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Die Schrecken der Einhornhöhle liegen hinter Bernd und Tiger. Das sollte man zumindest meinen. Doch das Wiedereinfinden in den Alltag ist alles andere als einfach. Außerdem stehen noch Gefühle im Raum, mit denen sich die beiden auseinandersetzen müssen. Stehen die Chancen für den Weg in das eigene persönliche Licht höher als minus zwei? Band 2 des Zweiteilers
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Seitenzahl: 287
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Ein Roman von Sandra Busch
Band 2
© dead soft verlag, Mettingen
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http:/www.daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© Jaromir Chalabala - shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-945934-93-7
Die Verliebten leben vom Licht der Anderen.
Die Liebenden sind einander das Licht.
Mit Hilfe der Unterarmgehstütze machte Bernd einen Rundgang im Erdgeschoss seines Hauses. In der oberen Etage hörte er seine Eltern rumoren, die seinen Koffer ausräumten und das Bett frisch bezogen.
Konnte einem das eigene Heim fremd werden? Er musterte die fast schwarzen Kolonialstilmöbel, die Fliesen in Holzparkettoptik, die bunten Sofakissen und die frischen, orangefarbenen Gardinen, durch die warmes Sonnenlicht drang. Bernd humpelte zur Terrassentür und blickte in den Garten hinaus. Dabei drückte er eine kleine rosa Stoffsau fest an seine Brust. Ein bisschen fühlte er sich wie Alice im Wunderland. Sein eigenes Zuhause kam ihm auf eine fantastische Art und Weise unwirklich vor. Beinahe wie ein Traumgespinst, das sich in Luft aufzulösen drohte.
Es war noch nicht lange her, dass die Umbaumaßnahmen in seinem Haus ein Ende gefunden hatten und die neuen Möbel aufgebaut worden waren. Richtig eingelebt hatte er sich in der frisch renovierten Umgebung bisher nicht, denn meistens hatte er sich ohnehin im Landesamt für Geologie und Bergbau befunden und gearbeitet.
Jetzt hatte er einen zweiwöchigen Aufenthalt im Klinikum Herzberg/Osterode hinter sich, an den er sich kaum erinnern konnte. Was in seinem Gedächtnis haften geblieben war, war ein wilder Veitstanz der Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern sowie seiner Eltern, dem Psychiater und Herrn Professor Doktor Eichenberg, dem Vorsitzenden der Harzer Speläologie. Ohne Tigers beruhigende Anwesenheit wäre er bei dem Trubel bestimmt wahnsinnig geworden. Er hatte sich direkt nach der Stille in den Stollen zurückgesehnt. Zumindest zeitweilig.
Im Krankenhaus lernte Bernd zudem Renesmee und Neo Jaschiniok, Tigers Eltern, kennen. In Anbetracht ihrer außergewöhnlichen Vornamen hatte bei ihm ja bloß ein Tiger rauskommen können. Es waren nette, warmherzige Leute, die ihn ebenfalls mit einer liebevollen Umarmung bedachten, als sie, von den Ärzten unterrichtet, in der Klinik erschienen. Bernds Eltern Fine und Peter kannten sie bereits von der Trauerfeier her. Es wurde viel geweint und gelacht und geherzt. Nach der Stille im schwarzen Bauch des Harzes war ihm der ganze Rummel eigentlich zu viel. Bernd ertrug ihn lediglich mit Mühe. Dabei konnte er ja verstehen, dass seine Eltern ihn dauernd berühren wollten. Sie mussten sich vergewissern, dass er am Leben war. Und dass sie ihn fälschlicherweise für tot gehalten und unnötig um ihn getrauert hatten.
Zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus fand eine riesige Pressekonferenz statt, in der Tiger und er von ihren Erlebnissen unter Tage berichteten. Eigentlich hatte mehr Tiger gesprochen. Er selbst war wie versteinert gewesen, als er in die tränennassen Gesichter der Angehörigen und Freunde ihrer Expeditions-Kameraden gestarrt hatte. Das Einzige, was Tiger nicht zur Sprache gebracht hatte, waren ihre sexuellen Eskapaden. Darüber hatten sie nicht einmal mit ihren Eltern geredet. Ihre aus Hilflosigkeit und Schrecken geborene Beziehung zueinander war zum Tabuthema geworden. Bernd wollte keine Zeitung aufschlagen und dort wilde Schlagzeilen entdecken müssen, die aus einem tragischen Unglück eine reißerische Story machten. Vier Wochen Kampf gegen die endlose Schwärze oder Horrortrip unter Tage waren Titel, die ihr Erlebtes durch ihre grausame Aufmachung und Sensationslust verhöhnten. Und niemand – niemand! – wollte Fotos von zwei halb verhungerten, körperlich am Ende befindlichen Höhlentrollen sehen. Die Bilder jagten Bernd jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Das auf den Fotos war nicht er. Das konnte bloß ein Fremder sein. Ein sehr, sehr bedauernswerter Fremder.
Ein ebenso schwerer Gang war der zu Peer Obinskis Frau gewesen, aber sie hatten einem Sterbenden ein Versprechen gegeben. Es wurde sein Job, die weinende, hochschwangere Frau tröstend in die Arme zu nehmen. Dafür übernahm auch hier Tiger erneut das Reden. Die werdende Mutter tat Bernd ausgesprochen leid. Was hätte er nicht alles dafür getan, wenn sie wenigstens Peer hätten retten können.
