Untier hat das letzte Wort - Sandra Busch - E-Book

Untier hat das letzte Wort E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Was haben Björn und sein Untier gemeinsam? Sie wohnen in einer WG, sind beide vom Pech verfolgt und werden von unerwiderter Liebe geplagt. Das Chaos wird perfekt, als die Freundin von WG-Kumpel Mario einzieht. Können ein sorgenvoller Bruder, die Polizei und eine Motorradgang Björn aus den Fettnäpfchen retten, in denen er ständig landet? Und bekommt er seinen Nutella-Mann? Oder hat Untier wieder das letzte Wort?

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Sandra Busch

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2015

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com/

Bildrechte:

© Andrey Kiselev – fotolia.com

© Praisaeng – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-945934-29-6

ISBN 978-3-945934-30-2 (epub)

Woche 1

Mittwoch

Er kommt angesaust, zieht erst im letzten Moment die Bremse und lässt das Hinterrad geschickt einen Neunzig-Grad-Winkel in der Luft beschreiben, bevor er das Rad in den dafür gedachten Ständer schiebt und es mit einem Spiralkabelschloss sichert. Wie stets trägt er auch heute seine bunt geringelte Beanie, die bis kurz über seine haselnussbraunen Augen gezogen ist. Es ist diese faszinierende Farbe, die mich daran erinnert, dass ich ein neues Glas Nutella kaufen muss. Ansonsten wird mein Mitbewohner und bester Freund Mario eine mittelschwere Krise erleiden. Seit ich diesem absoluten Traummann über den Weg gelaufen bin, habe ich selbst ein Faible für den cremigen Brotaufstrich entwickelt. Okay, ich bin ihm nicht über den Weg gelaufen, sondern in den Weg. Was zur Folge hatte, dass ich Fünftausend-Heb-Auf spielen durfte, da sich die Kopien für Herrn Reichert, meinem Dozenten für Kunsttheorie, über den ganzen Flur der Uni verteilten. Der Dozent war leider unfreiwilliger Mitbeteiligter dieses kleinen, wenn auch nicht unspektakulären Unfalls. Mit ihm wurde es quasi ein flotter Dreier.

„Hoppla!“, hatte der lebende Traum gesagt und sich zeitgleich mit mir nach den Kopien gebückt. Natürlich mussten unsere Köpfe mit einem deutlich hörbaren Plopp! gegeneinander donnern. Dabei fiel mir prompt meine Brille herunter und für ein paar Sekunden verwandelte sich mein Umfeld in eine verschwommene Welt. Glücklicherweise brauchte ich deswegen das schmerzverzerrte Gesicht meines heimlichen Schwarms nicht zu ertragen. Lediglich sein gequältes Stöhnen drang an meine Ohren, während ich nach meiner Sehhilfe tastete und sie zurück auf meine Nase bugsierte. Das Stöhnen reichte ohnehin aus, dass ich mich schrecklich schuldig fühlte.

Lionil Wilder.

Durch dezente Herumfragerei habe ich seinen Namen herausgefunden. Lionil!

Ein wunderschöner Name, perfekt um gehaucht zu werden, während man vor Ekstase wie eine Sternschnuppe verglüht.

Dieser wahnsinnig attraktive Lionil mit dem Nutellablick ist zweiundzwanzig, oft im Schwimmbad anzutreffen und geht gerne joggen. Beides könnte mein Lieblingssport werden. Hmpf, nicht dass ich überhaupt irgendeinen Sport betreibe. Ich bin eher der Stubenhocker … Jedenfalls studiert Lionil Produktdesign. Er ist der Sohn des nicht gerade armen Rollstuhlfabrikanten Klemens Wilder und will sicherlich irgendwann Papas Firma übernehmen.

Tag für Tag ist Lionil von einer ganzen Traube lärmender Freunde umringt und wird von sämtlichen Mädels der Uni angehimmelt. Und er kommt mit einem schwarz glänzenden Kreidler Dice-Fahrrad dahergebraust. Gegen dieses Schmuckstück kann mein altes, klappriges, dazu noch violettes Fahrrad, das ich günstig bei einem Rampenverkauf geschossen habe, nicht anstinken. Und statt einer italienischen Mutter, die eine gefragte Innenarchitektin ist, kann ich bloß einen älteren Bruder vorzeigen, der immerhin als Filialleiter bei Burger King malocht. Meine Eltern sind vor vier Jahren ausgewandert und vermieten wenig spektakulär auf Ibiza Sonnenschirme und Liegestühle am Strand. Mit dem mageren Einkommen können sie mir kein Kreidler Dice sponsern, sondern höchstens mal einen Fuffi zum Geburtstag schicken. Mir ist das egal. Ich lebe nach dem Motto: Geld allein macht nicht glücklich. Nutellabraune Augen dagegen schon …

Nun hocke ich cooler Student der schönen Künste total lässig auf der Rückenlehne einer Bank vor der Uni und starre von diesem Beobachtungsposten aus meinen Traumtypen an, der mit seinen neongrünen Chucks die Fahrradständer verlässt und in Richtung Unigebäude schlendert. In meinen Gedanken steuert er geradewegs auf mich zu, ein verruchtes Lächeln in seinem Gesicht. Beinahe kann ich seine perfekten Lippen auf den meinen spüren.

Tagträumer!

Ich verrenke mir den Hals, um Lionil hinterher zu himmeln – bis plötzlich die Bank kippt. Offenbar habe ich mich zu weit zurückgelehnt. Alles Armrudern nützt nichts, ich krache mit diesem verdammten Ding um und klemme mir zum schadenfrohen Gelächter sämtlicher Studenten der Umgebung ziemlich schmerzhaft das Bein ein. Ein mattes Kopfheben zeigt mir, dass Lionil dieses Unglück mitbekommen hat. Wie hätte es auch anders sein können? Er grinst von einem Ohr zum anderen. Jetzt wird er mich garantiert für den Volldeppen der Nation halten. Seufzend bleibe ich einen Moment wie erschlagen liegen, verberge das Gesicht in den Händen, verfluche stumm das Schicksal und mich gleich dazu. Dann rutsche ich mühsam unter der Bank hervor. Natürlich kommt mir niemand zu Hilfe. Trottel will keiner unterstützen. Das würde bedeuten, sich in ihre unmittelbare Nähe begeben zu müssen und sich der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Feixen können sie dagegen alle. Vorbildlich stelle ich die Bank auf ihre Füße zurück und humple mit einem angeknacksten Ego davon. Es wird ohnehin Zeit, das Feld mit einem letzten Rest Würde zu räumen. Daheim wartet eine Menge Arbeit auf mich.

In der Hurtenstraße 23 öffne ich die schwere hölzerne Haustür, die von einer neuen Schnitzerei geziert wird. Neben einem Hakenkreuz, mehreren Zahlen – ob Lotto oder Telefonnummer erschließt sich mir nicht – einem Smiley und einem Strichmännchen hat sich ein Herz mit den Initialen R und L hinzugesellt. Ein rascher Check der Klingelschilder sagt mir, dass hier in den letzten Stunden weder ein R noch ein L eingezogen ist. Hätte mich ohnehin schwer gewundert. Niemand aus diesem ehrenwerten Haus würde es darauf anlegen, sich von Herrn Huber, dem Hausmeister, erwischen zu lassen. Herr Huber bekommt bereits einen Herzinfarkt, wenn eine Staubfluse in einer Ecke des Treppenhauses ihr Dasein fristet. Dagegen scheint es von anderen Bewohnern dieser Straße eine Art Mutprobe zu sein, Herrn Huber auf diese Weise herauszufordern.

Mario und ich teilen uns eine Zwei-Zimmer-Wohnung direkt unter dem Dach in der zweiten Etage. Er müsste Daheim sein, weil seine Tür geschlossen ist und seine gelben Sneaker im Flur stehen. Grelles Schuhwerk muss gerade voll trendy sein. Da meine alten grauen Sneakers noch heile sind, werde ich diesen Modewahn geflissentlich auslassen. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und betrete das Bad. Zu meiner Überraschung hängt über dem Waschbecken ein Strumpf. Mit zwei spitzen Fingern nehme ich ihn auf. Nylon! Ich finde, in einer anständigen Männer-WG haben hautfarbene Nylons nichts verloren. Den Strumpf lasse ich neben der Badewanne zu Boden fallen und drehe den Wasserhahn auf, um mir die Hände zu waschen. Aus einem unerfindlichen Grund klebt schwarze Schmiere an meinen Handflächen. Da fällt mir die Kosmetiktasche auf dem Schränkchen gleich neben dem Waschbecken auf. Sie ist Netzhaut ablösend Pink. Da Mario und ich beide kein Faible für Pink haben, wird mein lieber Mitbewohner mal wieder einen Übernachtungsgast eingeladen haben. Das bedeutet eine weitere Nacht Gestöhne und Gejuchze aus dem Nebenzimmer. Bedauernd blicke ich mein Spiegelbild an. Es schaut genauso mitleidig zurück.

