Mit fünfzig erwartest du Meer - Elli Voss - E-Book
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Mit fünfzig erwartest du Meer E-Book

Elli Voss

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Beschreibung

Romy wird fünfzig, und ihr Mann Werner schenkt ihr eine romantische Reise nach Italien. Glaubt sie zumindest. Als sich herausstellt, dass es sich um eine Schnäppchen-Busfahrt handelt, auf der Töpfe und Koffer verkauft werden, ist Romys Freude bereits erheblich gedämpft. Zum Glück sitzt die quirlige Lilo mit im Bus. Als die beiden Frauen an einer Raststätte die strengen Zeitvorgaben des Busfahrers aus den Augen verlieren, fährt der Bus ohne sie weiter. Romy kann nicht glauben, dass ihr Werner sie einfach an der Autobahn stehen lässt. Und beschließt, auszubrechen, um echte Abenteuer zu erleben.

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Das Buch

Romy wird fünfzig, und ihr Mann Werner schenkt ihr eine romantische Reise nach Italien. Glaubt sie zumindest. Als sich herausstellt, dass es sich um eine Schnäppchen-Busfahrt handelt, auf der Töpfe und Koffer verkauft werden, ist Romys Freude bereits erheblich gedämpft. Zum Glück sitzt die quirlige Lilo mit im Bus. Als die beiden Frauen an einer Raststätte die strengen Zeitvorgaben des Busfahrers aus den Augen verlieren, fährt der Bus ohne sie weiter. Romy kann nicht glauben, dass ihr Werner sie einfach an der Autobahn stehen lässt. Und beschließt, auszubrechen, um echte Abenteuer zu erleben.

Die Autorin

ELLIVOSS ist das offene Pseudonym von Isabella Straub, geboren 1968 in Wien. Sie studierte Germanistik und Philosophie und arbeitet als Journalistin und Werbetexterin in Klagenfurt am Wörthersee. Unter ihrem Klarnamen schreibt sie literarische Romane.

ELLI VOSS

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 04/2021

Copyright © 2021 by Elli Voss

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Hamburg

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH

Umschlagillustration: Gerhard Glück

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24556-6V001www.heyne.de

TEIL I

SAMSTAG, 13:07 Uhr

Vor sieben Minuten war meine Welt noch in Ordnung. Was heißt in Ordnung: Sie war die beste aller möglichen Welten.

Vor sieben Minuten saß ich mit meiner neuen Freundin Lilo an einer Bar, wir tranken Bier aus Krügen, die das Fassungsvermögen einer Babybadewanne hatten, und schunkelten zum alten Holzmichl, dem offenbar ein ewiges Leben beschieden ist. Es war rustikal, aber gemütlich.

Lebt denn der alte Holzmichl noch, Holzmichl noch, Holzmichl noch?

Spoiler: Ja, tut er.

Die Fernfahrer grölten, das Bier floss in Strömen, die Stimmung hätte besser nicht sein können. Auch meine nicht. Denn vor sieben Minuten glaubte ich felsenfest, dass mir das Beste noch bevorstand: die Reise zu meinem Lieblingsitaliener. Nein, damit ist keine Pizzeria gemeint. Mein Lieblingsitaliener heißt Rocco Minelli, er singt göttlich und sieht aus wie eine gelungene Mischung aus Adriano Celentano und Ettore, dem charmanten Eisverkäufer, der mir vor über vierzig Jahren am Strand von Jesolo eine Extrakugel Vanille geschenkt hat.

Per te, la più bella ragazza del mondo.

Das hatte Ettore gesagt, als er mir die Eistüte überreichte mit den drei aberwitzig großen Eiskugeln, und dieser Satz hat sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt. Denn mal ehrlich: Wie oft hört man diese Worte schon im Leben?

Werner hat mir jedenfalls noch nie ein derartiges Kompliment gemacht, was ich ihm aber nicht übelnehme. Der Mann, mit dem man verheiratet ist, ist notwendigerweise aus einem anderen Holz geschnitzt als ein windiger Eisverkäufer, der siebenjährige Mädchen bezirzt, damit sie am nächsten Tag wiederkommen. Werner ist die Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit in Person, gesegnet mit dem trockensten Humor seit der Erfindung des Entfeuchtungsgeräts. Das Romantik-Gen war leider nicht im Lieferumfang enthalten. Während ich schon beim Anblick eines zuckrig-orangefarbenen Himmels zerfließen kann wie eine Vanillekugel in der Sonne, ist für Werner der Sonnenuntergang nicht mehr als eine astronomische Plattitüde.

Pass auf, was du dir wünschst, hat meine Oma immer gesagt, es könnte in Erfüllung gehen. Und ich hatte mir einen zuverlässigen Mann gewünscht nach ein paar feurigen Ettores, die mir am knospenden Beginn meines Liebeslebens das Herz in Stücke gerissen hatten.

Das Ende meiner Sturm- und Drangphase besiegelte Carlos, ein Musikstudent aus Lissabon, mit dem ich drei unvergessliche Nächte verbrachte. In der ersten Nacht schenkte ich ihm mein Herz, in der zweiten machte er es sich darin bequem, in der dritten Nacht möblierte er es mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen. Am vierten Tag reiste er ab und nahm mein Herz mit. Ich blieb zurück und löste mich in meine Einzelteile auf.

Werner bewies Geduld und setzte mich wieder zusammen wie ein Puzzle. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Und ganz besonders dankbar bin ich ihm für das unglaublich großzügige Geschenk, das er mir zu meinem Fünfzigsten gemacht hat, den ich bald feiern werde: zwei Karten für das Konzert von Rocco Minelli. Weil er weiß, wie sehr ich diesen Sänger verehre. Und weil er ahnte, welche riesengroße Freude er mir damit machen würde. Denn es ist nicht irgendein Konzert in irgendeinem Fußballstadion – nein, es ist Roccos allerletzter Auftritt. Der ultimative Höhepunkt und Abschluss einer gigantischen Karriere. In Italien, an einem apulischen Strand. Gerechnet wird mit fünfzigtausend Besuchern. Und ich werde dabei sein. Ich, Romy Rukovsky, Redakteurin des Frauenmagazins ANNAROSA, Ehefrau von Werner Rukovsky, Mutter von Emma und Tim, Pflegemutter von zweiundzwanzig Orchideen, notorisch unpünktlich, leidliche Hausfrau, unbegabte Köchin, aber überaus begabte Rückwärtseinparkerin, was den Kohl allerdings auch nicht mehr fett machen dürfte.

Sieben Minuten ist es her, dass mein Blick zufällig auf die Armbanduhr meines stumpf im Takt stapfendem Bar-Nachbarn fiel. Punkt eins. Hatte der Busfahrer nicht angekündigt, um »ungefähr dreizehn Uhr« weiterzufahren?

»Lilo, wir müssen los!« Ich zupfte sie am Arm, aber sie schüttelte mich ab wie ein lästiges Insekt.

Ich ließ nicht locker. »Lilo, der Bus!«

»Kuss?«

Jaaa, er lebt noch, er lebt noch, er lebt noch, jaaaa! Er lebt noch –

»Der Bus! Unser Bus!«

»Eine Sekunde.«

Wenn ich mir den Typen ansah, der sie anschmachtete, konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine weitere Sekunde irgendwas an der Situation verändern sollte. Er rang sichtlich nach Worten, und Lilo wartete darauf, dass er einen sinnvollen Satz herausbrachte. Subjekt, Prädikat, Objekt, Punkt.

»Leila, du bist – äh, so eine schöne …«

»Lilo. Ich heiße Lilo.«

»Lilo, ich … äh, habe noch nie –«

Okay, jemand musste handeln.

Und dieser jemand war ich.

Vor sieben Minuten glaubte ich noch, dass wir eine Chance hätten. Also Werner und ich. Dass wir unseren verfahrenen Ehekarren aus dem Dreck ziehen könnten. Diese Reise war viel mehr als eine Vergnügungsfahrt. Sie war ein Prüfstein.

Vor sieben Minuten beschloss ich, mich nicht weiter über Lilo zu ärgern und allein die Lage zu sondieren. Also hüpfte ich vom Barhocker und schlängelte mich aus der rauchgeschwängerten Gaststube. Genau: Hier wurde immer noch geraucht, denn es handelte sich um eine gesetzlose Zone im Niemandsland, in der offenbar nicht nur der Holzmichl ewig lebt.