Eine weitere Woche verbrachte Bernd bei seinen Eltern. Sie brauchten die intensive Nähe zu ihm, um wirklich begreifen zu können, dass er überlebt hatte. Bernd mochte sich gar nicht vorstellen, was sie bei der Trauerfeier mitgemacht hatten. Er wusste, dass seine Mutter häufig nachts seine Tür öffnete und ihn im Schlaf betrachtete. Sein Vater hatte es ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten. Sie hatte furchtbare Angst, dass seine Rettung Wunschdenken war und sie sich in tröstlichen Halluzinationen erging.
Der Einzige, der jedoch tatsächlich verschwand, war Tiger. Sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kehrte er nach Göttingen und in sein altes Leben zurück. Nur für die Pressekonferenz und dem Besuch bei Frau Obinski traf er sich mit Bernd. Es waren Termine, die Bernd einerseits am liebsten hätte ausfallen lassen, andererseits fieberte er ihnen regelrecht entgegen. Denn mit Tigers Weggehen fühlte sich Bernd, als hätte man ihm einen Arm amputiert. Die felsenfeste Überzeugung, dass ihre innige Zuneigung einfach nach ihrem Abenteuer abgeschaltet werden konnte, war ein herber Trugschluss gewesen. Bernd vermisste seinen Freund sehr. Besonders in der Nacht.
„Berni?“ Sein Vater kam die Treppe heruntergepoltert. Er schleppte einen prall gefüllten Stoffbeutel. „Soll ich die Kerzen verteilen?“
In einem Baumarkt hatten sie batteriebetriebene Kerzen eingekauft. Völlige Dunkelheit ertrug Bernd nicht. Bei seinen Eltern hatte die Nacht hindurch die Nachttischlampe brennen müssen. Sein Vater hatte schließlich die Idee mit den LED-Kerzen gehabt. Sie verbreiteten ein angenehmes, heimeliges Licht und würden Bernd beim Einschlafen helfen. Dass er in der Regel spätestens nach drei Stunden wach wurde und schweißgebadet war, weil er Albträume bekam oder ein leises Wispern und Knirschen zu hören glaubte, wussten seine Eltern nicht. Seiner Meinung nach war es überflüssig, sie mit neuen Sorgen zu überschwemmen. Sie hatten genug durchstehen müssen.
„Die Kerzen verteile ich später. Ich will mir erst in Ruhe überlegen, wo ich sie hinstellen möchte.“
„Dann bringe ich sie zunächst in die Küche.“
„Okay.“
Statt in die Küche zu gehen, musterte ihn sein Vater prüfend. „Geht es dir gut, mein Sohn?“
„Ehrlich gesagt komme ich mir ein bisschen fremd vor.“
„Du kannst gerne bei uns bleiben. Ein paar weitere Wochen … Es drängt dich ja niemand, dass du hier alleine bleiben sollst.“
Das war echt nett von seinen Eltern und Bernd ahnte, dass seine Mutter sogar darauf hoffte. Doch er musste langsam wieder eigenständig werden. Das würde im elterlichen Nest allerdings nicht funktionieren.
„Wenigstens so lange, bis dein Knie verheilt ist.“
„Das Knie wird schon.“ Er hatte sich eine fette Schleimbeutelentzündung bei seinem blöden Sturz auf die Felsen eingefangen. Schön war etwas anderes, trotzdem erstaunte es ihn, wie glimpflich Tiger und er davongekommen waren. Ein paar Kratzer, Beulen und Schrammen, die Entzündung, Unterernährung und der Mangel an Flüssigkeit. Im Krankenhaus waren sie aufgepäppelt und mit Elektrolyten, Vitaminen und Proteinen vollgepumpt worden, wobei die Ärzte wachsam ihre Organe im Blick behalten hatten. Vor ihrer Entlassung waren sie ein letztes Mal gründlich untersucht worden, ob Nieren und Co tatsächlich keinen dauerhaften Schaden davongetragen hatten. Er hatte etwas Grieß in den Nieren gehabt, was er seiner Blasenentzündung zu verdanken hatte. Es waren zusätzliche Schmerzen gewesen, als der Grieß abging, auf die Bernd gut hätte verzichten können. Er war froh, dass sich keine Nierensteine gebildet hatten.
Bernd erinnerte sich daran, wie er am ersten Tag bei seinen Eltern die in den Tunneln erträumte Currywurst mit Pommes gegessen hatte. Nie zuvor hatte er eine solche Geschmacksexplosion erlebt oder vor Glück weinend über einer Mahlzeit gesessen. Im Krankenhaus hatte es lediglich Aufbaukost gegeben, viele Suppen, damit Magen und Darm ihre normale Funktion wieder aufnehmen konnten. Zur Entschädigung wurden ihm bei seinen Eltern sämtliche Lieblingsessen serviert: Kartoffelsuppe, mit Hack gefüllte Paprika, Eier in Senfsoße und mit Marmelade gefüllte Hefestückchen. Hefestückchen lagen außerdem in einer großen Schüssel angerichtet in seiner Küche. Seine Mutter hatte ihm reichlich von der süßen Nascherei mitgegeben.
„Wo willst du mit dem Schwein hin?“
Die Stimme seines Vaters riss ihn aus den Gedanken.
