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Er ist verschollen in einer anderen Zeit, und nur sie kann ihn retten.
Madeleine „Max“ Maxwell wollte Archäologin werden, um Abenteuer zu erleben, unfassbare Entdeckungen zu machen und gelegentlich die Welt zu retten. Doch die Wirklichkeit holt sie ein: Archäologen verbringen ihre Zeit in Museen zwischen staubigen Büchern und noch staubigeren Fundstücken, die niemanden interessieren. Da erhält sie ein besonderes Jobangebot. Wenn sie die Zusatzausbildung übersteht – und die wenigsten tun das – wird sie Abenteuer erleben, die jene von Indiana Jones wie einen Sonntagsspaziergang aussehen lassen. Und wenn sie überlebt, wird sie wenigstens ein paar Mal die Welt retten …
Die kuriosen und unabhängig voneinander lesbaren Abenteuer der zeitreisenden Madeleine »Max« Maxwell bei Blanvalet:
1. Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv
2. Doktor Maxwells chaotischer Zeitkompass
3. Doktor Maxwells skurriles Zeitexperiment
4. Doktor Maxwells wunderliches Zeitversteck
5. Doktor Maxwells spektakuläre Zeitrettung
6. Doktor Maxwells paradoxer Zeitunfall
E-Book Short-Storys:
Doktor Maxwells weihnachtliche Zeitpanne
Doktor Maxwells römischer Zeiturlaub
Doktor Maxwells winterliches Zeitgeschenk
Weitere Bände in Vorbereitung
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Seitenzahl: 554
Buch
Madeleine »Max« Maxwell wollte Archäologin werden, um Abenteuer zu erleben, unfassbare Entdeckungen zu machen und gelegentlich die Welt zu retten. Doch die Wirklichkeit holt sie ein: Archäologen verbringen ihre Zeit in Museen zwischen staubigen Büchern und noch staubigeren Fundstücken, die niemanden interessieren. Da erhält sie ein besonderes Jobangebot. Wenn sie die Zusatzausbildung übersteht – und die wenigsten tun das –, wird sie Abenteuer erleben, die jene von Indiana Jones wie einen Sonntagsspaziergang aussehen lassen. Und wenn sie überlebt, wird sie wenigstens ein paarmal die Welt retten …
Autor
Jodi Taylor war die Verwaltungschefin der Bibliotheken von North Yorkshire County und so für eine explosive Mischung aus Gebäuden, Fahrzeugen und Mitarbeitern verantwortlich. Dennoch fand sie die Zeit, ihren ersten Roman »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« zu schreiben und als E-Book selbst zu veröffentlichen. Nachdem das Buch über 60 000 Leser begeisterte, erkannte endlich ein britischer Verlag ihr Potenzial und machte Jodi Taylor ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte.
Ihre Hobbys sind Zeichnen und Malerei, und es fällt ihr wirklich schwer zu sagen, in welchem von beiden sie schlechter ist.
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Roman
Deutsch von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Just One Damned Thing After Another (The Chronicles of St. Mary’s Book 1)« bei Accent Press, Cardiff Bay.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright der Originalausgabe © 2013 by Jodi Taylor
This translation published by arrangement with Accent Press Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Umschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com (Nimaxs; Sloth Astronaut; Vitaly Grin)
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24006-6V001
www.blanvalet.de
»Die Geschichte hier habe ich mir einfach ausgedacht. Also bitte, liebe Historiker und Physiker, reißt mir wegen eventueller Unstimmigkeiten nicht gleich den Kopf ab, falls wir uns mal auf der Straße begegnen sollten.«
Jodi Taylor
»Geschichte ist nichts anderes als ein fatales Ereignis nach dem anderen.«
Arnold Toynbee
In meinem Leben gab es zwei Momente – Momente, in denen sich alles änderte. Momente, in denen alles auf Messers Schneide stand. Augenblicke, in denen die Dinge in die eine oder in die andere Richtung hätten laufen können.
Der erste war der Moment, in dem ich nach einem weiteren Tag, an dem ich in der Schule nichts als Unruhe gestiftet hatte, vor meiner Direktorin Mrs. De Winter stand. Ich hatte mich für schweigendes Schmollen entschieden und wartete darauf, von der Schule geworfen zu werden, denn über Drei Verwarnungen und du bist draußen war ich längst hinaus. Aber dazu kam es nicht.
Sie sagte seltsam eindringlich: »Madeleine, Sie können nicht zulassen, dass Ihre häuslichen Umstände Ihr ganzes Leben bestimmen. Sie sind intelligent – Sie haben Fähigkeiten, die Ihnen noch nicht einmal bewusst sind. Dies ist die einzige Chance, die Sie jemals haben werden. Ich kann Ihnen helfen. Lassen Sie mich das tun?«
Bislang hatte mir keiner jemals Hilfe angeboten. Irgendetwas in mir flackerte auf, aber Misstrauen und Argwohn lassen sich nur schwer abstellen.
Mit sanfter Stimme fuhr sie fort: »Ich kann Ihnen helfen. Letzte Chance, Madeleine. Ja – oder nein?«
Ich bekam kein Wort heraus, saß in meinem selbst geschaffenen Gefängnis fest.
»Ja – oder nein?«
Ich holte tief Luft und sagte Ja.
Sie reichte mir ein Buch, einen Notizblock und zwei Stifte.
»Wir fangen mit dem alten Ägypten an. Lesen Sie die ersten beiden Kapitel und Kapitel sechs. Sie müssen lernen, wie man Informationen aufnimmt, auswertet und präsentiert. Ich will 1.500 Wörter über die genaue Natur von Ma’at. Bis Freitag.«
Ich flüsterte: »Aber … Sie wissen doch, dass ich das nicht mit nach Hause nehmen kann.«
»Sie können die Schulbibliothek benutzen und Ihre Sachen dortlassen. Miss Hughes erwartet Sie.«
Das war das erste Mal.
Das zweite Mal kam zehn Jahre später. Eine E-Mail völlig aus heiterem Himmel.
Meine liebe Madeleine,
Sie sind sicherlich überrascht, von mir zu hören, aber ich muss Ihnen gestehen: Seitdem Sie die Universität Thirsk verlassen haben, habe ich Ihre Karriere mit großem Interesse und auch mit einigem Stolz verfolgt. Ich schreibe Ihnen nun, um Ihnen die Details eines Jobangebotes vorzustellen, das Sie sicherlich höchst spannend finden werden.
Aus Ihrer Zeit an der Thirsk-Universität werden Sie sich bestimmt an eine Schwesterniederlassung erinnern, nämlich an das St. Mary’s-Institut für Historische Forschung – eine Einrichtung, die, so meine ich, jeden ansprechen dürfte, der wie Sie eine weniger strukturierte Lebensführung anstrebt. Die Arbeit dort ist eher an der praktischen Seite der historischen Forschung ausgerichtet. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht verraten.
Das Institut hat seinen Sitz unmittelbar vor den Toren von Rushford, wo ich jetzt lebe, und Vorstellungsgespräche finden am Vierten des nächsten Monats statt. Haben Sie vielleicht Interesse? Ich habe das Gefühl, das könnte genau das Richtige für Sie sein, weshalb ich sehr hoffe, dass Sie es in Erwägung ziehen. Ihre Reisen und Ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der Archäologie dürften Ihnen gute Chancen einräumen, und ich glaube wirklich, dass Sie genau der Typ sind, nach dem man dort sucht.
Die Bezahlung ist miserabel, und die Arbeitsbedingungen sind noch schlimmer, aber es ist ein wunderbarer Ort zum Arbeiten. Sie haben dort einige sehr talentierte Leute. Wenn Ihr Interesse geweckt ist, dann klicken Sie bitte auf den unten stehenden Link, um einen Vorstellungstermin zu vereinbaren.
Aber es tut mir leid; wo bleiben nur meine Manieren? Ich wollte Ihnen so dringend von dieser Gelegenheit berichten, dass ich ganz vergessen habe zu fragen: Wie geht es Ihnen? Herzlichen Glückwunsch zu Ihren akademischen Erfolgen an der Thirsk, Doktor Maxwell! Es ist immer sehr befriedigend zu sehen, wenn sich eine frühere Schülerin so gut entwickelt, ganz besonders eine, die in ihren frühen Jahren so viele Schwierigkeiten bewältigen musste.
Bitte lehnen Sie diese Gelegenheit nicht unbesonnen ab. Ich weiß, dass Sie immer lieber im Ausland gearbeitet haben, aber angesichts der Möglichkeit, dass Amerika seine Grenzen wieder dichtmachen könnte, und in Anbetracht des Auseinanderbrechens innerhalb der EU ist es nun vielleicht an der Zeit, einen etwas gediegeneren Lebenswandel anzustreben.
Wie Sie unschwer merken, liegt mir wirklich sehr viel daran, dass Sie sich bewerben, aber bitte lassen Sie sich nicht von mir in irgendeiner Art und Weise beeinflussen!
Mit freundlichen Grüßen:
Sibyl De Winter
Ich sage immer, so richtig begann mein Leben erst an dem Tag, als ich durch die Tore von St. Mary’s schritt. Auf dem Schild war zu lesen:
Universität von Thirsk
Institut für Historische Forschung
Campus der St.-Mary’s-Stiftung
Direktor: Doktor Edward G. Bairstow BA, MA, Ph. D.
Forschungsmitglied der Historischen Gesellschaft
Ich drückte auf den Summer, und eine Stimme antwortete: »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
»Ja, mein Name ist Maxwell. Ich habe um 14.00 Uhr einen Termin bei Doktor Bairstow.«
»Gehen Sie die Zufahrt hoch und kommen Sie dann durch die Vordertür herein. Sie können es nicht verfehlen.«
Klang ein wenig überoptimistisch. Ich hatte mich mal in einem Treppenschacht verlaufen.
