Mit ADHS und Freude durch den Schulalltag - Claudia A. Reinicke - E-Book

Mit ADHS und Freude durch den Schulalltag E-Book

Claudia A. Reinicke

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Beschreibung

Drei Störungen in fünf Minuten, die Hausaufgaben zu Hause vergessen, der Banknachbar beschwert sich über sein zerbrochenes Lineal – Kinder mit ADHS können einem den letzten Nerv rauben, weil sie scheinbar nicht zu steuern sind. Was ist die richtige Reaktion? Loben, Strafen oder Ignorieren? Wie bewegt man ein ADHS-Kind zur Kooperation? Claudia Reinicke beschreibt die Symptomatik und die Ursachen von ADHS alltagstauglich und ohne Grundsatzdiskussion. Sie stellt die möglichen Reaktionen auf den Prüfstand und zeigt, welche Elemente sich sinnvoll anwenden lassen. Richtschnur ist eine lösungsorientierte Kommunikation, die ein effektives und freudvolles Lernen erleichtert. Die Autorin zeigt, wie man Probleme in Ziele umwandelt und so aus der ständigen Suche nach Fehlern ein Entdecken von vielen kleinen Erfolgen wird. Als hilfreiches Werkzeug entpuppt sich die Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie (PEP): Sie reduziert den Stress und stärkt den Selbstwert bei allen Beteiligten. Übungen zur Selbstreflexion und zur Selbstfürsorge unterstützen Lehrer und Erzieher beim Führen von Klassen bzw. Gruppen wie bei der persönlichen Gesunderhaltung.

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Claudia A. Reinicke

Mit ADHS und Freude durch den Schulalltag

Zweite, erweiterte Auflage, 2023

Reihe »Spickzettel für Lehrer«

hrsg. von Christa Hubrig und Peter Herrmann

Reihengestaltung: Uwe Göbel und Jan Riemer

Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite, erweiterte Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0458-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8409-6 (ePub)

© 2015, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Spickzettel für Lehrer – systemisch Schule machen

»Hast du einen Spickzettel?« Diese Frage kennen wir noch aus der Schulzeit, aus der Schülerperspektive, wenn es darum ging, sich auf Prüfungen und Klassenarbeiten vorzubereiten. Wechseln wir die Rolle und Perspektive und stellen uns auf die andere Seite des Klassenzimmers, auf der die »Wissenden«, d. h. die Lehrer, stehen. Schnell wird deutlich: Bei aller Erfahrung gibt es doch erhebliche »Wissenslücken« im Umgang mit schwierigen Situationen, ob sie nun das Lernen selbst, die Schule als Organisation oder die Beziehungen und das Verhalten der Beteiligten betreffen.

Systemisch orientierte Pädagogen können sich hier ruhig und entspannt zurücklehnen, wohl wissend, dass sie selbst »Fragende« sind – Fragende bezüglich passender Antworten auf die sich stets wandelnden und neu entstehenden Konfliktfelder in der Organisation Schule, zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Schule und Eltern und auch mit dem politischen Umfeld von Schule.

Aus systemischer Sicht sind Schwierigkeiten immer mit Lernchancen verbunden. Wo der Blick vom Problem auf die Lösung wechselt, wo man statt hinderlicher Defizite hilfreiche Ressourcen ins Auge fasst, kommt auch die Haltung in Bewegung. Ein gut platzierter Unterschied zieht dann oft viele positive Änderungen nach sich.

Die Bücher dieser Reihe wollen Einladungen sein, sich auf diese andere Sichtweise einzulassen. Sie sollen Lehrern, Erziehern und Schulleitern Methoden und Strategien zum täglichen Handeln anbieten, die Ihnen die Arbeit – und im besten Fall: das Leben – leichter machen. Sie sind auch Rezepte, die man ausprobieren und mit eigenen Zutaten verfeinern kann.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen, Erfahren und Ausprobieren!

