Miss Kim weiß Bescheid - Cho Nam-Joo - E-Book
SONDERANGEBOT

Miss Kim weiß Bescheid E-Book

Cho Nam-Joo

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach ihrem feministischen Weltbestseller »Kim Jiyoung, geboren 1982« widmet sich die koreanische Autorin Cho Nam-Joo weiterhin dem Schicksal von Frauen in ihrem Land, die unter den patrichalen Strukturen leiden. Acht Frauenleben werden beleuchtet und wieder gelingt es der Autorin, dass sich Frauen weltweit angesprochen fühlen.  »Miss Kim weiß Bescheid« versammelt die Leben von acht koreanischen Frauen zwischen 10 und 80 Jahren. Jede einzelne dieser stellvertretenden Frauenbiographien wird vor einem aktuellen gesellschaftlichen Thema in Korea verhandelt: das heimliche Filmen von Frauen in der Öffentlichkeit, hate speach und Cybermobbing auf Social-Media-Plattformen, häusliche Gewalt, Gaslighting, weibliche Identität im Alter und die Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz. Auch sich selbst, die plötzlich weltbekannte Autorin, nimmt sie ins Visier. Ihr Erfolg ermöglicht ihr einerseits, ihr Leben als Schriftstellerin komfortabel zu führen, andererseits lässt sie der Hass, der ihr vor allem im Netz begegnet, nicht kalt. Cho Nam-Joos Meisterschaft besteht in der glasklaren Sprache, in der sie ihre Prosa verfasst und gleichzeitig in dem genauen Blick auf die Ungerechtigkeiten Koreas, den sie mit nichts verschleiert, sondern im Gegenteil messerscharf zu Papier bringt. Wie schon bei »Kim Jiyoung, geboren 1982« sind auch die Schicksale dieser acht Frauen nicht annähern so weit von uns weg, wie wir meinen und hoffen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 322

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cho Nam-Joo

Miss Kim weiß Bescheid

Storys

Aus dem Koreanischen von Inwon Park

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Cho Nam-Joo

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Unter dem Pflaumenbaum

Trotz

Weggelaufen

Miss Kim weiß Bescheid

Lieber Hyunnam

Die Nacht der Polarlichter

Große Mädchen

Erste Liebe, 2020

Inhaltsverzeichnis

Unter dem Pflaumenbaum

Ich holte die Medizinbox aus dem Küchenschrank. Ich fand in kleinen Tüten abgepackte Blutdrucktabletten für etwa drei Monate, vier Fläschchen mit Augentropfen, eine Salbe, die mir der Arzt gegen meinen Juckreiz am Körper verschrieben hatte, eine Brand- und Wundsalbe, die ich im Frühling wegen einer Verbrühung an der Hand gekauft hatte, und die übliche Hausapotheke wie Verdauungsmittel, Schmerztabletten, Wundpflaster, Desinfektionsspray sowie japanische Schmerzpflaster. Die zwei abgelaufenen Fläschchen mit Augentropfen und die Brand- und Wundsalbe hatte ich eigentlich längst wegwerfen wollen, aber ich war immer noch nicht dazu gekommen. Neulich hatte meine Schwiegertochter in der Medizinbox nach der Narben-Creme gesucht. Bestimmt hatte sie die abgelaufenen Medikamente bemerkt, doch sie schien nachsichtig darüber hinwegzusehen.

Die Augentropfen mit dem gelben Verschluss sollte ich zweimal, die mit dem hellblauen viermal am Tag nehmen. Ich träufelte mir je einen Tropfen aus dem Fläschchen mit dem hellblauen Verschluss in jedes Auge. Die Augen brannten dann immer so stark, dass ich sie erst nicht öffnen konnte. Die Augenpraxis Dr. Cheong an der U-Bahn-Station war zwar weder besonders kompetent noch ausgesprochen freundlich, aber ich ging weiter dorthin, weil mir die Apothekerin im Erdgeschoss sympathisch war. Ich konnte mich immer noch an die Verwunderung und Aufgeregtheit erinnern, die mich damals bei der Eröffnung der Apotheke überkommen hatten. Die Apothekerin war eine alte Dame mit locker zusammengebundenen, ungefärbten grauen Haaren.

Sie hatte zwei noch kleinere Plastikfläschchen aus einer kleinen Schachtel geholt, auf die sie dann mit einem Filzstift jeweils 2x am Tag und 4x am Tag geschrieben hatte. Sie hatte das Fläschchen mit dem hellblauen Verschluss leicht geschüttelt und mir dazu erklärt:

»Es wird ein wenig brennen, aber die Tropfen wirken gut. Wenn die Jahreszeiten wechseln, greife ich auch immer darauf zurück. Aber Sie dürfen die Tropfen nicht über längere Zeit nehmen. Wenn der Juckreiz nach einer Woche nicht abgeklungen ist, sollten Sie wiederkommen.«

Dann hatte sie die Augentropfen in einen Apothekenbeutel gesteckt, auf den die Inhaltsstoffe und die Einnahmeanweisung aufgedruckt waren, und den Beutel an der einen oberen Ecke nach unten gefaltet. Ich mochte es, wie die Apothekerin die Ecke zu einem Eselsohr einknickte. Es half weder, den Beutel zu schließen, noch machte es ihn griffig, und dennoch knickte sie jedes Mal eine Ecke ein. Als wollte sie damit sagen: Fertig. Medikamente eingepackt. Alles erklärt. Wie ein schlichtes Auf Wiedersehen – eine charmante Geste.

Beim Blinzeln liefen mir dicke Tränen die Wange hinunter, und mit ihnen leider auch die Augentropfen. Als ich mir die Tränen am Ärmel abwischte, kamen sie mir echt vor. Ich weinte nicht, weil ich traurig war, vielmehr wurde ich erst, als mir die Tränen herunterliefen, von einer Trauer heimgesucht. Vor dem Küchenfenster bogen sich die dürren Äste im Wind.

 

In dem Pflegeheim, in dem meine älteste Schwester Kumju untergebracht war, gab es einen großen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Während das Gebäude mit seinen überwiegend kleinen Fenstern und Wandpaneelen insgesamt eher beengt wirkte, gab es im Gemeinschaftsraum eine große Fensterfront, durch die man auf einen Pflaumenbaum sah. Bei jedem meiner Besuche setzte ich mich mit meiner Schwester davor. Sie nahm dann immer meine Hand und sagte, ich solle sie wieder besuchen, bevor die Blüten abfielen. Ich besuchte sie zweimal, bevor die weißen Pflaumenblüten abgeblüht waren. Ich besuchte sie, als der Baum bereits vollständig mit Laub bedeckt war, und auch, als er alle Blätter wieder abgeworfen hatte. Trotzdem fragte mich meine Schwester jedes Mal, warum ich erst jetzt käme, und verlangte, ich solle wiederkommen, bevor die Blüten abfielen.