„Ich stell es am besten auf den Kamin.“ Das rosa Stoffschwein hatte er von Tiger bekommen. Es war dessen Glücksschwein gewesen und hatte ihnen beiden aus den Tunneln geholfen. Nun sollte es zukünftig ihn beschützen und an Tiger erinnern. Seine Mutter hatte das Schwein kurzerhand in die Waschmaschine gestopft, weil es nach den Wochen unter Tage ziemlich dreckig gewesen war. Ein Schwein im Schleudergang … Bernd schüttelte den Kopf und platzierte die saubere Sau auf dem Kamin. Sie grinste ihn von ihrem erhöhten Platz treudoof an. Unwillkürlich erwiderte er das Grinsen. In den letzten Tagen hatte er die Sau oft an sich gedrückt, sie geknetet und Halt bei ihr gesucht. Sie war eine Verbindung zu Tiger. Leider kein Ersatz …
Himmel! Wieso denke ich dauernd an Tiger? Warum vermisse ich das intime Zusammensein? Ich bin nicht schwul. Oder? Die Chancen dafür stehen mindestens bei … Minus Zwei. Er lachte freudlos.
„Berni?“ Sein Vater kam aus der Küche zurück. „Ich hole schnell die Getränke aus dem Wagen, ehe deine Mutter mit mir schimpft. Wenn dir noch etwas einfällt, was du benötigen könntest, wäre jetzt der richtige Moment, um es mir zu sagen.“
„Ich habe alles, Papa. Danke. Du brauchst keine weitere Bestellung aufnehmen. Inzwischen könnte ich ja einen Supermarkt aufmachen.“
Sein Vater räusperte sich verlegen. „Ich meinte nicht gerade Lebensmittel.“
Bernd lächelte. „Ich weiß.“
Fahr los und hol mir Tiger.
Er bekam einen Klaps auf die Schulter und in der nächsten Sekunde lief sein Vater hinaus, um Mineralwasser, Schwarzbier und Cola ins Haus zu schleppen.
„Ich mache euch eine Menge Arbeit“, brummte Bernd unzufrieden.
„Ach, Berni, du ahnst gar nicht, wie froh wir darüber sind.“ Seine Mutter kam aus dem Obergeschoss herunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dein Bett ist fertig und ich habe dir frische Handtücher hingehängt. Ein Schlafanzug liegt auf dem Stuhl in deinem Schlafzimmer. Und im Kühlschrank befinden sich die Frikadellen, der Kartoffelsalat und ein paar Steaks, die du dir morgen auf den Grill legen kannst. Der Wetterbericht hat den Daumen nach oben gehoben. Habe ich irgendetwas vergessen?“
„Mama, du behandelst mich wie ein kleines Kind. Einen Schlafanzug hätte ich mir selbst aus dem Schrank nehmen können.“
„Berni, du bist ein Kind. Nicht mehr ganz so klein, das gebe ich zu. Aber in meinen Augen wirst du nie erwachsen werden.“ Seine Mutter lächelte ihn an und tätschelte die zuvor geküsste Wange. „Ich hätte dich gerne eine Weile länger unter meinen Fittichen gehabt. Du bist furchtbar mager und gehörst ordentlich gemästet.“
„Kein Vergleich mehr zum ersten Tag im Krankenhaus.“ Sein Vater keuchte, als er die Bierkiste in die Küche schleppte.
„Da hat er recht. Kommst du wirklich klar?“
„Falls nicht, rufe ich euch sofort an.“ Er wusste, dass seine Mutter genau das hören wollte.
„Hast du eigentlich weiterhin Kontakt zu Tiger?“, fragte sie wie nebenbei.
Bernd wurde starr. „Wieso?“
„Ich fand ihn sehr nett und ihr habt eine Menge zusammen durchgemacht.“
„Ja, wir haben noch Kontakt.“
Regelmäßig. Das mussten seine Eltern allerdings nicht wissen.
„Berni, gibt es da etwas, das du uns nicht erzählt hast? Ist in diesen Tunneln etwas geschehen, was …“ Seine Mutter zögerte. „… was dir auf der Seele liegt?“
Der siebte Sinn einer Mutter sollte nicht unterschätzt werden. Es war geradezu gruselig. Bernd hatte seine liebe Not, sich möglichst gelassen zu zeigen. „Was sollte das denn sein? Tiger hat mir Halt gegeben und mich vor dem Wahnsinn bewahrt. Du kennst ja meine Angst vor der Dunkelheit.“
„Diese Gören aus deiner Schulzeit gehören heute noch übers Knie gelegt. Ich habe ohnehin nicht verstanden, warum du an der Expedition teilnehmen wolltest. Oder wieso dein verrückter Vater dich darin unbedingt unterstützen musste.“ Seine Mutter entdeckte das Glücksschwein auf dem Kaminsims, nahm es herab, streichelte über die rosafarbene Schnauze und seufzte.
„Es war mir wichtig, Mama. Ich musste mal aus dem Amt raus. Ein Abenteuer erleben.“
„Und was für ein Abenteuer!“
„Er hat überlebt, Finchen. Das ist doch relevant.“ Bernds Vater stand schnaufend in der Küchentür und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Damit hat dein Vater absolut recht. Und weißt du, worauf ich besonders stolz bin?“
„Ich bin sicher, du wirst es mir innerhalb der nächsten drei Sekunden sagen, Mama.“
„Dass ihr dem armen Mann beigestanden habt, als er auf diese schreckliche Weise starb. Ich weiß nicht, ob ich das fertiggebracht hätte. Du bist eben ein guter Junge, Berni.“
„Es war nicht leicht. Und ich an seiner Stelle wäre bestimmt froh gewesen. Niemand sollte einsam in vollkommener Finsternis sterben.“
„Ach, Berni.“ Ein zweiter Kuss fand seinen Weg auf seine Wange, während Tränen der Rührung in den Augen seiner Mutter glitzerten. „Ruf an, okay?“ Sie stellte die Sau zurück.