Vor der Tür empfing mich die Trostlosigkeit der Autobahnraststätte. Brüchiger Asphalt, Zapfsäulen für alle Arten von Kraftfahrzeugen. Es roch nach Diesel und der Einsamkeit des Fernfahrerlebens. Jenseits einer dornigen Hecke donnerte der Schwerverkehr vorüber. Im farblosen Himmel krächzte ein Krähenschwarm. Ich überquerte einen Parkplatz und einen zweiten, bis ich vor dem Gasthaus stand, in dem der Rest der Truppe verschwunden war.

Unser Bus hatte davor geparkt, daran erinnerte ich mich genau. Ein weiß-blauer Bus mit aufgeklebter Erdkugel. ZACKIGREISEN. MITDERNUMMEREINSUMDIEWELT.

Ich sah mich um. Nicht die Spur eines Busses. Ich stand vor dem Eingang wie bestellt und nicht abgeholt. Eine Fahne, auf der ein Bär zu sehen war, der an einem Eis schleckte, flackerte traurig im Wind.

In meinem Inneren ratterte ein Supercomputer, der sämtliche mögliche Szenarien aufrief und nach Wahrscheinlichkeit sortierte.

Der Bus wurde aufgetankt (wurde er nicht, das hätte ich gesehen, abhaken). Der Bus hatte eine Panne und wurde in diesem Moment repariert (unwahrscheinlich). Dem Busfahrer war langweilig und er fuhr ein paar Runden auf und ab (sehr unwahrscheinlich, denn wer Langeweile nicht erträgt, darf nicht Busfahrer werden).

An die letzte Option traute ich mich erst ganz zum Schluss zu denken.

Sie waren gefahren. Ohne uns. Sie hatten uns vergessen.

Unmöglich. Werner hätte Alarm geschlagen. Hätte er doch, oder? Ich tastete nach meinem Handy. Mist. Das war in meiner Tasche, und die Tasche befand sich im Bus.

»Hallo! Halllooooo!«

Ich winkte einem hochaufgeschossenen Burschen im gelben Tankstellen-Overall zu, der mit buddhistischer Hingabe die Heckscheibe eines Kleinwagens wusch.

»Haben Sie den Bus gesehen? Der hier stand?«

Er richtet sich auf, legt die Stirn in Falten. »GLOBOTOURS?«

»ZACKIGREISEN!«

»Ach so. Die sind weg«, sagte er und tauchte den Abzieher in einen Wassereimer.

»Was?« Ich musste mich verhört haben.

»Na ja, so vor zehn Minuten. Ungefähr. Vielleicht auch zwölf.«

Das durfte nicht wahr sein. Bitte, mach, dass das nicht wahr ist.

Am Horizont tauchte eine taumelnde Gestalt auf. Lilo.

»Sie sind weg!«, schmetterte ich ihr entgegen.

Lilo blieb stehen, fummelte in aller Ruhe eine Zigarette aus einer zerknautschten Packung und steckte sie sich in den Mundwinkel.

»Bin gleich da«, hörte ich sie sagen.

Ich stand da wie angewurzelt.

Und so stehe ich immer noch da. Und fühle, wie mich eine unkontrollierbare Wut packt und beutelt. Gleich werde ich Dinge sagen, die ich später bereue. Oder vielleicht auch nicht.

Vielleicht bereue ich nie wieder was.

Ich hole tief Luft. Schau rauf in den Himmel, alles Gute kommt schließlich von oben.

Und dann brülle ich los.

120 STUNDEN DAVOR

Ich bin die ungekrönte Kofferpack-Königin. Wenn ich etwas beherrsche, dann das. Nicht umsonst habe ich ganze Abende vor dem Bildschirm verbracht und einer japanischen Influencerin dabei zugesehen, wie sie zehn Kimonos in einem Kosmetikbeutel verstaut. Das ist so eine Art Houdini-Trick, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Es geht nicht darum, Dinge zu befreien, sondern sie so klein wie möglich zu falten und anschließend in einem viel zu kleinen Behältnis zu verstauen.

Die Influencerin sieht keinen Tag älter aus als zwölf. Sie ist zerbrechlich und zart wie eine Kirschblüte, aber überaus gewieft – so mir nichts dir nichts kriegst du nicht hundert Millionen Follower. Jedenfalls besteht der Trick darin, die Kleidungsstücke fest einzurollen und diese Baumwoll-Maki anschließend gemäß eines hochkomplexen Ordnungssystems zu schichten, sodass am Ende kein Luftmolekül mehr im Koffer Platz hat.

»You see«, zwitschert sie in ihrem entzückenden Englisch und deutet auf ihre winzige Kosmetik-Tasche, in der sie soeben den neunten Kimono versenkt hat, »this is pelfect!«

Ich wähle den mittelgroßen lila Trolley. In Apulien ist Sommer, viele Baumwoll-Maki werde ich nicht rollen müssen. Herrlich! Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich daran denke, dass ich bald in Sandalen und luftigem Kleidchen am Meer stehen werde, Sonne im Herzen, ein Glas Primitivo in der Rechten, während Rocco Minelli mir was Romantisches ins Ohr säuselt. Gut, er wird fünfzigtausend Frauen und einigen vereinzelten Männern gleichzeitig etwas ins Ohr säuseln, aber das tut meiner Freude keinen Abbruch.

Ich wühle in den Kisten, in denen ich die Sommerkleidung verstaut habe, rolle Tops und sogenannte »Freizeit-Hosen« mit hohem Stretch-Anteil und Gummizug zu perfekten Maki und lege sie in den Koffer. This is pelfect!

Ob mir das Hängerchen mit den aufgestickten Blumen noch passt? Ziemlich kurz, das Teil. Darf man das mit beinahe fünfzig noch? Mini tragen? Ach was, ich bin eine emanzipierte Frau, die nichts auf Kleidervorschriften gibt. Einfach mal probieren. Also raus aus Jeans und Shirt, rein ins Hängerchen. Dabei summe ich mein Lieblingslied von Rocco Minelli vor mich hin: Nel tuo cuore non hai mai più di vent’anni. Im Herzen bist du nicht älter als zwanzig. Hach! Er hat recht, der gute alte Rocco, der kürzlich seinen Fünfundsiebzigsten gefeiert hat. Innerlich kriegt man keine Falten und keine Besenreiser. Das Innere bleibt intakt und braucht weder Creme noch Botox. Ewig jung. Das Drama tritt ein, wenn Inneres und Äußeres auseinanderdriften und der Spalt jedes Jahr ein bisschen größer wird. Wer denkt sich so was Grausames aus?

Ich öffne den Schrank und betrachte mich im Spiegel. Mir blickt eine zerknitterte Hippie-Braut entgegen, die es nie aus Woodstock rausgeschafft hat. Die schulterlangen Haare in einem charakterlosen Braun, ganz ohne Glanz und Gloria. Frisur kann man das nicht nennen. Die Augen winzig unter den Schlupflidern, der Rest vom Körper aufgedunsen, die Beine ragen wie zwei Baumstämme aus dem Hängerchen.

Nel tuo cuore non hai mai più di vent’anni.

Und wenn schon. Was habe ich erst unlängst der deprimierten ANNAROSA-Leserin geraten, die sich, gebeutelt von der Sinnkrise der mittleren Jahre, vertrauensvoll an mich wandte?

Liebe Franziska,

wir alle wollen lang leben, aber alt werden wollen wir nicht. Wie wir aus diesem Dilemma rauskommen? Wir sollten uns darin üben, das Leben jeden Tag mit frischen Augen zu sehen. Der »kindliche Blick« ist das Geheimnis zum Glück. Die Welt sehen, als ob wir alles zum ersten Mal erleben – dann kehrt auch der Glanz in den Augen zurück.

