Gangster vor der Polizei die Beine und hielt sich am Maschendrahtzaun fest. Er kam sich ein wenig bescheuert vor und hätte sich nicht gewundert, wenn Micha gelacht hätte. Zu seiner Erleichterung lachte Micha nicht. Stattdessen fühlte Joachim dessen Hände auf seinem Hintern, die ihn sanft zu streicheln begannen. Niemand hatte bislang seine Pobacken gestreichelt. Angefasst, ja. Geknetet, ja. Aber nie so zärtlich gestreichelt. Sein eigenes Geschlecht begann sich trotz des flauen Gefühls in seinem Magen zu regen. Er spürte eine sonderbare Mischung aus Furcht, Begierde, Neugier, Erregung und Scham. Trotzdem genoss er das Streicheln. Micha hatte warme Hände, die Kraft erahnen ließen. Die Handflächen waren schwielig. Richtige Männerhände eben. Fast bedauerte er es, als Micha sie von seinem Hintern nahm. Gleich darauf waren sie wieder da, diese kräftigen Hände. Sie umfassten seine Hoden, streichelten und wogen sie und fuhren verlockend über die Länge seiner Erektion. Joachim seufzte leise auf. Das tat gut, fühlte sich schön an. Plötzlich spürte er eine Berührung an seinem Eingang. Kühl und glitschig wurden träge Kreise um seinen Anus gezogen. Joachims Magen krampfte sich erneut zusammen. Verflixt! Er wollte es doch. Wieso fühlte er sich jetzt so seltsam? Ein Finger drang in ihn ein. Joachim zuckte vor Überraschung zusammen.
„Entspann dich“, sagte Micha hinter ihm völlig ruhig und erforschte auf eine höchst intime Weise Joachims Innerstes. Joachim hatte sich selbst einmal einen Finger in den Hintern gesteckt. Aus reiner Neugierde. Er hatte wissen wollen, wie das war, hatte eine Vorahnung darauf erhaschen wollen, wie sich ein Penis anfühlen würde. Das Gefühl heute war anders. Joachim spürte, wie Micha einen zweiten Finger hinzunahm. Für einen Moment empfand er den Druck als unangenehm.
„Lass mal locker, Mann.“
Locker? Er war locker. Auf einmal merkte Joachim, dass er die Hinterbacken zusammenkniff. Micha zog seine Hand zurück. Verdammt, das war’s dann wohl. Und alles nur, weil sich Joachim derartig blöd anstellte. Es konnte ja wohl nicht so schwer sein, sich einfach ficken zu lassen?
„Bist du wirklich sicher, dass du willst?“ Michas Stimme klang skeptisch.
„Wäre ich sonst hier?“, fragte Joachim zurück.
„Keine Ahnung. Man erlebt schon die tollsten Dinger.“ Er suchte etwas in seiner Hosentasche und schien es kurz darauf gefunden zu haben. Joachim war erleichtert, als er erneut penetriert wurde. Es fühlte sich jetzt weit glitschiger als zuvor an. Micha ließ sich Zeit, dehnte und streichelte ihn ausgiebig. Seine Berührungen taten gut und waren erregend. Wenn es nach Joachim gegangen wäre, hätte Micha ewig so weitermachen können. Erneut wurden die Finger zurückgezogen und dieses Mal durch eine pralle Eichel ersetzt, die Einlass suchte. Joachims Griff um den Maschendraht wurde fester.
„Keine Angst, ich gehe ganz langsam vor.“
Angst? Wieso glaubte Micha, er hätte Angst? Trotzdem beruhigten ihn die Worte soweit, dass er nun endlich locker lassen konnte. Ein wenig tat es trotzdem weh, aber der leichte Schmerz wurde von seiner aufkeimenden sexuellen Gier verdrängt. Er spürte, wie Michas Glied voranglitt. Seine Parkplatz-Bekanntschaft umfasste seine Hüften und begann sich nun mit sanften, kurzen Stößen zu bewegen. Joachim schloss die Augen, konzentrierte sich vollkommen auf seine Empfindungen und ließ sich von seiner Erregung davontragen. Das hier war besser als alle seine Phantasien. Das hier war besser als Feuerwerk in der Silvesternacht.
