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Während sich die meisten Bücher über den Buddhismus mit den philosophischen Grundlagen beschäftigen, will Volker Zotz dem Leser die ungeheure Lebensnähe der Lehren Buddhas zeigen. Und das war auch Buddhas Ziel: Er interessierte sich nicht so sehr für philosophische Spekulationen über Gott, die Welt oder das Leben nach dem Tod, sondern für Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Menschen ein sinnvolles und glückliches Leben ermöglichen.
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Seitenzahl: 299
Volker Zotz
Mit Buddha das Leben meistern
Buddhismus für Praktiker
Ihr Verlagsname
Professor Dr. Volker Zotz, Jahrgang 1956, ist Philosoph und Kulturwissenschaftler. Der Spezialist für Buddhismus und Konfuzianismus promovierte an der Universität Wien und habilitierte sich im Fach Religionswissenschaft an der Universität des Saarlandes. Nach längeren Studien- und Forschungsaufenthalten in Indien und anderen Ländern Asiens arbeitete er von 1989 bis 1999 an japanischen Universitäten in Kioto und Tokio. Seither lehrt er an der Université du Luxembourg. Volker Zotz ist Autor zahlreicher Bücher zu geistesgeschichtlichen Themen und Initiator des Projekts «Eurasischer Humanismus und Interkulturelle Spiritualität».
www.volkerzotz.eu
Dem Gedächtnis an
Dr. Ernst Pagenstecher und
Frau Traude Pagenstecher
gewidmet
Dieses Buch behandelt Lehren des als Buddha bekannten Gautama im Hinblick auf ihren Nutzen für heutige Menschen. Es stellt keine theoretische Philosophie dar, sondern deren Impulse für die Lebenspraxis. Entsprechend geht es nicht um ‹Buddhismus›, ein Wort, das außer der Erwähnung in diesem Satz im Text nicht mehr vorkommt. Es wird gefragt, wie Gautamas Aussagen dem einzelnen helfen, sein Dasein bewußter, verantwortlicher und freier zu gestalten.
Gautamas Antworten auf Probleme des Alltags, die sich seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden in Ländern Asiens bewährten, gewinnen heute an Relevanz für viele Menschen Europas und Amerikas, denen die Werte des alten Abendlandes nicht mehr zur Orientierung genügen. Obwohl sich dieses Buch als Einführung in Grundhaltungen Gautamas lesen läßt, ist es sein Anliegen, zur Verwandlung des Lebens anzuregen. Darum wird der Leser durch Fragen und Aufforderungen zum praktischen Experiment gefordert. Seine Antworten und Erfahrungen erschließen erst, worauf der Text hindeuten will.
Die ursprüngliche Fassung dieses Buches erschien vor einem Jahrzehnt unter dem Titel Freiheit und Glück. Buddhas Lehren für das tägliche Leben, gefolgt von der Taschenbuchausgabe Erleuchtung im Alltag. Es wurde einigen Lesern zum Wegbegleiter. Reaktionen und Fragen aus ihrem Kreis ließen sich bei vorliegender erweiterter Neufassung berücksichtigen.
Kyōto, im Januar 1997
Volker Zotz
Sind Alter, Krankheit und Tod für mich wirklich Bedrohungen, die zwangsläufig Schmerz, Kummer und Verzweiflung bringen müssen? Wie kann ich trotz der zahlreichen inneren und äußeren Probleme, die mich leiden lassen, dauerhaftes Glück und wahren Frieden finden? Ist es möglich, in jedem Augenblick des Lebens aus einer wachen und klaren Bewußtheit zu handeln? Muß ich Opfer ungewollter Umstände sein, oder kann ich mein Dasein tatsächlich selbst in die Hand nehmen? Wie wird aus einem trüben, eintönigen Alltag ein erfülltes und vollkommenes Leben? Gibt es eine Erkenntnis, die mir echte Freiheit schenken kann?
Vor mehr als 2500 Jahren lebte in Indien ein Weiser, der auf diese Fragen eindeutige Antworten fand. Man nannte ihn den Buddha, was in indischen Sprachen «der Erwachte» bedeutet, denn in jeder Situation behielt er einen wachen und ungetrübten Geist. Obwohl er auf ein Königreich als Erbe verzichtete und die Kriegskunst, die er in seiner Jugend erlernte, niemals ausübte, wurde er zu einem der einflußreichsten Menschen der Weltgeschichte. Ungezählte Frauen und Männer fanden durch seine Weisheit, die sich bald über ganz Asien verbreitete, zu einem glücklichen und erfüllten Leben.
Nun sind 2500 Jahre eine lange Zeitspanne, und Indien ist ein fernes Land. Sind jene Antworten, die der weise Buddha damals auf die Kernfragen des Lebens fand, auch hier und heute noch aktuell? Können sie uns bei der Bewältigung unserer täglichen Schwierigkeiten hilfreich sein?
Echte Weisheit ist zeitlos. Die Bedeutung eines wahren Weisen besteht darin, daß er die Gesetzmäßigkeiten der Natur und des Geistes aufzeigt, die immer gültig sind. So wie die Lehren der Weisen Griechenlands und Chinas stets Geltung besitzen, verkündete auch der Buddha eine zeitlose Botschaft. Echte Weisheit kann daher das Leben jedes Menschen bereichern, gleichgültig welcher Religion er angehört, welche Sprache er spricht und wo sein Platz in der Gesellschaft ist. Die Lehren des Buddha kennen dabei keine engstirnigen Dogmen. Sie stellen die persönliche Erfahrung des Menschen und seine großartigen Möglichkeiten zu innerem Wachstum in den Mittelpunkt.
Aber es ist ein schillerndes Gewand, in das sich diese zeitlose Botschaft hüllt, und es heißt aufzupassen, daß man dadurch nicht vom Eigentlichen abgelenkt wird. Wer die Lehren des Buddha zur Meisterung seines Daseins nutzen möchte, darf dies keinesfalls mit einer Faszination von exotischen Sitten und Gebräuchen verwechseln. Das würde bedeuten, daß man überlieferte Formen über die wesentlichen Inhalte stellt.