„Und warum schleppst du keinen Sparringspartner mit nach Hause?“, frage ich mich beinahe vorwurfsvoll. Wenn man mich nach meinem Beziehungsstatus fragt, kann ich nur antworten: „Ich geh mit meiner Laterne …“

Woran scheitert es bloß? Weswegen bin ich ein ewiger Single? Die drei Wochen mit Andreas zählen ja aufgrund der Kürze nicht und sind bereits eineinhalb Jahre her.

Ich mustere mich eindringlich. An der Optik kann es nicht scheitern, denn hässlich finde ich mich nicht. Ich bin normaler Durchschnitt. Mein Körper ist zwar unsportlich, trotzdem schlank, die Haare sind langweilig blond, die Augen von einem wenig aufregenden Grünblau. Oder Blaugrün? Wohl eher undefinierbar. Vielleicht ist meine Brille im angesagten Nerd-Style an meinem Single-Leben Schuld, dabei soll deren schwarzer Rahmen meine Augen betonen. Das zumindest war die Vorstellung der Verkäuferin. Ich strecke mir die Zunge heraus. Außer der Tussi im Brillenshop scheint bisher niemand meine betonte Zone bemerkt zu haben. Nö, die Optik ist es nicht. Möglicherweise liegt es also daran, dass ich ein Tollpatsch bin.

Schlecht gelaunt schlurfe ich in mein Domizil. Dort schallt mir ein fröhliches „Da bist du ja, du kleiner Wonneproppen!“ entgegen. Untier sitzt auf seinem Käfig. Die Reste des Kabelbinders, mit dem ich seine Klappe festgezurrt habe, befinden sich fein säuberlich zerknabbert auf dem Teppich. Untier ist ein Beo, den ich von meinem Vormieter geerbt habe. Der ist ausgezogen und hat diese fliegende Mistratte einfach vergessen. Hastig forsche ich auf meinem Schreibtisch nach, ob alle wichtigen Papiere heil sind. Doch heute scheint sich der vermaledeite Vogel zurückgehalten zu haben. Es ist nichts weiter zerrupft worden.

„Ich habe geschissen“, verkündet Untier fröhlich und legt den Kopf schief.

„Super! Und wohin?“

Da ich keine Antwort bekomme, prüfe ich rasch mein Bett und den Teppichboden, weil ich bereits öfters in seine Bescherung getreten bin. Bei einem Vogel seiner Größe ist das kein Spaß. Untier verfolgt meine Suchaktion und pfeift dazu die Titelmelodie von Bonanza. Er kann sehr unterhaltsam sein, aber gelegentlich wünsche ich mir, dass sein Vorbesitzer weniger häufig den Fernseher angestellt hätte.

Zum Glück entdecke ich keinen Vogelschiss in meinen übersichtlichen sechzehn Quadratmetern mit einer illustren Dachschräge, unter der meine Staffelei und ein Regal voller Zeichenutensilien stehen. An der nächsten Wand befindet sich mein Bett, keines für Singles, doch auch kein Doppelbett, sondern etwas dazwischen. Schließlich will ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn ich mal einen Kerl mit hierher bringe. Wenn … Beinahe hätte ich gelacht. Der Kleiderschrank ist von Ikea und mit eher praktischen als stylischen Klamotten bestückt. Ein Übernachtungsgast hätte sogar ausreichend Platz für seine eigene Garderobe. Weshalb denke ich schon wieder an Besuch? An jemanden, den ich gerne abschleppen würde? Lionil …

„Mann, Björn! Reiß dich zusammen.“ Ich trete die Schuhe unter das Bett und ziehe unter Untiers wachsamen Blicken das T-Shirt aus, das nach dem Sturz von der Bank mit Sicherheit ein Fall für die Waschmaschine geworden ist.

Moment!

Was ist das?

„Bäääh!“

Da klebt Kaugummi dran. Wie eklig. Da ich von meiner Mutti weiß, dass man Kaugummi aus den Klamotten bekommt, wenn man sie frostet, wandere ich in das dritte Zimmer der Wohnung rüber, das gleichzeitig Küche und Wohnraum ist. Dort stopfe ich das Shirt in das Eisfach zwischen die Pizzen, angebrochene Pommes-Tüten und einer Packung Apfelstrudel. Nach kurzem Zögern nehme ich den Strudel raus und bette ihn in den Ofen um. Ein Mittagessen hatte ich nämlich noch nicht.

Bis der Apfelstrudel fertig ist, könnte ich ein bisschen an den Illustrationen für das Kinderbuch weiterarbeiten. Mit derartigen Zeichnungen verdiene ich mir neben dem Studium mein Geld. Untier fliegt zu mir und nimmt auf meiner Schulter Platz. Seinen Kopf schmiegt er mit einem leisen Kollern gegen meinen Hals. Er ist unheimlich verschmust. Streicheleinheiten gab es von seinem Vorbesitzer nie, wie mir Herr Huber, der Hausmeister, kurz nach unserem Einzug erzählt hat. Der hat den Beo gehasst und bloß behalten, weil er ein Geschenk seiner Mutter war. Dass Herr Huber den mitunter laut krächzenden Federwisch in seinem geheiligten Haus duldet, liegt daran, dass er ein wahrer Vogelnarr ist und in seiner Jugend Wellensittiche gezüchtet hat. Er hätte Untier gerne nach dem Auszug meines Vormieters übernommen, doch seine Frau hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Herr Huber ist eben ein echter Pantoffelheld und kehrt den Sheriff daher alternativ gegenüber den Mietern raus, weil er in seinen eigenen Wänden nix zu sagen hat.

„Willst du mich vögeln?“, zwitschert Untier mir allerliebst ins Ohr.

„Du hast ja wohl einen Vogel“, knurre ich und scheuche ihn weg. Beleidigt fliegt er auf das Regal, wo er seinen Unmut an einem Bleistift auslässt. Kopfschüttelnd suche ich mir einen Zeichenstift aus meiner Ablageschale heraus und beginne kleine Gespenster zu skizzieren.

Die Tür wird aufgerissen, ich bekomme beinahe einen Herzinfarkt vor lauter Schreck. Untier, der neben mir auf dem Schreibtisch sitzt, starrt zur Tür und erklärt mit Gangsterstimme:

„Es gibt eine Menge Löcher in der Wüste und ’ne Menge Probleme liegen in diesen Löchern begraben. Man muss es nur richtig machen. Ich meine, das Loch muss schon gegraben sein, wenn man mit einem Paket im Kofferraum aufkreuzt.“

„Björn Marschner! Was ist das?“

Untiers Zitat aus dem Film Casino ungeachtet spaziert Mario in meine Bude und hält mir anklagend das Backblech entgegen, auf dem etwas Schwarzes vor sich hin dampft.

„Apfelstrudel?“, rate ich.

Verdammt!

Über meine Arbeit habe ich völlig den knurrenden Magen und mein Essen vergessen. Nicht zum ersten Mal.

„Du fackelst uns noch ab, Björn.“ Mario seufzt.

„Ist hier etwa Weibsvolk anwesend?“, flötet es neben mir.

„Nein“, wendet sich Mario an den interessiert dreinblickenden Beo. „Lediglich eine ziemlich vergessliche Schwuchtel.“

Ich protestiere: „Redet nicht, als wäre ich nicht anwesend.“

„Genau das ist dein Problem, Björn. Du bist ganz oft ganz abwesend.“ Strafend schaut mich Mario an. „Die komplette Küche ist verqualmt. Lila dachte bereits, es würde brennen.“

„Lila?“ Mir fällt die grelle pinkfarbene Kosmetiktasche ein. Und was, bitteschön, ist Lila für ein Name?