Tja. Wenn ich die »offizielle« Romy bin, die in der Kolumne ROMYRÄT Ratschläge austeilt, dann weiß ich sehr wohl, wie’s geht. Aber bei mir selbst versagen all meine Tipps – vor allem jene, die ich für besonders schlau halte. Ist wahrscheinlich das Gleiche wie mit den Hypnosetherapeuten, die sich nicht selbst hypnotisieren können. Oder mit den Wahrsagerinnen, die alles voraussehen, nur ihre eigene Zukunft nicht. Und nun? Ich versuche, mich mit »frischen Augen« zu sehen. Ändert nix. Vor mir steht eine Frau, der das Hängerchen definitiv nicht steht.

In diesem Augenblick öffnet sich die Tür und Werner betritt das gemeinsame Schlafgemach.

»Aha«, sagt er, als sein Blick auf mich fällt.

»Aha was?«

»Aha nichts.«

Es scheint ihm bewusst zu sein, dass er sich auf einem Minenfeld bewegt.

Er wirft einen Blick in meinen Koffer. »Warum knüllst du alles zusammen?« Werner ist ein Freund des klassisch gefalteten Textils.

»Wie bitte? Rollen ist das neue Falten – hat sich das noch nicht bis in den Dinopark durchgesprochen?«

Dinopark: Das ist unser Spitzname für Werners Arbeitsplatz. Ganz offiziell ist er Vizedirektor der ARCHÄO-OASE, einem Übungsgelände für kleine und große Menschen, die schon immer wissen wollten, wie es sich anfühlt, Archäologe zu sein. Jeder darf dort nach Indiana-Jones-Manier graben, hacken und pinseln. Dass es für den stolzen Eintrittspreis auch ein Erfolgserlebnis gibt, dafür sorgen sogenannte Archäo-Ranger, die das ganze Zeug in der Erde verstecken. Eindeutig nicht mein Lieblings-Spielplatz. Ich würde nicht einen Cent dafür zahlen, auf alt getrimmte Scherben aus der Erde zu pulen. Für dasselbe Ergebnis brauche ich nur unter dem Esstisch zu fegen.

Werner wirft einen metallisch glänzenden, eleganten Trolley aufs Bett.

»Ich bin in drei Minuten fertig«, protzt er. »Keine Ahnung, warum Frauen so lang fürs Packen brauchen.«

Ach, jetzt legt er diese Platte auf.

»Geschwindigkeit ist nicht immer eine Tugend«, gebe ich zurück und kann mir ein Grinsen kaum verkneifen.

»Wie war das?«

»Vergiss es.« Ich winke ab.

Wir haben eine Schrankwand im Schlafzimmer, und das ist wörtlich zu verstehen. Eine ganze Wand mit Schränken, wobei – der Klassiker – sich hinter sechs Türen meine Kleidung verbirgt und nur hinter zwei die von Werner. Archäologen sind genügsame Seelen. Werner besitzt einen aschgrauen Anzug für Feierlichkeiten, einen steingrauen und einen kalksteinbeigen für den Alltag. Dazu ein paar terracottafarbene Polo-Shirts, drei Freizeithosen und Shirts in der Farbe von Sedimentgestein. Werner neigt dazu, wie ein Chamäleon mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Außerdem schmerzt ihn jede unnötige Ausgabe. Für Urlaube hat er ein paar farbenfrohe Textilien reserviert, die im obersten Fach seines Schranks auf bessere Zeiten warten: ein paar lustig bedruckte kurzärmelige Hemden (Palmen, Flamingo, Ananas) und karierte Shorts. Seit den Anfängen unserer Ehe vor zwanzig Jahren ist da nix mehr dazugekommen.

Dass Werner diese Klamotten immer noch passen, hängt mit seinem Essverhalten zusammen: kein Zucker nach vierzehn Uhr, kein Weißbrot, nicht einmal vor vierzehn Uhr – und Rohkost, wann immer es geht. Selbstbeherrschung ist sein zweiter Vorname. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns doch erheblich. Ich halte es eher mit Teresa von Ávila: Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn. Zufälligerweise gibt’s bei mir eben öfter Rebhuhn, wie mein Spiegelbild vortrefflich beweist. Ich seufze, ziehe das Hängerchen über den Kopf, verstecke es in einer unbeleuchteten Ecke im Schrank und schlüpfe wieder in Jeans und Shirt. You see, this is not pelfect! Ich warte auf eine Netflix-Serie, in der mir eine Influencerin erklärt, wie man älter wird, ohne maximale Ausschläge auf der nach oben offenen Frust-Skala zu erleiden.

Werner zippt mit einer einzigen eleganten Bewegung seinen Trolley auf. Sssssit. Ein beherzter Griff in seinen Schrank, schon zieht er genau den richtigen Stapel heraus. Die Shirts und kurzen Hosen sind so akkurat gefaltet, dass sich an jeder beliebigen Stelle ein rechter Winkel messen ließe. Er will den Stapel schon mit Schwung in den Trolley befördern, als ich ihn aufhalte.

»Warte. Da liegt noch was drin.«

Wir greifen gleichzeitig nach dem Zettel, aber ich bin schneller.

»Gib mir das«, sagt Werner. Ist er plötzlich nervös oder bilde ich mir das ein?

Ich sehe lange genug auf das Papier, um zu kapieren, worum es sich handelt. Eine Hotelrechnung. Hotel Carina**** in Holzenbüttel. Doppelzimmer mit Frühstück.

»Holzenbüttel«, sage ich.

»Internationaler Archäologie-Kongress.«

»Doppelzimmer?«

»Es ging um Konservierungsmaßnahmen an Salzmumien.«

Das klingt ja schon einmal verdächtig. Diese Mumien werden durch das Salz konserviert, ist doch logisch. Was brauchen die noch zusätzliche Maßnahmen?

»Im Iran hat man mumifizierte Leichenteile in einem Salzbergwerk gefunden. Die Männer sind vor zweitausendvierhundert Jahren bei einem Grubenunglück umgekommen.« Er hofft wohl, mich mit dem Wort »Leichenteile« abzulenken, aber da hat er die Rechnung ohne die Wirtin gemacht!

»Werner. Hier steht Doppelzimmer. Du warst doch allein dort, wenn ich mich richtig erinnere. Ich war jedenfalls nicht mit.«

Ich sage das so cool dahin, aber in Wahrheit breche ich innerlich auseinander. Das darf nicht wahr sein. Jetzt ist es also soweit: Archäologe in Midlife-Crisis betrügt seine Frau mit Mitarbeiterin, die bestimmt noch keinerlei Konservierungsmaßnahmen benötigt. Tränen steigen mir in die Augen. Die Schrankwand verschwimmt.

»Sei nicht albern, Romana.«

Immer wenn’s ernst wird, nennt er mich bei meinem vollen Namen.

»Ich ertrage diese schmalen Betten nicht, das ist doch keine Erholung.«

»Das kenne ich ja gar nicht von dir.«

Werner, der Sparfuchs, hat noch nie ein teureres Hotelzimmer gewählt, nur weil die Betten größer waren. Jedenfalls nicht, wenn wir gemeinsam verreist sind.

»Es hat gleich viel gekostet wie ein Einzelzimmer.« Er versucht, mir die Rechnung zu entreißen. »Und jetzt werfen wir das weg.«

Wir werfen hier gar nichts weg. Und so schnell kommt er mir nicht davon, Rocco Minelli hin oder her.

»Willst du, dass ich im Hotel Carina anrufe und frage, ob das Doppelzimmer genauso viel kostet wie ein Einzelzimmer?«

»Romana, was ist los mit dir?«

Typisch. Wenn ihm was nicht passt, wechselt er flugs von der Sachebene auf die persönliche Ebene.

»Mit mir? Ist das dein Ernst? Du fragst, was mit mir los ist?«

Werner hat erstaunlich schnell seine Fassung wiedergefunden. Steht da wie ein gealterter Harry Potter mit seinen runden Brillengläsern, dem schmalen, länglichen Gesicht, dem weißen, aber immer noch vollen Haar. Mein Herr Professor, Doktor der Archäologie, Experte für Keltologie, Wissenschaftler durch und durch. Soeben lerne ich eine neue Seite an ihm kennen. Und an mir. Denn eigentlich bin ich nicht so der eifersüchtige Typ. Was auch damit zusammenhängt, dass ich mich – zumindest am Anfang – für einen ziemlichen Haupttreffer hielt. Werner hat mir später gebeichtet, dass er niemals gedacht hätte, ich würde mich je für ihn erwärmen. Um ehrlich zu sein, ich konnte es selbst kaum glauben. Doch ich war reif gewesen für einen soliden Mann, um nicht zu sagen: überreif. Von den coolen, aber windigen Exemplaren, die sich die Nächte in den Discos (ja, damals hieß das so) um die Ohren schlugen, hatte ich die Nase gestrichen voll.