„Tiefer?“, fragte Micha hinter ihm. Joachim konnte nur nicken. Hätte er den Mund aufgemacht, hätte er geschrien. Viel zu schnell kam es ihm. Er stöhnte laut auf, sein Sperma spritzte in Richtung des Zauns und sein gesamter Körper schien zu erbeben. Zu früh, viel zu früh. Was sollte Micha von ihm denken? Der fuhr weiterhin mit seinen inzwischen bedächtigen Stößen fort, bis Joachim das Gefühl bekam, der Schwanz ihn ihm würde noch härter werden. Micha zuckte, stöhnte rau aus der Kehle heraus und presste sich gegen Joachims Hintern. Mehrere Herzschläge lang standen sie so beisammen. Ein sehr intimer, sinnlicher Moment, wie Joachim fand. Schließlich zog sich Micha genauso behutsam zurück, wie er in Joachim eingedrungen war.
„Hast du ein Tempo?“, fragte er.
Joachim löste sich von dem Zaun und suchte in den Jackentaschen nach einer Packung Taschentücher, die er Micha reichte. Mit leicht zitternden Händen zog er sich danach die Hose hoch und knöpfte sie zu. Auch Micha hatte sich angezogen und das benutzte Kondom in dem Tempo eingewickelt.
„Ich kann es nicht leiden, wenn andere die Gummis einfach unter die Büsche schmeißen. Immerhin gibt es Papierkörbe auf dem Parkplatz und man will ja irgendwo vögeln können, ohne dass man die Dinger unter dem Schuh hat“, erklärte er. Zusammen gingen sie zu Joachims Golf zurück, wobei Micha das Kondom seinen Prinzipien treu in den Papierkorb warf. Joachim lief ein wenig steif neben ihm her und bemerkte, dass sich Micha ein wissendes Lächeln nicht verkneifen konnte.
„Wirst du wieder herkommen?“, fragte der, als sie neben seinem Wagen stehenblieben.
„Ja … vielleicht“, murmelte Joachim.
„Nur vielleicht?“ Fragend neigte Micha den Kopf.
„Na ja, doch.“ Zaghaft erwiderte Joachim das Lächeln.
„Ich bin immer freitags hier“, sagte Micha, trat einen Schritt näher und wollte Joachim küssen. Der drehte schnell den Kopf, sodass Michas Lippen nur seine Wange berührten. Küssen wollte Joachim nicht. Küssen war einer festen Beziehung vorbehalten.
„Okay“, sagte Micha leise. „Also vielleicht auf bald.“
Joachim nickte. „Ja, bis bald.“
Damit drehte sich Micha um und tauchte in die Schatten der Dunkelheit ein, verschwand auf dem nächtlichen Parkplatz, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Joachim sah ihm wie im Traum hinterher. Hätte sich sein Hintern nicht so herrlich wund angefühlt, hätte er Micha wohl für eine Erscheinung gehalten.
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Zum Cruisen hatte Michael keine Lust mehr und daher begab er sich auf den Weg nach Hause. Jo hatte ihm gefallen. Warum konnte er nicht einmal genau sagen. Er wirkte älter als Michael. Als Jo die Autotür geöffnet hatte, war die Innenbeleuchtung kurz angegangen und hatte ihn feine Lachfältchen um Jos Augen herum erkennen lassen. Diese sympathischen Fältchen hatten Michael angezogen, als wäre er eine Motte und Jo das Licht. Außerdem war Jo irgendwie sein Typ, hatte eine sportliche Figur und einen festen, straffen Hintern. Es hatte ihn angetörnt, den Hintern gestreichelt zu bekommen. Das hatte Michael sogleich gemerkt. Aber wieso hatte Jo ihn angelogen? Er musste sich schon sehr irren, sollte bereits vor ihm jemand in diesem tollen Hintern gesteckt haben. Sein erstes Mal hätte Jo wirklich netter erleben können. Ein weiches Bett, stimmungsvolles Kerzenlicht, ein bisschen Alkohol zum Lockerwerden und viel, viel Zeit. Stattdessen ließ er einfach auf einem Parkplatz die Hosen runter. Fassungslos schüttelte Michael den Kopf. Und küssen lassen wollte sich Jo auch nicht. Hatte Michael etwa Mundgeruch? Oder gehörte Jo zu den Typen, die ficken zwar okay fanden, das Küsschen hingegen für Mutti aufhoben? Ach nö, so hatte er eigentlich nicht gewirkt. Auf jeden Fall wollte Michael ihn unbedingt wiedersehen. Hoffentlich kam Jo tatsächlich am nächsten Freitag zum Kennel zurück. Wenn nicht, würde sich Michael mal am Bienroder See nach ihm umschauen müssen.