Kumju sah nicht mehr richtig, hatte kaum noch Zähne und litt unter Zahnfleischschwund; zudem hatte sie wegen verstopfter Herzkranzgefäße zwei Katheter-Eingriffe über sich ergehen lassen müssen. Das stand in keinem Zusammenhang mit dem Alzheimer. Es waren ganz gewöhnliche Alterserscheinungen. Waren das also keine Krankheiten? Oder war das Altern selbst eine Krankheit? Ich nahm mir vor, meine Schwester öfter zu besuchen.

Kumju hatte mich mehrmals gebeten, Pfirsiche mitzubringen, aber da es zu dieser Jahreszeit keine frischen gab, kaufte ich welche in Dosen. Ich brachte auch eine Packung Mundspülung mit, weil meine Schwester stark aus dem Mund roch, wenn wir eng beieinandersaßen und uns unterhielten. Ob die Mundspülung Verwendung finden würde, war allerdings fraglich. Denn als ich bei meinem letzten Besuch davon gesprochen hatte, hatte mir die Pflegerin, die sich besonders fürsorglich um meine Schwester kümmerte, prompt eine Predigt gehalten. Man könne sich den Magen verderben, wenn man die Spülung aus Versehen hinunterschlucke. Zu meiner Schwester hatte sie dann gesagt:

»Aus Ihrem Mund riecht es doch so süß. Wozu brauchen Sie da noch Mundspülung, nicht wahr?«

Meine Schwester hatte immer rissige Lippen, weil sie nie von sich aus Wasser trank und den Mund ständig leicht offen hielt. Sie presste ihre Lippen aufeinander, nachdem ihr die Pflegerin etwas Lippenbalsam aufgetragen hatte. Beim Betrachten meiner Schwester meinte die Pflegerin, sie fände sie anmutig.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, dass sie sehr anmutig ist.«

Meine Schwester hatte sich derart unerschrocken und verbissen durchs Leben geboxt, dass sich um ihren Mund und zwischen den Augenbrauen tiefe Falten eingegraben hatten, die aussahen, als hätte man sie mit einem Messer eingeritzt. Meine Schwester hatte immer angegeben, ihre Gesichtshaut sei glatt und geschmeidig davon, dass sie ihr Leben lang dem Dunst köchelnder Fleischbrühe ausgesetzt gewesen war. Aber als sie den Laden aufgeben musste, verlor auch ihre Haut die Geschmeidigkeit und rötete sich stattdessen immer stärker, ähnlich wie bei Betrunkenen. Zudem hatten sich Altersflecken auf ihrem Gesicht ausgebreitet. Und dieses Gesicht sollte anmutig sein?

»Wenn ich ihr den Balsam auftrage, presst sie wie jetzt nur leicht die Lippen aufeinander. Und wenn ich ihr etwas Creme auf den Handrücken gebe, verteilt sie sie erst mit dem Finger auf Wangen und Stirn, bevor sie sie einklopft. Nie schmiert sie sich grob damit ein. Ihre Teetasse stützt sie immer mit einer Hand ab und Bücher schlägt sie immer vorsichtig auf, damit sie am Rücken keinen Knick bekommen. Die Anmut ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen.«

Als Mädchen hatte sich meine Schwester für unsere Eltern um uns jüngere Geschwister kümmern müssen. Nach ihrer Heirat war sie aufgrund der Unfähigkeit ihres Ehemannes gezwungen gewesen, für zwei zu arbeiten, um ihre fünf Kinder zu ernähren und ihnen eine Schulbildung zu ermöglichen. Eigentlich keine außergewöhnliche Lebensgeschichte. Wenn ich an meine Schwester dachte, kam mir immer zuerst das abgegriffene Wort couragiert in den Sinn.

Ich hatte nicht gewusst, dass sie so gern las. Den ganzen Tag las sie, das Buch so weit wie möglich von sich haltend, und kniff dabei die nicht mehr ganz sehtüchtigen Augen zusammen. Ob in ihrem Zimmer, unten im Gemeinschaftsraum oder im Esszimmer – überall las sie. Meine Schwiegertochter hatte mir erzählt, dass es mittlerweile Großdruckbücher gab. Also abonnierte ich das Monatsmagazin Positives Denken in der Großdruck-Ausgabe für sie und brachte ihr ein paar Bestseller-Essaybände in Großdruck mit.

Eines Tages lag eine Ausgabe von Positives Denken im Schoß meiner Schwester, die eingenickt war. Die Pflegerin sagte mir, dass sie ständig beim Lesen einschlief. Vorsichtig nahm ich mir die Zeitschrift und fragte, ob meine Schwester Freude daran habe.

»Das ist schwer zu sagen. Es kommt nämlich oft vor, dass sie tagelang immer dieselbe Seite aufgeschlagen hält. Ich glaube, sie fühlt sich damit einfach wohl.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass meine Schwester gern liest.«

»Das erlebt man oft bei älteren Personen mit Demenz. Die, die sich nie verstellt oder verbogen haben, halten eisern an ihren Gewohnheiten fest, aber die, die Dinge unterdrückt haben, verändern sich, sobald ihr Gedächtnis nachlässt.«

Meine Schwester war im Alter zur Kirchgängerin geworden. Auf meine Fragen, wie man denn so ohne Weiteres gläubig werde und ob sie denn an Gott, Auferstehung, Himmelreich und dergleichen glaube, hatte sie nur erwidert Ist doch lustig. Kumju erzählte, dass sie auch mittwochs in die Kirche ging, weil dann ein Bibel-Lektürekurs für neue Senioren-Mitglieder wie sie angeboten würde. Sie sagte, sie würde jeden Tag nach einem Stundenplan in der Bibel lesen und daraus abschreiben, und sie sei Teil einer Lerngruppe, in der sich die Teilnehmer gegenseitig Fragen stellen konnten. Meine Schwester hatte ihre Tasche geöffnet und mir darin ihre Bibel, ihr Schreibheft und ihr Mäppchen gezeigt.