An der Vordertür trug ich mich in eine Liste ein und wurde höflich von einem uniformierten Wachmann mit einem Detektor gescannt, was mich nicht schlecht überraschte. Immerhin war das eine Bildungseinrichtung. Ich tat mein Bestes, um harmlos auszusehen, und es schien zu funktionieren, denn der Mann führte mich durch den Vorraum in die Halle. Dort stand Mrs. De Winter und erwartete mich, und sie sah kein bisschen anders aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte. Das war an dem Tag gewesen, als sie mich an die Thirsk brachte. Der Tag, an dem ich dieser Erfindung des Teufels – auch Familie genannt – entkam.
Wir lächelten uns an und schüttelten uns die Hände.
»Soll ich Sie vor dem Vorstellungsgespräch herumführen?«
»Sie arbeiten hier?«
»Ich bin sporadisch hier und suche gelegentlich nach neuen Mitarbeitern. Hier entlang, bitte.«
Das Gebäude war riesig. Die Haupthalle, in der jedes Wort widerhallte, war Teil des ursprünglichen Gebäudes mit typisch mittelalterlichen schmalen Fenstern. Ganz am anderen Ende entdeckte ich ein reich verziertes Treppenhaus aus Eichenholz mit zehn flachen Stufen und einem breiten Absatz in der Mitte, von dem aus nach rechts und nach links eine Galerie abging, die einmal rings um die Halle herumführte.
Von dieser Galerie aus gelangte man in verschiedene Räume. Ein Saal schien nur für Kostüme und Requisiten reserviert zu sein. Leute liefen geschäftig mit Armen voller Kleidung und Nadeln zwischen den Lippen herum. Gewänder in unterschiedlichem Zustand der Fertigstellung hingen auf Bügeln oder an Schneiderpuppen. Die Räume waren hell, sonnig und von Geplauder erfüllt.
»Wir arbeiten viel für Film und Fernsehen«, erklärte Mrs. Enerby, die für die Garderobe zuständig war. Sie war klein und rund mit einem liebenswerten Lächeln. »Manchmal holen sie nur Erkundigungen ein, dann schicken wir ihnen genaue Angaben über passende Kostüme und Materialien. Aber manchmal sollen wir die Sachen auch selbst anfertigen. Dieses Gewand hier zum Beispiel ist für eine historische Sendung über das Leben von Karl II. und die Restauration. Viel Busen und Sex, wie man sieht, aber ich habe immer schon gedacht, dass Charles ein furchtbar unterschätzter Herrscher war. Dieses Kleid hier ist für Nell Gwyn in ihrer »orangefarbenen« Phase, und dieses hier für die französische Kurtisane Louise de Kérouaille.«
»Es ist hübsch«, bemerkte ich höflich und achtete sorgfältig darauf, das Material nicht zu berühren. »Die Details sind phänomenal. Leider ist es aber ein wenig zu modern für mich.«
»Dr. Maxwell interessiert sich für alte Geschichte«, erklärte Mrs. de Winter. Es klang entschuldigend, wie ich fand.
»Oje«, seufzte Mrs. Enderby. »Na ja, es könnte schlimmer sein, schätze ich. Da gibt es natürlich auch Faltenwürfe und Togen und Tuniken, aber trotzdem …« Sie brach ab. Offenkundig hatte ich sie enttäuscht.
Von hier aus gingen wir nach nebenan zu Professor Rapson, der für Forschung und Entwicklung verantwortlich zeichnete. Er war so dermaßen der typisch exzentrische Professor, dass ich anfangs dachte, dass man mich veräppeln wollte. Er war supergroß und superdünn, mit einem Einstein-Schopf, und seine Hakennase erinnerte mich an das vordere Ende eines Eisbrechers. Und er hatte keine Augenbrauen, was mir wirklich einen deutlichen Hinweis hätte geben sollen. Aber er lächelte freundlich und lud uns ein, einen genaueren Blick auf sein vollgestopftes Reich zu werfen. Ich bekam einen kurzen, verlockenden Eindruck von einem überladenen Schreibtisch, überall verstreuten Büchern und außerdem einem Laboraufbau.
»Dr. Maxwell hatte noch nicht ihr Gespräch«, sagte Mrs. De Winter in ziemlich warnendem Tonfall.
»Oh, oh, richtig, ja, nein, ich verstehe«, sagte Professor Rapson und ließ meinen Ellbogen los. »Nun, das ist es, was ich gern als »praktische« Geschichte bezeichne, meine Liebe. Das Geheimnis des griechischen Feuers? Wir sind dran. Wie wurde ein römischer Streitwagen gelenkt? Wir bauen einen, und dann können Sie es selbst herausfinden. Welche Reichweite hatte ein Katapult? Wie weit genau kann man eine tote Kuh schleudern? Wie lange dauert es, jemandem das Gehirn durch die Nase herauszuziehen? Irgendeine Frage dieser Art – kommen Sie zu mir, und wir werden die Antwort für Sie herausfinden! Das ist es, was wir tun.«
Einer seiner ausladend rudernden Arme traf ein Becherglas mit irgendetwas Trübem darin, das ebenso gut Einbalsamierungsfluid hätte sein können wie das Lebenselixier oder Sokrates’ Schierlingstrank. Er wischte das Glas von der Arbeitsfläche, und es zerschellte auf dem Fußboden. Alle traten einen Schritt zurück. Die Flüssigkeit bildete Bläschen, zischte und sah aus, als ob sie sich durch den Bodenbelag fressen wollte. Ich konnte eine Menge anderer solcher feuchten Flecke entdecken.
»O du meine Güte! Jamie! Jamie! Jamie, mein Junge, flitz mal schnell nach unten, ja? Schöne Grüße an Dr. Dowson; sag ihm, es kommt wieder mal was durch seine Decke!«
Ein junger Kerl nickte freundlich, stand von seinem Platz am Arbeitstisch auf und suchte sich einen Weg durch das Durcheinander aus halb fertigen Modellen, unidentifizierbarer Ausrüstung, schwankenden Bücherstapeln und fleckigen Whiteboards. Im Vorbeigehen grinste er mich an. Tatsächlich schien das hier ein wirklich netter Haufen zu sein. Das Einzige, was mir merkwürdig vorkam, war die Tatsache, dass Mrs. De Winter jede Vorstellung mit der Warnung einleitete, dass ich mein Gespräch noch nicht gehabt habe. Die Leute lächelten und schüttelten mir die Hand, aber nirgends schaffte ich es über die Türschwelle.
Ich traf Mrs. Mack, die Küchenchefin. Mahlzeiten, so informierte sie mich, waren rund um die Uhr erhältlich. Ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, warum eine historische Fakultät solche Öffnungszeiten haben sollte, aber mir fiel einfach nichts ein. Nicht dass ich mich beklagen würde. Ich kann problemlos vierundzwanzig Stunden am Tag essen.
Die Bar und die Lounge nebenan hatten beinahe dieselbe Größe wie der Speisesaal und machten interessanterweise die Prioritäten deutlich. Alles sah durch häufige Nutzung abgewetzt und aufgrund von Geldmangel schäbig aus, ganz besonders die Bar.
Weiter unten auf demselben Gang gab es einen kleinen Kiosk, der Taschenbücher, Schokolade, Toilettenartikel und andere elementare Dinge verkaufte.
Ich verliebte mich in die Bibliothek, die offenkundig gemeinsam mit der Halle das Herzstück des Gebäudes bildete. Hohe Decken ließen sie geräumig wirken, und ein riesiger Kamin machte sie behaglich. Gemütliche Stühle standen überall herum, und durch hohe Fenster an einer Wand flutete Sonnenlicht herein. Zusätzlich zu Massen an Büchern gab es auch die neuesten elektronischen Geräte zur Informationsbeschaffung, Studienbereiche, Tische für Simulationen und Hologramme und, wenn man durch einen Torbogen ging, ein riesiges Archiv.
»Egal, was Sie suchen, wir haben es irgendwo«, sagte Doktor Dowson, der sich mir als Bibliothekar und Archivar vorstellte und der offenbar eine Art Südwester trug. »Zumindest, bis dieser alte Trottel da oben uns alle in die Luft jagt. Wissen Sie, dass wir manchmal Helme aufsetzen müssen?«, fuhr er entrüstet fort. »Ich sage Edward immer wieder, er soll ihn und sein gesamtes Team von Verrückten auf der anderen Seite des Hawking unterbringen, wenn wir auch nur die geringste Chance aufs Überleben haben sollen!«
»Dr. Maxwell hat ihr Gespräch noch nicht gehabt«, unterbrach ihn Mrs. De Winter, und Dowson ging dazu über, halblaut vor sich hin zu murren. Auf Latein. Ich starrte etwas besorgt zur Decke, die tatsächlich ziemlich löchrig und fleckig aussah, aber immerhin schien sich nichts durch die Bausubstanz dieses vermutlich denkmalgeschützten Gebäudes zu fressen.
»Hat man Ihnen das schon erzählt?«, fragte er. »Letztes Jahr hat sein Forscherteam versucht, die russischen Kanonen beim Angriff der leichten Brigade nachzubauen, sich aber bei der Reichweite verrechnet und stattdessen den Uhrturm zerstört.«
»Nein«, sagte ich und antwortete damit auf eine Frage, die vermutlich eher rhetorischer Natur gewesen war. »Schade, dass ich nicht dabei war.«
Und schon wurde ich resolut weitergeschoben.