Prompt verklärt sich Marios Miene. „Boah, Björn. Sie ist echt heiß. Superheiß! Ich glaube, dieses Mal bin ich wirklich verliebt.“

So sieht er auch aus. Alle Weiber fliegen auf ihn, ständig hat er zehn an jedem Finger hängen, die ihn regelrecht anbeten. Selbst ich hatte mal eine kurze Phase, in der ich in Mario verschossen war. Er hat rotbraune Haare und hübsche graue Augen. Außerdem versteht er sich darauf, sich modisch zu kleiden und damit seine körperlichen Vorzüge zu betonen. Groß, schlank, breite Schultern … und absolut hetero. Aber heute hat er einen besonderen Ausdruck im Gesicht. Ihn scheint tatsächlich Amors Pfeil getroffen zu haben.

„Willst du mich vögeln?“

„Du unmoralischer Flatterheini!“ Mario droht Untier mit dem Backblech, woraufhin sich der auf meine Schulter rettet. „Bestimmt täte dir ein Stecher gut.“

Bitte? Habe ich mich eben verhört? Oder meint er den Vogel?

„Na ja.“ Mario druckst verlegen herum. „Immer bloß Handbetrieb muss doch auf die Dauer langweilig werden.“

„Diskutieren wir gerade mein Sexualleben?“, frage ich entgeistert.

„Nein, eigentlich halte ich einen Monolog darüber. Ehrlich, Björn, warum suchst du dir nicht endlich jemanden zum Pimpern?“

Eine gute Frage.

„Weil mich keiner will?“

„Mir kommen gleich die Tränen.“ Mario verpasst mir eine Kopfnuss. „Wie soll dich einer wollen, wenn du ständig hier am Schreibtisch hockst?“

„Ich hocke nicht, ich arbeite. Damit verdiene ich mein Geld, damit ich mit dir zusammenwohnen kann, um mir solche Monologe anzuhören.“

„Komm doch morgen Abend mit Lila und mir ins Koma. Ich lade dich ein, da werden deine Finanzen also nicht drunter leiden.“

Ach du liebe Güte! Mich von Mario aushalten zu lassen, die ganze Zeit über sein Geturtel mit dieser Lila live, bunt und in Farbe miterleben dürfen und zahlreiche Verkupplungsversuche in einem Hetero-Club über mich ergehen lassen, sind eine absolute Traumvorstellung von mir.

„Nein!“

„Du musst unter Menschen“, behauptet Mario.

„Ich muss diesen Strudel entsorgen.“ Ich pflücke meinem Freund das Backblech aus der Hand und lasse es gleich darauf fallen. „Autsch!“

„Ist dir der Begriff Topflappen geläufig?“ Mario schüttelt den Kopf, während ich abwechselnd wie wild mit meinen verbrannten Fingern herumwedel und auf die Kuppen puste.

„Mario?“, ruft eine weibliche Stimme.

Mein bester Kumpel wirft mir die Topflappen zu, die ich reflexartig auffange. „Meine Göttin verlangt nach mir.“

Ehe ich Pieps machen kann, flitzt er hinaus.

„Seid leise!“ Vielleicht sollte ich mir endlich Ohropax beschaffen. Seufzend mustere ich die Bescherung des verkohlten Apfelstrudels, der in meinen Teppich sinkt.

„Schöne Schweinerei.“

Auch Untier starrt von meiner Schulter auf den Kohle-Apfel-Matsch, bevor er sich mir zuwendet und bedächtig erklärt: „Du, Norbert, da hockt ein nackter Hetero auf deinem Wohnzimmertisch …“

„Gegen einen nackten Homo hätte ich nichts einzuwenden.“

Ich drehe mich auf die linke Seite.

Ich drehe mich auf die rechte Seite.

Ich wälze mich auf den Bauch und ziehe mir das Kissen über den Kopf.

Herrgott noch mal! Das ist ja nicht zum Aushalten.

Keuchen, Stöhnen, das rhythmische Knarren von Marios Bett.

Ich setze mich frustriert auf und schaue auf die Uhr. 0:24 zeigt sie mir an. Geschlafen habe ich nicht eine Minute lang. Nebenan in Marios Reich findet die zweite Runde in dieser Nacht statt. Seufzend wische ich mir über das Gesicht und reibe eine Ewigkeit an meinen Augen herum. Ich gönne Mario sein Glück von ganzem Herzen, aber könnte er es nicht ein wenig dezenter genießen? Plötzlich herrscht nebenan Stille.

Nanu?

Ich spitze die Ohren.

„Sind wir zu laut?“, fragt eine weibliche Stimme.

Ja, definitiv.

„Ach was“, höre ich Mario leichthin antworten.

„Er kann uns nicht hören?“

Vielen Dank, liebe unbekannte Lila, dass du dir Gedanken um den schlafbedürftigen Mitbewohner deines Liebhabers machst.

„Selbst wenn … Es stört Björn nicht. Der pennt garantiert tief und fest und träumt von einem perfekten Schwanz wie diesem.“

Ein Kichern.

Arschloch, denke ich gallig. Nebenan setzen die Geräusche aktiven Bettsports wieder ein.

„Ich halt’s nicht aus!“ Wütend hämmere ich mit der Faust gegen die Wand. Schlagartig kehrt Ruhe ein.

„Wer ist da?“

„Mario, du Witzbold! Wer soll das schon sein? Dein WG-Kumpel mit seinen Schlafstörungen!“, brülle ich gestresst.

„Sind wir zu laut?“

Eigentlich habe ich Untier für den Spaßvogel gehalten.

„Nein. Ich wollte lediglich vorsichtig fragen, ob ich in neun Monaten ausziehen muss.“

„Wir sind zu laut“, höre ich Mario seiner Lila etwas leiser erklären.

„Sag ich doch“, dringt es durch die Wand.

„Entschuldige!“, ruft Mario gleich darauf. „Wir sind jetzt leiser.“

Jupp, sie dämpfen ihr Gestöhne um genau ein Dezibel. Und ich nutze die nächste halbe Stunde, um mir mithilfe meiner Schere aus einem Radiergummi Ohrstöpsel zu schnitzen.

Donnerstag

Halb im Schlaf und damit total tranig wanke ich ins Bad, wo mich dichte Dampfschwaden erwarten. Offenbar hat Mario vergessen, nach dem Duschen das Fenster zu öffnen. Darum werde ich mich gleich kümmern. Zunächst ist erst einmal pinkeln angesagt. Ich streife meinen Slip herab und klappe den Klodeckel hoch, um mich auf die Brille sinken zu lassen. Komischerweise gluckert neben mir Wasser.

„Ein Sitzpinkler. Sehr vorbildlich.“

Ich erstarre regelrecht auf der Klobrille. Gleich darauf zieht eine Frauenhand den Duschvorhang beiseite, sodass ich erschrocken in ein von grüner Pampe bedecktes Gesicht glotzen kann. Einzig ein silberner Ring in der Unterlippe ragt aus der alienhaften Schmiere hervor. Zum Glück verdeckt reichlich Badeschaum weibliche Details. Mich hingegen verdeckt nichts.

„Hi, ich bin Lila.“ Sie winkt mir zu und lächelt.

Ich bin noch so fassungslos, dass ich keinen Ton von mir geben kann.

„Pinkel ruhig. Das stört mich nicht.“

Na, vielen Dank!

„Vielleicht stört es mich“, erkläre ich, von der momentanen Lage wenig begeistert.

„Warum denn? Du bist doch schwul. Hat jedenfalls der Mario behauptet.“

„Auch Schwule begrüßen ab und zu ein wenig Intimsphäre. Pinkeln gehört dazu.“

„Sorry. Dann stecken wir nun in einer blöden Situation, hm? Möchtest du, dass ich solange rausgehe?“ Lila macht Anstalten aus der Wanne zu steigen.

„Halt!“ Mein Aufschrei hält sie zum Glück zurück. „Bitte bleib sitzen.“

Ich will keine nackte Frau sehen. Ich will keine nackte Frau sehen. Ich will …

„Wenn ich mich umdrehe …“, fängt Lila wieder an.

„Ich muss pinkeln.“

Extrem dringend. Meine Blase platzt gleich und das Resultat würde kein schöner Anblick sein.