»Vorhin auf dem Heimweg habe ich Textmarker in Pink und Hellblau gekauft.«

Ich glaubte, von Glück sagen zu können, dass sie keiner zwielichtigen Organisation zum Opfer gefallen war. Wie leer und eintönig musste ihr das Leben vorgekommen sein, nachdem ihre Kinder längst großgezogen waren und sie den Laden hatte aufgeben müssen. Wenn sie versucht hätte, die Leere mit Kaffeefahrten und Verkaufsveranstaltungen oder der Zugehörigkeit zu einer Sekte zu kompensieren, wäre das eher ein Problem gewesen. Ich hatte sie nicht gefragt, warum es ausgerechnet die Kirche und Bibel-Lektüre waren und ob sie die winzige Schrift in der Bibel überhaupt entziffern konnte.

»Das ist eine gute Idee. Ob Kirche oder buddhistischer Tempel, ist doch unwichtig. Hauptsache, man findet dort Halt.«

Meine Schwester schenkte meinen abgedroschenen Worten damals keine Beachtung. Ich hatte das alles längst vergessen: die Religiosität meiner Schwester, ihren Glauben und ihre Erlösung.

 

Ich musste zuerst mit dem Stadtteil- und dem Regionalbus fahren und dann in den Shuttlebus des Pflegeheims umsteigen, um nach anderthalb Stunden das Heim zu erreichen. Für die Kinder meiner Schwester war es selbstverständlich gewesen, sie in ihrer Nähe unterzubringen, aber für mich war der Weg beschwerlich. Ich musste einen ganzen Tag für einen Besuch aufwenden. Ich konnte nicht mehr gut genug sehen, um auf der Fahrt zu lesen, und beim Musikhören wurde mir schwindlig. Neuerdings konnte ich im Bus nicht einmal mehr schlafen. Während ich geistesabwesend aus dem Fenster starrte, fragte ich mich, wie viel Zeit mir wohl noch blieb und ob ich diese untätig verbrachten Momente vielleicht bald bereuen würde.

Bei dem Pflegeheim handelte es sich um ein u-förmiges Gebäude mit einem betonierten Hof, in dem ein Garten angelegt war. Eine niedrige, kreisförmige Sandsteinmauer verlief rund um eine Erdanhäufung, die mit einem großen Pflaumenbaum, Unkrautpflanzen, deren Namen ich nicht kannte, und ein paar Feldblumen bepflanzt war. Es war das einzige Stück Natur im ganzen Pflegeheim. Von außen betrachtet bot der Garten vor dem Gebäude ein recht harmonisches Bild. Blickte man jedoch vom Gemeinschaftsraum nach draußen, wirkte der Pflaumenbaum vor der belebten Straße und der Baustelle gegenüber, wo eine neue Wohnanlage gebaut wurde, merkwürdig fehl am Platz. Als hätte sich ein alter Wanderer, der sonst überall fortgescheucht und abgeschoben worden war, nun einfach irgendwo niedergelassen.

Der Pflaumenbaum war zurückgeschnitten, die trockenen Äste sahen gleichzeitig gepflegt aus. Es war nicht zu erkennen, ob sie abgestorben waren oder nicht. Früher, als es meiner Schwester finanziell noch gut gegangen war, standen bei ihr im Wohnzimmer einige Zwergbäume. Ich hatte meinen Schwager gefragt, ob es künstliche Bäume seien, weil ich mir nicht hatte vorstellen können, dass sie echt sein könnten. Mein Schwager hatte mir eine ganze Weile den Nutzen und die Schönheit von Zwergbäumen erklärt. Nachvollziehen konnte ich das nicht. Ein Baum kam schließlich erst dann zur Geltung, wenn er zusammen mit anderen Bäumen auf einem Berg zum Himmel und den Wolken emporragte. So mitten im Zimmer ging doch keine Stimmung von ihm aus. Mein Schwager hatte darauf erwidert: Ja, irgendwie hast du recht.

»Weißt du, es gefällt mir einfach, einen Baum, der eigentlich viel größer als ich sein müsste, nach meinem Gusto zu formen und zu gestalten, ihn in diesem kleinen Topf wachsen zu sehen. Als würde ich Mutter Natur ein Schnippchen schlagen.«

Ich hielt meine Nase an die Blätter. Als ich zweimal tief einatmete, nahm ich zuallererst einen metallischen, stechenden Rostgeruch wahr. Dann schnüffelte ich energisch an dem Baum. Er roch nach Papier, Staub, Erde und nach Holzgegenständen. Nicht etwa nach dem feuchten Geruch frischer Hölzer, wie man ihn aus den Bergen und Wäldern kennt, sondern es war der Geruch, der einem entgegenkommt, wenn man eine Holzschublade nach langer Zeit wieder öffnet. So ließ es sich also auch leben.

Als ich den Pflaumenbaum betrachtete, überkam mich das Gefühl, genau diese Gerüche würden von irgendwoher angeweht kommen. Wo waren die Zwergbäume wohl jetzt?

 

Kumju war allein im Zimmer. Mit vorwurfsvollem Blick fragte sie mich, als sie aus ihrem Mittagsschlaf erwachte:

»Warum kommst du erst jetzt, Dongju?«

»Habe ich dich geweckt?«

»Nein, nein. Ich habe nicht geschlafen.«

Ich setzte mich zu meiner Schwester, die halb aufgerichtet an die Wand gelehnt im Bett lag. Überraschenderweise roch sie nach frisch gekochten Geschirrtüchern. War sie etwa mit einem nassen Handtuch gewaschen worden?

»Du riechst gut.«

»Dongju.«

»Ja?«

»Warum kommst du erst jetzt?«

»Es tut mir leid. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass meine Enkelin ein Kind bekommen hat? Die Babysitterin ist zurzeit im Urlaub, deshalb ist das Kind nachmittags bei uns, bei meiner Schwiegertochter und mir. Um das Kind kümmert sich zwar meine Schwiegertochter, doch allein vom Zuschauen werde ich müde, sodass ich zu nichts komme. Ich gehe schließlich auch auf die achtzig zu.«

»Du, Dongju.«

»Ja?«

»Meine Älteste hat auch ein Kind bekommen. Nachher kommt ihr Mann, um etwas Suppe für sie abzuholen.«

»Ja. Dank deiner Fleischbrühe kann sie bestimmt viel Milch geben.«

»Ach was. Sie ist bitter enttäuscht, weil ich nicht zu ihr komme, um mir das Baby anzusehen.«

Das war zu der Zeit gewesen, als ihr Lokal für Rinderknochensuppe besonders viel Umsatz gebracht hatte. Meine Schwester hatte damals behauptet, weder Müdigkeit noch Hunger zu kennen, solange sie in der Lage war, für die Studiengebühren und Hochzeitskosten ihrer Kinder aufzukommen. Außerdem sei sie glücklich, ihre älteste Tochter mit der Fleischbrühe füttern zu können. Nur die Tochter war anscheinend nicht ganz so glücklich. Die Zeit war wirklich schnell vergangen. Das Kind meiner Nichte war bereits über dreißig und kam jedes Wochenende ins Pflegeheim, es kümmerte sich fürsorglicher um seine Großmutter als seine Eltern.