So war ich etwa fallengelassen worden von Johannes, der Stonewashed-Jeans trug und so viel rauchte, als würde er dafür bezahlt werden. Sein Haargel roch nach Erdnüssen, und das weiße Netzleibchen, das seine definierten Bauchmuskeln nur notdürftig verhüllte, hatte einen leichten Graustich. Er meinte, es müsse nicht so oft gewaschen werden, schließlich könne der Schweiß an den vielen Löchern entweichen und würde an der frischen Luft sofort verdampfen. Ich hatte mich nicht in sein logisches Denken verliebt, sondern in seine Art, die Zigarette zu halten – ganz lässig zwischen Daumen und Zeigefinger. Wenn er die Kippe zum Mund führte, kniff er zugleich die Augen zusammen, das sah irgendwie verrucht, ja, gefährlich aus. Er war Mechaniker, ich studierte Germanistik und setzte auf den Lady-Chatterley-Effekt: Mädchen aus gutem Hause verfällt Mann aus dem Volk. Dass er mich ein halbes Jahr später für eine Philosophie-Studentin verließ, die nur halb so hübsch, dafür doppelt so breit war wie ich, versetzte meinem Selbstbewusstsein einen enormen Schlag. Ich beschloss, mich fortan aufs Studium zu konzentrieren.

Ich konzentrierte mich so lange, bis ich an einem Wochenende kurz vor Weihnachten auf Carlos traf. Er studierte Klavier, saß in der Fußgängerzone an einem Keyboard und spielte Bach. Ach! Ich schmolz dahin. Wir tranken heißen Tee mit Rum, bis der Abend rum war. Ich verliebte mich Knall auf Fall. Drei Nächte und vier Tage verbrachten wir gemeinsam. Nachdem er nach Lissabon abgedampft war – entgegen aller heißen Schwüre ohne mich –, war mein Herz ein Schlachtfeld, auf dem kein Gras mehr wuchs.

Und dann kam Werner. Der jedes Versprechen hielt. Der sich ernsthaft dafür interessierte, was ich studierte und was ich im Leben erreichen wollte. Der mich nie anlügen würde. Schwor er. Das hast du doch geschworen, Werner, hast du oder hast du nicht? Damals, als ich das Hängerchen trug, das ich jetzt verschämt vergraben habe und von dem ich hoffe, dass kein Archäologe es jemals wieder ausgräbt. Damals, als wir gemeinsam eine LP von Rocco Minelli hörten, als Werner mich zum ersten Mal küsste – oder vielmehr ich ihn, weil er so schrecklich schüchtern war und ich wollte, dass endlich was weiterging mit uns. Damals, als er »Du bist die Richtige und niemals, niemals werde ich dich hintergehen« flüsterte.

Ich wedle mit der Hotelrechnung vor seinem Gesicht herum. »War diese …. diese … Hutkrempe auch in Holzenbüttel?«

»Du meinst Elke Hutschnur? Natürlich, sie ist ja meine Assistentin.«

»Assistentin. Dass ich nicht lache. Ha ha ha.«

Zum Beginn hat Werner nur ein paar Worte fallen lassen: neue Mitarbeiterin … Marketingprofi … direkt von der Uni …. unheimlich wissbegierig … vielseitig … ehrgeizig … Leidenschaft für Archäologie …

Irgendwann sah ich sie auf einem Gruppenfoto. Holla, die Waldfee. Lange, blonde Korkenzieherlocken, Schmollmund, dünn wie ein Seegrashalm aus dem Präkambrium. Von einem Abendessen mit ihr weiß ich. Von einem anderen habe ich über drei Ecken erfahren. Und jetzt diese Rechnung vom Hotel Carina. Da kann man doch zwei und zwei zusammenzählen.

»Romana, ich bitte dich.«

»Ich weiß, dass du letzte Woche mit ihr essen warst.«

»Rein geschäftlich!«

»Vielleicht gehst du ja auch rein geschäftlich mit ihr ins Bett! Fräulein Hutschnur, zum Diktat!«

»Es gibt kein Diktat mehr, Romana.«

»Du könntest es ja wieder einführen!«

Ich habe Lust auf eine richtige Szene. Mit Tränen, Schweiß und Gezeter von alttestamentarischer Wucht. Nel tuo cuore non hai mai più di vent’anni. Blödsinn. Innen drin bin ich jetzt vielleicht gerade mal zwölf, und die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen.

»Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, dann –«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Was dann?«

Ultimaten kann er nicht leiden. Wie alles, was ihn unter Druck setzt. Er ist immerhin Vizedirektor. Ein Vizedirektor wird nicht erpresst, der wird maximal umschmeichelt.

»Dann bleibe ich hier. Du kannst allein nach Italien fahren. Von mir aus mit deiner Frau Hutkrempe.«

Und dann werfe ich ihm den Zettel vor die Füße wie einen Fehdehandschuh.

96 STUNDEN DAVOR

»Und dann?«

Wir sitzen in Katas Wohnzimmer. Drei Augenpaare sind auf mich geheftet. Es ist so still, dass man ein Wattepad fallen hören könnte. Ich lasse mir Zeit. Zelebriere den Moment. Nippe seufzend an meinem Sex on the Beach, pflücke die Orangenscheibe vom Rand des Glases und knabbere vorsichtig das Fruchtfleisch von der Schale.

»Romy, jetzt sag schon!« Kata setzt mit einem Schwung ihr Cocktailglas auf dem Couchtisch ab und springt auf. »Ich muss in die Küche. Meine süß-sauren Garnelen verschrumpeln auf ihrem Eisbett.«

»Er hat natürlich alles abgestritten«, sage ich. »Was ich für einen Unfug zusammenfantasiere und so weiter.«

»Logisch«, sagt Britt. »Also? Hast du im Hotel Carina angerufen?«

»Natürlich«, sage ich.

»Ja und? Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?« Kata steht im Türrahmen.

»Das Einzelzimmer ist um ein Drittel günstiger als das Doppelzimmer.«

Schweigen.

»Das ist aber noch kein Beweis«, sagt Britt, Inhaberin der Boutique FEENKLEID und große Verfechterin der Gerechtigkeit. »Er kann sich einfach geirrt haben.«

»Oder es ist eine Schutzbehauptung«, sagt Monika und hebt den Zeigefinger. Monika ist Grundschullehrerin und Tatort-Fan der ersten Stunde. Außerdem glühende Minelli-Verehrerin. Sie war grün vor Neid, als ich von Werners großzügigem Geschenk berichtet hatte.

»Wollt ihr immer noch gemeinsam aufs Konzert?«, setzt sie nach.

Monika, ich durchschaue dich. Du rechnest damit, unsere Plätze zu ergattern.

»Schon«, sage ich und lege eine bedeutungsschwangere Pause ein. »Den Rocco lass ich mir nicht entgehen.«

»Also ganz ehrlich«, sagt Britt und beißt die Kirsche von ihrem Cocktailspieß. »Werner ist viel zu bequem für so was. Junge Frauen sind für ältere Männer – entschuldige Romy, aber das ist Fakt – doch die reinste Plage. Wollen die ganze Zeit feiern, essen pausenlos vegane Burger und zu guter Letzt möchten sie ein Kind. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Werner auch nur eine Sekunde auf seinen Lebensstandard verzichtet.«

Da ist was dran, andererseits weiß man aber auch, dass eine neue Liebe Flügel verleiht und Lebensgeister weckt, die man längst zur ewigen Ruhe gebettet hat.

»Mit den jungen Frauen bekämpfen Männer in der Midlife-Crisis ihre Todesangst«, sagt Monika.

»Oha. Da hat aber jemand zu viele psychologische Ratgeber gelesen«, sagt Britt.