„Nur zu.“ Lila dreht sich demonstrativ um. „Soll ich den Wasserhahn aufdrehen oder ein Liedchen singen?“

„Hä? Wozu?“

„Um dein Plätschern zu übertönen.“

Ich überlege kurz. „Ein Lied wäre nicht schlecht.“

Lila räuspert sich, bevor sie loslegt:

„Regen, Regen, Tröpfchen …“

Sie hat eine hübsche Stimme und ich ertappe mich, wie ich ihr lausche, anstatt endlich Wasser zu lassen.

„… es regnet auf mein Köpfchen,

es regnet aus dem Wolkenfass …“

Endlich kann ich mich erleichtern. Schnell abschütteln und …

„… und alle Kinder werden nass.“

… zack! Rauf mit dem Slip.

Spülen.

Befreit atme ich auf.

„Hat ein heißer Typ wie du einen festen Freund?“ Lila legt die Hände auf den Wannenrand und stützt ihr grünes Kinn darauf.

Ich verneine stumm, weil in meinem Mund mittlerweile die Zahnbürste steckt.

„Warum nicht? Du bist doch süß.“

Ich verdrehe die Augen.

„Nein, ehrlich. Mario glaubt, dass du verklemmt bist.“

Verräter! Was diskutiert der meine Beziehungsprobleme mit seiner Freundin? Ich spucke Zahnpasta und nehme einen Schluck Wasser, um den Rest ebenfalls loszuwerden. Nach ausgiebigem Gurgeln erkläre ich: „Du hast eine schöne Stimme.“

Lila strahlt mich an. „Danke. Im Kindergarten singen wir oft.“

„So einen Schwachsinn wie Schni-Schna-Schnappi?“

Sie kichert. „Genauso einen Blödsinn. Und wenn ich dieses dämliche Lied noch ein einziges Mal singen muss, erschlage ich die Gören.“

Schon wird sie mir sympathisch, diese grüne Lila. Ich schüttle die Dose mit dem Rasierschaum und gebe mir einen großzügigen Klecks auf die Hand, um mein Gesicht einzuschäumen.

In der Wanne giggelt es fröhlich. „Jetzt sind wir beinahe im Partnerlook.“

Ich betrachte mein weißes Antlitz und dann das Grüne von Lila. „Stimmt. Benötigst du auch eine Rasierklinge zum Entfernen?“

Lila lacht, während ich mich um meine Stoppeln kümmere. „Du hast Humor. Das gefällt mir. Mario hat recht, dich muss man einfach mögen.“

Du lustiges grünes Monster, erzähl das ruhig dem schnuckeligen Nutella-Traum.

Irgendetwas treibt sie gerade in der Wanne, denn das Wasser plätschert erneut. Ich kann allerdings gerade nicht rüberschielen, weil ich damit beschäftigt bin, meine Achseln zu rasieren. Ich hasse es, wenn sich dort ein Urwald bildet. Eine andere Stelle, an der ich Haarwuchs ebenfalls furchtbar finde, spare ich heute lieber aus.

„Tut mir leid, dass wir heute Nacht etwas laut waren und dich gestört haben.“

Ich spüle den Rasierer ab und greife mir ein Handtuch, um die letzten Schaumreste abzuwischen. Dabei drehe ich mich zu Lila um, die … Donnerwetter!

Die grüne Pampe ist abgewaschen und mir blickt ein herzallerliebstes Gesicht entgegen. Sie hat Grübchen in den Wangen. Ich setze meine Brille auf und betrachte sie mir genauer. Lila lächelt unter meiner Musterung.

Himmel!

Um ihre tolle Haut könnte ich sie direkt beneiden.

„Und? Bestanden?“

„Mario erwähnte gestern eine Göttin, das kann ich unterschreiben. Ist deine Augenfarbe echt oder sind das Kontaktlinsen?“

Die Farbe ist von einem intensiven Grün, das ist mir wegen der erbsigen Pampe vorher gar nicht aufgefallen.

„Alles echt. Sogar die Titten. Kannste ruhig fühlen.“

Abwehrend hebe ich die Hände. „Nein!“

Lila grinst. „War ein Scherz. Auch die Haare sind nicht gefärbt. Ein natürliches Honigblond.“

Das kann ich nicht erkennen, da ihre Haare nass und damit dunkel sind.

„Björn, das Wasser wird allmählich kalt …“

Der Wink mit dem Zaunpfahl.

„Äh … ja … ich muss ohnehin los. Wir sehen uns sicherlich heute Abend. Bis später.“

„Tschüss“, ruft sie mir hinterher, als ich behutsam die Tür hinter mir schließe. Okay, Mario hat offenbar seine Prinzessin gefunden. Und wo, verdammt, bleibt mein Prinz? Ich suche ihn wirklich krampfhaft, aber er lässt sich leider den ganzen Tag über nicht aufspüren. Wahrscheinlich reitet der mit seinem lahmarschigen Gaul in den Sonnenuntergang, während ich vergebens hinter jeder Laterne nach ihm forsche.

Freitag

Was für ein wunderschöner Morgen. Ich möchte singen, tanzen und meine Mitmenschen vor den Bus schubsen, denn kaum bin ich aus der Haustür, da werde ich beinahe von zwei Joggern umgerannt. Durch einen raschen Sprung zur Seite rette ich mich, nur um die Tür eines Taxis ins Kreuz zu bekommen, weil der Fahrgast beim Aussteigen nicht aufpassen kann. Anschließend stelle ich genervt fest, dass mir eine Ulknudel die Fahrradkette vom Kranz runtergerissen hat. Nachdem ich die Sabotage repariert habe, sind meine Hände total verschmiert. Mein Shirt leider ebenso. Daher muss ich zurück in die Wohnung und mich schnell umziehen. Untier sitzt zum Glück noch in seinem Käfig, dessen Klappe wieder mit Kabelbinder gesichert ist. Vierfach!

„Wild Thing

You make my heart sing …”

„Halt den Schnabel”, fordere ich ihn auf, als ich mir das Shirt über den Kopf ziehe und in ein frisches schlüpfe.

„… you make everything groovy …“

„Du machst mich groovy. Und wie!“

„Ein Künstler, wie er im Buche steht. Im Strafgesetzbuch“, zwitschert Untier, als wäre er eine Anwältin im zu kurzem Rock.

„Dein unverschämter Schnabel wird dir früher oder später richtig Ärger einbringen. Ich muss los. Tschüss, du Aasgeier.“

„Doktor! Doktor! Sie haben Ihr Lungenhaschee liegen lassen!“, schallt es hinter mir her.

Lungenhaschee … Allein bei dem Wort überläuft es mich kalt.

Das Tass Kaff liegt genau neben der Uni und wird von Studenten regelrecht bevölkert. Das Essen ist gut und günstig, einige jobben hier als Aushilfe und man bekommt einen fantastischen Kaffee. Schwarz, stark und reichlich. Einen richtigen Muntermacher. Ich habe einen der winzigen Tische in einer Ecke ergattert und mir Rühreier, mit Schafskäse überbackene Tomatenscheiben, Speck und zwei Brötchen bestellt. Nachdem mein Apfelstrudel gestern Abend ausgefallen ist, knurrt mein Magen ganz erbärmlich. Ein riesiger Pott Kaffee ergänzt mein Frühstück. Oft kann ich mir das auswärtige Essen nicht leisten, aber ich habe unterwegs den Briefkasten mit den Gespensterskizzen gefüttert und hoffe seitens meines Verlags auf eine großzügige Kontospende. Auf den Knien balanciere ich einen dicken Wälzer über Druckgrafik und versuche mich beim Verspeisen meiner Mahlzeit auf Schrotschnitt, Montagedruck und Zinkätzung zu konzentrieren. Mein Ziel liegt darin, irgendwann gewinnbringend den Zeichenstift zu schwingen. Leider gehört Fotografie und digitale Bildbearbeitung ebenfalls zum Studium dazu. Da Computer für mich einen wahren Horror darstellen, freue ich mich auf die Vorlesungen zur Bildbearbeitung wie auf den Ausbruch einer Pestseuche. Vor allem weil die unterrichtende Dozentin zur Sorte spitzfindige aufgetakelte Fregatte gehört. Heute habe ich es zum Glück mit Professor Hilling zu tun, der seine Vorträge sehr interessant zu gestalten weiß, sodass mir das Lernen bei ihm Spaß macht. Schade, dass er nicht auch Malerei oder Perspektive gibt. Mein Hunger nach diesen beiden Fächern kombiniert mit seiner Freude am Lehren wäre eine wirklich gute Konstellation.