Diese wesentlichen Inhalte sind praktisch anwendbare Hilfen: Der Buddha zeigte seinen Schülern, was sie tun können, um jene Freiheit zu finden, die sie sich wünschen. Er gab dazu Ratschläge für das tägliche Leben: zum rechten Gebrauch des Denkens und der Erkenntnis, zur Lebensführung und zur Meditation.
Jene Ratschläge des Buddha und anderer großer Weiser aus Indien, Tibet, China und Japan, die in seiner Nachfolge standen, bilden die Grundlage des vorliegenden Buches. Es möchte diese wesentlichen Inhalte in der Sprache unserer Zeit vermitteln, ohne dabei an traditionellen Formen zu haften. Im Zentrum stehen folgende Fragen: «Wie kann mir die Weisheit des Buddha heute im täglichen Kampf helfen? Wie komme ich zu einer meditativen Lebenshaltung, die mir geistige Klarheit, wache Handlungsfähigkeit und inneren Frieden schenkt? Welche praktischen Übungen können hierzu förderlich sein? Wie fange ich an?»
Die Weisheit des Buddha ist oftmals erstaunlich einfach. Viele Menschen suchen nach hochtrabenden Systemen, die schwer verständlich und möglichst undurchschaubar klingen. Aber das, was uns Zufriedenheit und Erfolg bringen kann, ist in Wahrheit meist ganz simpel. Wer meint, nur das Komplizierte und Teure könnte hilfreich sein, übersieht dabei leicht die einfachen Schritte, die wir selbst zu Freiheit und Glück gehen können.
Der Buddha weist stets auf das Naheliegende. Der Mensch neigt dazu, sich durch Fragen und Überlegungen, die nichts mit seinen unmittelbaren Schwierigkeiten zu tun haben, abzulenken oder noch zusätzliche Probleme zu schaffen. Dabei wissen wir oft ganz genau, wo wir beginnen sollten. Doch wir haben Angst, es könnte mühselig oder beschwerlich sein, das Naheliegende zu tun. Wir schaffen uns ungezählte Ablenkungen, die uns im entscheidenden Moment vom Wesentlichen fernhalten. So verschieben wir alles auf eine unbestimmte Zukunft und verdrängen aus unserem Bewußtsein, daß wir grundsätzlich in jedem Augenblick die Richtung unseres Lebens ändern könnten.
Wir können den Weg zu Glück und Freiheit einschlagen. Oder auch Sklaven der äußeren Umstände und unserer Ablenkungen bleiben. Die Wahl liegt bei jedem einzelnen Menschen. Die einfachen und auf das Naheliegende gerichteten Ratschläge des Buddha zeigen sichere Möglichkeiten auf, wie man das eigene Leben selbstverantwortlich und schöpferisch gestaltet. Meditative Methoden unterstützen diesen Weg und führen zu klarer Bewußtheit und ungeahnten Erkenntnissen. Angst vor Veränderung wird überwunden. Wir kommen in die Lage, zu werden und zu tun, was wir wahrhaft wollen. Wir verwirklichen die Harmonie mit den Gesetzen der Natur und des Geistes.
Wer mehr aus seinem Leben machen möchte, wer sich nicht länger mit Scheinerklärungen, Ablenkungen und Entschuldigungen, die man selbst nicht glaubt, zufriedengeben will, kann in den Lehren des Buddha klare Anregungen erwarten, um für sein Leben Antworten auf lange gestellte Fragen zu finden.
Die folgende Darstellung einiger wichtiger Lehren des Buddha für das tägliche Leben gründet sich auf Vortragsmanuskripte und Mitschriften aus Seminaren, die von mir in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten, insbesondere am Buddhistischen Zentrum in Wien, abgehalten wurden. Zudem konnte ich in wenigen Punkten auf eine kurze sechsteilige Einführung in die Botschaft des Buddha zurückgreifen, die ich vor einigen Jahren unter der Redaktion Lama Anagarika Govindas verfaßte.[1]
Dieses Buch sei dem Andenken an Dr. Ernst Pagenstecher und seine Frau Traude gewidmet, die mir in früher Jugend durch ihr Vorbild die Lehre des Buddha in wunderbarer Weise nahebrachten.
Wien, im Mai 1987
Volker Zotz
Im Hochland Tibets, an Chinas Flüssen, in mongolischen Steppen, Indochinas Dschungeln und an Japans Küsten erzählt man seit Jahrhunderten die Geschichte von Gautama, dem Buddha. In Thailand, Sri Lanka und Birma illustrieren sie Reliefs und Malereien prächtiger Tempel. Mehr als zwei Jahrtausende alte Texte indischen Ursprungs wurden immer wieder neu bearbeitet, um sie verschiedenen Epochen und Kulturen nahezubringen. Daß man sie so lange bewahrte und ihrem Helden überall im Süden und Osten Asiens großartige Denkmäler errichtete, liegt nicht nur daran, daß er ein besonderer Mensch war: So außergewöhnlich die Geschichte seines Lebens klingt, handelt sie doch vom Leben jedes Menschen, dem meinen wie Ihrem, mag dies auf den ersten Blick auch schwer erkennbar sein. Der Bericht gründet auf tatsächlich Geschehenem. Doch schmückte man manches aus und ergänzte es, damit die Lehren, die dieses Leben mitteilt, fern vom Ort und der Zeit des Ereignisses verständlich bleiben. Liest man heute in den alten Texten, entsteht in der Vorstellung ein Bild wie folgendes.[1]
Vor mehr als 2500 Jahren bestanden im Norden Indiens am Fuß des Himalaya zahlreiche kleine Staaten, in denen die Gemeinschaft der Krieger ihren regierenden Fürsten wählte. Der später als Buddha bekannte Gautama Siddhārtha war der Sohn eines solchen Regenten. Lumbini, sein Geburtsort, befindet sich im heutigen Königreich Nepal.