Wir blieben am Eingang zu einem langen Gang stehen, der in einen separaten, moderneren Teil des Campus zu führen schien. »Was befindet sich denn da?«
»Das ist der Hangar, wo wir unsere technische Produktionsanlage und die Ausrüstungen untergebracht haben. Im Moment ist keine Zeit für eine Besichtigung; wir sollten uns auf den Weg zu Dr. Bairstows Büro machen.«
Ich dachte über das befremdliche Gespräch nach und wie wir zu dem Angriff der leichten Brigade gekommen waren, als ich plötzlich feststellte, dass jemand mit mir sprach. Ein Mann mittlerer Größe mit dunklem Haar und einem Durchschnittsgesicht, das allerdings bemerkenswert wurde durch ein Paar strahlende, hellblau-graue Augen, lächelte mich an. Der Unbekannte trug einen orangefarbenen Overall. Und anders als praktisch alle, die ich bislang getroffen hatte, hatte er Augenbrauen.
»Es tut mir so leid«, sagte ich. »Ich habe gerade über die Krim nachgegrübelt.«
Er lächelte. »Sie gehören eindeutig hierher.«
»Chief, das ist Dr. Maxwell.«
»Ich hatte mein Gespräch noch nicht«, sagte ich, nur um zu zeigen, dass ich aufgepasst hatte.
Einer seiner Mundwinkel zuckte.
»Dr. Maxwell, dies ist der leitende technische Direktor, Leon Farrell.«
Ich streckte meine Hand aus. »Freut mich, Sie zu treffen, Mr. Farrell.«
»Die meisten Leute hier nennen mich einfach Chief, Doktor.« Langsam streckte er ebenfalls die Hand aus und schüttelte meine. Seine Hand fühlte sich warm, trocken und voller Schwielen an. Die Hände eines arbeitenden Mannes.
»Willkommen im St. Mary’s.«
Mrs. De Winter klopfte auf ihre Armbanduhr. »Dr. Bairstow wird schon warten.« Ich nickte dem Chief zu, und wir setzten unseren Weg fort. Sekunden später hatte ich ihn vollkommen vergessen. Ich weiß – eine Aufmerksamkeitsspanne wie ein Teebeutel.
Nun, dies also war Dr. Edward Bairstow. Er stand mit dem Rücken zum Fenster, als wir eintraten. Ich sah einen großen, dürren Mann, dessen Kranz aus grauem Haar rings um seinen Kopf mich an die Federbüschel um den Hals eines Geiers erinnerte. Etwas abseits saß eine fantastisch aussehende Frau in einem vorteilhaft geschnittenen Kostüm mit einem Notizpad vor sich. Sie sah elegant und würdevoll aus und so, als sei sie sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand. Dr. Bairstow stützte sich schwerfällig auf einen Gehstock und streckte eine Hand aus, die so kalt wie meine eigene war.
»Dr. Maxwell, willkommen. Danke für Ihr Kommen.« Seine leise, klare Stimme verströmte eine Menge Autorität. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er je schrie. Er war nicht der Typ Mann, der seine Stimme erheben musste, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Seine scharfen Augen begutachteten mich. Er ließ sich nicht anmerken, zu welchem Urteil er gelangte. Ich bin gewöhnlich nicht besonders gut im Umgang mit Autoritätspersonen, aber dies hier war auf jeden Fall eine Situation, in der man aufpassen musste.
»Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben, Dr. Bairstow.« Ab und an kann ich mich auch benehmen.
»Dies ist meine persönliche Assistentin, Mrs. Partridge. Wollen wir uns setzen?«
Wir nahmen Platz, und dann ging es los. Die erste Stunde lang sprachen wir nur über mich. Ich hatte den Eindruck, dass fehlende Hinweise auf nahe Verwandte und ein Mangel an engen Beziehungen eher zu meinen Gunsten ausgelegt wurden. Dr. Bairstow war bereits mit den Einzelheiten meiner Qualifikationen vertraut, und wir unterhielten uns eine Weile über den Krimskrams, den ich in Archäologie und Anthropologie nach meinem Studienabschluss erledigt hatte, und über meine Arbeitserfahrungen und Reisen. Ganz besonders interessierte er sich dafür, wie ich es fand, in anderen Ländern und in anderen Kulturen zu leben. Wie leicht fiel es mir, Sprachen zu erlernen und mich in ihnen verständlich zu machen? Hatte ich mich je in Gesellschaft anderer isoliert gefühlt? Wie war ich damit klargekommen? Wie lange brauchte ich, um mich irgendwo einzugewöhnen?
»Warum haben Sie sich für Geschichte entschieden, Dr. Maxwell? Bei all den aufregenden Entwicklungen in der Raumfahrt im Laufe der letzten zehn Jahre und dem Mars-Projekt, das kurz vor dem Abschluss steht – was hat Sie dazu gebracht zurückzublicken anstatt nach vorn?«
Ich machte eine Pause und ordnete und überarbeitete meine Gedanken. Ich war acht Jahre alt. Es war ein schlimmes Weihnachten gewesen. Ich saß in meinem Kleiderschrank auf dem Boden. Irgendetwas Unbekanntes drückte sich in mein Hinterteil. Ich rutschte herum und zog ein kleines Buch hervor – über Heinrich V. und die Schlacht von Azincourt. Ich las es, und dann las ich es wieder und wieder, bis es beinahe auseinanderfiel. Ich habe nie herausgefunden, wo es hergekommen war. Dieses kleine Buch entfachte in mir die Liebe zur Geschichte und setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die mein Leben veränderten. Ich besaß es noch immer. Es war so ziemlich das Einzige, was ich aus meiner Kindheit herübergerettet hatte. Geschichte zu studieren öffnete mir Türen in andere Welten und zu anderen Zeiten, und das wurde meine Zuflucht und meine Leidenschaft. All diese Tatsachen stutzte ich auf drei kurze, unpersönliche Sätze zurecht.
Von da aus ging es weiter zum St. Mary’s. Dr. Bairstow umriss die Funktionen und die Ausrichtung, und er erweckte den Eindruck einer großen, lebendigen und unkonventionellen Organisation. Ich stellte fest, dass mein Interesse daran immer größer wurde. Es gab keinen bestimmten Moment, an dem ich es hätte festmachen können, aber als er weitersprach, beschlich mich das Gefühl, dass ich irgendetwas verpasste. Dies hier war ein großer Campus. Sie hatten eine Sicherheitsabteilung und servierten vierundzwanzig Stunden am Tag warmes Essen; es gab eine Fertigungsanlage und jede Menge Ausrüstung und eine technische Abteilung. Er hielt einen Moment inne, schob ein paar Unterlagen hin und her und erkundigte sich dann, ob ich irgendwelche Fragen hätte.
»Ja«, sagte ich. »Was ist Hawking?«
Eine ganze Weile lang antwortete er nicht, dann drückte er sich ein Stückchen vom Tisch weg und warf Mrs. Partridge einen Blick zu. Die legte ihr Pad aus der Hand und verließ den Raum. Ich sah ihr hinterher, als sie ging, und wandte meinen Blick dann wieder Dr. Bairstow zu. Irgendetwas hatte sich verändert.
Er fragte: »Woher wissen Sie vom Hawking?«
»Nun«, sagte ich langsam, »es ist natürlich nicht allgemein bekannt, aber …«, und ließ den Satz an dieser Stelle verhallen. In neun von zehn Malen funktioniert diese Taktik. Dieses Mal allerdings nicht. Er starrte mich an, und die Stille dehnte sich. »Es erscheint mir nur merkwürdig, dass ein Hangar in einer Abteilung der historischen Fakultät nach einem berühmten Physiker benannt ist.«
Noch immer bekam ich keine Antwort, aber ich hatte nicht vor weiterzusprechen. Stille hat für mich nichts Furchteinflößendes. Ich verspüre nie den Drang, sie zu füllen, wie es bei so vielen anderen Menschen der Fall ist. Wir starrten einander eine Weile lang an, und es hätte durchaus interessant sein können, aber genau in diesem Augenblick kam Mrs. Partridge wieder ins Zimmer zurück und umklammerte einen Ordner, den sie vor Dr. Bairstow ablegte. Er schlug ihn auf und verteilte die Papiere vor sich auf dem Tisch.
»Dr. Maxwell, ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber vielleicht könnten Sie mir verraten, was Sie wissen.«
Er hatte meinen Bluff durchschaut.
»Absolut gar nichts«, sagte ich. »Ich habe gehört, wie der Name fiel, und habe mich gewundert. Ich bin auch neugierig, was die große Zahl an Mitarbeitern angeht. Wozu brauchen Sie ein Sicherheitsteam oder Techniker? Und warum muss jeder hier darüber informiert werden, dass ich mein »Gespräch« noch nicht hatte? Was geht hier vor sich?«
»Ich bin gern bereit, Ihnen alles zu verraten, was Sie wissen wollen, aber vorher muss ich Sie darüber informieren, dass ich das nicht tun kann, wenn Sie nicht vorher diese Unterlagen unterschreiben. Bitte beachten Sie, dass diese Dokumente rechtlich bindend sind. Das klingt vielleicht wie irgendeine obskure juristische Formel, aber um mich ganz unmissverständlich auszudrücken: Sollten Sie jemals auch nur ein Sterbenswörtchen von dem, was ich Ihnen gleich erzählen werde, nach außen dringen lassen, dann werden Sie mindestens die nächsten fünfzehn Jahre in einer Einrichtung verbringen, von deren Existenz keine Bürgerrechtsorganisation auch nur den leisesten Schimmer hat. Bitte nehmen Sie sich eine Minute Zeit, um sehr gründlich nachzudenken, ehe Sie fortfahren.«
Gründlich nachdenken war etwas für andere Leute. »Haben Sie mal einen Stift?«
Zuvorkommend förderte Mrs. Partridge einen Kugelschreiber zutage, und ich unterschrieb und zeichnete eine enorme Menge von Dokumenten ab. Dann nahm sie mir das Schreibgerät wieder aus der Hand, was im Grunde auch schon unsere ganze Beziehung umriss.