„Kann ich abräumen?“

Verwirrt schaue ich auf. Eine zierliche Brünette deutet auf meinen leergefutterten Teller und ich nicke lediglich kurz, weil ich gerade Stielaugen bekomme. Lionil betritt mit vier Freunden das Tass Kaff und steuert auf einen frei werdenden Tisch zu. Nur ein paar Meter trennen mich von meinem Schwarm, der seine Beanie zurechtzupft und anschließend Krümel von dem Tisch wischt. Mir wird schlagartig dermaßen warm, dass ich bereits befürchte, meine Brille könnte beschlagen. Speichel sammelt sich in meinem Mund, bestimmt fange ich gleich zu sabbern an. Ich starre auf seine perfekten Lippen, nicht zu voll, nicht zu schmal, elegant geschwungen … und stelle mir vor, wie sie über meine Brust gleiten und mich zärtlich küssen. Diese Lippen können extrem warmherzig lächeln, sodass ich dahinschmelze und froh bin, heute ordentlich auf einem Stuhl und nicht auf einer kippelnden Bank zu sitzen. Ich taste nach meiner Tasse, wobei ich diesen Wahnsinnstypen, der mit seinen Kumpels lacht und eine Bestellung aufgibt, ununterbrochen wie ein Beutetier anstarre. Es klappert und im nächsten Moment wird es erst ziemlich heiß auf meinem Hosenbein und dann unangenehm kalt und nass.

„Shit!“ Ich schüttle Kaffee von meinem Buch und greife nach der Serviette, um über die Hose zu wischen. Das kann echt nur wieder mir passieren.

Verdammter Mist!

Als ich den Kopf hebe, bemerke ich, dass mich die Studenten an den umliegenden Tischen mit teilweise belustigten und teilweise mitfühlenden Blicken bedenken. Ein paar Mädchen lachen leise und für die coolen Machos dieser Welt bin ich ein Vollloser. Auch Lionil sieht zu mir herüber und ich spüre, wie ich unter seinen haselnussbraunen Augen rot anlaufe. Besser, wenn ich den Schaden unbeobachtet auf der Toilette auf ein Mindestmaß reduziere. Beinahe fluchtartig verlasse ich meinen Tisch und stürze aufs Klo, wo ich mit den grauen Einmalhandtüchern wie wild über den nassen Riesenfleck auf meinem Hosenbein tupfe und wische. Zum Glück ist die Bescherung nicht im Schritt gelandet. Seufzend lehne ich mich gegen die Fliesen neben dem Waschbecken. Warum geschieht immer mir etwas derartig Dämliches? Eine Frage, die ich mir oft gestellt habe und wahrscheinlich noch öfter stellen werde. Bestimmt hat mir die dreizehnte Fee an meiner Wiege einen Gendefekt in die Motorik eingebaut. Grummelnd werfe ich die zerknüllten Papiertücher in den dafür vorgesehenen überlaufenden Mülleimer. Peinlich ist es vor allem, weil Lionil diese Unglücksserie ständig miterlebt.

Streich dir diesen Traum endlich aus dem Kopf. Der ist eine Hete und so unerreichbar für dich wie die nächste Galaxie.

Ein junger Mann kommt in die Toilette und steuert eine der Kabinen an. Mich beachtet er gar nicht. Diese Gegensätze sind schon merkwürdig. Entweder wird über mich gelacht oder ich falle niemandem auf. Muss ich mich erst lächerlich machen, damit mich meine Mitmenschen überhaupt wahrnehmen? Ein Wunder, dass ich bislang nicht depressiv geworden und in der Klapse gelandet bin.

Ab heute wird alles anders, schwöre ich mir. Ich streiche Lionil aus meinen Gedanken und konzentriere mich voll auf mein Studium. Mario hat bestimmt recht, wenn er meint, dass ich mir einen Freund suchen soll. Aber da mich ohnehin keiner will – wer, bitte sehr, mag tollpatschige Brillenschlangen? – kann ich ungestört meinem Ziel, ein fantastischer Maler zu werden, entgegenarbeiten.

Derartig entschlossen verlasse ich die Toilette und kehre zu meinem Tisch zurück. Dort packe ich den Wälzer über Druckgrafik in den Rucksack und überhöre geflissentlich das aufkeimende Gelächter in meinem Rücken. Ja, die Hose ist nass und ja, es ist Kaffee. Wie ungewöhnlich. Das Lachen, Kichern und Glucksen wird zunehmend lauter. Mit zusammengebissenen Zähnen schlängle ich mich an den Tischen vorbei, bis mich eine Hand am Arm aufhält. Zu meiner grenzenlosen Überraschung starre ich genau in Haselnussaugen. Boah, die sind wirklich Nutella pur! Hitze breitet sich von den fremden Fingern aus, läuft wie ein Flächenbrand über meine Haut, bis hin zur Körpermitte, wo sie ungewollte Reaktionen auslöst.

„Du hast da etwas am Fuß“, erklärt Lionil und lässt mich gleich wieder los.

Fuß? Nee, nicht Fuß. In meinen Shorts bettelt etwas regelrecht nach Aufmerksamkeit.

„Äh … was?“, stottere ich wenig geistreich.

Lionil deutet zum Boden. „Fuß“, sagt er langsam und deutlich. Ich folge dem deutenden Finger und entdecke, dass ich einen Streifen Klopapier unter der Sohle meiner Sneakers kleben habe.

Himmel!

Meine Wangen glühen wie ein Lavafeld. Kein Wunder, dass alles feixt.

„Oh …“ Verlegen streife ich das Papier mit dem anderen Fuß ab.

„Kann ja jedem passieren.“

„Nein …“, antworte ich resigniert, doch da hat sich mein Traum bereits abgewandt und unterhält sich weiter mit seinen Freunden.

Wütend stapfe ich an die Kasse, um mein Frühstück zu bezahlen. Wütend, weil ich mich dauernd zur Lachnummer mache. Wütend, weil ich mit Lionil nicht einen vernünftigen Satz habe sprechen können. Herrgott, was für ein erbärmliches Gestammel! Ich werde nun in meine Vorlesung gehen und jedes Wort von Professor Hilling mitschreiben, damit ich zum Streber der Nation mutiere und wenigstens ein intellektueller Loser werde. Doch die Vorlesung muss noch warten, denn an der Kasse stelle ich fest, dass mein Geldbeutel nicht dort ist, wo er üblicherweise stecken sollte. Hektisch beginne ich in dem Rucksack zu kramen, während die Brünette, die mein Frühstück abgeräumt hat, Kaugummi kauend auf Bares wartet.

„Verdammt! Ich finde mein Geld nicht.“

„Karte geht ebenso“, sagt sie großzügig.

„Meine Karte ist im Geldbeutel und genau der ist verschwunden.“

Der Rucksack ist inzwischen neun Mal durchsucht. Was einfach nicht da ist, wird beim zehnten Mal ebenfalls nicht aus dem Nichts erscheinen.

„Kann ich anschreiben lassen? Ich fahre nach der Vorlesung nach Hause, besorge das Geld und bezahle dann sofort.“

„Wir sind doch kein Kreditinstitut.“

„Schon okay, ich übernehme das.“

Wieso läuft mir bei dieser Stimme dauernd ein warmer Schauer über den Körper? Lionil zieht ein paar Scheine hervor und bezahlt mein Frühstück. Ganz dicht steht er neben mir, dass sich unsere Schultern beinahe berühren. Das macht mich total nervös, ihn dagegen natürlich nicht.

„Hast gerade eine kleine Pechsträhne, hm?“, fragt er mich. Sein Lächeln bringt Gletscher zum Schmelzen und ich hilflose Pfütze am Boden bringe mühsam hervor: „Klein ist gut. Aber keine Sorge, ich bin nicht gestört – ich bin bloß eine limited Edition.“

Entgeistert starrt mich mein Traum an.

Oh Mann, Björn! Was haust du für blöde Sprüche raus? Spätestens ab diesem Zeitpunkt muss er mich für total bescheuert halten.

„Danke fürs Bezahlen. Ich gebe dir das Geld umgehend zurück.“ Und damit trete ich die Flucht an, natürlich nicht, ohne mir die Tür beim Öffnen vor den Kopf zu rammen.

Aua!