Christa Hubrig & Peter Herrmann

Institut für systemische Lösungen in der Schule (ISIS)

www.isis-institut-koeln.de

Inhalt

Vorwort

1 Woran erkenne ich, dass ein Kind AD(H)S haben könnte?

2 Woher kommt das?

3 Wie wird der Alltag mit diesen Kindern wieder freudvoll und effektiv?

3.1 Freudvolle Begegnungen im Unterricht

3.1.1 Lenken, leiten und steuern

3.1.2 Verhalten effektiv regulieren

3.2 Angenehme Beziehungen

3.2.1 Emotionen regulieren

3.2.2 Lösungsorientierte Kommunikation

3.2.3 Überzeugungen und der Selbstwert

3.2.4 Kooperationsbereitschaft stärken

3.3 Eine Klasse, die Freude macht

3.4 Ein Blick auf sich selbst

Anhang

Literatur

Über die Autorin

Vorwort

Lehrersein ist ein äußerst anspruchsvoller Beruf.

Man soll erziehen, lehren, rhetorisch möglichst gewandt sein, sozial kompetent, klare Kommunikationsmuster verwenden, das Wesentliche der Lernmotivation verinnerlicht haben, die Grundlagen der Verhaltenssteuerung beherrschen, sich emotional im Griff haben …

Das bedeutet einfach: Man muss Führungsqualitäten zeigen, ganz abgesehen von den fachlich-inhaltlichen Kompetenzen. Doch viele Lehrer beklagen, dass ihnen das Lenken, Leiten und Richtungbestimmen, das man von Führungskräften erwartet, nicht oder nicht ausreichend beigebracht wird.

Dazu kommt, dass es in jeder Klasse mehr oder weniger schwierige Kinder gibt – von den Eltern mal ganz zu schweigen –, die einem in unangenehmen Gesprächen das Leben noch zusätzlich schwer machen. Und dann diese AD(H)S-Kinder, die einen wirklich manchmal zur Weißglut treiben oder ziemlich hilflos machen können. Und dabei sind diese doch oft sehr nette, wenn nicht sogar ganz besondere Kinder …

Als Verhaltenstherapeutin mit systemischem Ansatz arbeite ich seit über zwanzig Jahren mit ADHS-Kindern, einzeln und in Gruppen. Bei den therapeutischen Interventionen werden Eltern bzw. ganze Familien miteinbezogen. Sobald die zu therapierenden Anliegen auch die schulische Seite betreffen, versuche ich, die Lehrer einzubinden. Dadurch gestaltet sich meist auch die Lehrer-Eltern-Beziehung besonders konstruktiv. Da ich als Coach u. a. auch Lehrer betreue und seit über zwanzig Jahren in der Lehrerfortbildung, auch im Sinne von Teamentwicklungsseminaren, tätig bin, verfüge ich über eine gewisse Kenntnis von Bedürfnissen und Anliegen der Lehrer aus unterschiedlichsten Betrachtungsrichtungen. Obendrein ist mir die Rolle der Eltern in der schulischen Situation aus eigener Anschauung als fünffache Mutter auch nicht fremd.

Trotz oder gerade aufgrund dieser vielfältigen Erfahrungen scheint mir ein Zitat von Charles Dickens für den Umgang mit diesen Kindern ganz angebracht:

»Auch eine schwere Tür braucht

nur einen kleinen Schlüssel!«

Abb. 1: Schlüssel

In diesem Spickzettel für Lehrer möchte ich Ihnen gerne in kompakter Weise und anhand von konkreten Fragestellungen und kleinen Übungen vermitteln, welcher Schlüssel zu welcher Tür am besten passt.

In den ersten beiden Kapiteln möchte ich gerne das Symptombild ADHS und dessen Ursache alltagstauglich beleuchten. Im dritten Kapitel geht es um Methoden, die Ihnen wieder mehr Freude in den Alltag bringen. Diese sind auch im Umgang mit allen übrigen Menschen nützlich, aber bei ADHS-Kindern »überlebenswichtig«!

Ich verwende zugunsten der Lesbarkeit überall die maskuline Form aller Lehrpersonen.