»Und nun«, sagte Dr. Bairstow, »werden wir Tee trinken.«
Mittlerweile war der Nachmittag in den Abend übergegangen. Dies hier dauerte deutlich länger, als für einen einfachen Forschungsauftrag angemessen gewesen wäre. Es war unverkennbar, dass es sich keineswegs um einen einfachen Forschungsauftrag handelte. Ich verspürte einen Hauch von Vorfreude. Irgendetwas Aufregendes würde geschehen.
Dr. Bairstow räusperte sich. »Da Sie nicht so klug waren, die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden, werden wir nun auch den Rest bereden.«
»Und das ist dann das berühmte Gespräch?«
Er lächelte und rührte in seinem Tee.
»Haben Sie angesichts von Forschungen und Archäologie und – nennen wir das Kind doch beim Namen – Herumgerate nicht auch schon einmal gedacht, wie viel besser es wäre, wenn wir stattdessen tatsächlich zu jedem historischen Ereignis zurückreisen könnten und selbst Zeuge sein würden? Um mit Fug und Recht sagen zu können: ›Ja, die Prinzen im Tower waren am Ende von Richards Regierungszeit noch am Leben. Und das weiß ich, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe.‹«
»Ja«, bestätigte ich. »Das wäre bestimmt eine tolle Sache, auch wenn mir durchaus ein paar Beispiele einfallen, wo eine solche Gewissheit nicht besonders geschätzt werden würde.«
Er schaute mit einem Ruck hoch.
»Als da wären …?«
»Nun, ein gewisser Stall in Bethlehem beispielsweise. Stellen Sie sich mal vor, Sie und Ihr Team schlagen dort mit Ihrer Polaroidkamera auf, und der Herbergsvater öffnet übereifrig die Tür und sagt: »Hereinspaziert, Sie sind meine einzigen Gäste, und es gibt jede Menge Platz hier im Haus.« Das würde doch für eine Menge Unruhe sorgen.«
»Was noch eine Untertreibung sein dürfte. Aber nichtsdestoweniger haben Sie den Sachverhalt glasklar erfasst.«
»Also«, sagte ich und beobachtete ihn genau, »vielleicht ist es ganz gut, dass es so etwas wie Zeitreisen nicht gibt.«
Er hob kaum merklich die Augenbrauen.
»Oder, um die Sache zu präzisieren, keinen allgemeinen Zugang zu Zeitreisen.«
»Ganz genau. Auch wenn die Bezeichnung »Zeitreise« so Sci-Fi ist. Wir benutzen sie nicht. Hier im St. Mary’s untersuchen wir große historische Ereignisse in zeitgenössischem Umfeld.«
Wenn man es so bezeichnete, ergab plötzlich alles einen Sinn.
»Sagen Sie mir, Dr. Maxwell, wenn die gesamte Menschheitsgeschichte wie ein glänzendes Band vor Ihnen liegen würde, wohin würden Sie reisen? Was würden Sie gern mit eigenen Augen sehen?«
»Den Trojanischen Krieg«, sagte ich, und meine Worte überschlugen sich beinahe. »Oder die Spartaner bei den Thermopylen. Oder Heinrich in Azincourt. Oder Stonehenge. Oder zuschauen, wie die Pyramiden gebaut werden. Oder Persepolis sehen, ehe es niederbrennt. Oder Hannibal beobachten, wie er seine Elefanten über die Alpen bringt. Oder nach Ur reisen und Abraham treffen, den Vater von allem.« Ich machte eine Pause, um Luft zu holen. »Ich könnte mal eine Wunschliste anfertigen.«
Dr. Bairstow lächelte dünn. »Vielleicht werde ich Sie eines Tages darum bitten.« Dann stellte er seine Tasse ab. Im Nachhinein erkenne ich, wie er sich während unseres Gesprächs langsam vorantastete, um sich eine Meinung von mir zu bilden, und wie er scheibchenweise Informationen preisgab, um meine Reaktionen darauf zu beobachten. Ich musste irgendetwas richtig gemacht haben, denn er sagte: »Nur so aus Interesse: Wenn man Ihnen die Möglichkeit eröffnen würde, bei einem der aufgezählten, aufregenden Ereignisse dabei zu sein, würden Sie dann zugreifen?«
»Ja.«
»Einfach so? Für manche Leute ist es naheliegend, sich danach zu erkundigen, wie es mit der sicheren Rückkehr aussieht. Manche lachen. Manche Menschen äußern Ungläubigkeit.«
»Nein«, erwiderte ich langsam. »Ich gehöre nicht zu den Ungläubigen. Ich denke sogar, es ist auf jeden Fall möglich. Ich wusste nur nicht, dass es bereits jetzt schon möglich ist.«
Er lächelte, sagte aber nichts, sodass ich mich weiter vorwagte. »Was geschieht denn, wenn man nicht zurückkann?«
Mitleidig schaute er mich an. »Eigentlich ist das das geringste Problem.«
»Ach ja?«
»Ja, sehen Sie, die Technologie existiert schon eine geraume Weile. Das größte Problem ist jetzt die Geschichte selbst.«
Ja, das erklärte alles. Aber, wie Lisa Simpson mal sagte: »Es ist besser, zu schweigen und für einen Dummkopf gehalten zu werden, als den Mund aufzumachen und damit jeden Zweifel wegzuwischen.« Und so blieb ich stumm.
»Stellen Sie sich die Geschichte als einen lebenden Organismus vor, der seine eigenen Abwehrmechanismen hat. Die Geschichte lässt nicht zu, dass sich irgendetwas an den Geschehnissen ändert, die bereits vergangen sind. Wenn die Geschichte auch nur für einen winzigen Augenblick befürchtet, dass das passieren könnte, dann wird sie, ohne zu zögern, den bedrohlichen Virus ausschalten. Oder den bedrohlichen Historiker, wie wir uns zu nennen pflegen. Und es ist ganz leicht. Wie schwierig ist es, einen zehn Tonnen schweren Gesteinsbrocken auf einen potenziell gefährlich werdenden Historiker fallen zu lassen, der gerade die Errichtung von Stonehenge beobachtet? Noch eine Tasse Tee?«
»Ja, bitte«, sagte ich, entschlossen, mir in puncto Kaltschnäuzigkeit nicht den Rang ablaufen zu lassen.
»Also dann«, sagte er, als er mir meine Tasse reichte, »gestatten Sie mir, dass ich Sie noch einmal frage: Angenommen, Ihnen würde die Möglichkeit eröffnet, das London des sechzehnten Jahrhunderts zu besuchen, sagen wir mal, um der Parade anlässlich der Krönung von Elizabeth I. beizuwohnen – Sie sehen schon, es geht nicht immer nur um Schlachtfelder und Blut –, würden Sie dann immer noch dort hinwollen?«
»Ja.«
»Es ist Ihnen also vollkommen klar, dass es nur um die Gelegenheit geht, zu beobachten und zu dokumentieren, ja? Irgendeine Form der Interaktion ist nicht nur außerordentlich unklug, sondern gewöhnlich streng untersagt.«
»Wenn man mir eine derartige Möglichkeit eröffnen würde, dann würde ich das sehr klar und deutlich begreifen.«
»Bitte seien Sie ganz ehrlich, Dr. Maxwell, rührt diese bewundernswerte Ruhe und Gelassenheit daher, weil Sie tief, ganz tief in Ihrem Innern denken, dass ich offenbar nicht mehr alle Tassen im Schrank habe und dass das eine Geschichte ist, die sich heute Abend prima im Pub erzählen lässt?«
»Tatsächlich, Dr. Bairstow, feiere ich gerade tief, ganz tief in meinem Innern eine verdammt wilde Party.«
Er lachte.
In Mrs. Partridges Büro saß wartend der stille, dunkelhaarige Mann mit den stechenden Augen, den ich auf der Treppe getroffen hatte.
»Ich werde Sie dann mal hier beim Chief lassen«, sagte Dr. Bairstow und raffte einige Papiere und Datenkristalle zusammen. »Sie haben einen interessanten Nachmittag vor sich, Dr. Maxwell. Viel Spaß.«
Wir verließen das Büro und gingen den langen Gang hinunter, der mir schon vorher aufgefallen war. Ich hatte das völlig verrückte Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Die Fenster, die in regelmäßigen Abständen auf der einen Seite des Flurs eingelassen waren, ließen das Sonnenlicht in breiten Streifen auf den Boden fallen, und wir wechselten von Helligkeit ins Dunkle, von Wärme in Kühle, von dieser Welt in eine andere. Am Ende des Korridors befand sich eine Tür mit einem Tastenfeld daneben.
Wir betraten einen großen, foyerartigen Bereich mit einigen weiteren, gewaltigen Türen gegenüber.
»Sicherheitstüren«, bemerkte der Chief beiläufig.
Natürlich, was hätte ich denn gedacht? Jedes historische Institut braucht Sicherheitstüren. Rechts von mir führte eine Treppe nach oben, daneben befand sich ein großer Aufzug mit den Ausmaßen eines Krankenhausfahrstuhls. »Zum Krankentrakt«, sagte der Chief. Links ging ein Flur mit einigen unbeschilderten Türen ab und verlief sich im Dämmerlicht.
»Hier entlang«, sagte er. Ob dieser Mann jemals mehr als zwei oder drei zusammenhängende Worte sprach?