Untier sitzt auf meiner Schulter und beäugt aufmerksam Can und Till, die neben Mario meine besten Freunde sind. Sie sind schwul, das haben sie Mario voraus. Und sie sind seit drei Jahren ein Paar. Das wiederum haben sie mir voraus. Gerade hocken sie nebeneinander auf meinem Bett und versuchen mich zu einem Clubbesuch am heutigen Abend zu überreden. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass Mario sie angerufen hat, nachdem ich sein Angebot ausgeschlagen habe, mit ihm und Lila um die Häuser zu ziehen. Einfach, damit ich überhaupt mit irgendjemandem auf die Piste gehe. Till wehrt Untier ab, der es auf sein glitzerndes Nasenpiercing abgesehen hat, und der Blink-Blink-begeisterte Vogel schwirrt zu mir rüber.

„Sag nicht dauernd Nein, Björn. Wir waren ewig nicht mehr zusammen unterwegs.“ Can sieht mich streng an, wahrscheinlich, weil er es satthat, weiter auf mich wie auf einen kranken Gaul einzureden. Denn genau das tun die beiden seit ungefähr siebenunddreißig Minuten.

„Ein bisschen Bewegung schadet dir nicht“, fährt Can fort.

„Ich war heute im Bad, am Kühlschrank und gehe jetzt zum Bett. Das Wetter spielt auch mit“, erwidere ich im ätzenden Ton und marschiere demonstrativ zu meinem geschätzten Nachtlager. Na bitte, Bewegung …

„Wir werden uns mit dem Knutschen zurückhalten“, verspricht Till und zwinkert mir zu. Ich bin mir dabei nicht wirklich sicher, ob er hinter seinem Rücken die Finger kreuzt. Ich hasse nichts mehr, als mit einem Pärchen zusammen zu sein, das unentwegt miteinander knutscht, sodass man annehmen muss, das Nasenpiercing des einen hat sich in der Zahnspange des anderen verhakt. Till und Can sind ein derartiges Pärchen, nur dass Can keine Zahnspange trägt.

„Da der Ex-VP so ein VIP ist, sollten wir die PK auf dem WC und nicht im TV machen. Und dann sagt die MP zum KGB: LMAA.“ Untier gibt ungeniert seinen Senf zur Unterhaltung.

„Hä?“ Till runzelt die Stirn. „Was will der?“

„Good Morning, Vietnam“, murmle ich eine kurze Erklärung und wehre den Schnabel dieses Mistvogels ab, der mir ins Ohr zwickt.

„Komm schon, Björn. Du könntest zur Abwechslung ruhig jemanden flachlegen, anstatt die ganze Zeit im Zölibat zu leben. Das ist ja nicht gesund.“

„Ich liebe mein Zölibat“, protestiere ich.

„Du warst ewig nicht im Neptuns Reich. Der Darkroom ist renoviert worden. Der Boden ist inzwischen gefliest und besteht nicht mehr aus lauter Gummis“, versucht mich Can zu locken.

„Oh ja, klingt wahnsinnig reizvoll.“ Ich verdrehe die Augen.

Untier plustert sich auf. „Regierungen kommen und gehen, aber McDonald’s wird es immer geben.“

„Hat das Vieh Hunger?“, fragt Till irritiert.

„Ignorier ihn einfach.“

Untier löst sich von meiner Schulter und fliegt quer durch den Raum, um sich auf den Kleiderschrank zu setzen. Genau dort oben sollte ich mal wieder nach diversen Klecksen suchen, bevorzugt mit einem Lappen in der Hand.

Can schenkt derweilen Cola nach, er ist regelrecht süchtig nach dem Zeug. Die angebotene Eineinhalbliterflasche hat er beinahe geschafft.

„Sei ehrlich, Björn. Hast du heute Abend etwas Besseres vor?“, will er wissen.

Ich überlege ernsthaft.

„Bewerbungen schreiben? Außerdem könnte ich mir ein oder zwei zusätzliche Verlage suchen, die Illustrationen von mir haben wollen“, sage ich endlich langsam. „Das Bett muss neu bezogen werden und Untier benötigt einen sauberen Käfig.“

Till gähnt demonstrativ. „Mir ist fad. Man bringe mir den Hofnarren.“

„Verdammt, ich habe ein bisschen Kohle dringend nötig. Ich will nicht, dass Mario die Wohnung alleine zahlen muss, weil ich meine Miete nicht aufbringen kann. Das wäre mir extrem peinlich.“

„Ich denke, du hast da gerade das Gespensterding fertig.“ Can trinkt auf einem Zug sein halbes Glas leer und füllt gleich erneut nach.

„Üppig wird das nicht bezahlt. Außerdem habe ich es erst abgeschickt. Auf das Geld dafür werde ich garantiert ein paar Tage warten müssen.“ Langsam bin ich genervt. Das Studium schlaucht, dem schnöden Mammon hinterherrennen ist mühselig und diese Quengelei der beiden …

Untier flattert zu Till und lässt sich auf dessen Knie nieder.

„Er denkt, Watergate ist eine Wasserrutsche in Disneyland“, flötet das gefiederte Plappermaul.

„Echt?“ Till geht voll auf den Vogel ein.

„Glaub ihm kein Wort.“ Mit zwei Schritten bin ich bei ihm und pflücke Untier von seinem Bein. Der Beo kreischt und zappelt, trotzdem sperre ich diese fliegende Pest jetzt in den Käfig.

„Du olle Quasseltante“, zische ich ihn gereizt an.

„Huuu, Björn hat schlechte Laune.“ Till und Can grinsen sich an, bevor sie sich kurz küssen. Wahrscheinlich wird es nur aus lauter Rücksichtnahme auf mich kein Zehn-Minuten-Knutscher.

Untier hüpft auf eine höher liegende Stange und erklärt: „Ich erinnere mich noch an die ersten Worte meines Vaters, als ich ins Gefängnis kam: Herzlich willkommen.“ Er klingt tatsächlich beleidigt. Mir reicht’s. Daher werfe ich ein Handtuch über seine Einzelzelle, damit zumindest der blöde Vogel den Schnabel hält.

Plötzlich steht Till hinter mir und legt mir eine Hand auf die Schulter. „He, Mann. Wir haben schon ewig nichts mehr gemeinsam unternommen. Du vergräbst dich derartig in deinem Studium, dass wir dich kaum zu Gesicht bekommen.“

„Ich will es halt in der Regelstudienzeit schaffen“, brumme ich.

„Wenn es an der Kohle liegt, darfst du dich gerne eingeladen fühlen“, ergänzt Can, der in dieser Hinsicht immer sehr großzügig ist. Kein Wunder, sein Vater besitzt eine Großbäckerei, die so ziemlich jeden türkischen Laden der Stadt beliefert. Und eines Tages wird Can als glückliches Einzelkind diesen Laden übernehmen.

„Für ein Bier reicht meine Barschaft gerade.“

„Also nimmst du dir eine Auszeit vom Pauken und Jobsuchen und kommst mit?“ Erwartungsvoll sieht mich Till an. „Tanzen, coole Musik hören, ein bisschen saufen oder einen netten Quickie …“ Er gibt sich alle Mühe mich zu überzeugen. „Vielleicht findest du heute Abend deinen Traummann.“

Ich merke, wie ich wankelmütig werde.

Und Can merkt es offenbar ebenfalls, da er gleich einwirft: „Wenn du keine Lust mehr hast, kannst du ja jederzeit nach Hause fahren. Aber du solltest es wenigstens versuchen. Stell dir vor, da wartet tatsächlich der perfekte Kerl auf dich und du entscheidest dich für Sofa und Fernbedienung.“

„Ich hoffe, du glaubst nicht wirklich, dass ich im Feinripp auf diese Weise ständig meine Abende verbringe?“

„Und Gott sprach, es werde Licht.“ Untiers Zeichen dafür, dass ich das Handtuch wegnehmen soll, weil er wissen will, was rings um ihn herum abgeht.

„Dein Beo ist größenwahnsinnig.“ Till starrt auf den zugehängten Käfig.

„Ich denke darüber nach“, sage ich.

„Über den Größenwahn des Vogels?“

„Über heute Abend.“

Can erhebt sich und strahlt, als wäre es bereits entschieden. „Wir sind Punkt 21:00 Uhr vor dem Neptuns. Und wir warten genau fünfzehn Minuten. Wenn du bis dahin nicht da bist, kommen wir und holen dich. Bis später also.“

„Hmm …“, brummele ich.