»Spar dir deinen Zynismus, ich versuche zu helfen.«

»Also hört mal«, sagt Kata, um gute Stimmung bemüht – schließlich ist es ihr Haus, in dem wir sitzen. »Romy ist sonst doch diejenige, die Ratschläge verteilt. Sie wird schon wissen, was sie tut.«

Kata ist entzückend. Sie vergisst nicht, regelmäßig auf meine ROMY-RÄT-Kolumne hinzuweisen. Was vermutlich damit zu tun, dass wir uns von der Arbeit kennen: Sie ist Grafikerin bei ANNAROSA– halbtags, um sich die restliche Zeit um Familie und Haus kümmern zu können. Dennoch fürchte ich, dass die Kolumne mein Renommée in dieser Runde nicht gerade gesteigert hat. Eine Germanistin, die Lebenshilfe erteilt – das klingt nach Staplerfahrer, der zu einer Gallenoperation gerufen wird. Chronisch unterqualifiziert.

»Eine Verdächtigung ist noch lange kein Beweis«, wirft Monika ein. »Stell dir vor, du hast unrecht und er wollte tatsächlich nur ein größeres Zimmer. Das kannst du ihm ja wohl nicht übelnehmen.«

»Tja, das werde ich nie rausfinden«, sage ich.

»Halt, halt.« Britt hebt die Hand. »Natürlich lässt sich feststellen, ob er lügt.«

»Und zwar?«

»Mimik«, sagt sie. »Wenn einer zu viel zwinkert, ist das verräterisch. Auch wenn er deinem Blick länger standhält als notwendig. Oder wenn er falsch lächelt. Bei einem falschen Lächeln siehst du keine Falte um die Augen. Keine Krähenfüße.«

»Zeig doch mal«, bitte ich Britt. »Trockentraining.«

Britt lächelt.

»Und jetzt ein echtes Lächeln«, sage ich.

»Das war das echte.«

Oha. Bin ich emotionsblind? Unfähig, ein echtes von einem aufgesetzten Lächeln zu unterscheiden?

Kata schüttelt den Kopf. »So geht das nicht. Sag ihr die Wahrheit, Britt.«

»Botox«, sagt sie. »Aber wirklich nur total wenig.«

Na großartig. Alle lachen.

Britt ist der Nicole Kidman-Typ. Unheimlich groß und dünn, eine Haut wie Pergament, blassblondes, dünnes Haar. Hat früher gemodelt, und wer einmal von seiner Schönheit gelebt hat, den trifft das Älterwerden mit doppelter – oder eher: dreifacher – Wucht.

»Also«, wendet sich Monika mit sorgenvoller Miene wieder an mich, »was wirst du jetzt tun?«

Eins! Zwei oder drei. Du musst dich entscheiden, drei Felder sind frei! Michael Schanze hat mir als Kind schon beim Zuschauen die Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Immer diese Entscheidungen, und in der Sekunde, bevor das Licht angeht, wird dir siedend heiß bewusst, dass du falsch stehst.

»Sag ich nur, wenn ich noch was zu trinken bekomme«, murmle ich, um Zeit zu schinden, und Monika bietet mir sofort ihren Sex on The Beach an. Ich glaube, sie hat’s nicht so mit Sand in den Körperfalten.

»Ich werde nach Italien mitfahren«, sage ich. »Auf der Reise sind wir vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen. Da wird sich zeigen, ob er der Mann ist, mit dem ich auch die nächsten zwanzig Jahre verbringen möchte. Es geht also um alles, Kopf oder Zahl.«

»Oh«, macht Monika. »Weiß er das auch schon?«

»Natürlich nicht. Das würde das Ergebnis verfälschen.«

»Das lobe ich mir«, sagt Kata und klatscht in die Hände. »Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Geheimnis.«

»Was ist deins?«, fragt Britt.

Kata zupft ihren nachtschwarzen Bob zurecht. »Mein Geheimnis ist, dass ich jetzt die Vorspeise servieren muss. Sonst geht noch was schief, und dann bedankt ihr euch mit Punkteabzug. Das würde ich mir und euch nicht verzeihen.«

Wir lachen. Aber Kata meint das todernst.

Einmal im Monat veranstalten wir das »unperfekte Dinner« abwechselnd bei einer von uns. Wir – das sind vier Frauen aus der Greta-Garbo-Allee, die über sämtlichen Zutaten für das kleine Glück im Speckgürtel verfügen: Doppelhaushälfte mit Kachelofen und Carport, Rollrasen, Faltpool und jede Menge ungelebter Träume im Keller.

Das satirisch gemeinte unperfekte Dinner trifft allerdings maximal auf mich zu. Ich bin die Einzige, die keinerlei kulinarischen Ehrgeiz besitzt. Mein Gott, die Kinder sind auch so groß geworden. Werner isst mittags in der Kantine des Dinoparks – und mehr als eine warme Mahlzeit braucht ein ausgewachsener Mann nicht am Tag. Werner schon gar nicht. Für die anderen wäre diese Aussage Blasphemie, weswegen ich das erst gar nicht aufs Tapet bringe. Sie übertreffen einander täglich in der Zubereitung exquisiter Spezialitäten und durchkämmen eine Woche, bevor sie mit ihrem Dinner dran sind, die Stadt nach Peteh-Bohnen, Reisblättern und vietnamesischer Leberpastete.

Laut Menü, das Kata mit der Hand auf Büttenpapier kalligraphiert und im Morgengrauen höchstpersönlich vor unseren Haustüren deponiert hat, soll es heute Abend allerlei »Glückliches aus dem Meer« geben. Von Garnelen über eine »Muschel-Trilogie« bis zur Seetang-Mousse an Preiselbeer-Sorbet zum Nachtisch.

Kata kommt zurück aus der Küche, ihre Sieben-Zentimeter-Absätze machen klackedi klackedi klackedi auf dem Industriefußboden. Alles in dieser Wohnung strahlt postmoderne Kühle und Eleganz aus. Wie sie es schafft, ihre Teenager-Jungs so zu bändigen, dass die Doppelhaushälfte auch bei unangekündigten Besuchen aussieht wie aus dem Ei gepellt, ist mir ein absolutes Rätsel.

Wir setzen uns an einen Tisch, der sämtliche Ritter der Tafelrunde beherbergen könnte.

»Und nach welchen Kriterien wirst du deine Beziehung mit Werner abklopfen?«, fragt Britt, die rechts von mir sitzt. »Hast du eine Checkliste?«

»Ich dachte eher an Bauchgefühl.«

Kata serviert die Vorspeise auf Schiefertafeln. Das, was darauf drapiert ist, sieht aus wie ein modernes Gemälde. Viel zu schade, um es mit Messer und Gabel zu zerstören.

»Oh. Mein. Gott«, bricht es aus Monika heraus.

Wenn es ein Ranking der Kochbegabungen in unserer Runde gibt, dann liegt Monika nur knapp vor mir. Kata ist absolute Spitzenreiterin, was die Ästhetik angeht – ein Umstand, der nicht zuletzt ihrem grafischen Auge geschuldet ist.

»Wenn es euch nicht schmeckt, kein Problem«, wirft sie nun ein. »Was übrigbleibt, kriegt Kasimir.«

Kasimir ist die Bartagame, die keine drei Meter Luftlinie von Esstisch in ihrem Terrarium Löcher in die Luft glotzt. Angeblich sind Reptilien der letzte Schrei bei Teenagern, die bereits alles haben. Wie man auf die Idee kommt, sich einen Kaltblüter zu halten, der mit lebendigen Grillen und Asseln gefüttert wird, ist mir allerdings völlig schleierhaft. Ein Ast strahlt mehr Lebensfreude aus als dieses Reptil. Ich bin die Älteste in der Runde und die Einzige, deren Kinder nicht nur aus dem Gröbsten, sondern auch aus dem Haus sind. Der Echsen-Kelch ist glücklicherweise an mir vorüber gegangen.

»Kasimir, ich beneide dich«, sage ich in Richtung des Terrariums, »du musst dich nicht mit Eheproblemen herumschlagen.«

Kasimir starrt durch mich hindurch und zuckt nicht mit einer einzigen Schuppe.