Bernd grinste schwach. „Das klingt, als würdest du wünschen, dass ich es ohne euch nicht gebacken bekomme.“
„Mütter sind halt so gepolt. Bist du fertig, Peter?“
Sein Vater nickte, umarmte ihn kurz und zwinkerte ihm zu. „Sie ist es, die längst nicht fertig ist“, flüsterte er verschwörerisch. „Ich werde mir auf dem ganzen Rückweg anhören müssen, wie unverantwortlich es ist, dich dermaßen hilflos in diesem schrecklichen großen Haus zurückzulassen. Dass wir Rabeneltern sind und auf unser Küken besser Acht geben müssten. Um was wollen wir wetten?“
„Es ist keine Wette, wenn wir beide auf dasselbe Ergebnis setzen, Papa.“
„Hört auf, hinter meinem Rücken über mich zu lästern. Berni, die Telefonnummer des Psychiaters steht auf dem Zettel am Kühlschrank. Vergiss nicht, dir einen Termin geben zu lassen.“
„Das mache ich später. Versprochen.“
„Tschüss, Junge.“
„Tschüss.“ Bernd begleitete seine Eltern bis zur Tür und winkte ihnen hinterher, als sie mit dem Wagen davonfuhren. Jetzt war er allein. Völlig allein. Er drehte sich zum Kamin um. Sau grinste.
Na ja, nicht völlig allein.
Tiger wühlte sich leise schimpfend durch einen Stapel Papier. Er hatte den Entwurf doch gerade in den Händen gehabt. Wo war der jetzt nur geblieben? Am Nachbartisch klingelte das Telefon. Muri ging dran, was ihn erleichterte. In diesem Fall konnte er in Ruhe weiterwühlen, bis er die gesuchten Unterlagen gefunden hatte.
„Einen Moment, bitte. Ich frage rasch nach.“ Muri deckte einen Teil des Telefons mit der Hand ab. „Da sind ein paar Japaner, die eine Tour in der Eifel buchen wollen. Sie würden gerne dich als Guide dabeihaben.“
Tiger schaute auf. Muris schwarze Augen blickten ihn ruhig an. Er hatte sich einen kurzen Vollbart stehen lassen, der auf seltsame Art und Weise zu dem Zopf passte, zu dem das nackenlange schwarze Haar gebunden war. Muri war Deutschtürke und einer seiner besten Mitarbeiter.
„Wann?“, fragte Tiger, als ob das eine Rolle spielen würde.
„In zwei Wochen.“
„Willst du das übernehmen?“
Muri zuckte mit den Schultern. „Carsten wäre bestimmt besser geeignet. Er hat in seinem letzten Urlaub in Tokio ein paar Brocken Japanisch aufgeschnappt. Das könnte hilfreich sein.“
„Dann gib Carsten den Job.“
„Wann willst du denn wieder einsteigen?“
„Muri, der Kunde wartet.“
Muri grinste schief und wandte sich dem Gesprächspartner am Telefon zu. Gleichzeitig machte er sich mit dem Bleistift Notizen auf einem Block.
Seufzend lehnte sich Tiger in seinem Stuhl zurück. Er würde bald eine Entscheidung treffen müssen. Das war er seinem Team schuldig. In Muris Telefonat mischte sich die hellere Stimme von Rina, die vorne im Laden Survival-Ausrüstung verkaufte.
„Palim! Palim!“ Sein Handy gab Laut und er wusste dank des Tons Bescheid, dass eine WhatsApp eingegangen war. Rasch rief er die Nachricht ab. Ein Foto von Sau, seinem einstigen Glücksschwein, war ihm gesandt worden. Dazu die Nachricht: *Wir sind zu Hause angekommen.*
Tiger lächelte. *Bin gerade im Laden und versuche, Papierkram zu erledigen und die Internetseite auf Vordermann zu bringen. Wie geht es dir?*
*Ich bin müde. Und es ist komisch, allein zu sein.*
*In Gedanken bin ich bei dir.*
* :) Ich wünschte … *
*Ja?*
*Ach, unwichtig. Ich muss unbedingt einen Termin mit meinem Psychiater ausmachen. Im Gegensatz zudirgelingt es mir einfach nicht, zu arbeiten. Ich brauche daher eine Krankmeldung.*
Wenn Bernd wüsste, dass er bloß im Laden war, weil er sonst in seinen vier Wänden abdrehen würde.
*Nimm dir ruhig eine Auszeit. Niemand wird es dir verübeln.*
*Hm.*
*Doc,bist du okay?*
*Klar. Mir geht es gut.*
Lügner, dachte Tiger. Wem wollte Bernd etwas vormachen? Etwa ihm? Lächerlich!
*Wenn du Probleme hast, stehe ich dir zur Verfügung.*
Eine ganze Weile folgte auf diese Nachricht nichts. Erst als sich Tiger gerade erneut dem Papierberg widmen wollte, ertönte das „Palim! Palim!“
„Mann! Einen anderen Message-Ton, bitte.“ Muri seufzte genervt.
„Leck mich, Muri.“
„Hättest du wohl gern.“
Tiger zeigte ihm den Mittelfinger und las die Nachricht. *Danke. Ich komme im Notfall drauf zurück. Bis später.*
*Tschüss, du Bär.*
Ich liebe dich, fügte er in Gedanken hinzu.