„Tschau, Björn. Tschau, Untier“, ruft Till und hastet hinter Can her, der garantiert nach Hause will, um sich stundenlang aufzustylen.

Aus dem Vogelkäfig dringt ein Geräusch, als ob jemand versucht auf einem Faxgerät anzurufen. Im nächsten Moment bin ich allein. Allerdings nicht einmal für eine Minute, dann wird meine Tür ohne Vorwarnung aufgerissen. Das ist ja hier wie auf dem Bahnhof.

„Björn Marschner!“

Ich hasse es, wenn mich Mario mit komplettem Namen anspricht.

„Was gibt es denn, Mario Wagner?“

„Ist das dein T-Shirt?“ Mit spitzen Fingern hält er mir das Corpus Delicti entgegen.

„Willst du es dir leihen?“, erkundige ich mich irritiert.

„Nein. Zum einen, weil es schmutzig ist. Zum anderen, weil da Kaugummi dranklebt. Was macht das Ding im Eisfach?“

„Was machst du am Eisfach?“ Ich pflücke ihm das gefrostete Shirt aus den Händen und ziehe den Gummi ab, den ich in meinem Papierkorb entsorge. Sicherheitshalber stopfe ich Papier drüber, damit Untier beim nächsten Freiflug nicht auf die Idee kommt, mir das eklige Teil ins Bett oder sonst wohin zu packen.

„Lila und ich wollten uns eine Pizza machen. Magst du auch?“

„Ist noch eine Speziale da?“

Mario nickt.

„In diesem Fall sag ich nicht Nein.“

„Der Chefkoch hat’s vernommen und wird sie fachmännisch in den Ofen legen.“

„Danke.“

In der Tür hält Mario kurz inne. „Wie findest du eigentlich Lila?“, fragt er leise und auf eine Art, die gar nicht seinem üblichen Machogehabe entspricht.

„Ich denke, sie ist ganz nett.“

„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße.“ Jetzt ist er ehrlich empört.

„Okay, sie ist optisch eine absolute Wucht, Klammer auf, wenn man auf Tussis steht, Klammer zu. Sie hat eine fantastische Stimme, da könnte sogar ich schwach werden. Und sie findet mich süß.“

„Hat sie das gesagt?“

„Jupp.“

„Vielleicht solltest du das mal überdenken.“ Damit verschwindet Mario. Ich nehme meine Brille ab und poliere die Gläser am Saum meines Shirts. Wie war das wieder gemeint? Die Brille wandert auf meine Nase zurück. Und nun? Soll ich mir einen Schmöker vom Regal nehmen und mich aufs Bett flegeln oder den Rechner anwerfen und Kinderbuchverlagen Bittschriften schicken? Alternativ könnte ich mir ernsthaft überlegen ins Neptuns Reich zu gehen.

Vier Stunden später habe ich fünf Bewerbungen an verschiedene Verlage abgesandt. Jeder Bettelschrift um Arbeit habe ich einen Lebenslauf und mehrere Skizzen beigefügt, die den Verlegern zeigen, dass ich nicht gänzlich untalentiert bin. Meine Pizza habe ich anschließend selbst in den Backofen schieben müssen, denn Mario und Lila scheinen sich lieber von Liebe, statt von Junkfood ernähren zu wollen. Gerade sitze ich zusammen mit Untier am Tisch unserer Wohnküche, die in einem kräftigen Blau gestrichen ist, eine kleine Küchenzeile, einen Esstisch und ein gemütliches Sofa sowie zwei Sessel enthält. Natürlich darf der riesige LED-Fernseher nicht fehlen. Die Küchenmöbel sind rot. Bei der Farbe hatten wir keine Wahl, da die Kochgelegenheit zur Wohnung gehört. Das Sofa und die Sessel sind in Türkis gehalten, darauf hat Mario bestanden. Mir war es letztlich egal. Jedenfalls mag ich dieses Zimmer, es ist nämlich gemütlich. Und hier sitze ich also mit Untier zur Gesellschaft und teile mir mit dem Beo mein Abendessen. Untier pflückt sich die Pilze von der Pizza und wartet zwischendrin darauf, dass ich ihm auch kleine Stücke der Salami anbiete. Ich schiele dagegen auf die Uhr. Es ist gleich 19:30.

„Soll ich wirklich mit Till und Can ins Neptuns?“, frage ich Untier.

Der schluckt Salami herunter und krächzt: „Durch die Tür hinaus, zur linken Reihe, jeder nur ein Kreuz.“

„Vielleicht hast du recht. Pilz?“

Untier zieht ganz vorsichtig den Leckerbissen zwischen meinen tomatensoßenbeschmierten Fingern hervor.

„Küsschen“, sagt er mit schief gelegtem Kopf.

Ich lächle unwillkürlich. „Bitte sehr.“

Da taucht Lila auf, die sich die langen Haare mit einem Zopfgummi zusammenbindet. „Gibt es irgendwo Mineralwasser?“, fragt sie und steuert gleich den Kühlschrank an. Dass ich mit offenem Mund dasitze und sogar Untier geiert, bekommt sie scheinbar gar nicht mit. Sie trägt nämlich nichts weiter als einen schwarzen, knappen Slip und ein graues, bauchfreies Shirt mit Fledermausärmeln. Laaaaange Beine reichen bis zum Boden. Sie sieht wirklich dermaßen sexy aus, dass ich beinahe bedauere, ein rosa Bübchen zu sein. Lila hat das Wasser gefunden und trinkt gleich aus der Flasche. Anschließend schaut sie mich mit einem Zwinkern an.

„Mario ist unter der Dusche“, verrät sie mir, obwohl ich gar nicht gefragt habe. „Und was macht ihr hier?“

„Wir unterhalten uns.“

„Du unterhältst dich? Mit dem Vogel?“

„Klar, warum nicht?“

Lila stellt die Flasche weg und mustert Untier interessiert. „Kann er wirklich ganze Sätze von sich geben?“

„Er plappert dauernd. Gelegentlich möchte ich ihm den Schnabel mit Sekundenkleber zupappen. Untier, sag wenigstens Hallo zu Lila.“

„Du bist mein Typ“, zwitschert Untier prompt in den süßesten Tönen. „Ich stehe nicht auf gutaussehende Männer.“

Lila starrt ihn an und bricht dann in Lachen aus. Im nächsten Moment sitzt sie bei uns am Tisch. „Der ist ja genial.“

Ich zucke mit den Schultern und reiche dem Beo einen weiteren Pilz.

„Küsschen.“

„Ist das alles oder kann er mehr?“

Ich seufze. „Lila, der kann alles. Sämtliche Filme, die je gelaufen sind, rauf und runter. Dazu singt er. Mario hat ihm mehrmals mit einem Rauswurf gedroht, weil er überhaupt kein Ende findet.“

„Und du nennst ihn Untier?“

„Wie würdest du ihn nennen?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Warum fütterst du ihn mit diesem Zeug?“

„Weil er es mag.“

„Entschuldige, blöde Frage.“ Sie schnappt sich ebenfalls einen Pilz und bietet ihn Untier an. Doch der zeigt sich angesichts einer fremden Person in Sachen orale Gaben wählerisch. „Nein, vielen Dank. Die letzten zwanzig Minuten ertrage ich sein Gesicht auch noch so.“

„Du fliegende Arschratte!“, knurre ich.

Lila kichert und nascht den Pilz selbst. In dieser Sekunde gesellt sich Mario zu uns.

„Na? Vertragt ihr euch?“, will er wissen und greift sich mein letztes Pizzadreieck. Als er sich setzt, flüchtet Untier auf das TV. Er hält sich für gewöhnlich außerhalb von Marios Reichweite auf, seitdem der ihn gleich zu Anfang unserer Wohngemeinschaft zu dritt beinahe mit einem Küchenhandtuch erschlagen hat, nachdem Untier ihm in die Cornflakes gekackt hatte.

„Wo ist unsere Pizza?“, erkundigt sich Mario mit vollem Mund.

„Genau das habe ich mich vorhin gefragt. Wolltest du sie nicht in den Ofen schieben?“

„Da ist mir etwas Süßes dazwischengekommen.“ Er strahlt Lila an, die das Lächeln erwidert.

Gnaaaa!