Den Baggersee kannte er ebenfalls vom Cruisen. Bis dorthin musste er fünfzig Minuten lang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch ganz Braunschweig fahren und zweimal umsteigen, nur um eine kurze Nummer zu schieben. Und selbst auf die gab es keine Garantie, sodass er diese Odyssee so manches Mal umsonst auf sich genommen hatte und nach Stunden unbefriedigt nach Hause zurückkehrte, weil niemand dort gewesen war, der seinem Geschmack entsprach. Viel lieber ging er zum Spielmannteich. Dort konnte man ebenso gut im Gras kuscheln und der Treff lag deutlich zentraler. Und wenn ihm dort nichts Passendes in die Arme fiel, war er schnell wieder daheim.
Auf dem Kennelparkplatz war er bislang selten gewesen. Die Polizei schaute hier ab und an mal vorbei. Angeblich zur Sicherheit der schwulen Gemeinde. So ein Blödsinn. Die hofften bloß ein Pärchen in flagranti zu ertappen, damit sie sich daran aufgeilen konnten. Michael grinste. Vielleicht konnten die uniformierten Herren demnächst sogar seine Kehrseite bewundern, schließlich hatte er zu Jo gesagt, dass er zukünftig freitags am Kennel zu finden war. Tja, Gewohnheiten waren dazu da, um sie zu ändern, oder nicht? Und Jo war der interessanteste Mann, der ihm seit dem Scheitern seiner langjährigen Beziehung mit Olaf im letzten Jahr über den Weg gelaufen war. Michael beschleunigte seine Schritte. Vielleicht erwischte er noch den Bus. Eigentlich hätte er am Südsee entlang nach Hause gelangen können, wenn er dafür im Augenblick nicht ein wenig zu faul gewesen wäre. Er wollte lieber im Bus sitzen, den Kopf gegen die Scheibe lehnen und an diesen Jo denken. Und sich die Frage stellen, warum der sich erst jetzt poppen ließ. Und dazu von einem vollkommen Fremden.
Dies war bereits der dritte Freitag, an dem sich Michael am Kennel die Beine in den Bauch stand. Er würde wieder nicht kommen. Schade. Irgendwie war Michael enttäuscht, denn er hatte in Jo jemanden gesehen, den er gerne näher kennengelernt hätte. Mit den Händen in den Hosentaschen lehnte er sich am Parkplatzeingang gegen einen Baum und versuchte sich mit der Tatsache abzufinden, dass Jo leider ein einmaliges Erlebnis gewesen war. Ein blonder Mann trat auf ihn zu und riss ihn mitten aus seinen trüben Gedanken. Michael kannte ihn, denn er war ihm bereits mehrmals am Spielmannteich aufgefallen, wo der Blonde mit einer kleinen Gruppe Russen zusammengestanden hatte.
„Ficken?“
Er schüttelte den Kopf. Ein einziges Mal hatte er sich auf einen Russen eingelassen. Der Typ war auf ihn draufgesprungen, als müsste er mit bloßen Händen einen sibirischen Bären erwürgen. Michaels Arsch hatte geblutet, was der Russe bloß als einen persönlichen Erfolg betrachtet hatte. Er dagegen entwickelte eine tagelange Aversion gegen Stühle und musste diverse Hämatome mit Sportgel behandeln. Nein, danke. Sein Bedarf an Russen war gedeckt.
„Schleich dich“, sagte Michael daher charmant.
Popp du nur mit einer Wodkaflasche, fügte er in Gedanken böse hinzu. Vielleicht tat er dem Mann unrecht, aber er war enttäuscht, weil der Typ eben nicht Jo war.
Gerade als er sich gelangweilt entschloss, nach Hause zu gehen, bog ein dunkelblauer Golf auf den Kennelweg ein. Mit Standlicht näherte sich der Wagen langsam und fuhr in die entlegenste Ecke des Parkplatzes. Er hielt genau dort, wo er bereits vor drei Wochen geparkt hatte. Angespannt blieb Michael, wo er gerade war und beobachtete nur. Wenn Jo drei Wochen lang auf sich warten und ihn damit zappeln ließ, sollte er jetzt ruhig mal zeigen, ob er wegen ihm zurückgekommen war oder nicht.