Die Familie wünschte, er würde in Zukunft eine Funktion wie sein Vater wahrnehmen, weshalb er eine gute Erziehung und Ausbildung erhielt. Die besten Lehrer vermittelten dem Kind, das vielleicht einmal Herrscher sein würde, umfassende Kenntnisse und Fertigkeiten. Neben der Ausbildung in Dingen, die zur Verwaltung eines Landes nötig waren, erlernte er vor allem die Waffenkünste, schließlich gehörte er der stolzen Kriegerkaste an. Gautama war ein guter Bogenschütze, verstand es, das Schwert zu führen, zu reiten und den Kriegswagen zu lenken.
Großer Luxus begleitete die Kindheit und Jugend des Prinzen. Auf seiner mit wohlriechenden Ölen gesalbten Haut trug er Kleider erlesener Stoffe, die man aus dem berühmten Benares herbeischaffte. Vielerlei Möglichkeiten der Zerstreuung und alle denkbaren Vergnügungen standen ihm zur Verfügung. Musikanten sorgten für Unterhaltung, hübsche Tänzerinnen warteten ihm auf, lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, um ihn zu befriedigen. Als er heranreifte, stellte Gautama fest, daß keine Stimme, kein Geruch, keine Berührung dem Mann angenehmer ist als jene einer Frau.[2]
Negatives wurde von Gautama ferngehalten. Trauriges, Häßliches und Leidvolles sollte er nicht erleben. Seine Mutter starb bald nach der Geburt, worauf Vater und Pflegemutter alles Kummervolle aus dem jungen Leben verbannen wollten.
Obwohl man ihm nur Freuden bereitete, fand er doch Anlaß zu tiefem Nachdenken. Mit den Zuständen des Glücks hatte Gautama ein Problem: Er merkte, wie er sie nicht festhalten konnte. Sah er, wie eine Tänzerin ihre Hüften wiegte, und kam sie ihm dann näher, schlug sein Herz stärker. Er dachte nur daran, sie zu berühren. Später in ihrer Umarmung steigerte sich der Rausch bis zur Ekstase. Doch diese endete ganz plötzlich, und was ihn vorher in Taumel versetzte, hatte seinen Zauber verloren. Die zuerst so begehrte Berührung ihrer Hände löste keine Schauer mehr aus, konnte sogar lästig sein. Daß Lust kam und ging, beobachtete er auch bei anderen Gelegenheiten. Traf er bei der Schwertübung auf einen guten Gegner, kam er in eine hohe Stimmung, die im Sieg einen unbeschreiblichen Gipfel erreichte. Doch nur Augenblicke später konnte alle Freude erlöschen, und er fragte sich, was er eigentlich gewonnen hatte.
Gautama war sechzehn Jahre alt, als seine Angehörigen merkten, wie er verschlossen und nachdenklich wurde. Sie fürchteten, er fiele in Schwermut und könnte trotz seiner Begabung auf die Nachfolge des Vaters verzichten. Dem wollten sie entgegenwirken. Gautama wurde mit einem Mädchen seiner Wahl verheiratet. Gemäß dem Brauch konnte er weitere Frauen nehmen. Man hoffte, ihn damit an die Welt des Reichtums und der Macht zu binden. Bald war er stolzer Vater eines Sohnes. Um ihn weiter für ein Leben nach den Vorstellungen der Familie zu formen, bestimmte man ihn zum Mitregenten. Er saß im Rat der Krieger, hörte Streitfälle an und durfte bei Entscheidungen mitreden. Er besaß alles, was sich ein Mensch wünschen kann: Familie, Wohlstand, Macht und jede Möglichkeit zur Befriedigung seiner Wünsche.
Der Versuch, ihm nur Schönes und Gutes zu zeigen, schränkte Gautamas Bewegungsraum weitgehend auf fürstliche Schlösser und Parks ein. Begegnungen mit der Außenwelt waren gut geplant, damit sie angenehm verliefen. Doch sogar ein goldener Käfig bleibt ein Gefängnis, über dessen Enge menschliches Träumen, Sehnen und Denken hinausdrängen. Oft fragte sich Gautama, ob es wohl jenseits der ummauerten Paläste etwas gab, das er entdecken sollte. Schließlich trieb es ihn aus der Sicherheit des Gewohnten. Er wollte jene Dinge kennenlernen, denen Menschen seines Standes auswichen. Hierdurch nahm sein Leben eine entscheidende Wende.
Bei einer ersten Erkundung erblickte er am Wegesrand einen männlichen Leib, hautüberspannte Knochen, die schwach und ausgezehrt im trockenen Staub unter der heißen Sonne zuckten. Schockiert vom Anblick des entstellten Körpers, erfuhr der Prinz, jener Mann leide wie viele andere an einer unheilbaren Seuche. Während ihn das leise Wimmern des Kranken entsetzte und zugleich mitleidig rührte, erklärte man ihm, wie alltäglich körperlicher Zerfall ist. Gautama stellte sich vor, eine Krankheit unterbräche jäh sein glückliches Dasein, und der Rausch des Genusses würde von Leid und Hilflosigkeit abgelöst. Er sah klar, daß es Zustände gab, die weitaus unbefriedigender waren als sein Leben kurzweiliger Freuden. Doch was sollte er tun mit einem Dasein, dessen schale Lust jederzeit in lähmenden Schmerz umschlagen konnte?