»Dongju.«

»Wie schön, dass du mich so nennst.«

»Wie soll ich dich denn sonst nennen?«

»Ich habe meinen Namen offiziell ändern lassen, aber mich hat trotzdem niemand damit angeredet. Ich bin dann stattdessen zur Bank und zum Einwohnermeldeamt gegangen, nur um damit aufgerufen zu werden.«

Mein Mann hatte mich verhöhnt. Wozu ich im Alter noch meinen Namen ändern lassen wolle, alte Menschen würden sowieso nur noch im Krankenhaus bei ihrem vollen Namen gerufen werden. Er hatte eigentlich nichts gegen die Idee, er verstand nur meine Beweggründe nicht. Nur ein einziges Mal hatte ich das Thema ihm gegenüber angesprochen, danach nie wieder. Unmittelbar nach dem Begräbnis meines Mannes stellte ich den Antrag auf Namensänderung. Wer mich damals gesehen hätte, hätte sicher gedacht, ich hätte nur auf diesen Moment gewartet.

Meine Schwestern hatten hübsche Namen. Die älteste hieß Kumju – Gold –, die mittlere Unju – Silber –, ich hieß jedoch Mallyeo, die allerletzte Tochter. Kim Mallyeo. Als Kind hatte ich oft geweint, weil mir dieser Name verhasst war. In meiner Generation war er zwar keine Seltenheit, aber er unterschied sich doch sehr stark von den Namen meiner Schwestern. Wenn schon nicht in der Schule, dann wollte ich wenigstens zu Hause mit einem schönen Namen angeredet werden. Als ich meine Mutter darum bat, schimpfte sie: »Der Himmel wird dich bestrafen, wenn du dich über einen so besonderen, verheißungsvollen Namen beschwerst.«

Der Name hatte seinen Zweck erfüllt, meine Mutter hatte nach mir zwei Söhne bekommen. Doch welchen Nutzen hatte der Name mir gebracht?

Meine älteste Schwester wurde wütender als ich, wenn meine jüngere Schwester mich für meinen Namen aufzog. Sie versuchte an meiner Stelle, unsere Mutter mit stichhaltigen Argumenten zu überzeugen, dass sie mich anders nennen sollte, während mir nichts Besseres einfiel, als dass ich meinen Namen altmodisch fände. »Wir heißen Kumju und Unju, warum heißt sie Mallyeo und nicht Dongju, Bronze? Wie sollen wir sie mit diesem andersartigen Namen wiederfinden, wenn wir sie draußen einmal aus den Augen verlieren? Mittlerweile haben wir doch zwei Brüder, warum müssen wir sie immer noch Mallyeo nennen? Mama, wünschst du dir etwa noch einen dritten Sohn?« Heute musste ich zwar über die Einwände meiner Schwester lächeln, aber damals waren sie auf ihre Weise logisch gewesen. Meine Mutter allerdings hatte sie mit einem knappen »Ruhe jetzt!« abgetan.

Meine älteste Schwester hatte mich Dongju genannt, wenn wir unter uns waren, und mir verraten, dass ich meinen Namen offiziell ändern lassen könne, sobald ich erwachsen wäre. Auch als Erwachsene hatte ich noch vierzig Jahre lang als Mallyeo gelebt. Erst mit weit über sechzig wurde ich zu Kim Dongju. Als ich meinen neuen Personalausweis ausgestellt bekam, eilte ich auf der Stelle zu meiner Schwester. Diese war viel bewegter als ich und sagte mit feuchten Augen zu mir: Natürlich heißt du Dongju.

»Dongju.«

»Ja?«

»Hat Unju die Operation gut überstanden?«

»Ja, das hat sie.«

»Was für ein Glück.«

»Ja, das war es damals.«

 

Meine mittlere Schwester hatte mit um die fünfzig Gebärmutterkrebs diagnostiziert bekommen, weswegen sie operiert werden musste. Ihr waren die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt worden und sie hatte sich einer Chemotherapie unterziehen müssen. Das sollte, soweit ich verstand, verhindern, dass sich Metastasen im Gesäßknochen oder in anderen Organen bildeten. Meine Schwester machte viel durch. Trotzdem zog sie die Behandlung tapfer durch, bis sie letztendlich für vollständig geheilt erklärt werden konnte. Zwanzig Jahre später starb sie an Lungenkrebs.

Sie hatte in ihrem Leben weder eine Zigarette angerührt noch mit Rauchern zu tun gehabt. Es war ihr gänzlich unverständlich, warum sie ausgerechnet Lungenkrebs bekommen hatte. Dennoch machte meine Schwester keinen verzweifelten oder verbitterten Eindruck. Lachend sagte sie, der Krebs müsse wohl wirklich etwas gegen sie haben. Ich stimmte unwillkürlich in ihr Lachen ein. Als ich dann nachts allein in meinem Zimmer lag, hatte ich mich furchtbar gefühlt. Warum hatte ich nur gelacht? Warum hatte ich ohne jedes Feingefühl mitgelacht? Die ganze Nacht über quälte mich ein Gefühl der Reue.

Die Ärzte konnten nichts mehr für Unju tun. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus kehrte sie in ihre alte Wohnung zurück, in der sie alleine lebte. Ihre älteste Tochter ließ sich daraufhin für eine Zeit von der Arbeit freistellen und zog bei ihrer Mutter ein, um sie zu pflegen. Zwei- bis dreimal in der Woche schaute eine Krankenschwester von der mobilen Krankenpflege vorbei, die den Zustand meiner Schwester überprüfte, ihr Schmerzmittel oder Nahrungsergänzungsmittel verabreichte und sie mit Medikamenten belieferte. Sie hörte sich die Sorgen meiner Schwester und meiner Nichte an und gab ihnen Ratschläge und Trost. Es war auch die Krankenschwester, die ihnen schließlich mitteilte, die Familie solle sich langsam auf den Tod der Mutter vorbereiten. Dank ihr konnten alle ihre Kinder in ihren letzten Stunden bei meiner Schwester sein.