Eine ganze Weile geschah gar nichts. Jo blieb in seinem Golf sitzen. Es dauerte bestimmt zwanzig Minuten, ehe die Tür aufschwang und er ausstieg. Suchend schaute er sich um und lehnte sich danach gegen die Wagentür. Seine Schultern hingen herab und er wirkte einsam und verloren. Beinahe tat er Michael leid. Ein ziemlich großer Bursche näherte sich Jo, sprach ihn an und berührte seinen Arm. Michaels Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. War das Gefühl in seinem Bauch etwa ein Anzeichen von Eifersucht? Wegen einem Typen, den er einmal gebumst und mit dem er kaum mehr als zehn kurze Sätze gewechselt hatte? Michael war von sich selbst überrascht. Und ein wenig erleichtert, denn Jo schüttelte dort an seinem Wagen den Kopf. Der andere zuckte mit den Achseln und ging, überließ seinen Platz einem weiteren. Heute waren deutlich mehr Suchende unterwegs, als vor ein paar Wochen. Den Zweiten traf das Schicksal des Ersten: Er wurde ebenfalls von Jo abgelehnt. Das Objekt von Michaels Begierde wirkte inzwischen etwas betrübt, was Michaels Selbstbewusstsein durchaus nicht schadete. Er schob eine störende Haarsträhne aus seiner Stirn und schlenderte lässig auf den ihm zugewandten Rücken zu. Jos nicht zu schmale Schultern waren heute in ein hellblau kariertes Hemd gehüllt.
„Hi!“, sagte Michael hinter ihm. Sofort fuhr Jo herum. Seine erschrockene Miene wich einem Lächeln.
„Hi.“
Eine Weile musterten sie sich nur. Heute war es noch nicht ganz so düster, sodass Michael etwas mehr von Jo zu sehen bekam. Und was ihm da gegenüberstand, gefiel ihm ausgesprochen gut. Jos Augen waren schokoladenbraun und hatten somit beinahe den gleichen Farbton wie seine kurz geschnittenen Haare.
„Du bist jünger, als ich dachte“, sagte Jo auf einmal.
„Ach?“ Etwas Besseres fiel Michael nicht ein. Und mit achtundzwanzig fühlte man sich auch nicht mehr wie mit siebzehn.
„Und?“, fragte Jo.
„Hm?“
„Wie alt bist du nun?“
Michael sagte es ihm und fügte hinzu: „Ist das wichtig für dich?“
Jo schüttelte den Kopf. „Möglicherweise stört es dich, wenn ich elf Jahre älter bin.“
So, Anfang vierzig war er also. Nein, es störte Michael nicht, zumal Jo deutlich jünger wirkte.
„Willst du?“, fragte er genau wie vor drei Wochen.
„Klar. Deswegen bin ich ja hier.“ Jo lächelte ihn an. Mit diesem Lächeln schaute er wie ein Lausbub aus, den man mit der Hand in der Plätzchendose erwischt hatte.
„Aber nicht wieder am Zaun“, sagte Michael entschieden. Jetzt zeichnete sich leichte Unsicherheit auf Jos Gesicht ab.
„Wo denn sonst?“
„Lass uns zum Südsee gehen. Dort können wir es uns ein bisschen bequemer machen und außerdem sind wir dort ungestörter.“
Der Vorschlag schien Anklang zu finden, denn Jo nickte. Wie beim letzten Mal nahm Michael einfach seine Hand. Zu seiner Erleichterung entzog Jo sie ihm nicht, sondern erwiderte den leichten Druck seiner Finger. Im Gleichschritt gingen sie wie ein langjähriges Pärchen neben der Oker her zum See. Es wurde immer dunkler. Die Nacht war still, nur ein paar Grillen zirpten. In der Ferne ging noch jemand mit seinem Hund Gassi und ein einsamer Radfahrer kam schlangenlinienfahrend an ihnen vorbei und hinterließ eine deutliche Wolke aus Alkoholdunst. Michael bog vom Weg ab und lief mit Jo über den weichen Rasen auf eine Insel aus Gesträuch zu, hinter der sie sich zu Boden fallen ließen. Jo legte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel hinauf, wo sich die ersten Sterne zeigten.
„Wieso bist du nicht eher gekommen?“, fragte Michael und stützte sich auf einen Ellenbogen.