1 Woran erkenne ich, dass ein Kind AD(H)S haben könnte?

Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom kann laut DSM IV mit einer hyperaktiven Ausprägung (ADHS) auftreten, sich im impulsiven Typus zeigen oder nur als Aufmerksamkeitsstörung (ADS) daherkommen.

Die drei Hauptmerkmale des AD(H)S sind

Aufmerksamkeitsprobleme,

Impulsivität und

Hyperaktivität.

Ich möchte an dieser Stelle nicht die in diagnostischen Manualen beschriebenen Symptomlisten aufzählen. Diese können Sie im Anhang nachlesen. Für eine Diagnose müssen nicht alle drei der Hauptmerkmale vorhanden sein. »Nur« aufmerksamkeitsgestörte Kinder erhalten die Diagnose »ADS«. Ich verwende im Text der Einfachheit halber das Kürzel ADHS, womit Kinder mit und ohne Hyperaktivität gemeint sind.

Je nach Subtypus erkennen Sie vor allem hyperaktive Kinder z. B. im Grundschulalter an einem andauernden Bewegungsdrang. Zappeln, mit dem Stuhl kippeln, spontanes Aufstehen und Herumlaufen, sehr auffälliges, geräuschintensives, wild wedelndes Sichmelden gehören u. a. dazu. So ein Kind wird auch bei der Aufforderung »Wir gehen jetzt los!« womöglich nicht gehen, sondern losrasen. Bei dieser besonderen Art des Gehens rempelt das Kind unzählige Male andere sorglos Herumstehende an – ohne wirkliche Absicht.

Die impulsiven Kinder quatschen Ihnen immer dazwischen, stellen unzählige, scheinbar überflüssige Fragen, da die Antwort quasi gerade erklärt wurde, stehen einem fast auf den Zehenspitzen, wenn sie mit einem reden, umarmen oft Menschen, denen man diese Geste ohne eine gewisse Distanzlosigkeit nicht entgegenbringen würde, reagieren oft unglaublich schnell, aber nicht unbedingt angemessen auf eine neue Situation. Arglos bringen sie sich oft in Gefahr – in der festen Annahme, der Menschheit einen guten Dienst zu tun. So wird sich ein Kind ohne ADHS sicherlich dreimal überlegen, ob es sinnvoll ist, einen aufgeplatzten gelben Müllsack, dessen Inhalt sich durch das Vorbeifahren der letzten Autos gerade auf einer vierspurigen Stadtstraße zu verteilen beginnt, von der Fahrbahn aufzuheben und die verstreuten Plastikmüllteile wieder einzusammeln. Das ADHS-Kind hat vielleicht in diesem Moment nur den Gedanken »Umweltverschmutzung!«, checkt kurz die Verkehrssituation (behauptet es hinterher jedenfalls), sammelt das herumfliegende Zeug ein und trägt den Sack zur Schule, um ihn dort unter schwer verständlichen, weil verwirrenden Erklärungen ordnungsgemäß zu entsorgen. Niedergeschlagen nimmt das Kind dann nur zur Kenntnis, dass nicht alle Personen uneingeschränkte Begeisterung für sein Umweltbewusstsein äußern, sondern immer wieder sogar eher schimpfend etwas von »Gefahren« erzählen.