Auch ich hatte meine Schwester oft besucht. Wir unterhielten uns meistens über vergangene Zeiten. »Weißt du noch?« war die Frage, die ich meiner Schwester am häufigsten stellte. Weißt du noch, unser Haus? Weißt du noch, diese Sache damals? Weißt du noch, was wir immer gesagt haben? Wir lachten dabei viel zusammen. Als meine beiden Schwestern und ich noch Kinder gewesen waren, hatten wir nachts immer unter einer Decke gelegen und pausenlos miteinander geschwatzt. Unsere Mutter hatte jedes Mal geschimpft, wir sollten endlich schlafen.

Einmal brachte ich Maiskolben mit. Da Unju an dem Tag bei Kräften war, saßen wir im Wohnzimmer auf dem Boden, hatten Zeitungspapier zwischen uns ausgebreitet und entfernten gemächlich die Hüllblätter und die Fäden von den Maiskolben. Dabei erzählte meine Schwester von ihrer Chemotherapie.

»Weißt du, das war damals wirklich schrecklich für mich.«

»Natürlich war es das.«

»Sie sagen einem zwar, es wäre nicht heiß, aber ich hatte das Gefühl, regelrecht zu brennen. Es war, als ob ich in Flammen aufgehen würde.«

»Das glaube ich.«

»Was habe ich geheult und geschrien«, erinnerte sich Unju schaudernd.

»Doch dank der Behandlung bin ich heute noch am Leben und kann heute zusammen mit meiner alten Schwester Maiskolben schälen. Erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass es früher angenehmer war. Ich meine, als es noch Therapiemöglichkeiten gab. Damals habe ich mich noch ans Leben geklammert.«

»Mit deiner alten Schwester? Du bist doch noch viel älter.«

Während wir nebeneinander ein Mittagsschläfchen hielten, dämpfte meine Nichte die Maiskolben. Im Schlaf nahm ich den würzig süßen Maisgeruch wahr. Der Geruch baute sich in meinen Traum ein und rief weit zurückliegende Erinnerungen wach. Unser Haus mit dem großen Hof, die dünnen Bettdecken, die zusammengefaltet auf der Kommode lagen. Es roch nach den Bettdecken, nach Gras und nach Sommer. Es roch nach dem Schweiß unter den Achseln meiner Mutter, nach Reis, nach Verbranntem und nach Erde. Ich sah meine Mutter von hinten, meine Brüder und Schwestern von hinten. Die Sonne ging unter. Wehmut überkam mich, ich versteckte mich draußen unter der Veranda und weinte. Unser Hund wurde davon wach und kam hergelaufen. Er leckte mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Tante!«

Es war meine Nichte. Sie hatte mir erschrocken die Tränen weggewischt.

»Was hast du geträumt, dass du richtiggehend weinst?«

»Es war nichts Schlimmes.«

»Ach, was machst du nur für Sachen.«

Wie früher als Kinder wetteten meine Schwester und ich darum, wer mehr Maiskörner in einem Zug mit dem Daumen vom Kolben schaben konnte.

Ich freute mich gerade darüber, dass ich ganze zwölf Körner abgeschabt hatte, da brachte es meine Schwester auf dreizehn. Sosehr ich mich auch anstrengte meinen Daumen weiter zu strecken, ich schaffte nicht mehr als zwölf und gab mich geschlagen. Meine Schwester schob sich die dreizehn Maiskörner in den Mund und lachte.

Der Mais hatte genau die richtige Temperatur und Konsistenz, sodass die Körner nicht sofort zwischen den Zähnen zermatschten. Sie zerplatzten erst beim Kauen und gaben ihren angenehm süßen Saft frei. Wetten ohne Einsatz, kindlich unbeschwertes Lachen, knackige Maiskörner – das wurde meine letzte gemeinsame Erinnerung an meine mittlere Schwester. Sie starb an einem Sonntagabend in Gesellschaft ihrer Kinder. Ich war ihr immer noch dankbar, dass sie sich mit einem so angenehmen Bild in meine Erinnerung eingeprägt hatte.

Ich hatte geglaubt, ich würde gefasst auf ihren Tod reagieren. Ich hatte genügend Zeit mit ihr verbracht und mich viel mit ihr unterhalten und sie war so geistesklar und gut gelaunt gewesen wie immer. Vielleicht empfand ich gerade deshalb solche Reue. Wenn wir sie vielleicht doch hätten behandeln lassen, wenn wir auf gut Glück alternative Heilmethoden ausprobiert hätten, wäre Unju dann vielleicht noch am Leben? Dann könnten wir uns heute lachend gegenübersitzen und uns gegenseitig damit aufziehen, wie alt wir jeweils geworden waren.

Ich war jetzt in einem Alter, in dem ich, sobald jemand nicht ans Telefon ging, automatisch damit rechnete, dass die Person gestorben war. Der Tod war in so greifbare Nähe gerückt, dass ich ihm abgeklärt gegenüberstand. Außerdem hatte ich meinen Mann und sogar meinen Sohn überlebt. Damals hatte ich wirklich geglaubt, nicht mehr weitermachen zu können, aber das Leben ging trotzdem irgendwie weiter. Wenn ich etwas aß, was die beiden noch nie probiert hatten, oder Orte besuchte, die sie nicht kannten, machte es mich nur traurig, dass ich diese schöne Welt nun ohne sie genießen musste. Dahingegen versetzte mir die Tatsache, dass meine mittlere Schwester tot war, immer wieder aufs Neue einen Stich.

Sie hatte mir optisch geähnelt und war seit meiner Geburt an meiner Seite gewesen. Als Kinder hatten wir uns wirklich jeden Tag gestritten. Trotzdem waren wir Hand in Hand zur Schule gegangen und auch an meinem ersten Arbeitstag hatte ich an der Hand meiner Schwester das Haus verlassen. Auch als ich heiratete und Kinder aufzog, hatte ich das Gefühl, in Unjus Fußstapfen zu treten, die jeweils zwei Jahre vor mir geheiratet und ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Erst als sie gestorben war, wurde mir richtig bewusst, dass auch ich bald sterben könnte.

 

Kumju wollte nach unten in den Gemeinschaftsraum gehen. Im Zimmer fühlte sie sich eingeengt. Obwohl es ihre Idee gewesen war hinauszugehen, machte sie es mir nicht leicht. Sie wollte sich weder in den Rollstuhl setzen noch den Rollator nehmen, und meine Hilfe lehnte sie auch ab. Sie stützte sich am Handlauf im Flur ab, sackte jedoch immer wieder in sich zusammen, weil ihre Beine und Arme nicht genug Kraft besaßen.