Später beobachtete Gautama einen vom Alter und der Last eines schweren Schicksals gebeugten Greis. Unter unsäglicher Mühe versuchte dieser, einige Schritte voranzukommen, doch besaß seine zittrige Hand kaum die Kraft, den Stock zu halten, der ihn stützte. Speichel rann aus dem zahnlosen Mund, dessen Lippen unter der Anstrengung bebten. Nichts erinnerte an die Jugendfrische, die auch dieser Mensch einmal besessen hatte. Dem Prinzen wurde plötzlich bewußt, wie auch er dem Alter entgegenging. Sicher, er hatte nicht so schwere Arbeit zu leisten wie dieser Mann in früheren Jahren. Vielleicht würde er darum als Greis noch aufrecht gehen. Doch seine Energie würde in Zukunft sicher abnehmen und sein Körper verfallen. Sollte er dann noch mit trübem Blick den anmutigen Bewegungen der Tänzerinnen folgen und mit unsicherer Hand die Berührung ihrer Haut suchen?
Schließlich kam es zur schrecklichsten Begegnung, als Gautama einem Trauerzug folgte. Ein in Tücher gehüllter lebloser Körper wurde aus der Stadt zur Verbrennungsstätte am Flußufer getragen. Dort angekommen, sah Gautama, wie einige Scheiterhaufen aufgerichtet wurden, auf denen tote Leiber lagen. Vor dem Leichnam einer jungen Frau blieb er stehen. Wie hübsch sie war! Doch die vollkommene Regungslosigkeit und die seltsame Bleiche ihrer dunklen Haut lösten in ihm ein banges Gefühl aus. Nie mehr würde dieser Mund würzigen Reis schmecken, nie mehr diese Hand das lange Haar kämmen. Noch nie hatte Gautama einen gräßlicheren Ort betreten. Doch für den Priester, der jetzt den Scheiterhaufen der Frau entzündete, schien dies alles so selbstverständlich zu sein wie eine Schale Reis am Abend. Die Tatsache, die Gautama fortan entsetzte, sprach im Palast niemand deutlich aus: Du magst dem Fluch der Krankheit und schweren Alters entrinnen. Doch der Tod steht dir unweigerlich bevor. Er ist der Preis des Lebens.
Gautama konnte die Eindrücke von Krankheit, Alter und Tod nicht mehr abstreifen. Bilder des Grauens verfolgten ihn. Einmal beobachtete er, wie eine seiner Frauen bis zu den Hüften im Badeteich stand. Sie wandte ihm den Rücken zu, und er sah ihre vollen Brüste im Spiegel des Wassers. Dies weckte seine Begierde, und er trat näher. Als sie ihn hörte, drehte sie sich lächelnd um. Ihm aber schien, er blicke ins faltige Gesicht einer kahlköpfigen Alten, deren Brüste als schlaffe Hautsäcke herabhingen. Mit Lust und Abscheu zugleich erlebte er dann ihre Zärtlichkeit. Beim Mittagsmahl verwandelte sich der Geruch köstlichen Fleischs in den Gestank der Leichenverbrennung. In der feinen Soße, die Zunge und Gaumen wohl tat, verbarg sich unverkennbar der Geschmack des Todes. In der Nacht fuhr er schweißgebadet vom Lager hoch, als er träumte, selbst auf dem Scheiterhaufen zu liegen. Auch wenn Gautama ruhte, fand er keine Ruhe mehr.
Früher hatte er immer bedauert, keine Lust festhalten zu können, doch fühlte er sich seines Lebens und der Fähigkeit zum Genuß sicher. Jetzt wußte er, wie brüchig dieses Dasein ist, und er empfand schon im Augenblick der Lust diese als unbefriedigend. Kein Glück, das er kannte, war von nun an groß genug, ihn die quälenden Fragen vergessen zu lassen: Was tun mit diesem Menschenleben, das so kurz währt und schwankt zwischen Freude und Leid? Gibt es echtes Glück jenseits der Wechselfälle des Lebens?
Als er wieder einmal den Palast verließ, um ziellos umherzustreifen, traf Gautama einen seltsamen Mann. Dieser war nicht mit Pferd und Wagen unterwegs, lief nicht einmal mit Sandalen. Seine nackten Füße sprachen von langen Wegen auf steinigem Boden. Statt Kleidern trug er einen spärlichen Fetzen um den Unterleib geschlungen. Insektenstiche, die seinen Körper bedeckten, störten ihn nicht. Der Mann konnte kein unter Armut leidender Bettler sein, denn seine Züge verrieten innere Freiheit und heitere Gelassenheit. Gautama erfuhr, daß dies ein wandernder Weiser war. Alles, was er einst besaß, gab er fort, um seine Tage unbelastet von der Bürde des Besitzes ganz der Suche nach dem Sinn des Daseins zu widmen. Gautama konnte den Blick nicht von ihm wenden: Dieser Mensch lebte ohne Reichtum und Macht, schlief auf blanker Erde unter Bäumen und Felsen, ernährte sich von dem, was er gerade fand oder man ihm gab, und doch strahlte er eine nie gesehene Freude aus!
Durch die Begegnung reifte in Gautama eine folgenschwere Entscheidung. Auch er wollte sein altes Leben hinter sich lassen, um sich ausschließlich mit dem Klären seiner Fragen zu beschäftigen. Führte ein Weg vom Schwanken zwischen Freude und Leid zu ungetrübtem Glück, wollte er ihn finden. Nichts und niemand sollte ihn hindern oder ablenken. Er war 29 Jahre alt, als er nachts heimlich aus dem Palast schlich und für immer auf Bequemlichkeit, Zerstreuung und sinnliche Freuden verzichtete, um ins Ungewisse zu ziehen.
Groß war die Umstellung: Die Sicherheit behüteter Räume und bequemer Fahrzeuge wich dem Leben und Wandern in unwirtlicher Natur. Gewohnt an die erlesenen Speisen der fürstlichen Küche, kämpfte Gautama hart gegen den Ekel, als er erstmals die karge Nahrung armer Menschen kostete. Doch sein Entschluß stand fest: Er wollte einen Lehrer finden wie jenen Weisen, der so frei und glücklich wirkte, obwohl er nichts besaß.