Die großen Türen führten in einen riesigen, hallenden Raum im Stile eines Hangars. Ganz am anderen Ende konnte ich zwei verglaste Bereiche entdecken.
»Dies sind die Büros. Eins davon für IT.« Er machte einen Wink zum linken Raum. »Und einen für uns Techniker.« Nun deutete er auf den rechten. Auf einer Seite erstreckte sich über unseren Köpfen ein Gerüst wie eine Galerie, an deren Geländer drei oder vier Gestalten in blauen Overalls lehnten. Sie schienen auf irgendetwas zu warten.
»Historiker«, sagte er, nachdem er meinen Blicken gefolgt war. »Sie tragen Blau. Techniker laufen in Orange herum, IT in Schwarz und die Sicherheitsleute in Grün. Nummer drei sollte bald zurück sein. Das ist das Empfangskomitee.«
»Das ist … sehr freundlich«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn. »Es ist ein gefährlicher und schwieriger Job. Es gibt kein Unterstützernetz bei dem, was wir tun. Wir müssen aufeinander achtgeben, deshalb auch dieser Empfang. Um ihnen beizustehen und damit sie sich alles von der Seele reden können.«
»Was muss denn von Ihrer Seele?«
»Was auch immer dem Team bei diesem Auftrag zugestoßen ist.«
»Und woher wissen Sie, dass der Mannschaft etwas zugestoßen ist?«
Er seufzte. »Es sind Historiker. Denen passiert immer irgendwas.«
Auf beiden Seiten des Hangars gab es zwei Reihen von hohen Sockeln. Riesige, dicke schwarze Kabel schlangen sich darum und verschwanden dann in Windungen in den schummrigen Bereichen dahinter. Einige Sockel waren leer, auf anderen standen kleine, hüttenähnliche Gebilde. Sie alle unterschieden sich ein bisschen in Form und Größe, und jedes sah aus wie eine bescheidene, schmuddelige Bude aus Steinen mit flachem Dach und ohne Fenster. Es war die Art von Bauwerk, wie sie praktisch überall zwischen Ur im Zweistromland und einer Kleingartensiedlung mitten in einer modernen Stadt zu finden sein könnte. Ausgestattet mit einer wackligen, von Hand gefertigten Leiter an einer Seite, mit einem kaputten Rad neben der Tür und einigen Hühnern, die ringsum mit Picken beschäftigt waren, dürften die Dinger praktisch unsichtbar sein.
»Und das sind …?«, fragte ich und deutete auf die Verschläge.
Zum ersten Mal lächelte er. »Dies ist unsere Basis während der Missionen. Wir nennen sie Pods. Wenn unsere Historiker einen Einsatz haben, dann leben und arbeiten sie darin. Nummer eins und zwei.« Er zeigte darauf. »Wir benutzen sie normalerweise als Simulatoren und für Ausbildungszwecke, weil sie klein und einfach sind. Pod drei müsste jeden Augenblick wieder zurückkommen. Pod fünf wird gerade für einen Sprung vorbereitet. Pod sechs ist unterwegs. Pod acht auch.«
»Wo stecken Pod vier und sieben?«
Leise antwortete er: »Verloren«, und blieb schweigend stehen. Ich konnte praktisch die Staubflocken in den einfallenden Streifen des Sonnenlichts tanzen hören.
»Wenn Sie ›verloren‹ sagen, meinen Sie dann damit, dass Sie nicht wissen, wo sie sich befinden, oder dass sie aus irgendeinem Grund nie zurückgekehrt sind?«
»Das eine oder das andere. Oder beides. Vier ist ins Jerusalem des zwölften Jahrhunderts unterwegs gewesen, weil es den Auftrag hatte, die Kreuzzüge zu dokumentieren. Das Team hat sich nie zurückgemeldet, und alle folgenden Rettungsversuche sind gescheitert. Sieben hat einen Sprung ins frühe römische Britannien gemacht, nach St. Albans, und wir haben die Besatzung ebenfalls nie wiedergefunden.«
»Aber Sie haben gesucht?«
»Oh, ja, noch wochenlang. Wir lassen unsere Leute nie einfach zurück. Aber wir haben weder sie noch ihre Pods entdecken können.«
»Wie viele Leute haben Sie denn schon verloren?«
»Bei diesen beiden Gelegenheiten zusammen fünf Historiker. Ihre Namen stehen in der Kapelle.« Er sah den verwirrten Ausdruck auf meinem Gesicht. »Auf unserer Gedenktafel für diejenigen, die nicht zurückgekommen oder gestorben sind oder beides. Unsere Verschleißrate ist hoch. Hat Dr. Bairstow das nicht erwähnt?«
»Doch«, sagte ich. »Er …« Ich wollte fragen, wie hoch, aber in diesem Augenblick begann ein Licht über dem Sockel mit der Drei zu blinken. Orangefarben gekleidete Gestalten tauchten scheinbar aus dem Nichts auf und schleppten Versorgungskabel, Transportwagen und allerhand Werkzeuge an. Und still und leise, ohne viel Tamtam, ohne Fanfare und ganz sicher ohne die Titelmelodie von BBC Radiophonic Workshop, materialisierte sich Pod drei auf seinem Sockel.
Nichts passierte.
Ich sah zum Chief. »Ähm …«
»Wir gehen nicht hinein. Sie kommen heraus.«
»Warum?«
»Die Dekontamination läuft noch. Sie wissen schon, Pest, Pocken, Cholera, diese Dinge eben. Wir sollten nicht hineingehen, ehe sie sich nicht haben blicken lassen.«
»Aber was ist, wenn sie verletzt sind?«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und jemand brüllte: »Einen Arzt!«
Die Techniker in Orange teilten sich wie das Rote Meer, und zwei Männer, die augenscheinlich Ärzte waren, kamen durch den Hangar getrabt. Dann verschwanden sie im Pod.
»Was geschieht da? Wer ist da drin?«
»Nummer drei? Das müssten Lower und Baverstock sein, die aus China, frühes zwanzigstes Jahrhundert, zurückkommen. Boxer-Aufstand. Es sieht aus, als wenn sie medizinische Versorgung bräuchten, allerdings ist es nichts Ernstes.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Wenn man genügend Rückankünfte mitbekommen hat, dann hat man ein Gefühl dafür. Das wird schon wieder bei denen.«
Wir standen beide schweigend da und beobachteten die Tür, bis endlich zwei Leute, ein Mann und eine Frau in orientalischer Kleidung, herausgehumpelt kamen. Die Frau hatte einen Verband quer über dem Auge, und der Mann trug einen Arm in der Schlinge. Beide schauten hinauf zum Gerüst und winkten. Die Männer in Blau winkten zurück und riefen Frotzeleien herunter. Die Heimkehrer und die Ärzte machten sich davon. Die orangefarben gekleideten Techniker umschwärmten den Pod.
»Wollen Sie mal einen Blick hineinwerfen?«
»Ja, bitte.«
Aus der Nähe wirkte der Pod sogar noch unpersönlicher und noch weniger beeindruckend als von der anderen Seite des Hangars aus.
»Tür«, sagte der Chief, und eine arg mitgenommene Tür, die wie aus Holz aussah, schwang lautlos auf. In diesem enorm großen Hangar wirkte das Innere des Pods klein und eng.
»Da sind Toilette und Dusche«, sagte der Chief und deutete auf eine abgetrennte Ecke. »Hier haben wir die Anzeigen.« Eine Konsole mit einer Ansammlung von völlig unverständlichen Anzeigen, blinkenden Lichtern, Knöpfen und Schaltern befand sich unter einem großen, an der Wand angebrachten Bildschirm; die Außenkameras zeigten jetzt nur noch einen Ausschnitt des Hangars. Zwei abgewetzte und ungemütlich aussehende Drehsitze waren auf dem Boden vor den Anzeigen befestigt.
»Der Computer kann per Hand oder Stimme aktiviert werden, wenn Sie mit jemandem sprechen wollen. Überall an den Wänden gibt es Fächer mit der Ausrüstung, die Sie für Ihren jeweiligen Auftrag benötigen. Schlafgelegenheiten können bei Bedarf hier herausgezogen werden. In diesem Pod können bis zu drei Leute bequem liegen, vier, wenn man etwas zusammenrückt.«
Dicke Kabelstränge führten an den Wänden hoch und verschwanden in der getäfelten Decke.
Mitten in diesem Durcheinander von ziemlich abgenutztem, aber zweifellos alle High-Tech-Kriterien erfüllenden Inventar entdeckte ich zu meiner Überraschung einen kleinen Teekessel und zwei Becher, die es sich auf einem Regalbrett unter einem ziemlich großen Erste-Hilfe-Kasten gemütlich gemacht hatten.
»Ja«, sagte der Chief ein bisschen resigniert. »Zeigen Sie mir eine Tasse Tee, und ich werde Ihnen mindestens zwei dazugehörige Historiker zeigen.«
In dem winzigen Raum müffelte es abgestanden nach verschwitzten Menschen, Chemikalien, heiß gelaufener Elektronik und nassem Teppich, und darunter mischte sich der beißende, alles durchdringende Geruch von einer Toilette. Ich sollte noch herausfinden, dass es in allen Pods gleich roch. Historiker pflegten Witze darüber zu machen, dass die Techniker den Gestank nahmen und die Pods drum herumbauten.
»Wie funktioniert es?«
Er starrte mich wortlos an. Okay, vielleicht war es eine dumme Frage.
»Und jetzt?«
»Gibt es noch irgendetwas, das Sie gern sehen würden?«
»Ja, alles.«
Und so bekam ich die »andere« Tour. Wir gingen zur Abteilung für Sicherheit, wo grün gekleidete Leute Waffen und Ausrüstung überprüften, auf Monitore starrten, herumrannten und sich immer wieder gegenseitig etwas zuriefen.