„Ich war mich nicht sicher, ob du mich wirklich wiedersehen wolltest, oder ob das von dir nur eine Floskel war. Außerdem habe ich es zeitlich nicht geschafft“, antwortete Jo ehrlich.
„Und ich dachte schon, dein erstes Mal hätte dir nicht gefallen.“
Heute widersprach ihm Jo nicht. Also hatte Michael mit seiner Vermutung einen Volltreffer gelandet.
„Habe ich dir wehgetan?“, fragte er nun, weil Jo weiterhin schwieg. Langsam schüttelte der den Kopf.
„Ich habe mich wie der reinste Trottel angestellt, richtig?“ Seine Stimme klang belegt. Das brachte Michael zum Grinsen. Jo hatte also cool rüberkommen wollen.
„Richtig.“ Er lachte, griff nach seiner Hand und drückte sie, damit Jo merkte, dass er nicht beleidigt sein musste.
„Wenn du ehrlich gewesen wärst, hätten wir es schöner angehen können“, sagte Michael.
„Du hättest dich umgedreht und dir einen anderen gesucht.“
Das hatte Jo tatsächlich von ihm gedacht?
„Wenn jeder vor einem ungeknackten Arsch davonlaufen würde, hätten wir Schwule ein ziemlich trauriges Leben.“ Seine Finger streichelten Jos. Selbstverständlich wäre er nicht davongelaufen. Immerhin war er die Motte, die auf Jos Lachfältchen stand. Eine Motte, die Ehrlichkeit zu schätzen wusste.
„Tut mir leid“, sagte Jo. „Ich habe es nur so dringend gewollt.“
Okay, die Entschuldigung nahm Michael an. Jo schien zu spüren, dass er zufrieden war, denn er richtete sich ein bisschen auf.
„Willst du?“
Und ob Michael wollte. Allerdings drehte Jo erneut den Kopf weg, als sich Michaels Lippen den seinen näherten.
„Das mag ich nicht“, sagte er dieses Mal ehrlich. Schade, denn er hatte schöne Lippen, die geradezu zum Küssen einluden.
„Magst du dich dann vielleicht ausziehen?“
„Ganz?“
Michael nickte.
„Du auch?“
Michael nickte erneut, zog sein T-Shirt über den Kopf und knöpfte schließlich Jos kurzärmeliges Hemd auf, da der ihn bloß ansah. Wie ein Aal schlängelte sich Jo aus seinem Hemd und griff nach seinem Reißverschluss. Michael tat es ihm nach und sie zogen sich nach den Schuhen synchron die Hosen aus. Die Boxer, die sie beide trugen, mussten als letztes runter. Jo hatte bereits eine voll erblühte Erektion, die sich Michael einladend entgegenreckte. Dagegen konnte sich Michaels Glied noch nicht richtig zwischen Schwerkraft und Sternenhimmel entscheiden. Wie neulich wollte er Jo anfassen und die Initiative ergreifen, aber dieses Mal überraschte ihn Jo. Er drückte Michael in das Gras zurück, berührte mit einer Hand seine stoppelige Wange und strich seitlich über seinen Hals bis zur Schulter hinab. Dort befand sich eine etwa fünf Zentimeter lange Narbe, wo sich Michael vor ein paar Jahren ziemlich dämlich bei der Gartenarbeit auf einen Ast gespießt hatte. Seitdem verspürte er Mitleid mit jedem Schmetterling, der einem Sammler in die Hände fiel. Jo fuhr mit dem Finger die Narbe entlang, bevor er sanft seine Lippen darauf drückte. Bei der Berührung dieser weichen Lippen entschied sich Michaels Glied spontan für den Sternenhimmel. Er fühlte, wie er anschwoll und wie das Blut in seinem Schaft pochte. Jo setzte die Erkundung seines Körpers fort, berührte die harten Nippel, kniff sie ganz, ganz sanft und küsste sie. Es war ein gutes Gefühl. Es machte Michael geil. Sein Schwanz zuckte freudig. Nun glitten Jos Hände tiefer. Michaels Bauch war nicht dick und nicht dünn. Er achtete durchaus auf gesunde Ernährung und ging regelmäßig joggen. Für einen Waschbrettbauch müsste er allerdings ein bisschen mehr Sport betreiben. Jo erweckte jedoch den Eindruck zufrieden zu sein, denn er küsste ebenfalls Michaels Bauch direkt über dem Nabel, den er mit der Zunge einmal umkreiste. Michael war wirklich froh, dass er