*Tschüss.*
Tiger saß da, streichelte wehmütig sein Handy mit dem Daumen und starrte versonnen auf das Display. Er vermisste Bernd mit jeder Faser seines Körpers. Die Einsamkeit während der dunklen Stunden des Tages machte es nicht besser. Sein eigener Psychiater war ein Vollpfosten, der glaubte, er hätte einen Knacks in seiner Kindheit erlebt. Der fuhr voll auf die seltsamen Vornamen seiner Familie ab. Renesmee, Neo und Tiger … Personen, die so hießen, mussten ja einen an der Waffel haben. Daher konnten seine Panikattacken und die ständige Furcht unmöglich durch herabpolternde Felsen, Todesangst, Hunger und Strapazen bis übers körperliche Limit hinaus stammen. Tiger hatte die übrigen Termine bei diesem Idioten gecancelt. Außerdem hatte er seine Wohnung gekündigt. Danach ging es ihm besser. Er musste aus Göttingen weg. Hier erinnerte ihn alles an André, und an seinen Exfreund wollte er nicht mehr denken. Er hatte schöne Zeiten mit André verlebt und war schrecklich verletzt gewesen, als er nach seiner Alpen-Tour nach Hause kam und eine leere Wohnung betrat. Nur mit einem Zettel eine mehrjährige Beziehung zu beenden, war in seinen Augen ein No-Go. Inzwischen ärgerte er sich über André. Er hatte sich nicht einmal nach dem Höhlenunglück bei ihm gemeldet, dabei hatte sein verwildertes Gesicht zahlreiche Zeitungen geschmückt und war sogar in den Fernsehnachrichten aufgetaucht. Enttäuschung, Wut und schließlich Frieden. Lief auf diese Weise nicht die Heilungsphase nach einer Trennung ab? Falls ja, befand er sich auf einem guten Weg. Sicherlich hätte ihm seine frisch erblühte Liebe zu Bernd schneller über André hinweggeholfen. Doch Bernd war hetero. Bernd war in Hannover. Und Bernd wollte keine Beziehung mit ihm. Er konnte sich schon glücklich schätzen, dass sein Doc Kontakt zu ihm hielt. Er ahnte, dass das ursprünglich nicht Bernds Absicht gewesen war. In der Schwärze des Harzes hatte er das sehr deutlich gemacht. Bernd, der Ehrliche … Tiger lächelte traurig.
„Hey, Boss!“ Muri stupste ihn an.
„Hm?“
„Verspricht André dir Sex? Oder warum bist du die ganze Zeit völlig abwesend?“
Seine Mitarbeiter und Freunde wussten noch gar nichts von der Trennung, denn André war nicht wie sie zu der Trauerfeier gegangen, was ihm im Nachhinein einen heftigen Stich versetzt hatte. Lediglich von den Schrecken in den Höhlen hatte Tiger ihnen berichtet, damit sie es ihm nicht übel nahmen, wenn er sich sonderbar benahm oder wie ein verängstigtes Kaninchen. Sie hatten ihm aufmerksam zugehört, ein paar Fragen gestellt und zu verstehen versucht, was er hatte mitmachen müssen. Seitdem behandelten sie ihn zwar nicht wie ein rohes Ei, dafür hatten sie ein wachsames Auge auf ihn und nahmen ihm die eine oder andere Aufgabe kommentarlos ab. Es waren tolle Freunde, die vollkommen geschockt gewesen waren, als sie von seinem „Tod“ erfuhren. Sie hatten getrauert, etliche Abende miteinander verbracht und gemeinsam versucht, die traurige Mitteilung über sein Ableben zu verarbeiten. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung gehabt, wie es mit dem Laden weitergehen würde, sie hatten erst einmal einfach alles im alten Trott laufen lassen, bis sich eine Lösung gefunden hätte. Das war auch so ein Punkt, um den er sich mal kümmern musste: Was sollte mit Tiger Tours werden, wenn ihm etwas zustieß?
„Tiger? Träumst du jetzt von André?“
„André ist Geschichte“, sagte Tiger leise.
Wie in Zeitlupe breitete sich in Muris Miene Betroffenheit aus. „Oh! Das … Das tut mir leid, Mann.“
Tiger winkte ab. „Muss es nicht. Im Nachhinein betrachtet ist diese Trennung besser für mich.“
„Okay. Wenn du meinst. Äh … Mit wem simst du dann so wild herum?“
„Ich erkläre es euch, wenn Anton zurück ist.“
Anton, ein weiterer Freund und Angestellter, befand sich gerade bei einem Kunden, um mit ihm einen Kurztrip von drei Tagen auszuarbeiten. Muri gab sich mit der Antwort vorerst zufrieden und machte sich an die Buchführung. Auch Tiger widmete sich wieder der Gestaltung der Internetseite, doch richtig konzentrieren konnte er sich nicht. Und das war eindeutig Bernds Schuld.
18:00 Uhr.
Rina schloss den Laden ab und kam nach hinten ins Büro. „Puh! Heute war eine Menge los. Ein guter Tag.“ Sie strahlte ihn an und er konnte gar nicht anders, als zurückzulächeln. Rina war die perfekte Verkäuferin. Mit ihrer sportlichen Figur, dem wippenden blonden Pferdeschwanz und ihrer ungekünstelten Frohnatur steckte sie die Kunden mit ihrer Begeisterung binnen weniger Sekunden an.