Nachdem wir mühsam den Fahrstuhl erreicht hatten, verspürte sie plötzlich Stuhldrang. Sie wollte unbedingt die Toilette in ihrem Zimmer benutzen. Für mich war es zwar ein Katzensprung, für meine Schwester war es jedoch eine nicht zu unterschätzende Distanz. Ich öffnete die Außentür der Flurtoilette und rief überschwänglich: »Das ist ja viel sauberer als die Toilette bei mir daheim. Und sie ist unbesetzt.« Ohne darauf einzugehen, lief meine Schwester unbeirrt in die Richtung ihres Zimmers. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr langsam zu folgen, um auf sie achtzugeben.

Meine Schwester stützte sich mit dem rechten Arm am Handlauf an der rechten Wand ab und griff mit der linken Hand darunter durch nach dem Handlauf. Sich so mit dem ganzen Gewicht am Handlauf abstützend, schritt sie mit beiden Füßen fast gleichzeitig voran. Sie ließ sich mit dem Oberkörper ein wenig nach vorne kippen und griff den Handlauf ein Stück weiter oben, um dann die Füße nachzuziehen, und wiederholte die ganze Prozedur. Entweder war ihr die Hose herunter- oder hochgerutscht, jedenfalls war die weite Krankenhaushose auf beiden Seiten jeweils unterschiedlich lang. Meine Schwester trat andauernd auf den Saum. Gefühlt waren wir zwanzig Minuten unterwegs gewesen, doch als ich im Zimmer auf die Uhr schaute, waren gerade einmal acht Minuten vergangen.

Meine Schwester sagte, es wolle nichts rauskommen. Sie verharrte eine ganze Weile auf der Toilette, um schließlich unverrichteter Dinge wieder aufzustehen. Nichtsdestotrotz seifte sie sich die Hände ein, auch zwischen den Fingern und unter den Fingernägeln, und spülte sie gründlich mit Wasser ab. Warum hatten sowohl ihr Körper als auch das Zimmer diesen unangenehm säuerlichen Geruch angenommen, obwohl sie so reinlich war? Wenngleich ich überhaupt nichts gemacht hatte, sank ich entkräftet auf die Matratze nieder. Meine Schwester setzte sich zu mir, tätschelte mir die Wange und fragte:

»Es ist eng hier drin, nicht wahr? Wollen wir hinausgehen?«

Uff, ich sagte einfach nur ja. Diesmal setzte sich meine Schwester freiwillig in den Rollstuhl. Während ich sie darin über den Flur schob, hielt ich den Blick auf ihren Kopf gerichtet. Die spärlichen Haare am Hinterkopf waren platt gedrückt, ihr Rücken war völlig schief. Ihr Kopf und ihr Körper waren geschrumpft. Ihr ganzer Körper war nach vorne gebeugt und sah wie eine große, verschrumpelte Assel aus, die sich zu einer Kugel zusammengerollt hatte. Kumju, warum hast du dich so verändert?, rutschte es mir versehentlich heraus. Meine Schwester antwortete nicht, vielleicht hatte sie mich nicht gehört. Vor dem Ausbruch des Alzheimers war sie körperlich nicht so zerrüttet gewesen. Waren Körper und Geist eines Menschen trennbar? Konnten beide unabhängig voneinander funktionieren? Besaß ein Mensch überhaupt so etwas wie einen Geist oder eine Seele?

»Dongju.«

»Ja?«

»Du gehst zu schnell. Mir ist schwindlig.«

Ich hielt erst einmal an. Anschließend kostete es mich viel Kraft, die zum Halt gekommenen Räder wieder zum Rollen zu bringen. Kräftig packte ich mit beiden Händen die Griffe und lehnte mich mit dem ganzen nach vorn gestemmten Körper dagegen. Erst als wir den Gemeinschaftsraum fast erreicht hatten, kamen wir wirklich in Fahrt.

Ich stellte den Rollstuhl vor das Fenster, von dem aus man den Pflaumenbaum gut sehen konnte. Dann holte ich einen Stuhl und setzte mich neben meine Schwester. Wie gebannt starrte sie auf den Baum, der weder Blüten noch Blätter trug. Ich streckte meinen Arm nach ihr aus und berührte ihre Hand. Als ich ihr über die Fingerkuppen strich, bemerkte ich, dass die Nägel kurz geschnitten waren. Es wurde immer schwieriger, ihr die Fingernägel zu schneiden, die so dick und trocken geworden waren, dass man sie nicht mehr ohne Weiteres mit einem Nagelknipser bearbeiten konnte. Wenn man die Nägel mit Mühe in den Knipser zwang und zudrückte, wurden sie nicht abgeknipst, sondern zersplitterten auf der Stelle. Deshalb waren ihre Fingernägel immer abgesplittert und scharfkantig. Kumjus Gesicht war davon ganz zerkratzt, ihre Halstücher waren voller Ziehfäden und die Strumpfhosen mittlerweile so löchrig, dass man mit dem Finger hineingreifen konnte. Wer mochte ihr wohl die Nägel gefeilt haben?

»Oma!«, rief eine männliche Stimme vom Eingang her, woraufhin sämtliche Omas im Gemeinschaftsraum sich umdrehten – selbst ich, die ich nur eine Enkelin hatte. Ein großer junger Mann kam auf mich zu. Er lächelte freundlich. Ich konnte sein Gesicht nicht deutlich sehen, aber ich wusste, dass er lächelte. Ohne Zweifel lächelte er mich an. Du meine Güte, wurde ich etwa senil?

»Großtante, wann bist du hergekommen?«

Mir blieben die Worte im Hals stecken.

»Ich bin es, Sunghun. Du hast mich doch nicht etwa vergessen?«

»Wie? Natürlich nicht. Wie könnte ich unseren Sunghun vergessen?«

Meine Schwester streckte Sunghun ihre rechte Hand entgegen, die dieser ergriff. Kumju fragte mich: »Du, Dongju, ist Wonchol nicht groß geworden?«

»Ja, Oma. Ich bin sehr groß geworden. Und wie.«

Soviel ich wusste, hatte Wonchol, Kumjus ältester Sohn, seine Mutter kein einziges Mal im Pflegeheim besucht. Wegen Geldangelegenheiten hatte er sich sogar mit seinen Geschwistern überworfen und den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Auch an den Kosten für das Pflegeheim beteiligte er sich nicht, das hatte mir Sunghuns Mutter Wonsuk, Wonchols jüngere Schwester und die älteste Tochter meiner Schwester, verraten. Die restlichen vier Geschwister teilten sich die Kosten zu gleichen Anteilen. Aber die meiste Zeit wandte Sunghun für Kumju auf.