»Du hast keine Ahnung«, wirft Britt ein, »der hat vielleicht Burnout und keiner kommt drauf. Sieht die ganze Zeit Kata und ihre Familie herumspazieren wie auf einem Bildschirm und kann selbst nicht raus.«

Dieser dahingeworfene Satz, der lustig sein soll, trifft mich in meinem Innersten. Verbindet mich vielleicht mehr mit Kasimir, als mir lieb ist? Schon länger fühle ich mich nur noch wie eine Zuschauerin in meinem eigenen Leben. Ich bin davon ausgegangen, dass der Auszug der Kinder mein Leben weniger chaotisch machen würde, dass ich nun mehr Zeit für mich hätte und eine neue, freie Existenz beginnen würde – aber in Wahrheit bin ich verwirrt wie zuletzt in der Pubertät. Ist das der Anfang vom Ende? Oder einfach nur der Beginn der Wechseljahre?

»Lasst es euch schmecken«, sagt Kata.

»Mahlzeit«, sage ich und blicke verzweifelt auf die Schiefertafel.

Mir ist der Appetit vergangen.

48 STUNDEN DAVOR

Liebe Romy!

Ich schreibe Ihnen, weil ich mich bedanken möchte. Sie haben meine Ehe gerettet. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber als ich Ihren Trick ausprobiert habe, war von einem Tag auf den anderen plötzlich alles ganz anders. Es fühlt sich an, als hätte ich einen neuen Mann an meiner Seite. Wir sind beide überglücklich und senden herzliche Grüße aus Kreta!!!

M. T.

Ich öffne das Attachment. Ein Mann in den mittleren Jahren, zahllose Lachfältchen um die Augen, hält ein Sektglas in die Kamera, als proste er mir persönlich zu. Er befindet sich auf einer Anhöhe vor einer weißen Steinmauer. Dahinter funkelt ein türkisfarbenes Meer und darüber spannt sich ein Himmel so tiefblau, dass man darin eintauchen möchte. Halleluja, was für ein Idyll.

Ich erhalte hin und wieder Fanpost, aber so eine entzückende Mail hat Seltenheitswert. Ich spüre, wie meine Brust schwillt. Ich, Romy Rukovsky, Germanistin ohne ein einziges Semester Psychologie, habe eine Ehe gerettet. Fantastisch. Ich beschließe, die Nachricht auszudrucken, um sie später in der Redaktionskonferenz vorzulesen. Ich brauche dringend ein Erfolgserlebnis. Und diese Lorbeeren hole ich mir persönlich ab, vor allem von Corinna Drescher, der neuen Chefredakteurin, die immer nur mitleidig lächelt, wenn ich über meine Kolumne spreche.

Beschwingt laufe ich durch den schmucklosen Gang. Man möchte meinen, dass die Redaktion eines Frauenmagazins genauso schick ist wie die Modestrecken auf den Seiten fünf bis zehn. Aber weit gefehlt. ANNAROSA residiert in einer ehemaligen Beamtenburg. Hier wurde seit der Monarchie nicht mehr renoviert, weil man »ohnehin bald umzieht«. Dieses Mantra höre ich, seitdem ich hier arbeite, also seit gut fünfzehn Jahren. Passiert ist – bis auf ein paar Landschaftsaufnahmen, die lieblos an die Wände geklatscht wurden – genau nichts. Was die Lage verschärft, ist die Tatsache, dass die Räume ungefähr zehn Meter hoch sind. Beeindruckend für jeden, der sie das erste Mal sieht, doch eine Katastrophe, wenn es darum geht, sie im Winter zu beheizen. Dank der undichten Fenster zieht es wie auf einem Frachtbahnhof. Und das ist noch nichts gegen die Kühlhauswitterung, die auf den Toiletten herrscht. Man ist nicht gewillt, auch nur eine Sekunde länger dort zu verbringen als unbedingt notwendig.

Ich pflücke meine Fanpost aus dem Drucker und mache mich auf den Rückweg in mein winziges Büro, als ich Kata am Kaffeeautomaten entdecke.

»Mist«, sagt sie. »Der Becher hat sich irgendwo verhakt.«

»Schlag ihn«, sage ich. »Das hilft.«

Sie sieht entsetzt auf ihre Hände. »Meine Nägel haben neunzig Euro gekostet. Bin mir nicht sicher, ob ich sie für einen 50-Cent-Kaffee opfern soll.«

Kata ist auch bei der Arbeit immer nur top gestylt. Sie kannst du dir zum Vorbild nehmen, hätte meine Oma gesagt, die mir auch eingeschärft hatte, stets eine »gute Unterhose« zu tragen, falls man mal mit dem Rettungswagen abtransportiert werden muss. Bis heute bin ich mir nicht sicher, was sie damit gemeint hat. Ist eine Unterhose nur dann gut, wenn sie die halben Oberschenkel und die Haut bis zum Nabel bedeckt? Oder reicht es, wenn sie keine Löcher hat?

Meine Fingernägel sind im Gegensatz zu Katas Krallen kostenlos gewachsen, also schlage ich ohne Rücksicht auf Verluste auf den Automaten ein. Ich bin eben die Frau fürs Grobe. Also jetzt mal rein äußerlich gesehen. Was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass ich recht robust gebaut bin. »Schwere Knochen«, hat meine Oma es genannt. »Ganzkörper-Airbag« sagt Werner dazu, aber er meint es liebevoll. Rede ich mir zumindest ein. Kata sagt, ich schaue »gemütlich« aus, was auch immer sie damit ausdrücken will.

Jedenfalls gibt die Maschine ein heiseres Röcheln von sich, bevor der Becher mit einem eleganten fffft in die Halterung rutscht.

»Du Lebensretterin«, seufzt Kata.

Das heiße Gebräu läuft in den Becher, begleitet von einem Brummen in der Lautstärke eines Presslufthammers. Schon der zweite kleine Erfolg für heute! Der Tag wird glorios enden, das spüre ich in den Eingeweiden.

»Hat’s noch lang gedauert?«

»Das unperfekte Dinner? Britt war die letzte. Um drei.«

Um Himmels willen. Da hatte ich schon meine zweite Tiefschlafphase erfolgreich absolviert. Dass ich gute zehn Jahre älter bin als die »Mädchen«, wie ich sie nenne, zeigt sich nicht zuletzt an meinen abendlichen Gähnattacken, die mich vor Mitternacht ins Bett zwingen.

»Und du? Was ist das?«

Ich reiche ihr das Papier. Sie liest, nippt dabei an ihrem Kaffee. »Wow. Toll. Kannst stolz auf dich sein.«

»Das bringe ich mit in die Konferenz.«

»Gute Idee. Die Drescher hat heute angeblich miserable Laune. Bis dann, muss weitermachen.« Sie geht, ruft mir aber noch was nach.

»Was ist das für ein Trick, Romy?«

»Was meinst du?« Ich bleibe stehen.

»Der Trick, von dem diese Frau da spricht. Was hast du ihr geraten?«

Ich denke nach. Aber da kommt nichts, nicht der Funke einer Erinnerung. Ich lese die Mail noch mal durch auf der Suche nach Hinweisen. M. T. Wer zum Geier war das? Was war ihr Problem gewesen? Und was bedeutet »Trick« in diesem Zusammenhang? Diesen Begriff würde ich niemals verwenden, ich verkaufe doch keine Zauberkunststücke. Was sage ich, wenn sie mich bei der Konferenz danach fragen?

»Das krieg ich raus!«, rufe ich Kata zu und eile zurück an meinen Schreibtisch. Die E-Mail-Adresse der Leserin lautet [email protected], das hilft mir nicht weiter. Wenn ich ihr zurückschreibe und nach dem Trick frage, sieht es aus, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.

Die bunten Aktenordner im Regal glotzen mich vorwurfsvoll an. Siehst du, das hast du jetzt von deiner Unordnung, unken sie. Da brauchst du gar nicht erst reinschauen.

Wahrscheinlich hat mich die Dame aber ohnehin per Mail kontaktiert, nur die wenigsten schreiben Briefe. Ich gebe »mt« in das Suchfeld meines Posteingangs ein. Fehlanzeige. Ich probiere es mit »Trick« – möglicherweise stand das Wort ja bereits in der Anfrage drin (Ich hätte gern einen Trick gewusst …)

Nix.