„Habt ihr für mich einen Moment Zeit, bevor ihr nach Hause fahrt?“, fragte Tiger in die Runde. Sein Ton war ernst, was niemandem entging. Ein jeder hielt im Kramen und Herumräumen inne und wandte sich ihm zu.
„Was ist los?“, fragte Anton.
„Ich glaube, Tiger will uns seinen neuen Beziehungsstatus mitteilen.“ Muri zwinkerte frech.
„Nein, mehr als das. Es geht um die Zukunft von Tiger Tours.“
„Wie bitte?“ Carsten runzelte die Stirn. „Soweit ich weiß, stehen wir nicht in den roten Zahlen.“
Tiger wehrte ab. „Der Laden brummt.“ Das machte ihn durchaus stolz. Schließlich hatte er das Geschäft aus dem Nichts geschaffen. „Und das ist unser aller Verdienst.“
„Jetzt kommt das große Aber.“ Rina setzte sich auf die Schreibtischkante.
Tiger nickte. „Es gibt einiges, was ich euch sagen muss, weil es euch als Mitarbeiter und natürlich als Freunde betrifft.“ Er holte tief Atem. „Punkt eins: André hat mich verlassen.“ Er war auf Empörung gefasst gewesen, allerdings nicht in diesem Größenumfang. Ihm wurde ganz warm, als er die tröstenden Worte seiner Freunde vernahm, kumpelhaftes Schulterklopfen erhielt und Rinas warmherzige Umarmung empfing.
„Ist ja gut, ist ja gut.“ Verlegen lachend wehrte er ab. „Inzwischen habe ich kapiert, dass das wirklich besser ist. Er hat mir schriftlich den Laufpass gegeben. Die Nachricht habe ich erst an dem Abend vor der Expedition erhalten. Das war nämlich der Grund, warum ich mich spontan der Höhlenforschungstour angeschlossen habe.“
„Ich kann dich total verstehen.“ Muri verschränkte die Arme vor der Brust. „Also hat André dich beinahe auf dem Gewissen gehabt. Dem Arsch poliere ich die Fresse.“
„Hey, Türke, bleib friedlich.“ Anton grinste Muri an und erhielt von ihm einen Rippenstoß. „Lass Tiger in Ruhe weitererzählen.“
„Mit wem simst du eigentlich ständig, wenn es sich dabei nicht um André handelt?“, wollte Rina wissen.
„Das würde ich ebenfalls gerne erfahren.“ Carstens Gesicht verzog sich süffisant.
„Das wäre nun Punkt Zwei. Ich habe mich auf der Expedition neu verliebt.“ Tiger begann seinen Freunden von Bernd zu berichten und fügte ihre merkwürdige Beziehung seinem früheren Bericht über die Erlebnisse im Harz hinzu.
„Du hast einen heterosexuellen Mann verführt?“ Anton staunte.
„Ja … Nein … So war das nicht.“ Tiger wusste nicht, wie er seinen Freunden die Situation klarmachen sollte. „Wir hatten Todesangst, waren kurz vor dem Kapitulieren. Bernd hat zudem seit seiner Kindheit eine Phobie vor der Dunkelheit. Unsere Kameraden wurden erschlagen und wir haben stundenlang neben einem Sterbenden gesessen, der von Felsen zerquetscht wurde. Wir wussten nicht, ob wir da lebend rauskommen würden. Dieses Sexuelle zwischen uns war das Einzige, was uns bei klarem Verstand hielt. Es gab uns Kraft und zeigte, dass wir einander hatten. Bernd hat mir immer zu verstehen gegeben, dass aus uns nichts werden würde, falls wir es ins Freie schaffen. Trotzdem habe ich mich in ihn verliebt.“
„Oh mein Gott. Das ist tragisch.“ Rina schüttelte fassungslos den Kopf. „Tiger, du suchst dir dauernd den Falschen aus.“
„Nein“, murmelte Tiger. „Bernd ist der Richtige. Seine sexuelle Orientierung ist selbstverständlich ein Problem. Ich bin schon glücklich, dass er den Kontakt zu mir hält.“
„Das ist sicherlich nicht die komplette Geschichte, oder?“, erkundigte sich Anton. „Das hättest du uns sonst viel gemütlicher bei einem Bier erzählen können.“
„Punkt Drei.“ Tiger wischte sich übers Gesicht. „Ich habe meine Wohnung gekündigt.“
„Klar.“ Rina zuckte mit den Schultern. „Ich würde auch nicht mehr in den vier Wänden wohnen wollen, in dem ich mit meinem Ex zusammengelebt habe. Wenn du jemanden für den Umzug brauchst, helfen wir natürlich gern.“
„Ich habe keine neue Wohnung.“ Tiger schnaufte. „Ich habe noch nicht einmal gesucht.“
„Und dann kündigst du einfach?“ Fassungslos starrte Carsten ihn an.
„Tja. Verrückt, nicht wahr? Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht in Göttingen bleiben möchte.“
Schockiert starrten ihn seine Freunde an.
„Wo willst du denn hin?“
„Was wird aus dem Laden und mit uns?“
„Bist du irre?“
Die Fragen prasselten auf ihn nieder wie Felsen auf behelmte Köpfe. Tiger wäre um ein Haar zurückgewichen. Stattdessen umklammerte er die Stuhllehne, vor der er stand.
„Himmel! Wird dir schlecht? Du bist furchtbar blass.“ Muri packte ihn am Arm und bugsierte ihn auf den Stuhl. „Rina, hol bitte einen Schluck Wasser.“
Ein paar Sekunden später bekam er ein Glas Wasser in die Hand gedrückt.