Im geistigen Leben Indiens herrschte schöpferische Unruhe. Viele fragten wie Gautama, was es mit dem Leben auf sich hätte, oder forschten nach Gesetzen des Daseins. An vielen Orten trafen Suchende zusammen, scharten sich Lernbegierige um Meister und legten Mystiker Methoden der Meditation dar. In dieser bunten Szene lernte Gautama unterschiedliche Wege kennen, die Menschen bei ihrer Suche beschritten.
Einige Asketen hielten sich ständig an den Stätten der Leichenverbrennung auf, um im Anblick qualmender Scheiterhaufen und beim Geruch schmorender Körper nie ihre Vergänglichkeit zu vergessen. Sie wälzten sich in Stacheln und Asche, rieben ihre Körper mit Schlamm ein und verbrachten die wenigen Stunden des Schlafs auf Dornen, rauhem Felsgestein oder im Wasser. Andere hielten lange mit unnatürlich verrenkten Gliedern aus oder setzten sich zwischen hohe Feuer, um höllische Hitze auszuhalten. Sie unterwarfen sich während des Lebens freiwilligen Qualen, weil sie hofften, dadurch nach dem Tod ewiges Glück zu genießen. Manche lebten wie Tiere, krochen auf allen vieren und ernährten sich von dem, was sie am Boden fanden. So, glaubten sie, würden sie im kommenden Dasein zu strahlenden Göttern.
Unter dem Eindruck seiner Erschütterung durch Alter, Krankheit und Tod schien Gautama die Erklärung der Asketen zunächst plausibel: Verzichtet man auf Lust und Freuden, um sich durch Schmerz und Erniedrigung zu reinigen, gewinnt man einen wahrhaft freien Zustand. Gautama versuchte es. Doch nach einiger Zeit sich absichtlich zugefügter Pein kamen ihm Zweifel. Durfte er dieses ihm sicher gegebene Dasein um eines erhofften jenseitigen geringachten? War dies nicht bloß die Kehrseite seines früheren Lebens im Palast? Wie er sich zuvor an Lust und Zerstreuungen berauschte, floh er jetzt ins Leid. Beide extremen Wirklichkeiten schlossen ein Erkennen der Wahrheit des Daseins aus. Gautama zog weiter.
Er traf Lehrer, von denen jeder behauptete, die Wahrheit zu kennen. Diese scharfsinnigen Denker stellten komplizierte Systeme zur Erklärung der Welt auf. Alles Dasein geht auf ein Urprinzip zurück, meinten die anderen. Nein, alles gründet im Gegensatz zweier Grundkräfte, sagten die nächsten. Wieder andere dachten darüber nach, ob alles vorbestimmt sei. Manche hatten ihre Theorien über das Wesen des Menschen in Beziehung zu den elementaren Naturkräften: Der Wind entspricht dem Atem oder das Auge der Sonne, legten sie dar. Spitzfindig diskutierten sie ihre Ansichten. Es war faszinierend, ihnen zuzuhören, denn alles schien plötzlich sinnvoll und geordnet. Doch kamen Gautama neue Zweifel. Ob man alles Existierende auf einen alleinigen Ursprung zurückführt oder von zwei, drei, vier oder fünf Prinzipien spricht, jeder der einander widersprechenden Ideen läßt sich gleichermaßen schlüssig begründen und taugt zur Interpretation des Daseins. Letztlich bleiben es Spekulationen. Was gewönne man mit der Entscheidung für die einem am meisten einleuchtende Philosophie? Seine Frage nach dem echten Glück jenseits der Wechselfälle des Lebens fand in der Annahme von Glaubenssätzen keine Antwort. Durch Schwelgen in Gedankenkonstruktionen wollte er sich ebensowenig betäuben wie vormals durch Genuß oder Schmerz. Sein Problem war einzig durch unmittelbares Erfahren zu lösen.
Gautama schloß sich nacheinander zwei Mystikern an, die direkte Erfahrungen versprachen. Ihre Yoga-Lehren sollten zur Verwirklichung eines leidfreien Geisteszustandes führen. Die Yoga-Praxis des alten Indien hat wenig mit dem gemein, was man heute in Europa oft als solche verkauft. Sie bedeutete harte Disziplinierung des Körpers, der Empfindungen und des Denkens, die jeden Augenblick des Tages beanspruchte und dem Übenden keine Trägheit gestattete. Wie sich aus überlieferten Texten schließen läßt, ging es in den Systemen der beiden Meister um ein Unterdrücken sinnlicher Wahrnehmung: Indem man während der stillen Meditation nichts mehr sieht, hört, schmeckt, riecht, tastet oder denkt, bleibt ein letzter Nachklang von Bewußtsein. Diesen hielt man für die letzte Wahrheit, die eigentliche Essenz des Menschen, die den Tod überdauern soll.
Gautama verwirklichte die Lehren beider Meister, worauf ihm einer die Leitung seiner Schule anbot. Gautama lehnte ab. Der Rückzug auf einen Funken Bewußtheit brachte während der Meditation tatsächlich Freiheit von Leid, Zweifeln und Fragen, weshalb ihn mancher als höchstes Heil sah. Doch was als Übersteigen von Raum und Zeit erklärt wurde, bedeutete Abwendung vom konkreten Dasein. War dies nicht wieder eine Flucht wie jene in Lust, Schmerz und erklärende Theorien, nur eine andere Art des Verdrängens der großen Rätsel des Daseins? Gautama zog weiter.
Jede bisherige Situation brachte ihm Gewinn. Die Askese stärkte Disziplin und Durchhaltevermögen. Die Beschäftigung mit Theorien zeigte, wie ein systematisches Erklären der Welt vieles bewußter macht. Die mystische Praxis erwies, wie Erfahrungen jenseits alltäglicher Wahrnehmung möglich waren. Alles ließ ihn irgendwie weiterkommen. Trotzdem fühlte er sich noch ganz am Anfang.