Tanja vom Lifestyle-Ressort klopft an meine offene Tür. »Kommst du?«

Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr, die mitleidslos die Zeit vorantreibt. Elf Uhr. Die Konferenz. Ich stehe auf, greife nach der ausgedruckten Mail. Mir wird schon was einfallen, ROMYRÄT kommt in der Besprechung erst ganz zum Schluss, nach den Diäten und den Tortenrezepten, sogar nach den Tipps für einen gesunden Darm.

Die Konferenz zieht sich quälend in die Länge. Die neue Chefredakteurin hört sich stillschweigend die Vorschläge der Redakteurinnen an, um sie im Anschluss daran zu zerpflücken. Nichts scheint zu passen: Die Meghan-Story war angeblich schon überall drin, die Modestrecke ist eine Zumutung (»Hört mal, wenn ein Model in diesem orangefarbenen Kleid aussieht wie eine Melone, was glaubt ihr, wie sich eine Leserin fühlt, wenn sie Größe 44 mit in die Kabine nimmt? Dieses Bild bleibt draußen. Punkt.«). Ich tausche einen Blick mit Kata. Sie hebt die Augenbrauen.

»Sie brauchen gar nicht so entsetzt zu gucken, Frau Weber«, sagt die Drescher, »Sie kommen auch noch dran.«

Kata wendet sich ihren Nägeln zu. Es ist mucksmäuschenstill im Konferenzraum.

Ich sehe aus dem Fenster. Der Tag, der kühl begann, hat sich zu einem prächtigen Frühlingstag gemausert. Als ich aufgestanden bin, war Werner schon fort. Er schläft seit unserem Streit in Tims Zimmer unter einem Poster von ZZ Top. Mein lieber, sanfter Sohn war immer schon ein Heavy-Metal-Fan. Jetzt ist Werner, der so oft an Tims Tür geklopft hat, um ihm zu sagen, dass er die Musik gefälligst leiser drehen soll, derjenige, der unter einer Scorpions-Decke liegt. Mir ist das alles ganz recht. Seit einiger Zeit ist er vom lauten Atmer zum Schnarcher mutiert, und ich möchte mir lieber nicht ausmalen, wie sich die nächste Stufe anhört.

Am Morgen habe ich einen Zettel auf dem verwaisten Kopfkissen neben mir gefunden.

Bitte fahr mit mir nach Italien.

Ich wollte ihn noch ein wenig schmoren lassen und habe ihm noch nicht gesagt, dass die Entscheidung längst gefallen ist. Mein Koffer steht seit besagtem Abend fertig gepackt im Abstellraum. Das bedeutet natürlich nicht, dass alles wieder gut ist. Das bedeutet nur, dass ich die Pause-Taste gedrückt habe. Und alles offen ist. Erstaunlicherweise habe ich keine Angst. Ich fühle mich frei und leicht. Was kann mir schon passieren?

Die Chefredakteurin meckert und motzt. Wahrscheinlich wird sie erst aufhören, wenn sie alle zur Schnecke gemacht hat. Nicht einmal die Diättipps finden Gnade vor ihrem gestrengen Auge. »Macht doch mal was Modernes, das unsere Leserinnen wirklich interessiert! Nicht schon wieder Intervallfasten. Ich will was über die Paleo-Diät lesen.«

Paleo-Humbug. Von Werner weiß ich, dass die Menschen in der Steinzeit ganz anders gegessen haben, als in dieser Diät propagiert wird. Das Eiweiß stammte zum allergrößten Teil vom Fisch, nicht vom Fleisch. Doch bevor ich hier unangenehm auffalle, halte ich lieber den Mund.

Gesunder Darm. So. Jetzt bin ich gleich dran. Mein Herz klopft im Dreivierteltakt. Gleich, gleich werde ich die Lobes-Mail vorlesen und meine neue Kolumne vorstellen: Diesmal berät ROMY eine gewisse Gerti, die wissen will, wie sie Mann und Kindern einen Sinn für Ordnung einpflanzen kann. Ein Problem so alt wie die Welt. Interessiert die ANNAROSA-Leserinnen bestimmt brennend.

»Und jetzt«, sagt die Drescher, »an die Arbeit, meine Damen.«

Sesselrücken, aufbrandendes Gequatsche, irgendwer öffnet ein Fenster.

»Aber ich – « Hilflos strecke ich meinen Arm in die Luft. »Ich habe doch noch nicht … «

Niemand, der mich wahrnimmt. Die Drescher hat mich vergessen. Mich einfach ignoriert. Ich bin Luft für sie.

Mit einem Mal steht sie vor mir. »Frau Rukovsky, hätten Sie die Güte, mich in mein Büro zu begleiten?«

Die anderen verlassen den Raum, Kata klopft mir im Vorbeigehen aufmunternd auf die Schulter und formt ein »wird schon, nur Mut« mit den Lippen.

Corinna Drescher geht vor, ich folge ihr und fühle mich dabei wie eine Schülerin, die von der Lehrerin zum Nachsitzen verdonnert wird. Was bitte habe ich falsch gemacht? Und warum durfte ich weder die neue Kolumne vorstellen noch den Brief vorlesen?

»Setzen Sie sich.«

Mit gestrecktem Zeigefinger deutet sie auf den extraharten Besucherstuhl, der vor ihrem Plexiglas-Schreibtisch steht, und nimmt selbst in einem gepolsterten Aluminium Chair von Vitra Platz. An den Wänden ihres Büros prangen doppelbettgroße farbenprächtige Gemälde. Na bitte, geht doch, wenn ein Wille da ist.

»Sie sind gerne bei uns?«, fragt sie und legt die Handflächen aneinander, als würde sie beten. Ihr Schreibtisch ist blitzsauber, In einer Ecke lauert verschämt ein Laptop in der Größe eines Notizblocks, dünn wie eine Kreditkarte. Hier kann doch unmöglich ernsthaft gearbeitet werden. Und was soll überhaupt diese Frage? Ich arbeite seit fünfzehn Jahren hier, würde es mir nicht gefallen, wäre ich längst gegangen.

»Natürlich«, sage ich.

»Schön. Denn auch wir arbeiten gern mit Ihnen zusammen.«

»Dann ist ja alles wunderbar«, sage ich.

»Bis auf eine Kleinigkeit. Sie haben ROMYRÄT in den vergangenen Jahren zu einer Marke aufgebaut, dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.«

Eine Spur von Stolz keimt auf. Vielleicht kann ich ihr ja die Mail immer noch zeigen. »Gern«, sage ich, »ich hätte hier übrigens –«

Noch bevor ich ihr den Ausdruck reichen kann, unterbricht sie mich. »Jetzt allerdings ist es an der Zeit, sich ein wenig … nun ja, zu verjüngen.«

Ich kapiere nicht. Ich soll mich verjüngen?

»Wir wollen vermehrt die jungen Frauen ansprechen. Haben Sie eine Tochter?«

»Ja, Emma. Sie ist neunzehn und studiert –«

»Na dann wissen Sie ja bestens, was diese jungen Dinger wollen, nicht wahr. Sie nehmen gerne Rat von ihresgleichen an.«

Corinna Drescher lächelt. Ein falsches Lächeln, das erkenne ich sofort. Keine Krähenfüße um die Augen.

»Wir haben uns Folgendes vorgestellt.«

Warum um alles in der Welt sagt sie dauernd wir? Wer soll das bitte sein? Sie und der Herausgeber? Sie und der Mutterkonzern? Sie und Gott?

»Betty Dschi wird Ihre Kolumne übernehmen. Eine Influencerin. Lebt von ihren YouTube-Einschaltquoten. Tja, diesen Beruf gab’s zu unserer Zeit noch nicht, was.«

»Wer?«

»Oh. Entschuldigen Sie vielmals. Betty Dschi.« Sie malt ein G in die Luft.

Ach so. Betty G. »Und wer ist das?«

»Eine Lebenshilfe-Vloggerin. Also eine Bloggerin, die Videos online stellt und darin Zuschauerfragen beantwortet. Eine Influencerin. Das ist – «

»Danke, aber ich weiß, was eine Influencerin ist«, unterbreche ich sie. »Was hat das bitte mit ROMYRÄT zu tun?«

»Nichts natürlich. Also noch nichts. Die Kolumne wird umbenannt in BETTYRÄT.«

Ich schlucke. Mein Baby. Das ich aus der Taufe gehoben habe. Wird mir nichts, dir nichts verschenkt. An ein Mädchen, das noch in den Windeln lag, als mein Bindegewebe bereits erste Verschleißerscheinungen aufwies. Vor Entsetzen knülle ich die Lobeshymne von M.T. zu einem Ball zusammen.