Ich bin umzingelt von lauter verliebten Pärchen. Ich habe keine Freunde, ich habe lediglich eine ausgewählte Sammlung Irrer. Das ist als Single nicht auszuhalten. Also ab ins Neptuns Reich und her mit dem nächstbesten Kerl. Damit ist meine Entscheidung getroffen. Auf meinem Füller ist Druck, dank der vielen Sexualhormone rings um mich herum. Und ich habe keine Lust, die Tinte erneut allein zu verspritzen.

Die Türglocke bimmelt.

„Ich gehe.“ Mario reißt seinen liebestrunkenen Blick von Lila los und läuft zur Haustür, während ich resignierend den Kopf schüttle. Mario lernt es einfach nicht. Er öffnet die Tür und sieht sich einem leeren Treppenhaus gegenüber. Vom Fernseher ertönt gackerndes Lachen, gefolgt von einem sadistisch gehauchten: „Untier war bööööööse!“

Die Tür knallt ins Schloss.

Lila kringelt sich vor Lachen und ich grinse in Richtung Zimmerdecke, während Mario fluchend Jagd auf Untier macht, der rasante Runden durch den Raum dreht.

„Platz da, jetzt kommt Quacks der Bruchpilot!“

„Scheißvieh!“, schnauzt Mario verärgert.

Er fällt zu meiner insgeheimen Schadenfreude immer wieder darauf herein. Endlich strecke ich den Arm aus und Untier landet wie ein Jagdfalke darauf. Hastig klettert er bis zu meiner Schulter empor, wo er sich an meinen Hals schmiegt und mir ins Ohr piept: „Ich will nicht mit dem Bauch nach oben schwimmen! Ich will nicht mit dem Bauch nach oben schwimmen!“

„Keine Sorge, ich passe auf dich auf“, verspreche ich ihm, als er nachdrücklich gegen meinen Brillenbügel hackt.

„Von wegen. Diesem Spaßvogel reiße ich jede Feder einzeln aus.“

„Och, Mario. Lass doch den armen Kerl.“

Na, bitte. Untier hat Lila bereits um seine Krallen gewickelt. Ein paar blöde Sprüche und prompt fährt sie auf ihn ab. Warum bekomme ich auf diese Weise keinen Kerl? Vermutlich, weil ich es auf die Art nie probiert habe. Aber heute Abend, da habe ich ja nun die Gelegenheit.

Schnaufend lässt sich Mario auf seinen Stuhl fallen und beugt sich vor, um Lila auf die Wange zu küssen. „Ich verschone ihn bloß, weil du für ihn bittest“, haucht er.

Mühsam unterdrücke ich ein Stöhnen. Wie schwulstig!

„Heut frisst uns niemand auf. Heut frisst uns niemand auf. Ja ja ja ja, du machst Diääät!"

Betont langsam dreht sich Mario zu mir und Untier um.

Eilig springe ich auf. „Entschuldigt uns. Ich muss mich umziehen.“

Lila kichert, als ich aus der Wohnküche laufen will.

„Warte!“

Marios scharfer Ton lässt mich tatsächlich innehalten.

„Willst du weg?“, fragt er mich stirnrunzelnd.

„Mit Till und Can ins Neptuns. Warum?“

„Du gehst wirklich aus?“ Erstaunt zieht er seine Brauen in die Höhe.

„Was dagegen? Bei eurem ständigen Gevögel habe ich eben auch Lust zum Pimpern bekommen.“ Hoheitsvoll schreite ich davon und lasse Mario mit dieser Aussage zurück. Er kann ruhig die eine oder andere Minute nutzen, um über schalldichte Wände nachzudenken.

Als ich eine Stunde später im coolen Outfit – Jeans, Shirt, Sneaker und damit wie jeden Tag unverändert cool – meine Bude verlasse, krächzt Untier mir aus dem sechsfach gesicherten Käfig hinterher:

„Na, hoffentlich ist morgen früh jemand bei ihm, wenn er aufwacht und feststellt, dass er nichts mehr zwischen den Beinen hat.“

Ich drehe mich zu ihm um und verabschiede mich: „Küsschen.“

„Küsschen“, flötet es zurück.

Freitagabend … und Neptuns Reich ist rappelvoll. Till zieht mich in Richtung Bar und brüllt über den Lärm hinweg irgendetwas von Cocktails, die er bestellen will. In meinem Rücken befindet sich Can und schiebt mich voran, als wollte ich mich weigern, Teil des Gedränges zu werden. Wir haben Glück und können drei Barhocker erobern. Till schreit dem Barkeeper seine Bestellung zu und verbeißt sich anschließend in Cans Lippen. Dieser Eindruck wird jedenfalls in mir erweckt. Also doch das befürchtete Dauerknutschen. Ich ignoriere die beiden und lasse meinen Blick durch den Club schweifen. Alles ist in Blau- und Grüntönen gehalten. Fischernetze und Muscheln hängen an den Wänden und von der Decke. Über der Bar ist ein gewaltiger Meermann mit einem Dreizack aus Gips modelliert worden, dem der Club seinen Namen verdankt. Der überdimensionale Penis, den man dieser Figur verpasst hat, hätte meines Erachtens nicht unbedingt sein müssen. Auf diese Weise wirkt Neptun einfach nur pornomäßig. Gerade dröhnt Pokerface aus den Lautsprechern. Die Tanzfläche ist voller zuckender Leiber, die Lounge mit den schwarzen Bänken und ebenso schwarzen Lacktischen scheint voll besetzt zu sein und ab und an klappt die Tür zum Darkroom auf. Till bringt sich in Erinnerung, als er mir ein Glas mit einer Menge zerstoßenem Eis in die Hand drückt. Caipirinha wäre nicht gerade meine Wahl gewesen, aber einem geschenkten Gaul … Ich zuppel kräftig an dem Strohhalm und leere das Glas damit bis zur Hälfte. Das blöde Eis stört mich irgendwie, es verdirbt meiner Meinung nach den ganzen Geschmack.

„Ist doch toll hier, oder?“, fragt Can in meine Richtung und pflichtschuldig nicke und sauge ich. Der Cocktail ist geschlürft.

„Wir gehen tanzen. Kommst du mit?“, ruft Till.

„Ich trinke noch etwas. Vielleicht später.“

„Okay, mach das. Und wehe, wenn du gleich wieder nach Hause läufst.“

Meine Freunde verschwinden auf die Tanzfläche und ich ordere mir ein Cola-Rum. Bereits nach dem ersten Schluck stelle ich fest, dass der Barkeeper nicht gerade mit Alkohol gegeizt hat. Boah, ist das Halbe-Halbe? Macht nichts. Es schmeckt deutlich besser als der Caipi. Das finde ich jedenfalls noch nach dem dritten Cola-Rum. Meine schrumpfende Barschaft ignoriere ich einfach. Zum Glück sind die Drinks nicht überzogen teuer.

„Hi! Verrätst du mir deinen Namen? Oder darf ich dich gleich meins nennen?“

Ich drehe mich überrascht um. Ein Kerl steht mit einem breiten Grinsen vor mir, das seinen Schultern nacheifert. Das Licht aus den bunten Strahlern spiegelt sich in seiner Glatze. Er trägt eine Lederhose mit passender Weste, dazu das Szeneshirt eines Motorradclubs. Örrgs! Fährt der etwa auf die Kombi Biker/Nerd ab? Ich jedenfalls nicht.

„Ich bin in Begleitung“, behaupte ich daher.

„Ach ja? Ich sehe niemanden.“

Stimmt. Die Hocker neben mir sind leer.

„Muss daran liegen, dass es mein unsichtbarer Freund ist.“

„Haha, sehr lustig. Hat dein unsichtbarer Freund auch einen derartigen Monsterschwanz?“ Er greift sich in den Schritt, als wäre er Michael Jackson mitten in einem seiner berühmten Haaaahs.

„Es weiß doch jedes Kind, dass es nicht auf die Größe, sondern auf die Technik ankommt“, entgegne ich.

„Mit einem Zahnstocher kann man keine Sahne schlagen.“

Ich verdrehe die Augen, schnappe mir meinen Drink und rutsche vom Hocker. „Das ist ein Heten-Spruch, du Blödmann“, gebe ich ihm Bescheid und lasse ihn stehen.

Hey, ich habe gerade einem Macho einen Korb gegeben! Ich schwebe wie auf Wolken und fühle mich wie eine obercoole Sau, die an jeder Ecke einen Kerl kriegen könnte. Die Musik wechselt und es wird La Camisa negra