Schließlich kam er unter den Einfluß von Asketen, die eine schlüssige Erklärung mit rigoroser Praxis und unmittelbarer Erfahrung verbanden, womit sie die Vorteile seiner bisherigen Versuche vereinten. Der Mensch leidet, erklärten sie, weil er eine unglückliche Zweiheit von Geist und Materie ist. Der gute, ewige und erkenntnisbegabte Geist wird als Gefangener des Körpers von dessen Trieben und Wünschen beherrscht. Tötete man den Körper, um den Geist zu befreien, nützte dies nichts. Der Geist steht so stark unter dem Einfluß der Materie, daß er sich sofort ein neues Gefängnis sucht. Er muß den Stoff besiegen, indem er alles, was der Körper verlangt, bewußt aufgibt. Löste er sich so weit von der Materie, daß ihm gleichgültig wird, ob der Körper Schmerzen empfindet, atmen oder essen will, kann er bewußt die Trennung vom Stoff vollziehen. Auf ewig frei von jeder leiblichen Beschränkung, sind ihm alle Erkenntnisse zugänglich.
Diese Lehre wollte Gautama verwirklichen. Zunächst kämpfte er gegen körperliche Triebe und Empfindungen an, die in sein Bewußtsein traten. Doch wurde sein Leib im Unterdrücken der Regungen immer nervöser. Gautama versuchte sich zu beruhigen, indem er den Körper gewaltsam unter die Kontrolle des Geistes zwang. Er hielt möglichst lange den Atem an, um zu beweisen, wie unabhängig sein Geist von einem grundlegenden Bedürfnis des Leibes war. Sein geschulter Wille ließ ihn die Perioden der Atemstille immer weiter ausdehnen. Doch kein ruhiges und klares Bewußtsein stellte sich ein, sondern er fühlte sich elend und krank. War er zu weit oder noch nicht weit genug gegangen? Er entschied sich für einen radikaleren Versuch, um sein Bewußtsein vom Stoff zu lösen. Er reduzierte das Essen, bis er nur mehr winzigste Mengen zu sich nahm. Begeistert schlossen sich Gautama fünf andere Asketen an, die seine kompromißlose Praxis zum Vorbild nahmen. Wenn einer das Ziel erreicht, dachten sie, dann er. Fast zum Skelett abgemagert, wurde Gautama immer schwächer. Schließlich verweigerte er jede Nahrung. Als er sich nicht mehr auf den Beinen hielt, ihm die Körperhaare ausfielen und er beim Berühren der Bauchdecke mit der Hand an die Wirbelsäule stieß, begriff er, daß sein Sterben einsetzte. Doch wo war der freie Geist, der sich über dieses leibliche Wrack erhob?
Ausgerechnet der Versuch, Leid zu überwinden, verstrickte ihn in immer tieferes. Mit dem Tod ringend, erkannte er seinen Irrweg: Zwang und Gewalt führen nicht zu Glück und Erkenntnis, sondern trieben ihn in verzweifelte Hilflosigkeit. Sechs Jahre waren verstrichen, seit er den Palast verlassen hatte. Wohin war er gekommen? Lehren und Übungen hervorragender Meister seiner Zeit verstand und verwirklichte er, härteste Askese ertrug er. Nichts blieb unversucht. Doch jetzt schien er am Ende. In diesem Augenblick gab er das Verlangen auf, irgend etwas zu erreichen, gab sich und sein Leben auf.
Zu akzeptieren, daß nichts mehr vor ihm lag, schenkte ihm ein fast heiteres Empfinden innerer Freiheit. Dieses ging in die Erinnerung an ein lange vergessenes Erlebnis über, bei dem er sich ähnlich frei fühlte. Als Knabe hatte er seinen Vater zum Frühlingsfest begleitet. Während dieser als Fürst zeremoniellen Pflichten nachging, saß Gautama unter einem Baum und beobachtete Tiere. Vor ihm im Gras lief eine Echse auf der Jagd nach Insekten. Doch eine Schlange hatte die Echse als Beute ausersehen, während schon ein hungriger Greifvogel über der Schlange kreiste. Der junge Prinz war damals von Mitleid für diese Tiere erfüllt, deren eines der Jagd des anderen zum Opfer fiel. Wie grausam die Natur war! Doch dann empfand er, wie Leben immer von Leben lebt, auch seines. Das Annehmen dieser nicht änderbaren Wahrheit weitete ihm das Bewußtsein. Er spürte die Zusammengehörigkeit jedes Lebens und erfuhr für kurze Zeit eine unbeschreibliche Harmonie mit allem, was existiert.
Die Erinnerung daran schenkte dem von Hungeraskese Geschwächten neues Vertrauen. Kam er mit dem Leben davon, wollte er auf diese Weise üben. Nicht länger sollten Zwang und Gewalt ersehnte Einsichten bringen. Es ging ab jetzt darum, alles einfach so zu sehen und anzunehmen, wie es ist, ungetrübt von Verzerrungen durch extreme Bewertungen und Erwartungen. So entschlossen, erholte er sich und nahm wieder Nahrung zu sich. Die fünf Gefährten konnten seinen Gesinnungswandel nicht verstehen. Ihnen schien, ihr großes Vorbild schreckte aus Feigheit vor dem letzten Schritt zur Freiheit zurück. Enttäuscht verließen sie ihn.
Gautama widmete sich dem neuen Weg. Fünfunddreißig Jahre war er alt, als er aufgab, krampfhaft nach etwas zu streben. Meditierend betrachtete er von nun an ruhig den Körper, die Gefühle und Gedanken, um sich und alles andere der Wahrheit entsprechend zu erfahren. Was ist, wollte er weder durch Theorien erklären noch durch Flucht in Extreme verlassen, sondern einfach annehmen. Allmählich kräftigte sich sein Körper wieder.