Bei den Kindern mit deutlich eingeschränkter Aufmerksamkeit fällt Ihnen auf, dass diese immer wieder zu vergessen scheinen, was sie gerade gehört haben. Manchmal ist man sich auch nicht sicher, ob sie einen überhaupt gehört haben. Wenn andere reden, schalten sie meist »schnell ab« und versinken, je nach motorischer Konstitution, wie weggetreten in sich selbst oder widmen sich einer anderen Gegebenheit. Manche vermeintliche Ablenkung – wie mit dem Radiergummi in der Hand spielen, den Kugelschreiber an- und ausknipsen oder ein in der Nähe stehendes Murmelspiel in Bewegung versetzen – dient dabei oftmals lediglich der Stimulation, um nicht ganz abzuschalten. Manche träumen und scheinen nie bei der Sache zu sein. Oft hält man sie für dümmer, als sie sind, weil sie oft von Fragen überrascht sind und nicht antworten können. Sie können ihre Aufmerksamkeit einfach nicht ausrichten. Sie können auch beim selbst gewählten Sportwettkampf am Start stehen und denselben verpassen, weil sie gerade ein bekanntes Gesicht im Zuschauerraum ausfindig gemacht haben, dem sie erfreut zublinzeln. Sie machen ebenso viele Schusselfehler, wie hyperaktive Kinder, aber bei ihnen zweifelt man eher am Intellekt, weil sie sich nicht so aktiv am Geschehen beteiligen. Und das Gedächtnis schlägt ihnen auch ein Schnippchen, wenn sie etwas gezielt reproduzieren sollen.

ADHS-Kinder vergessen genauso oft, ihre Hausaufgaben in das dafür vorgesehene Heft einzutragen, wie ihre Eltern an die wöchentliche Auszahlung des Taschengeldes zu erinnern. Sie kommen auch mit gepacktem Ranzen in die Schule, wenn angesagt und eingeschrieben wurde, dass am nächsten Tag ein kleiner Rucksack mit Vesper und Federmäppchen genügt, weil ein Zooausflug ansteht. An den anderen Tagen ist selten vollständig das Benötigte in der Schultasche. Mühevoll erledigte Hausaufgaben bleiben zu Hause liegen, der Beutel mit Schwimmsachen wird im Bus, wenn nicht sogar schon an der Bushaltestelle vergessen, weil das Einsteigen in den Bus so überraschend kam. Wichtige Gegenstände wie Schlüssel, Brille, Zirkel, Geldbeutel, Fahrkarte werden immer gesucht und selten gleich gefunden. Das rechtzeitige Absenden von Bewerbungsunterlagen wird genauso »verpeilt« wie die fristgerechte Abgabe der ausgeliehenen Schulbücher, ohne die das Abschlusszeugnis nicht vergeben wird.

Ich finde die Kinder am spannendsten, die die gesamte Bandbreite der Auffälligkeiten mit sich führen: hyperaktiv, impulsiv und mit beeinträchtigter Aufmerksamkeit – da können Sie alle Besonderheiten auf einmal genießen. Diese Kinder vergessen nicht nur, sie reagieren auch noch so schnell mit einer unerwarteten Alternative, dass einem das Leben mit ihnen nie langweilig wird. Sie können kaum ruhig auf einem Stuhl sitzen, stehen immer wieder ungefragt auf, quatschen immer dazwischen, beantworten Fragen, bevor sie fertiggestellt sind, überhören oft das Wesentliche – vor allem, wenn gerade auf Verhaltensregeln aufmerksam gemacht wird. Haben sie die Regeln allerdings erst einmal internalisiert, rufen sie sie oft stur ab, auch wenn die Situation diesmal eine ganz andere ist. Sie scheinen oft genau das Gegenteil von dem zu tun, was der Lehrer ansagt. Ihre Arbeitsmaterialien neigen dazu, immer dort zu verweilen, wo sie gerade nicht benötigt werden, soweit sie nicht sogar verloren gegangen sind.

Die zur Verfügung stehende Zeit einzuschätzen ist für diese Kinder oft bis ins Erwachsenenalter ein Buch mit sieben Siegeln und eine Unfähigkeit, die sie immer wieder in höchste Not bringt. Denn ganz gleich, ob es morgens der Bus ist, der sich nach einem Fahrplan richtet, oder eine Klassenarbeit, die überraschenderweise nach 45 Minuten beendet werden soll, den »ADHSler« überrascht das immer wieder aufs Neue. Diesen Menschen fehlen in vielen Handlungssituationen verschiedene sog. metakognitive Fähigkeiten, u. a. das Vorhersehen, Überprüfen, das Planungsverhalten, die Handlungsorganisation und das Wissen, wie sich ihr Verhalten auf die Umgebung oder die Zukunft auswirken wird.