 

Sunghun war bei meiner Schwester im Hinterzimmer des Lokals aufgewachsen. Wonsuk hatte ihn immer auf dem Weg zur Arbeit bei ihr vorbeigebracht. Sunghun war ein pflegeleichtes Kind gewesen. Friedlich hatte er trotz des Lärms der Gäste im Hinterzimmer geschlafen, hatte an freien Tischen gemalt oder Papierquadrate für das Ddakji-Spiel gefaltet, bei dem man versuchte, ein am Boden liegendes Papierquadrat mit dem eigenen durch gezielten Wurf umzudrehen. Wenn er von Gästen angesprochen wurde, hatte er ihnen zurückhaltend geantwortet und sich, wenn sie ihm Bonbons oder Kekse schenkten, dafür bedankt und sie seiner Großmutter gebracht. Da er brav und ruhig war, hatte meine Schwester keine Probleme mit ihm, aber draußen in der Nachbarschaft soll er viel von anderen Jugendlichen gehänselt und verprügelt worden sein.

Ob er damals in der fünften Klasse war? Jedenfalls war Sunghun irgendwann von älteren Jugendlichen aus der Mittelschule gequält worden. Meine Schwester hatte erst anderthalb Jahre später davon erfahren, als Sunghun im Schlaf die Decke von sich geschleudert hatte und seine mit blauen Flecken übersäten Schienbeine zum Vorschein gekommen waren. Die älteren Jungen hatten ihm Geld abgenommen, ihn auf Botengänge geschickt, ihn geschlagen, mit Zigaretten angesengt und ihm gedroht, sie würden ihm die Hölle heißmachen, wenn er auf die Idee käme, sie bei den Erwachsenen anzuschwärzen.

Meine Schwester machte sich sofort zum Unterschlupf der Jugendlichen auf. Es war ein kleines, zweistöckiges Ladengebäude, das wegen einer bevorstehenden Renovierung leer stand. Genau wie es Sunghun beschrieben hatte, konnte sie sich durch die kleine Tür des Aufsichtsraums neben dem Parkplatz Eintritt ins Gebäude verschaffen. Sie trug eine Einkaufstasche über der Schulter, in der sie ein Fleischermesser mit einer dreißig Zentimeter langen Klinge transportierte. Die Klinge war spitzer als bei Küchenmessern und leicht nach oben geschwungen.

»Beim Metzger habe ich mir schön dicke Schweinerippen besorgt. Die habe ich so mit dem Messer aufgespießt, dass die Klinge noch herausragte.«

Durch das Fenster des leeren Ladengebäudes entdeckte sie drei Jungen, die ihr bekannt vorkamen und mit zusammengesteckten Köpfen kicherten. Als Kumju die Eingangstür öffnete, schreckten sie auseinander, verunsichert durch das plötzliche Auftauchen einer Erwachsenen. Meine Schwester holte die mit dem Messer aufgespießten Rippen hervor und sagte: »Ich zerlege jeden Tag ein ganzes Rind. Ich schlitze den Bauch auf, hole die Innereien und die Knochen heraus und ziehe die Haut ab. Die Knochen und das Fleisch verwende ich für meine kräftige Brühe, aber die Haut, die Innereien und das Fett werfe ich in einen großen Müllsack, so groß, dass auch Menschen hineinpassen. Die Säcke mit den Lebensmittelabfällen werden in die Müllverarbeitungsanlage gebracht und dort sofort klein gehackt.«

»Bist du verrückt? Das ist eine handfeste Gewaltandrohung. Die Eltern der Jungs hätten dich bei der Polizei anzeigen können.«

»Ich hatte wesentlich mehr Angst vor den Jungs selbst, schon ihr Anblick war Furcht einflößend. Die waren größer und schwerer als ich. Hätten sie sich zu dritt auf mich gestürzt, wäre es ein Kinderspiel für sie gewesen, mir das Messer zu entreißen.«

»Sind sie auf dich losgegangen?«

»Nein. Sie haben mir still zugehört. Also habe ich ihnen gesagt, sie sollen sich meine Worte gut einprägen und aufhören, Sunghun zu quälen. Dann habe ich mich gespielt gelassen umgedreht und bin hinausgegangen. Selbst als ich längst wieder zurück im Laden war, haben meine Beine noch gezittert. Vor lauter Angst, die Jungen könnten mir gefolgt sein, habe ich die Ladentür abgeriegelt und mich drinnen versteckt.«

»Sind sie dir gefolgt?«

»Nein, sind sie nicht. Von da an haben sie Sunghun auch nicht mehr gequält.«

Erst da konnte ich mich beruhigen.

»Sag mal, zerlegst du das Fleisch eigentlich wirklich selbst?«

»Warum sollte ich? Ich kaufe das Fleisch bereits zerlegt beim Metzger.«

»Und warum hast du kein Rind, sondern Schweinerippen genommen?«

»Kinder können das sowieso nicht auseinanderhalten. Ich habe Schwein gekauft, weil das billiger war und genauso imponierend aussah.«

»Und was hast du mit dem Schweinefleisch gemacht?«

»Ich habe es zusammen mit überreifem Kimchi geschmort. Sunghun hat ordentlich zugelangt.«

Dank meiner waghalsigen Schwester und ihres deftigen Rippen-Kimchi-Topfs war Sunghun zu einem reizenden Mann herangewachsen.

Auch ich hatte damals regelmäßig auf meine Enkelin aufgepasst, weil mein Sohn und seine Frau beide berufstätig waren. Wenn meine Enkelin in der Schule war, hatte ich Kumju manchmal in ihrem Lokal besucht. An manchen Tagen hatte ich auch meine Enkelin mitgenommen, daran erinnerte ich mich noch, wenn ich auch nicht mehr wusste, warum. Meine Enkelin und Sunghun machten dann zusammen Hausaufgaben oder lernten für die Schule. Meine Enkelin war nur drei Jahre älter als Sunghun, aber sie hatte ihrem Cousin beim Lernen geholfen, ihm Bücher ausgeliehen und sich insgesamt schwesterlich um ihn gekümmert. Der Hin- und Rückweg zum Restaurant war zwar beschwerlich gewesen, aber ich griff meiner Schwester gern unter die Arme.