An einem sonnigen Tag im Mai saß er im Schatten eines Baums. Er fragte nicht, warum oder wozu er hier war und was er tun sollte. Er wollte nichts ändern, erlebte einfach das Dasein. Seine Aufmerksamkeit verweilte beim Gesang der Vögel, dem Schwirren der Insekten und dem sanften Rauschen des Windes in den Blättern. Indem er all das wahrnahm, war er Teil des um ihn Geschehenden, und er empfand das Sitzen an diesem Ort intensiv, wie er sich nie zuvor anwesend gefühlt hatte. Allmählich rückte sein Körper in den Brennpunkt des Gewahrseins. Die Achtsamtkeit konzentrierte sich auf das Fließen des Atems. Ruhig begleitete sein Bewußtsein das Strömen der Luft in die Lunge hinein und wieder hinaus. Es verband sich inniger mit jedem Atemzug, bis er nicht länger Beobachter war, nicht mehr verschieden vom Atem, sondern ganz Teil dieser Bewegung. Jedes Ein- und Ausatmen steigerte das Gegenwärtigsein. Der Abend dämmerte, eine Vollmondnacht brach an, und er saß da, wach wie nie zuvor.
Einfach nur wahrnehmend, dachte er nicht nach. Hätte er überlegt, wäre ihm seine Erfahrung wohl widersprüchlich erschienen. Kein Moment im Strömen der Luft existierte für sich, sondern immer als Übergang, war vorbei, bevor Gautama ihn erfassen konnte. In diesem Geschehen, das nie innehielt, gab es keinen für sich erlebbaren Zeitpunkt oder einzelnen Augenblick. Auch Gautamas mit dem Fluß des Atems verbundenes Bewußtsein war Geschehen, stand dem Ereignis nicht als getrennter Beobachter gegenüber, sondern war dieses Ereignis. Ohne Abstand zwischen Erlebnis und Erlebendem existierte Gautama und existierte zugleich nicht. Was dem Denken als Gegensatz erscheint, erfuhr er ganz natürlich in immer stärkerem Gewahrwerden.
Während der Nacht ging das Bewußtsein des Werdens allmählich in Erinnerung über. Gautama rief sich ins Gedächtnis, wie er an diesen Ort gekommen war, was er an den Vortagen getan hatte, und so ging es immer weiter zurück. Ein Atemzug schloß plötzlich Jahre ein, deren Ablauf deutlich zu Bewußtsein kam. Nachdem er in die frühe Kindheit gelangt war und seine Geburt erfahren hatte, riß die Erinnerung nicht ab. Sie reichte über die Zeit im Mutterleib hinaus und umfaßte ein anderes Dasein vor dem seinen, dann ein weiteres und immer mehr. Die Reihe der Biographien schien nicht zu enden. Schließlich kam seine Erinnerung zum Entstehen dieser Welt und weit darüber hinaus in das endlose Werden und Vergehen von Universen und Weltsystemen.
Alles, was jemals war, bevor er sich hier niedergelassen hatte, gehörte zum großen Geschehen, das jetzt in seinem Sitzen und Atmen weiterging. Sein gegenwärtiges Werden setzte einen Prozeß aus anfangloser Vergangenheit fort. Unendlich viele Wesen und unvorstellbare kosmische Prozesse, die ihm vorausgingen, gehörten untrennbar zu seinem Jetzt, das so Teil eines umfassenden Geschehens war. Was sich bislang als Ich vom Rest der Welt unterschied, hatte in Wahrheit keine Grenze, sondern war ein Brennpunkt, in dem das Werden seiner selbst gewahr wird.
Gautama überschritt so die Schranken normalen Menschseins. Von der weiten Perspektive dieses Erlebnisses aus verloren Alter, Krankheit und Sterben jeden Schrecken. Das enge Ich, das sich vor der Vergänglichkeit fürchtete und zwischen Freude und Leid schwankte, war als begrenzter Ausschnitt aus einem Größeren entlarvt, in dessen Werden und Zusammenhängen es letztlich keinen Tod gibt. Gautama erwachte aus dem Traum verzerrter Wirklichkeit zur Wahrheit. Aus diesem Grund nannte man ihn Buddha, was ‹Erwachter› bedeutet. Sein Erwachen führte ihm nicht nur seine Stellung im Ganzen vor Augen. Die Schau der großen Prozesse des Werdens offenbarte zugleich deren Gesetze. Er erkannte, wie Einklang mit diesen Gesetzen Freiheit schenkt, während ihr Ignorieren unglücklich und unzufrieden macht.
Gautama kannte jetzt die Gesetze des Daseins und wußte, wie ein Mensch dem Leben Sinn verleihen kann. Weil er erkannt hatte, wie Unwissen zu Schmerz, Kummer und Verzweiflung führt, entschloß er sich, seine Erkenntnisse jedem weiterzugeben, der an sich arbeiten wollte. Schnell verbreitete sich der Ruf seiner Weisheit. Bis er im Alter von achtzig Jahren starb, wanderte er durch Indien und vermittelte seine Einsichten einem wachsenden Schülerkreis.
Frauen und Männer, Könige und Bauern, Händler und Gelehrte lernten von ihm. Jeder Fragende erhielt seiner persönlichen Situation und seinem Verständnis entsprechend Auskunft. Das Erwachen hatte Gautama die Relativität des einzelnen Daseins gezeigt. Weil jede Persönlichkeit sich unter anderen Zusammenhängen entwickelt hat, braucht sie den ihr angemessenen Zugang zur Wahrheit. Es gibt kein Patentrezept, keine Universalübung, die jeden rasch befreit. Gautama bot darum nicht die Lösung für alle Probleme, sondern führte den einzelnen dahin, seinen Schwierigkeiten ins Auge zu sehen und sie zu überwinden. Dazu hinterließ er einen reichen Schatz an Lehren und Methoden, der von einfachen Gleichnissen und Übungen bis zur philosophischen und psychologischen Analyse vieles enthält.