so hartnäckig gewesen und jede Woche zum Kennel gelaufen war. Jo war um Klassen besser als die anonymen Quickies, die er sich zugemutet hatte, weil er nach der Beziehung mit Olaf die Nase von Enttäuschungen gestrichen voll gehabt hatte. Das hier kam ihm beinahe vor, als wäre er verliebt. In Gedanken betonte Michael ausdrücklich: beinahe. Nach einem ersten kurzen Treffen war man schließlich nicht gleich verliebt. Die warmen Hände inspizierten seine Schenkel bis zu den Knien, glitten zu den Innenseiten und streichelten dort seine Haut. Gierig öffnete er seine Beine, zeigte still hoffend mehr und bot sich Jo an. Das passte überhaupt nicht in sein sonstiges Verhalten. Eigentlich war überwiegend er der Aktive. Sich dagegen einfach bloß zu präsentieren, zu nehmen und nur zu genießen war sonst gar nicht seine Art. Aber es machte Spaß, Jo seinen Körper erforschen zu lassen. Ungewöhnlich viel Spaß. Jos Hand umfasste seinen Ständer, strich langsam hinunter und wieder hinauf, zog mit dem Daumen Kreise auf seiner Eichel und verrieb dort einen ersten klaren Tropfen. Michael legte den Kopf weiter in den Nacken und stöhnte leise. Die Finger schlossen sich um seine Hoden, drückten sanft und streichelten auch sie, ehe sie über den Damm weiterwanderten. Sie fanden seinen Anus und berührten ihn zaghaft. Michael hob seine Hüfte etwas an, machte es Jo leichter und nach dieser stummen Aufforderung schob sich ein Finger in ihn hinein. In diesen Moment hätte Michael Jo gerne geküsst. Stattdessen drängte er sich nur weiter dem Finger entgegen, wollte gefickt werden, wollte selbst ficken, wollte schlichtweg Erleichterung finden. Jo lächelte, denn er schien seine Gedanken zu erahnen. Er zog seinen Finger zurück und beugte sich über Michaels steinharte Erektion. Ehe sich Jos Lippen um Michaels bestes Stück legen konnten, drehte er sich zur Seite.
„Nicht ohne Gummi.“ Michael musste ihn tatsächlich an seine eiserne Regel erinnern.
„Und wie soll ich dich dann schmecken?“
Bei dieser unschuldigen Frage hätte Michael direkt abspritzen können.
„Du wirst eben darauf …“ Weiter kam er nicht. Jos Hände hielten seine Hüften fest und schon verschwand sein Glied in seinem Mund. Jos Zunge ertastete die Beschaffenheit seines Steifen, die Lippen massierten ihn und dazwischen trieb ihn ein an- und abschwellendes Saugen beinahe in den Wahnsinn. Tief in Michaels Kehle bildete sich ein Laut, wie er ihn niemals zuvor ausgestoßen hatte. Alles in ihm zog sich zusammen, konzentrierte sich auf einen einzigen Punkt, der erst bebte und pulsierte und auf der Stelle explodieren wollte. Jo entließ seine Erektion, kurz bevor er kam. Gleich darauf zierten milchige Fäden die Grashalme. Vollkommen überwältigt lag Michael einfach nur da und ließ den leichten Nachtwind über seinen schweißnassen Körper streichen. Jo lag neben ihm, sah ihn zufrieden an und lächelte. In diesem Moment fühlte sich Michael leicht wie eine Feder. Peter Pan brauchte einen wunderbaren Gedanken, um fliegen zu können. Auch Michael kannte jetzt seinen wunderbaren Gedanken. Nur vor dem Fliegen hatte er ein wenig Angst. Doch wie es schien, hatte er ein Erste-Klasse-Ticket erwischt.
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Im Sternenlicht bot Micha ein überaus ansprechendes Bild. Sein nackter, nahezu perfekt proportionierter Körper lag wie hingegossen auf dem weichen Gras. Das schwarze Haar lockte sich unter Joachims Fingern und fühlte sich wie Seide an. Als er sich selig an den Jüngeren schmiegte, stieg ihm der Geruch von Kokos in die Nase. Mmmh, lecker. Er musste Micha bei Gelegenheit mal nach dessen Shampoo fragen.
„Micha?“
Der brummte leise eine Antwort.
„Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Was denn?“, erkundigte sich Micha neugierig.
„Meinen Arsch.“ Joachim grinste vergnügt und Micha lachte auf. Er drehte sich herum und zog Joachim in seine Arme. Gerade noch konnte er sich erinnern, dass Joachim keine Küsse wollte. Aus dem Beinahe-Kuss wurde ein leichtes Beißen in seinen Hals. Einander neckend, kitzelnd, streichelnd rollten sie durch das Gras, bis sich ihre Körper aufs Neue erregt aneinander pressten.
Es war ein weiterer Freitagabend, an dem Michael am Kennel stand und auf Jo wartete. Und genau wie beim letzten Mal beschlich ihn das Gefühl, dass Jo nicht mehr auftauchte. Derartig spät war es bisher nie geworden. Er seufzte enttäuscht. Hoffentlich musste er nicht erneut drei Wochen auf ihn verzichten. Das wäre echt schade. Resigniert schaute er in den wolkenverhangenen Himmel. Was für ein Mist! Der heutige Tag war wohl gelaufen. Entweder ging er endlich nach Hause oder er verzog sich mit dem Typen in der schlabbrigen Jogginghose ins Gestrüpp. Dabei törnten ihn diese Kerle in den Sporthosen total ab. Er hatte nichts gegen Jogginghosen, solange man sie zum Laufen anzog oder zu Hause zum Lümmeln auf dem Sofa. Aber wenn man ausging, sei es zum Einkaufen oder zum Männer aufreißen, hatte man sich gefälligst vernünftig anzuziehen. Schließlich ging Michael auch nicht in Badelatschen ins Theater. Okay, er ging gar nicht ins Theater. Er würde nach Hause gehen. Es fing ohnehin zu tröpfeln an. Ehe er sein bescheidenes Heim erreichen würde, war er sicherlich klatschnass. Also schlug Michael seinen Jackenkragen hoch, stopfte frustriert die Hände in die Taschen und setzte sich gerade in Bewegung, als sich Jos Golf mit quietschenden Reifen scheinbar aus dem Nichts materialisierte und neben ihm hielt. Augenblicklich ging für Michael die Sonne auf. Und die Beifahrertür.
„Steig ein.“ Jo begrüßte ihn mit einem warmen Lächeln. Eine Winzigkeit lang zögerte Michael. Und ehe er sich versah, schlug er schon wieder Prinzipien in den Wind – das passierte ihm bei Jo anscheinend dauernd – und stieg tatsächlich zu einem Fremden in den Wagen. Nun gut, ganz fremd war ihm Jo nicht mehr.
„Hallo“, sagte er etwas verspätet.
„Tut mir leid, dass du warten musstest. Mir ist beinahe etwas dazwischen gekommen und ich musste erst ein wenig mit den Terminen jonglieren“, erklärte Jo. Und fügte etwas atemlos hinzu: „Hallo erst einmal.“
Der Himmel öffnete alle Schleusen und der Regen prasselte nur so herunter. Der Typ in der Jogginghose hatte sich vor dem Ertrinken unter die Eisenbahnbrücke gerettet. Dort war er nicht der Einzige, der Zuflucht vor dem Regen suchte. Nur Jo und Michael saßen mitten auf dem Parkplatz im Auto und beobachteten die Regentropfen, die über die Frontscheibe des Golfs liefen.
„Was unternehmen wir denn jetzt?“, fragte Jo. Er klang ein bisschen enttäuscht. Natürlich hatte Michael Lust auf einen Fick, bloß nicht gerade im Auto. Und nur zum Poppen nahm er sich keine Fremden mit nach Hause. Das war ein weiteres seiner Prinzipien und das würde er garantiert nicht umstoßen. Obwohl ihm Jo sehr sympathisch war, wusste er einfach nicht genug über ihn. Michael hatte keine Ahnung, wie Jo mit Nachnamen hieß, wo er wohnte oder was er tagsüber eigentlich trieb. Also schnell mal überlegen. Was konnten sie an einem so verregneten Abend unternehmen?
„Lust auf ein Bier? Wir könnten ins Whatever fahren.“
Jo zögerte mit einer Antwort.
Uuups, Micha du blöder Esel! Jo ist zum Vögeln hier, nicht um Small Talk bei einem Bier zu treiben.
Für einen Moment war er davon ausgegangen, dass Jo ebenfalls Interesse an mehr als nur Sex haben könnte.