Die kurze Verschnaufpause nach dem Gästeansturm um die Mittagszeit nutzten meine Schwester und ich immer, um im Ladenbereich Eiskaffee zu trinken. In meinen achtzig Lebensjahren habe ich niemanden kennengelernt, der besseren Eiskaffee machen konnte als Kumju. Sie maß mit dem Löffel, den Sunghun als Kind benutzt hatte, zweimal Instantkaffee, dreimal Milchpulver und viermal Zucker ab, und gab viele Eiswürfel dazu. Wenn ich meine Schwester fragte, was ihr Geheimnis war, sagte sie immer nur etwas von wegen »Maxim-Kaffeepulver und Beksul-Zucker«. Eines Tages sagte sie, während sie die Eiswürfel zerkaute:

»Wir stehen doch den ganzen Tag vor der brodelnden Fleischbrühe. Was auch immer man in dieser unerträglichen Hitze und dem säuerlichen Dunst der Brühe auf so engem Raum Eiskaltes zu trinken bekommt, schmeckt erfrischend süß, selbst wenn es Natronlauge wäre.«

»Warum nennst du ausgerechnet Natronlauge als Beispiel?«

Ich hatte Angst, sie könnte es irgendwie ernst meinen.

»Das war doch nur ein Scherz. Selbst wenn ich noch so müde bin, ich brauche nur einmal Sunghuns Hand anzufassen und die Müdigkeit ist wie weggeblasen. Seine winzigen Fäuste, die sich früher so weich und geschmeidig angefühlt haben wie Songpyeon-Reiskuchen, sind jetzt groß wie Dampfbrötchen.«

Meine Schwester war sehr geschickt darin gewesen, hübsche kleine halbmondförmige Songpyeon zu machen. Und die dampfbrötchengroßen Hände ihres Enkels waren mittlerweile so groß geworden, dass Kumju sie nun mit beiden Händen umfassen musste. Sie waren zu tatkräftigen Händen herangewachsen.

 

Je länger sich Kumjus Aufenthalt im Pflegeheim zog, desto weniger schienen sich ihre Kinder um sie zu kümmern. Sunghun besuchte nun als Einziger regelmäßig zweimal die Woche meine Schwester. Das hatte ich von der Pflegerin erfahren. Auch heute Nachmittag hatte Sunghun sich einen halben Urlaubstag genommen.

»Warst du das, der ihr die Fingernägel geschnitten hat?«

»Ja.«

»Auch gefeilt?«

»Bitte?«

»Ich meine die Fingernägel. Ob du sie mit der Nagelfeile behandelt hast?«

»Ach so. Ja, am Nagelknipser war eine Feile.«

Wie feinfühlig er doch war. Bei der Vorstellung, dass jemand Großes wie er mit seinem kräftigen Körperbau die kleinen Hände seiner Großmutter hielt und ihr mühsam die Fingernägel feilte, musste ich lächeln.

Wieder zurück im Zimmer teilten wir uns zu dritt eine Dose Pfirsiche. Wir aßen, lachten und plauderten ganz gemütlich, doch als ich gerade den Tisch abgeräumt hatte, erbrach meine Schwester plötzlich das gerade Verzehrte. Ihre Kleidung, die Bettdecke und das Laken waren hin. Während ich noch gelähmt war vor Schreck, zog Sunghun in aller Ruhe Feuchttücher aus der Packung und wischte meiner Schwester damit den Mund und die Hände sauber. Dann rief er per Knopfdruck nach dem Pflegepersonal.

Während Sunghun im Bad meine Schwester wusch, wechselte die Mitarbeiterin rasch das Bettzeug. Wie ein über Jahre eingespieltes Team zogen die beiden meiner Schwester neue Kleidung über und brachten sie in eine halb sitzende Position auf dem Bett. Die Pflegerin nahm ihre Temperatur und meinte, Kumju habe zwar kein Fieber, aber es wäre trotzdem besser, wenn man sie im Krankenhaus untersuchen würde. Es war hoffentlich ein harmloses Verdauungsproblem, aber es könnte eventuell auch ein Anzeichen für eine Entzündung oder ein verstopftes Gefäß sein. Als Sunghun vor Angst erstarrte, beruhigte ihn die Mitarbeiterin.

»Ich habe wohl den Teufel an die Wand gemalt. Sie sollte einfach sicherheitshalber untersucht werden, aber es ist bestimmt nichts Ernstes. Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen.«

Erschöpft vom Erbrechen und Gewaschenwerden war Kumju eingeschlafen. Sunghun brachte mich mit dem Auto zur Regionalbus-Haltestelle. Seinen Vorschlag, noch zum Abendessen zu bleiben, er werde mich danach heimfahren, hatte ich ausgeschlagen. Denn dann würde er erst mitten in der Nacht bei sich ankommen, und das konnte ich einem Berufstätigen, der früh aufstehen musste, nicht zumuten. Ich redete mich damit heraus, ich müsse noch irgendwohin.

Auf der Fahrt zur Bushaltestelle bedankte sich Sunghun bei mir und bat mich mehrmals, öfter bei seiner Großmutter vorbeizuschauen. Gern hätte ich gefragt, ob ihre Kinder, das heißt seine Mutter und seine Tanten und Onkel, denn oft vorbeischauten, doch ich ließ es sein. Das konnte ich Sunghun nicht fragen.

»Du bist wirklich ein guter Junge.«

»Nein, nein.«

»Selbst ihre eigenen Kinder bekommen das nicht so toll hin wie du. Wie machst du das? Du revanchierst dich ja richtiggehend dafür, dass dich deine Großmutter aufgezogen hat.«

»Revanchieren würde ich es nicht nennen … Ich habe Oma einfach gern. Ich bin gern mit ihr zusammen. Oma ist doch ein wunderbarer Mensch. Ein ganz wunderbarer Mensch.«

Bei der Rückfahrt im Bus wollten mir Sunghuns Worte nicht aus dem Kopf gehen. Oma ist doch ein wunderbarer Mensch. Ein ganz wunderbarer Mensch.

 

Ich bekam einen Anruf, dass Kumju auf der Intensivstation lag. Der Anruf kam von Sunghun.

»Mama hat zwar gesagt, ich soll mit dem Anruf noch warten. Aber ich fand, dass man dir Bescheid geben muss.«

Aufgrund der eingeschränkten Besuchszeiten konnte ich meine Schwester nicht sofort besuchen. Da die Kinder und Enkelkinder vor mir an der Reihe waren, kam ich erst nach zwei Tagen an die Reihe. Ich verbrachte diese Zeit voller Sorgen. Was, wenn es meiner Schwester noch schlechter gehen sollte? Was, wenn sie bis zum Ende ihrer Tage auf der Intensivstation bleiben musste?