»Gibt es ein Problem?«, fragte ich.
»Nein, ich fürchte, wir sind einfach ein lauter Haufen. Ich hoffe, Sie haben keine heiligen Hallen des Lernens erwartet.«
Ich traf Major Guthrie, groß, mit dunkelblondem Haar, der damit beschäftigt war, irgendetwas zu tun. Er unterbrach seine Arbeit und starrte mich an.
»Können Sie schießen? Haben Sie je eine Waffe abgefeuert? Können Sie reiten? Können Sie schwimmen? Wie fit sind Sie?«
»Nein. Nein. Ja. Ja. Überhaupt nicht.«
Er wartete ab und musterte mich von oben bis unten. »Können Sie einen Mann töten?«
Ich sah ihn ebenfalls von oben bis unten an. »Mit genügend Zeit wohl schon.«
Er lächelte zurückhaltend und streckte seine Hand aus. »Guthrie.«
»Maxwell.«
»Willkommen.«
»Danke.«
»Ich werde Ihre Fortschritte mit großem Interesse verfolgen.«
Das klang gar nicht gut.
Wir beendeten den Rundgang mit einer Besichtigung des Außengeländes, das sehr schön war – wenn man die seltsam verkohlten Stellen im Gras und die fast blauschwarzen Schwäne außer Acht ließ. Gerade als ich den Mund aufmachte, um etwas zu fragen, gab es einen kurzen Knall im zweiten Geschoss, und die Fenster bebten.
»Warten Sie«, sagte Chief Farrell. »Ich habe diese Woche Dienst und will sehen, ob der Feueralarm losgeht.«
Ging er nicht.
»Das ist nicht so gut, nicht wahr?«, fragte ich.
Er seufzte. »Nein, das bedeutet, dass sie wieder einmal die Batterien rausgenommen haben.«
Ich war hier wirklich genau am richtigen Fleck.
Man sagt, dass Hundebesitzer irgendwann anfangen, wie ihre Hunde auszusehen, aber genauso wahr ist, dass Auszubildende schon bald ihrem Institut gleichen. St. Mary’s sah arg mitgenommen und angeschlagen aus, und nach ein paar Wochen waren wir das auch.
Nur sieben von uns Auszubildenden tauchten am Tag eins auf. Offenbar hätten wir zehn sein sollen. Außerdem machten anscheinend im Durchschnitt nur dreieinhalb Anfänger eines jeden Kurses ihren Abschluss.
»Tja, du bist dann wohl die halbe Portion nach dem Komma«, sagte ein großer Kerl zu mir, der vermutlich auf meine geringe Körpergröße anspielen wollte. Ich ignorierte ihn. Er stopfte Papierkram in seinen Ordner, ohne zu merken, dass die Hälfte davon unten wieder hervorquoll. Auf seinem Namensschild stand Sussman. Er hatte dunkle Haare und ebensolche dunkle Augen und sah beinahe südländisch aus – wie der Typ Mann, der schon braun wird, wenn er nur einen Blick aus dem Fenster wirft.
Neben ihm stand Grant, ein untersetzter Bursche mit sandblondem Haar und tiefblauen Augen. Er ordnete seine Papiere sorgfältig mit breiten, klobigen Händen und schob sie vorsichtig in seinen Ordner. Sein quadratisches, angenehmes Gesicht war nachdenklich. Er stand neben Nagley und hörte zu, während sie sprach. Sie sah klug und ernsthaft aus, und ihre Augen und Hände waren pausenlos in Bewegung. In gleichem Maße, wie er die Ruhe weghatte, stand sie unter Strom. Die beiden waren ein perfektes Team.
Das andere Mädchen, Jordan, stand wie ich ein bisschen abseits, aber sie wirkte, als wäre sie auf dem Sprung, und ihre Körpersprache drückte Unsicherheit aus. Ich nahm an, dass sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich hier sein wollte. Ich sollte recht behalten. Sie hielt sich abseits und verschwand in der ersten Woche. Ich weiß nicht, was geschehen war. An einem Tag war sie noch da, und am nächsten war sie verschwunden. Es hatte keinen Sinn, sich deswegen zu erkundigen, denn uns wurde nichts mitgeteilt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich überhaupt jemals ihre Stimme gehört hätte.
Die beiden anderen, Rutherford und Stevens, unterhielten sich, während sie ihre Unterlagen sortierten. Stevens war ein bisschen älter als der Rest von uns, klein, pausbäckig und begeistert. Er schaute sich aufgeregt im Raum um und sog alles in sich auf. Rutherford wirkte wie ein großer, bulliger Rugbyspieler.
Der erste Schock war, dass wir unsere akademischen Titel verloren und ich plötzlich wieder Miss Maxwell war. Nur die Abteilungsleiter hatten Titel. Irgendwie gefiel mir das aber letztlich. Ich hatte das Gefühl, dass Miss Maxwell viel mehr Spaß haben würde als Dr. Maxwell.
Man brachte uns in unsere Zimmer in dem neu gebauten Mitarbeitertrakt. Mein Raum war klein und schäbig eingerichtet, und ich teilte mir das Badezimmer mit den beiden anderen Mädchen, Nagley und Jordan. Auf meinem Bett lagen ein paar graue Overalls bereit, vermutlich das am wenigsten schmeichelhafte Outfit aller Zeiten. Ein praktisches, elektronisches Notizpad passte genau in die Tasche am Knie. Es gab außerdem eine Schlechtwetterausrüstung, graue T-Shirts und kurze Hosen, Socken und Stiefel. Als ich mich selbst im Spiegel anschaute, stellte ich fest, dass ich wie ein kleiner, aufgeregter Kartoffelsack aussah.
Wir trafen uns wieder unten und marschierten dann zu unseren Ärzten. Ich machte mir nicht die Mühe, meine Abneigung gegenüber Medizinern zu verbergen, denn Dr. Foster machte ebenfalls keinerlei Anstalten, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie Patienten nicht leiden konnte. In meinen Augen sah sie in ihrem weißen Kittel und mit ihrem Stethoskop um den Hals irgendwie unpassend aus. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, dass enge Lederklamotten, eine kurze Reitgerte und ein strenger Gesichtsausdruck eher zu ihrer üblichen Ausstattung gehören müssten.
Ich füllte endlose medizinische Fragebogen aus. Mein Leben war bislang vergleichsweise problemlos verlaufen, aber trotzdem wurde ich gegen alles geimpft, und ich meine buchstäblich gegen alles. Außerdem wurde ich ermuntert, regelmäßig Blut zu spenden – eine Investition für die Zukunft.
Wir marschierten zurück in die Halle, rieben die Stellen, die noch immer puckerten, und setzten uns, woraufhin Dr. Bairstow für uns eine Willkommensansprache hielt.
»Meine Glückwünsche an Sie, die Sie heute hier sind. Sie waren die vielversprechendsten der Kandidaten, die wir zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatten, aber nur die Besten von Ihnen werden die Ausbildung beenden. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass nicht alle von Ihnen einen Abschluss erreichen werden. Vor Ihnen liegen harte Zeiten. Natürlich können Sie jederzeit abbrechen, wann immer Sie wollen. Es gibt keine Verpflichtung; Sie alle sind freiwillig hier. Wenn Sie gehen wollen, dann wird man Sie bitten, noch einmal die Verschwiegenheitserklärungen zu unterschreiben, die Sie ja bereits unterzeichnet haben, und Ihnen wird noch einmal unmissverständlich klargemacht, was für Konsequenzen es hätte, wenn Sie irgendwelche Informationen zu irgendjemandem durchsickern lassen würden.«
Er machte eine Pause und nahm jeden Einzelnen von uns ins Visier. Ich zwang mich, ruhig und gelassen zurückzustarren.
»Wir arbeiten eng mit der Universität von Thirsk zusammen, die einige von Ihnen absolviert haben. Wir genießen ein beträchtliches Maß an Autonomie, aber am Ende des Tages müssen wir der Uni gegenüber Rechenschaft ablegen, weil sie uns unsere finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Sie wiederum erstattet in unseren Angelegenheiten einem kleinen und diskreten Regierungsausschuss Bericht, der seinerseits, soweit ich das beurteilen kann, niemand anderem als dem lieben Gott verpflichtet ist. Sie selbst allerdings unterstehen mir.«
Wieder hielt er inne, damit wir alles sacken lassen konnten.
»Unser Bild in der Öffentlichkeit ist das einer bezaubernd exzentrischen historischen Forschungsorganisation, die niemandem außer sich selbst irgendwelchen Schaden zufügt. Diese Ansicht herrscht ganz besonders in der Stadt vor, vor allem, solange der Nachhall unserer letzten Explosion noch zu hören ist. Meine Damen und Herren, bitte sorgen Sie dafür, dass dieser Eindruck bestehen bleibt. Ich hoffe, ich werde Sie alle in den kommenden Monaten besser kennenlernen.« Kurz sah es so aus, als würde er schielen, als er mit der Stimme von jemandem, dem etwas Abscheuliches eingefallen ist, hinzufügte: »Und denken Sie bitte daran, dass meine Tür immer offen steht.« Dann war er verschwunden.
Wir hatten zu tun mit noch mehr ausgeteilten Unterlagen, Zeitplänen, Organigrammen und weiteren Formularen, die wir ausfüllen mussten. Das Konzept des papierlosen Büros hatte sich in St. Mary’s nie richtig durchsetzen können. Ich blätterte durch die Papiere in meinem Hefter, bis ich meinen Stundenplan gefunden hatte. Die erste Vorlesung sollte am nächsten Morgen um neun Uhr bei Chief Farrell stattfinden, den ich schon kannte, gefolgt von einer Sitzung bei der Leiterin der IT-Abteilung, Miss Barclay, an die ich mich nicht erinnern konnte.