„Okay, vergiss es. Wir sollten nur aufpassen, dass es nicht der Ganghebel ist, den wir in den Arsch bekommen.“ Michael machte bereits Anstalten, sich aus seiner Jacke zu winden, als Jo fragte: „Wo ist denn das Whatever?“
Diese Frage fand Michael nun doch etwas komisch. In dieser schwulenfeindlichen Stadt gab es genau drei Lokale für Homosexuelle. Eines war eine Disco, die sogar über einen Darkroom verfügte, der wegen Überfüllung geschlossen wurde, sobald sich darin eine Person aufhielt. Das andere war das Stängel, ein Café für die eher ältere Gemeinde und eben das Whatever, eine gemütliche, rustikale Kneipe. Über die Schwulensauna am Hafen brauchte man gar nicht erst reden. Die wurde ständig vom Ordnungsamt geschlossen und so oft neu eröffnet, dass es bereits an Besessenheit grenzte.
„Du kennst das Whatever nicht?“, fragte Michael daher ziemlich entgeistert.
„Ist das schlimm?“ Mit einem Mal klang Jos Stimme deutlich schärfer. Michael zog innerlich die Bremse.
„Hohetorwall“, sagte er knapp.
„Eine Schwulenkneipe“, stellte Jo fest.
„Ja, natürlich. Wo gehst du denn auf ein Bier hin?“
Jo startete den Wagen und lenkte ihn von dem Parkplatz runter. „Ich gehe nicht oft aus. Und mein Bier bekomme ich schließlich überall. Es gibt ja genug Kneipen.“
„Klar, bloß da triffst du keine Gleichgesinnten.“ Michael hatte vergessen sich anzuschnallen und holte das schnell nach.
„Die kann ich am Bienroder See sehen, wenn ich mag.“ Angestrengt blickte Jo nach vorn. Im Moment schüttete es wie aus Eimern. Die Scheibenwischer kamen kaum nach.
„Du magst wohl nicht oft?“, fragte Michael wie beiläufig.
„Wieso?“ Jo warf ihm einen raschen Blick zu. Gleich darauf schaute er wieder auf die Straße, da weitere Fahrzeuge im Blindflug unterwegs waren.
„Na ja, wenn du mit vierzig noch nicht gevögelt hast …“
Sofort korrigierte ihn Jo: „Neununddreißig.“
Michael grinste und wartete auf eine Antwort, es kam jedoch keine mehr. War das Jo etwa peinlich? Eigentlich hatte er gehofft, dass Jo ihm erzählen würde, weshalb er ein solcher Spätzünder war. Natürlich hatte er sich in den letzten Wochen darüber Gedanken gemacht, ob sein Begleiter erst verspätet zum Schwulsein gefunden hatte oder vielleicht auf beiden Ufern zu Hause war. Aber offenbar wollte Jo darüber nicht sprechen. Verstohlen sah er ihn von der Seite aus an. Jo wich einem Radfahrer aus, der in diesen Fluten ohne Licht unterwegs war, schimpfte leise über den lebensmüden Idioten und wurde langsamer.
„Siehst du irgendwo einen Parkplatz?“ Parkplätze waren am Hohetorwall rarer als Sechser im Lotto. Heute musste allerdings ihr Glückstag zu sein, denn ein Pärchen stieg gerade in einen Volvo. Jo hielt und setzte den Blinker. Im nächsten Moment gehörte der Parkplatz ihnen.
Einen Augenblick später rannten sie durch den Regen und rissen die Kneipentür auf. Warme Luft und der typische Kneipenlärm aus Musik, Gesprächsfetzen und Gläserklirren empfing sie. Jo schaute sich kurz um und schien vom Whatever ganz angetan zu sein. An den Wänden hingen vergilbte Fotos von längst verstorbenen Filmstars wie Gary Cooper, James Dean, Humphrey Bogart und John Wayne. Filmplakate erinnerten an Rio Grande, Casablanca oder Dracula. Sie setzten sich an einen freien Tisch, über dem Die Brücke am Kwai hing. Nach fünf Minuten war Conny bei ihnen und nahm die Bestellung auf. Jo bekam ein alkoholfreies Becks, Michael ein Duckstein. Zum ersten Mal waren sie zusammen, ohne zu ficken. Auf Michael wirkte es, als hätten sie ein Date miteinander.