„Danke.“ Er nahm einen tiefen Zug.
„Es geht dir nicht gut, nicht wahr? Du bist längst nicht über den Berg.“ Rina tätschelte mitfühlend seine Hand.
„Warst du nicht bei einem Psychiater?“, fragte Anton.
„Der war ein Idiot. Ich werde mir einen anderen suchen.“
„Geht es wieder?“, wollte Rina wissen.
Tiger nickte. „Ich will bloß weg. Etwas anderes anfangen“, sagte er und sah seine Freunde verständnisheischend an. „Nur weiß ich bislang selbst nicht genau, was das sein soll.“
„Okay“, brummte Muri. „Das ist deine Entscheidung. Du musst wissen, was du tust, selbst wenn es mich nicht glücklich macht. Sobald du irgendwo eine neue Bude hast, erwarten wir allerdings eine fette Einweihungsparty.“
„Das ist das Mindeste, was ihr erwarten könnt.“
„Was ist mit dem Laden?“, fragte Carsten.
„Ich wollte ihn verkaufen“, antwortete Tiger zögernd. Erneutes Protestgeschrei erscholl rings um ihn herum. Er hielt sich augenrollend die Ohren zu, bis es endlich verstummte.
Anton zog ihm die Hände weg und schüttelte den Kopf. „Warum verkaufen? Er läuft prima. Und du machst auf mich nicht gerade den Eindruck, dass dir diese Option gefällt.“
„Du traust dich nicht mehr auf eine Tour.“ Rina traf den Nagel auf dem Kopf.
Tiger seufzte. „Genauso ist es. Mir sitzt die Angst im Nacken und ich befürchte, dass ich keine Tour mehr sicher führen kann. Ich bekomme Schweißausbrüche und das große Flattern, sobald es dunkel wird.“
„Grundgütiger! Das können wir ja verstehen. Trotzdem … Gleich den Laden verkaufen?“ Carsten schüttelte den Kopf.
„Ich hätte da einen Vorschlag: Tiger könnte sich zukünftig um Buchführung, Internet und Buchungen kümmern“, sagte Muri. „Das kann er genauso gut von München, Hamburg, Köln oder dem Mond aus machen. Dafür übernehme ich seinen Anteil an Touren. Ich hatte ohnehin vor, dich darauf anzusprechen, Tiger. Ich wollte gerne weg vom Schreibtisch und mich mehr als Guide einbringen.“
„Super!“ Carsten ging begeistert auf die Idee ein. „Auf diese Weise könnte der Laden beinahe wie üblich ablaufen.“
„Und wer soll hier die Verantwortung übernehmen, wenn Tiger fort ist?“, fragte Anton skeptisch.
„Na, du!“ Rina grinste ihn an. „Du bist Tigers ältester Freund. Ihr beide wart die Ersten in diesem Laden.“
„Ich?“ Anton fuhr mit den gespreizten Fingern über den Bürstenschnitt. „Du hast den Laden ja auch geführt, als wir Tiger für tot hielten“, sagte Muri.
Fragend schaute Anton Tiger an. Der fühlte sich gerade mindestens genauso überrumpelt wie sein Freund.
„Wem könnte ich mehr vertrauen als meinem Sandkastenkumpel?“, wollte er wissen. Muris Idee gefiel ihm immer besser, je länger er darüber nachdachte.
„Das ist eine Menge Verantwortung“, brummte Anton. „Da würde ich gerne eine Nacht drüber schlafen.“
„Fakt ist, dass Tiger ohnehin eine Auszeit benötigt. Wir hätten das Geschäft also sowieso eine Weile allein leiten müssen, wie sonst auch, wenn Tiger Urlaub genommen hat oder wir ihn irrtümlich auf den Friedhof verbannten. Warum machen wir für heute nicht erst einmal Schluss, denken darüber nach und reden morgen weiter?“ Muri blickte von einem zum anderen. Jeder nickte oder murmelte seine Zustimmung. Tiger war erleichtert. Es wäre ihm schwer gefallen, seinen Laden zu verkaufen, andererseits war ihm keine andere Lösung eingefallen. Und er wollte Göttingen wirklich verlassen. Mit dem Gedanken freundete er sich von Minute zu Minute mehr an. Auf die Idee, lediglich die Strukturen innerhalb des Geschäfts zu ändern, war er gar nicht gekommen. Vielleicht konnte er von seinem neuen Wohnort aus sogar eine Zweigstelle errichten, sobald er sich dazu in der Lage fühlte.
Was denke ich da bloß? Eben wollte ich noch verkaufen und plötzlich grüble ich übers Expandieren nach?
„Kann ich dich zu Hause absetzen?“, fragte Carsten, während die anderen ihre Sachen zusammenpackten.
„Das ist nett. Ich bin aber mit dem Fahrrad da.“ Weit radeln musste er nicht. Nur vier Kilometer, das schaffte er locker.
„Das ist dir total ernst, nicht wahr? Ich meine, das Ding mit diesem Bernd?“
Tiger nickte. „Er ist der richtige Mann für mich“, gestand er leise.
„Himmel, dich hat es wirklich schwer erwischt. Obwohl du weißt, dass er deine Gefühle nicht erwidert?“
„Da bin ich mir nicht ganz sicher.“ Die Möglichkeit, dass sie ein Paar werden würden, schätzte er ehrlich gesagt bei Minus Zwei ein, das musste er Carsten jedoch nicht verraten.