Ich schätze, es lag daran, dass ich, mit Ausnahme des Klugscheißers Sussman, eigentlich jeden, den ich bislang getroffen hatte, ganz gern mochte, sodass ich mich in falscher Sicherheit wiegte, was Barclay betraf. Mein eigener Fehler. Ich hätte einfach meinen Mund halten können. Ich hätte wirklich einfach die Klappe halten sollen, aber ich bin dumm und werde es wohl nie lernen. Barclay stand an dritter Stelle der Befehlskette im St. Mary’s nach Dr. Bairstow und Chief Farrell, und während alle anderen umgänglich waren, war sie unbeliebt, von sich selbst eingenommen und hatte keinen Funken Humor.
Am nächsten Morgen versammelten wir uns mit leuchtenden Augen und voller Tatendrang. Chief Farrell mit seiner ruhigen, bestimmten Art zuzuhören, war ganz leicht, und noch dazu bot er einen sehr erfreulichen Anblick. Bei Izzie Barclay sah die Sache schon anders aus. Sie vermittelte ihr Fachgebiet so komplett uninteressant und ohne jeden Bezug zu irgendetwas, dass man fast hören konnte, wie die Augen der Leute glasig wurden. Ich lauschte nur mit halbem Ohr, während ich zusah, wie Barclay im Sonnenlicht posierte, damit jeder die goldenen Tupfen in ihrem roten Haar bewundern konnte.
Ohne Vorwarnung wirbelte sie herum und stocherte mit dem Finger in die Luft. »Sie da! Stevens! Was habe ich gerade gesagt?«
Falls Stevens tatsächlich irgendeine Ahnung hatte, womit Barclay uns gerade gelangweilt hatte, verflüchtigte sich sein Wissen augenblicklich angesichts der Schärfe ihrer Frage. Er starrte sie an: ein kleines, pelziges Waldtier, das von einer goldenen Kobra hypnotisiert wurde. Die Stille dehnte sich.
Ich sah auf. »Sie haben gerade die Position eines Punktes als relativ beschrieben. Kein Punkt kann je als fest oder unveränderlich angesehen werden, sondern muss immer in Relation zu allem anderen betrachtet werden.«
Noch mehr Stille. »Heißen Sie Stevens?«
Guter Gott, es war, als wäre ich wieder in der Schule.
»Nein«, sagte ich beflissen. »Ich heiße Maxwell.«
»Ich schätze, Sie halten sich für sehr clever.«
Noch mehr Stille.
»Antworten Sie mir.«
»Es tut mir leid, aber ich habe gar keine Frage gehört.«
Erfreulicherweise läutete es, was das Ende der Vorlesung und den Beginn der Mittagspause verkündete. Niemand bewegte sich.
Dann endlich trat Barclay einen Schritt zurück und sagte: »Sie können gehen.«
Und schon hatte ich meinen Ruf weg, in der zweiten Stunde am ersten Tag. Das kann ja noch heiter werden, Maxwell.
St. Mary’s bestand aus einem Kaninchenbau aus dunklen Fluren und kleinen Räumen. Nur der Mitarbeitertrakt, der Hawking-Hangar und die Küchen waren jünger als zweihundert Jahre. An den Wänden war unterhalb von Schulterhöhe kaum noch eine Spur von Farbe zu erkennen. Die hübschen alten Paneele waren abgeschabt und zerkratzt, und alle aufeinanderfolgenden Generationen hatten ihre Namen und Daten überall eingekerbt. Das bisschen, was noch an Teppich vorhanden war, war alt und abgetreten. Die Sitzmöbel waren überall durchgebogen. Die Vorhänge waren so dünn, dass man hindurchsehen konnte, und ständig hing der Geruch von feuchtem Mauerwerk und dem, was es mittags zu essen gegeben hatte, in der Luft.
Regelmäßige leichte Explosionen aus der Forschungsabteilung halfen auch nicht gerade, und eines denkwürdigen Tages steckte Professor Rapson seinen Kopf durch die Tür und sagte mit sanfter Stimme: »Wenn es nicht zu viel Umstände macht, würde ich empfehlen, dass wir bitte augenblicklich das Gebäude evakuieren.«
Chief Farrell unterbrach seine Enthüllungen der Geheimnisse des Universums und sagte: »In Ordnung, alle raus, bitte. Unverzüglich. Nein, nicht durch die Tür, Miss Nagley, nehmen Sie das Fenster. Bewegen Sie sich!«
Wir kletterten aus den Fenstern und gesellten uns zum Rest des Instituts auf dem Südrasen. Das Team um Major Guthrie trug Atemmasken und öffnete überall im Gebäude die Fenster. Irgendwas Grünes waberte heraus. Wir bekamen den Nachmittag frei.
Es war anstrengend. Es war berauschend. Und es war unbequem. Ich hatte mir nicht klargemacht, wie eng wir zusammen wohnen und arbeiten würden. Historiker arbeiten in Zweierteams. Allerdings wurde uns kein Partner zugewiesen, weil man im St. Mary’s daran glaubte, dass sich die besten und stärksten Partnerschaften zwischen denen entwickeln, die einander selbst gewählt haben. Wie bei einer Ehe, schätze ich, allerdings mit weniger Verschleißerscheinungen. Wo es möglich war, bestanden die traditonellen Paarungen aus Mann und Frau. Grant und Nagley hatten gleich zueinandergefunden, und auch Rutherford und Stevens schienen sich auf Anhieb zu verstehen, was zur Folge hatte, dass nur noch ich und dieser großspurige Bastard Sussman übrigblieben. Meine Lebensumstände vor meiner Zeit im St. Mary’s hatten mich zu einer Einzelgängerin gemacht, aber wo auch immer ich nun hinsah, war: Sussman. Er und ich waren die Einzigen, die noch frei waren, sodass wir allem Anschein nach zum Aneinanderkleben bestimmt waren.
»Wo ist das Problem, einfach mit mir zusammenzuarbeiten?«, fragte er herausfordernd, nachdem ich einen ganzen Tag mit dem Versuch zugebracht hatte, ihm aus dem Weg zu gehen. »Habe ich irgendetwas Falsches gesagt? Habe ich Mundgeruch? Was ist los?«
Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Es liegt nicht an dir …«, begann ich.
»Oh, komm schon, du willst deinen Satz doch wohl nicht mit »es liegt an mir« beenden, oder?«
»Na ja, doch«, sagte ich ertappt. »Aber ich kann dich auch anlügen, wenn dir das lieber ist.« Und damit wollte ich mich an ihm vorbeischieben.
»Nein, sieh mal. Es tut mir leid. Warte mal eine Minute. Habe ich irgendetwas getan? Manchmal, weißt du, kann ich ein bisschen …«
»Nein, ich bin …« Ich rang um Worte.
Er lächelte und sagte: »Du bist kein Teamplayer. Noch nicht. Du vertraust Leuten nicht genug, um deine Sicherheit in ihre Hände zu legen. Du magst es nicht, dich auf andere verlassen zu müssen, und ganz besonders willst du dich nicht auf mich verlassen, weil du mich nicht kennst, mich nicht magst und kein Vertrauen zu mir hast. In just diesem Moment wünschst du dir, dass ich tot umfalle, damit du wieder in dein Zimmer verschwinden und weiter dein Einsiedlerleben führen kannst, und damit du weitermachen kannst mit dem, was du da jede Nacht treibst. Was auch immer das sein mag.«
»Fast richtig. Eigentlich versuche ich, in den Speisesaal zu gehen, aber ansonsten hast du es ganz gut auf den Punkt gebracht.«
Es stand schweigend da und verdaute meine Worte, während ich sie beinahe sofort bereute. Er hatte recht. Ich hatte Angst, und wenn ich meine Haltung nicht änderte, würde ich hier nicht überleben. Er trat einen Schritt zur Seite, um mich vorbeizulassen, aber ich verpasste den Moment. Er war ein kluger junger Mann, dieser Davey Sussman.
»Sieh mal, wir zwei sind allein hier. Ich habe dich beobachtet, Maxwell, und du bist genauso gut wie ich. Und das sage ich nicht oft, weil mein Ego so groß wie meine Klappe ist. Im Augenblick brauchen wir einander, und ich denke, zusammen könnten wir ganz schön gut sein. Du willst spitze sein, ich genauso, aber das können wir nicht unabhängig voneinander. Ich verlange ja nicht, dass du mich in die Geheimnisse deines Lebens einweihst oder mit mir ins Bett gehst, ich will nur mit dir zusammenarbeiten. Was meinst du?«
Ich hatte mich schon einmal über meine Instinkte hinweggesetzt und mich Mrs. De Winter anvertraut, und das hatte mein Leben verändert. Vielleicht konnte ich es noch mal tun. Ich starrte auf seine Füße und nickte. Er war zu schlau, um mich weiter zu bedrängen. »Okay, dann sehen wir uns morgen beim Frühstück.« Und mit diesen Worten verschwand er.
Nachdem dieser Damm zu bröckeln begonnen hatte, folgten andere. Insgesamt waren die Leute im St. Mary’s eine gute Truppe. Natürlich unberechenbar, laut, exzentrisch, streitbar, loyal, hingebungsvoll und oft ungeduldig, aber auch der beste Haufen, den man sich nur wünschen konnte. Ich begann, mich ein bisschen zu entspannen. Das seltsame Chaos der ersten paar Wochen ging in Ordnung und Routine über, und wir bekamen nach und nach den Dreh raus, wie die Dinge hier liefen.