Sein Rat verhinderte Kriege, zeigte soziale Ungerechtigkeiten auf und bildete für weite Teile Asiens den Ausgangspunkt hoher kultureller Entwicklung. Dabei stand für Gautama das konkrete Leben des einzelnen im Mittelpunkt und dessen Möglichkeit, Leid und Beschränkung zu überwinden. Immer wieder wies er auf Gesetze hin, mit denen in Einklang zu leben «beglückend ist am Anfang, beglückend in der Mitte und beglückend am Ende».
Auf langen Wanderungen kam Gautama durch die ehemalige Heimat. Seine Angehörigen, die einst seine Flucht aus dem Palast verurteilt hatten, nahmen nach anfänglichem Zweifel die Lehren an. Der Vater, die Stiefmutter, die Frau und der Sohn wurden begeisterte Schüler.
Als der achtzigjährige Gautama sich furchtlos zum Sterben niederlegte, hatte er während 45 Jahren ungezählten Frauen und Männern Wege zur Freiheit gewiesen. Sein Grundsatz lautete: «Willkommen sei mir ein einsichtiger Mensch, der offen, ehrlich und aufrecht. Ich leite ihn an und zeige ihm Tatsachen. Folgt er der Anleitung, wird er in kurzer Zeit selber erkennen und sehen. So wird er restlos von der Fessel des Nichtwissens frei.»[1]
Gautamas Geist lebt in seinen überlieferten Lehren. Darum gilt diese Einladung bis heute und richtet sich auch an Sie! Allerdings wird sie nur der annehmen, den sein augenblicklicher Zustand zumindest nicht ganz zufriedenstellt. Einem Menschen, der denkt, es gibt in seinem Leben nichts zu ändern, hat Gautama wenig zu sagen. Doch wer Leiden, Verhaltensweisen und Ängste kennt, die er überwinden will, wer nach der Stellung seines flüchtigen Daseins im größeren Ganzen fragt, wer über die Enge dessen hinaus will, was er jetzt ist, dem bietet Gautama vieles, um «zu erkennen und die Fessel des Nichtwissens zu lösen».
Seine Weisheit ruht auf drei Pfeilern: Wissen, Lebensgestaltung und Meditation. Bedeutungsvoll ist, daß diese Aufzählung mit dem Wissen beginnt. Vor dem Handeln stehen Einsicht und Denken. Was wir auf Gautamas Weg unternehmen, um uns zu verändern, vollzieht sich in drei Schritten:
Wir lernen eine neue Möglichkeit kennen und verstehen.
Wir bewegen sie in unserem Denken, erwägen ihre Vor- und Nachteile für uns.
Schließlich setzen wir, was wir erkannt haben, in unserem Leben um.
Wir sollen wissen, was wir tun und warum. Auch wenn wir etwas unternehmen, ohne Grund und Ursache zu begreifen, sollten wir uns dessen bewußt sein. Abwägen ist ein wesentliches Element unserer Freiheit, denn es ermöglicht echtes Entscheiden. Um uns zielgerichtet zu verändern, brauchen wir Klarheit, wo wir jetzt stehen und wohin wir wollen. Auch wenn uns all das nicht klar ist, sollten wir dies wissen. Auch dies wäre Klarheit. Darum stehen in der Lehre Gautamas vor jeder Empfehlung zur Praxis einige Erklärungen, deren Kenntnis uns ein Bedenken unserer Situation und unserer Perspektiven ermöglicht.
Mancher will meditieren, ohne von Theorien belästigt zu werden. Er sucht Erfahrungen, die über seine bisherigen hinausführen. Das geht auf den Drang des Menschen zurück, zu übersteigen, was er ist. Auch auf Gautamas Weg ist dies ein wichtiger Motor. Doch wer etwas übt und gar nicht wissen will wozu, gleicht jemandem, der nur läuft, egal wohin sein Weg führt. Meditation kann so leicht zur Flucht vor der Wahrheit werden. Vielleicht vermittelt sie angenehme Empfindungen, entspannt und macht glücklicher. Auf dem Weg Gautamas reicht dies nicht, denn ich könnte entspannt und voll angenehmer Empfindungen eine Richtung einschlagen, die ich im Grunde gar nicht nehmen will. Das Schlagwort von der Erweiterung des Bewußtseins klingt gut. Doch wollen wir Bewußtseinserweiterung um ihrer selbst willen? Auch Zustände zuvor nicht gekannten Leids, der Lähmung und Hilflosigkeit erweitern das Spektrum unseres bisherigen Gewahrseins. Doch streben wir in diese Richtung?
Wer nach Befreiung strebt, sollte wissen, wozu er etwas tut. Zwar werden ihm weitere Stufen zeigen, wie unvollkommen seine Einsicht noch war. Doch sind sein Denken und Abwägen die Werkzeuge innerer Freiheit. Selbst der verlockendsten Anleitung zum Handeln sollte man nicht ohne eigene Überlegungen folgen. Der Weg zur Entfaltung innerer Freiheit kann niemals von blindem Gehorsam geprägt sein. Nur freie Schritte führen in die Freiheit!
Freilich können Wissen und Denken überbetont werden. Eignet man sich Lehren und Gesetze nur theoretisch an, besitzt man bloß intellektuelles Wissen. Kenntnisse ersetzen die eigene Erfahrung nicht.
Ein Mensch in schlechter körperlicher Verfassung mag genau wissen, wo eine Sporthalle steht und wie ein Training Muskelkraft entwickelt und Lebensfreude schenkt. Vielleicht besitzt er Bildung über chemische und physikalische Zusammenhänge beim Aufbau des Gewebes und der Stärkung des Kreislaufs. Aber solange er nicht selber trainiert, kann er nie wissen, was Spannkraft und Fitneß bedeuten.