„Mensch, Tiger, verrenn dich bitte nicht. Mit deinen Erlebnissen unter Tage hast du bereits eine mächtige Baustelle. Fabrizier auf keinen Fall die nächste.“
Er hatte die künstlichen Kerzen aufgestellt, sich anschließend auf sein Sofa gesetzt und das rosafarbene Schwein auf dem Kaminsims angestarrt. Zwischendurch hatte er mit Tiger gesimst. Es hatte ihm nicht gereicht. Er vermisste den Freund. Eine Weile hatte er versucht, sich anhand des Fernsehprogramms abzulenken. Als das nicht fruchtete, holte er sich von den Frikadellen und dem Kartoffelsalat, schnappte sich eine Flasche Bier und setzte sich mit der Mahlzeit in den Garten. Langsam und bedächtig begann er zu essen, kaute auf jedem Bissen eine Ewigkeit herum, als wäre es sein letzter. Gegen dieses Gefühl kam er nicht an, selbst wenn er sich große Mühe gab.
Du hast einen Totalschaden. Das Wissen darum half ihm leider nicht weiter. Er hätte seinen Psychiater anrufen müssen, hatte sich dazu allerdings nicht aufraffen können. Antriebslos … Es ging bergab mit ihm. Bernd seufzte.
Eine Stunde später war er mit seiner Mahlzeit fertig. Er stellte das Geschirr auf den Rasen und lehnte sich auf der Bank zurück. Die Bierflasche hielt er mit beiden Händen umklammert. Ein frischer Windhauch streifte sein Gesicht, es roch nach den Rosen, die üppig neben der Bank wuchsen, und ein Amselpärchen hüpfte auf der Suche nach Würmern an ihm vorbei. Es war friedlich und er genoss es wirklich, hier draußen zu sitzen. Trotzdem fehlte etwas. Bernd stellte die Flasche ab, schnappte sich das Geschirr und humpelte ins Haus. Den Teller packte er in die Spülmaschine und kehrte danach ins Wohnzimmer zurück, wo er die Sau vom Kaminsims holte. Das Plüschschweinchen presste er an seine Brust.
Allein.
Allein.
Er war allein.
Fest kniff er die Augen zu. Jetzt war es dunkel. Würgend rang er nach Atem, versuchte das aufkommende Zittern zu unterdrücken. Seine Finger gruben sich tief in den Plüsch. Dann schrie er auf – vor Schmerz, denn er war auf die Knie gesackt. Während ihm der Schweiß in Bächen über den Rücken lief, kniff er weiterhin die Lider zusammen. Er konnte es packen! Er konnte …
„Incoming Message!“
Das unerwartete Eingehen einer Nachricht auf seinem Handy verursachte ihm beinahe einen Herzinfarkt. Bernd riss die Augen auf. Er lag seitlich auf den Fliesen und hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt.
„Du liebe Güte! Ich bin dermaßen gestört, ich Weichei überstehe nicht einen Nachmittag ohne ein Kindermädchen. Ist das zu fassen?“ Mühsam richtete er sich auf, massierte eine Weile sein übel pochendes Knie und zog danach sein Handy aus der Tasche.
Tiger!
Tiger hatte ihm eine WhatsApp geschickt. Hastig rief Bernd die Nachricht auf.
*Bin mittlerweile zu Hause. Werde mich früh schlafen legen. Irgendwie bin ich ständig müde. Wie geht es dir?*
Bernd ahnte, woran das lag. Auch Tiger schlief keine Nacht durch, sondern schreckte ständig auf. Ihre Hirne gaukelten ihnen einstürzende Felsdecken vor. Sie schmeckten den Steinstaub auf ihren Zungen und hatten das unheilvolle Poltern in den Ohren. Und Bernd wusste ganz genau, wie sich Peers tote Finger in seiner Hand angefühlt hatten. Er biss sich auf die Lippe und tippte eine Antwort. *Alles bestens. Mir geht es wunderbar.*
*Klingt prima. Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.Mach’sgut.*
*Träum was Schönes.*
Bernd saß da, die Glückssau zusammen mit der schwerwiegenden Einsamkeit auf dem Schoß, und starrte auf das Handy. Erst nach Minuten steckte er es ein, erhob sich mühsam und schnappte sich eine der neu erworbenen Kerzen. Mit ihr und dem Plüschschwein humpelte er in den Garten zurück. Erneut ließ er sich auf der Gartenbank nieder und nahm die Bierflasche auf. Ob etwas Stärkeres ihm später beim Einschlafen helfen würde? Bernd streichelte die Sau. Er würde sich nachher in den Keller wagen. Dort hob er ein paar Alkoholika in einem Regal auf. Und morgen würde er den Termin bei dem Psychiater machen. Bestimmt!
Er lag wach. Immer noch. Mit leiser Musik hatte er es versucht, mit Schäfchenzählen, auf dem Bauch und auf dem Rücken liegend. Keine Chance. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Es war, als ob das Sandmännchen gehässig einen großen Bogen um seine Wohnung schlug.
„Kommt ein Wölkchen angeflogen, schwebt dabei ganz sacht. Und der Mond am Himmel droben, hält derweil schon Wacht“, sang er leise. „Warum kann dieser verfickte Kerl haschen, bis er auf Wolken schwebt, mir aber keinen Sand in die Augen streuen, damit ich verdammt noch mal schlafen kann?“
Wie erwartet erhielt er keine Antwort. Tiger seufzte.