Die Vormittage waren zumeist Vorlesungen über zeitliche Dynamik, die Funktionsweise der Pods, Mathematik sowie der Geschichte und dem Aufbau vom St. Mary’s gewidmet. Wir verbrachten unsere Nachmittage in der Bibliothek, brachten uns aufs Laufende, was die Entwicklungen auf unseren Spezialgebieten anging – in meinem Fall Geschichte des Altertums –, lasen die neuesten Erkenntnisse in Archäologie und Anthropologie und beschäftigten uns mit intensiver Recherche auf zwei anderen Fachgebieten, in denen wir uns auskennen mussten.
»Was hast du dir denn für Spezialgebiete ausgesucht?«, fragte Sussman eines Freitagmittags, als ich zu meinem Raum wankte; meine Beine drohten unter mir nachzugeben, so voll gepackt war ich mit Büchern, Papieren und Kisten mit Datenwürfeln und Sticks. Das Notizpad in meiner Hosentasche schlackerte mir gegen das Knie, und ich sehnte mich nach einem Tee und danach, pinkeln zu können, allerdings nicht in dieser Reihenfolge.
»Mittelalter und die Tudors«, sagte ich. »Was ist mit dir?«
Er machte mir die Tür auf. »Britannien zur Zeit der Römer und das Zeitalter der Aufklärung.«
Ich war beeindruckt. Sein Hauptgebiet war das frühe Byzanz. Das waren alles große Themenbereiche. Er hatte also nicht nur ein hübsches Gesicht. Ich war froh, dass ich ihm eine Chance gegeben hatte. Sicher war er nicht jedermanns Kragenweite, aber ich mochte ihn immer lieber, je näher ich ihn kennenlernte. Außer an Freitagen.
An Freitagen war er einfach nur eine Nervensäge.
»Es ist Freitag«, sagte er und reichte mir ein Blatt Papier. Dann setzten wir uns.
»Och, Mann, Davey.«
»Komm schon, Max, es dauert nur eine Minute.«
»Warum wiederholst du nicht einfach den Stoff wie der Rest von uns?«
»Das macht keinen Spaß. So ist es eine viel größere Herausforderung.«
»Keine so große Herausforderung wie die Blonde in der Verwaltung, der du die ganze Woche lang nachgestellt hast. Wie läuft’s denn an dieser Front für dich?«
»Ich bin ziemlich zuversichtlich«, sagte er, rollte seinen Ärmel hoch und griff nach einem Stift.
Jeden Freitagnachmittag nach dem Essen, wenn sich normale Leute auf das Wochenende freuten oder von zu vielen Siruptörtchen von Mrs. Mack schläfrig waren (oder beides), verfrachtete man uns in einen kleinen Ausbildungsraum und piesackte uns mit endlosen Fragen zu allen Stoffgebieten der Woche. Essays, Multiple Choice, hin und wieder auch eine praktische Aufgabe – es ging Schlag auf Schlag. Ein Test nach dem anderen. Bumm, bumm, bumm. Und wir mussten bestehen. Durchzufallen war keine Option, wie man so schön sagt. Auch bei nur einem einzigen wöchentlichen Test durchzufallen bedeutete, dass man draußen war. Es gab keine Wiederholungsprüfungen, keine zweiten Chancen. Man war dann – zack! – passé.
Dementsprechend war jeder Freitagmittag der Sussman-Methode der Prüfungsvorbereitung gewidmet, die im Grunde darin bestand, dass er sich etwas auf den Arm kritzelte. Das war an sich schon unschön genug, ohne dass man sich dann auch anschauen durfte, wie er bessere Noten einstrich als diejenigen von uns, die über den Büchern geschwitzt und gebüffelt hatten. Das war wirklich verdammt ärgerlich. Er begann zu schreiben.
»Komm schon, Max. Lies mir den Abschnitt über Zeit- und Raumkoordinaten vor, und ich werde dir einen Drink spendieren.«
Er fand mich eines Nachmittags in unserem kleinen Klassenraum im ersten Stock, wo ich mich vor einem Querfeldeinlauf drückte.
»Hast du es schon gehört?«
»Offensichtlich nicht«, sagte ich und legte meinen Finger auf die Stelle, an der ich aufgehört hatte zu lesen, in der Hoffnung, dass er den Hinweis verstehen und wieder verschwinden würde. »Was gehört?«
»Rutherford hat sich ein Bein gebrochen.«
»Was? Ist er okay?«
»Tja, nein. Er hat sich ein Bein gebrochen, du taube Nuss.«
Ich nahm meine Kopien von McKisacks »Das vierzehnte Jahrhundert« und klammerte sie bedeutungsschwanger zusammen. »Ist er hier im Krankenflügel, oder haben sie ihn weggebracht?«
»Oh, sie haben ihn nach Rushford gebracht. Das war näher. Er wird bald wieder da sein.«
Aber das war er nicht. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Gerüchten zufolge war er als examinierte wissenschaftliche Hilfskraft zurück an die Thirsk gegangen, was bedeutete, dass der arme Stevens ziemlich allein zurückblieb. Stevens tat mir echt leid. Er wollte es so gern schaffen und hatte praktisch mit allem zu kämpfen. Akademisch gesehen war alles in Ordnung, aber der Rest war ein komplettes Desaster. Am schlimmsten war, dass diese blöde Barclay Blut gerochen hatte, was sein Leben vollends zur Hölle machte. Dies brachte eine Seite in Sussman zum Vorschein, die ich nicht besonders leiden konnte. Ich hatte ihn gebeten, mal einen Gang zurückzuschalten. Er konnte – oder wollte – nicht einsehen, dass es ein bisschen unsensibel Stevens gegenüber war, der derart hart zu kämpfen hatte, wenn man es so heraushängen ließ, dass man alles mühelos schaffte und glänzte, ohne sich anstrengen zu müssen.
»Warum sollte ich mich zurücknehmen?«, hatte er gefragt. »Nur drei oder bestenfalls vier von uns werden die Ausbildung zu Ende bringen. Ich, du, Grant und vermutlich Nagley. Was soll’s also?«
»Schlägst du vor, dass wir zusehen, wie Stevens den Bach runtergeht?«
»Was kümmert’s dich?«
»Er ist einer von uns, du gefühlloser Blödmann.«
»So, so, wer ist denn jetzt plötzlich ein Teamplayer?«
»Er würde dasselbe für dich tun.«
»Ja, aber das wäre gar nicht nötig.«
Ich diskutierte nicht weiter, was bei Sussman meistens das Beste war.
»Schön, dann ist ja alles gut.«
Nach einem ganzen Morgen, den ich mit Simulationsaufgaben verbracht hatte, saß ich an meinem Lieblingstisch in der Bücherei und versuchte herauszufinden, wo genau ich mich geirrt hatte. Sussman kam und ließ sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen.
»Also, wie ist deine erste Simulation gelaufen?«
»Oh, wirklich gut«, sagte ich, was eigentlich eher nicht der Wahrheit entsprach.
»Wo bist du gelandet?«
»Im minoischen Kreta, Bronzezeit.«
»Wow«, sagte er. »Gut gemacht.«
»Ja. Bedauerlicherweise wollte ich ins frühe fünfzehnte Jahrhundert nach Konstantinopel.«
»Ah. Oh, na ja, mach dir nichts draus. Nächstes Mal machst du es besser. Hast du das mit Stevens gehört?«
»Oh, nein. Was ist es denn diesmal?«
»Er wollte nach England in die Tudor-Zeit. Ins Jahr 1588, um genau zu sein.«
»Und?«
»Er landete inmitten der Spanischen Armada.«
Ich dachte rasch nach. »Aber das ist doch gut. 1588 ist die Zeit der Spanischen Armada.«
»Nein, nein, ich meine, er landete genau in der Mitte der Spanischen Armada. Ungefähr acht Meilen vor der Ostküste, während die San Lorenzo aus allen Rohren auf ihn feuerte, als er und sein Pod in den simulierten Wellen untergingen. Der Chief versucht immer noch herauszufinden, wie er es geschafft hat, aus Versehen alle Sicherheitsprotokolle zu umgehen, und Barclay hatte ein Gesicht wie ein überfahrener Dachs. Er ist ein bisschen niedergeschlagen, also sollten wir ihn mit Alkohol abfüllen, ehe er jeden Lebenswillen verliert. Kommst du mit?«
»Ja«, sagte ich, verstaute meine Sachen in meiner Tasche und folgte ihm in die Bar.
Nagley und ich steckten die Köpfe zusammen und taten, was wir konnten. Wir gaben Stevens Nachhilfestunden, bereiteten Wiederholungsaufgaben für ihn vor und halfen ihm bei seinen Aufzeichnungen. Grant und ein maulender Sussman versuchten, dafür zu sorgen, dass er wenigstens äußerlich eine gute Figur machte, aber vermutlich sorgten unsere Bemühungen nur dafür, dass seine Defizite noch deutlicher zutage traten, und so wurde er abgesägt.
Wir beendeten gerade eine unserer Sitzungen über geschlossene zeitartige Kurven, als die Tür aufging und Barclay hereinmarschierte. Ich sah, wie Stevens blass wurde. Er hatte das erwartet, aber nun wurde seine Angst plötzlich real.
»Mr. Stevens, kommen Sie bitte mal.«
Ob aus Versehen oder mit Absicht (bei Barclay konnte man sich nie sicher sein) schloss sich die Tür nicht richtig hinter ihr, und wir hörten jedes Wort.
»Stevens«, sagte sie bissig. »Räumen Sie bitte Ihre Sachen zusammen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen das mitteilen muss, aber Sie sind draußen.«