Ich werde jetzt sicherlich nicht fragen, wer die Zielgruppe dieser Betty sein soll, denn ich kenne die Antwort: Frauen wie ich. Jüngere und ältere. Ich sehe doch selbst diesen Influencerinnen zu, wie sie Spannbettlaken perfekt falten und Herrenhemden zu kleinen Würstchen formen. Die Geister, die ich rief.

»Für Sie haben wir natürlich einen verantwortungsvollen neuen Aufgabenbereich, der Ihrer langjährigen Expertise entspricht.« Die Chefredakteurin legt den Kopf schief. »Sie wissen ja, dass wir unsere Online-Präsenz massiv ausbauen. Nun, dort sind auch einige Foren zu betreuen, unter anderem das hochinteressante und anspruchsvolle Feld der Gesundheit. Wir rechnen mit mehreren tausend Leserinnen, die diese Foren regelmäßig nutzen werden. Und dachten uns, dass Sie perfekt für das Venen-Thema geeignet wären.«

Ich hoffe, mich verhört zu haben.

»Wie bitte?«

»Das Forum wird voraussichtlich Vene, vidi, vici heißen – in Ihren Augen bestimmt ein etwas abgeschmackter Wortwitz, aber wir müssen uns von allen anderen Foren unterscheiden, verstehen Sie. Also haben wir einen Werbetext-Guru mit ins Boot geholt. Er ist fürs Naming zuständig.«

Ich verstehe nur noch Guru. Stehe auf wie hypnotisiert. Zurück auf Start, liebe Romy. Das Falsche gewürfelt, Pech gehabt.

»Warte Sie, Frau Rukovsky, da wäre noch was«, sagt sie, als ich schon an der Tür bin.

Meine Gedanken flippern zwischen den Gehirnwindungen hin und her, doing, doing, doing, zack, doing.

»Ja?«

Ich atme tief ein, dann halte ich die Luft an und warte auf einen Satz wie: Jetzt habe ich Sie aber drangekriegt, nicht wahr? Oder: Das war ein Streich, den wir gemeinsam ausgeheckt haben, sehen Sie die kleine Kamera hier? Oder: Vene, vidi, vici – haben Sie mir das ernsthaft abgekauft?Ich wollte nur sehen, wie Sie reagieren, haha, kommen Sie, trinken wir einen.

Die Türklinke klebt an meiner schweißnassen Hand. Ich sehe Corinna Drescher erwartungsvoll an. Wie sie dasitzt hinter ihrem blitzblanken Chefinnen-Schreibtisch aus Glas, im hautengen Rock, der auch im Sitzen keinen Zentimeter hochrutscht, die Beine so elegant übereinandergeschlagen, als posiere sie für Helmut Newton.

Sie lächelt. Diesmal mit Krähenfüßchen. »Schönen Urlaub, Frau Rukovsky.«

24 STUNDEN DAVOR

Es ist erst kurz nach neun, aber ich habe Kata bereits drei Nachrichten geschickt.

Die erste: Wir sitzen in einem Bus. In einem BUS! Nicht zu fassen.

Zehn Minuten später: Der Busfahrer ist uralt. Um die neunzig. Sollte mir was passieren: Du erbst die Orchideen. Bitte regelmäßig düngen.

Zehn Minuten darauf: Wir halten schon zum zweiten Mal. Prostata? Es nieselt. Alles mies.

Kata versucht, witzig zu sein: Du hast vergessen, deinen neuen Job zu erVENEN, Frau Doktor! Bist hier übrigens Tagesgespräch. Mach keine Dummheiten!

Als ich das lese, ist mit einem Schlag alles wieder da. Das Gespräch mit der Chefredakteurin, BETTYRÄT, das Venen-Forum. Sie versuchen, mich auszubooten, das liegt auf der Hand. Zu alt fürs Magazin, also, husch husch, aufs online-Abstellgleis. Früher waren Foren was für die Jungen, heute tummelt sich dort nur noch die Generation »Hilfe, ich habe das Internet gelöscht«. Das Gleiche mit Facebook. Nur noch Alte dort – also jene Generation, die auf dem Schulhof mit Murmeln gespielt hat. Und was bedeutet das für meine Zukunft? Soll ich unter allen Umständen bei ANNAROSA bleiben? Oder besser gehen? Aber welchen Chancen habe ich denn noch mit fünfzig?

Ich google mal die Konkurrenz. Betty G.s YouTube-Kanal nennt sich »Du hast nur 1 Life«. Ich sehe eine streichholzdünne, kaum dem Teenageralter entwachsene junge Frau mit Dreadlocks vor einem schwedischen Regal mit allerlei Deko-Plunder stehen: Elefanten, wasserpfeifenartige Gebilde, Tierfiguren aus Glas. Unter dem Video eine endlose Wurst an Kommentaren.

O Gott, du hast mir soooo geholfen!!! Warum kannst du nicht meine Schwester sein?

Ich warte jede Woche auf deine Videos! Du bist die Queen des Internets.

Betty, du bist die Beste! Endlich habe ich kapiert, wie das Leben läuft. Ich <3 dich.

Himmel. Sobald ich diese Influencerinnen sehe, fühle ich mich steinalt. Und kugelrund. Romy von Willendorf. Wenn ich es weiterhin brav mit Churchills »No sports!« halte, wird es auch mit der Unbeweglichkeit demnächst klappen. Und weil die Venen dann irgendwann schlapp machen, werden ich wenigstens meine beste eigene Kundin im Venen-Forum sein. Kein Nachteil ohne Vorteil.

Ich antworte auf Katas Nachricht: Keine Sorge – für Dummheiten sind hier die anderen zuständig.

Werner beugt sich zu mir rüber. »Willst du nicht die Reise genießen?«

Genießen? Wovon spricht er?

»Wenn du die ganze Zeit auf deinem Handy herumtippst wie ein Teenager, versäumst du die Landschaft!«

»Welche Landschaft? Das hier ist eine Autobahn.«

»Aber dahinter! Dahinter ist Landschaft.«

»Die kann ich nicht sehen.«

Vor dem Fenster baumelt ein blauer Vorhang aus einem undefinierbaren Material, der sich zuziehen lässt, wenn einen die Sonne blendet oder man genug hat von der »Landschaft«. Ich wünsche mir auch einen Vorhang auf der anderen Seite, also zwischen meinem und Werners Sitz.

Kata platzt vor Neugier: Weißt du schon Näheres wegen Hutschnur?

Menno, einmal habe ich gerade nicht daran gedacht. Klar werde ich Werner auf sie ansprechen. Aber nicht sofort. Nicht am ersten Tag. Zuerst wieder langsam annähern. Die Fühler ausstrecken. Nachspüren, was da noch vorhanden ist an Gefühlen.

Im Moment ist es hauptsächlich Verwunderung: Der Tower des Flughafens war schon zu sehen, aber der Bus ist nicht abgebogen.

»Werner, wir sind gerade am Flughafen vorbeigefahren.«

»Wer hat was von Flug gesagt?«

Mir bleibt der Mund offenstehen. Apulien, das nicht gerade um die Ecke.

»Aber … äh, wie lange werden wir dann in diesem Bus sitzen?«

»Bis wir dort sind?«

»Ich meine: Stunden. Wie viele Stunden.«

»Wir sind doch gerade erst eingestiegen. Jetzt sei nicht so ungeduldig, Romana.«

Tatsächlich stand auf dem Reise- und Konzertgutschein, den Werner mir gemeinsam mit einem Strauß Tankstellenblumen feierlich überreicht hat, lediglich der folgende Text:

ROCCOMINELLIWARTETAUFDICH!

WANN? AM 25. April um 19 Uhr in der Bucht von Mattinata.

Und damit es sich lohnt, verbringen wir 4 Tage/Nächte in BELLAITALIA,

bella Romana.

Man muss Werner zugutehalten, dass er hierfür seinen gesamten Romantik-Wortschatz aufgeboten hat. In Werners Welt gilt die Wortkombination Bella und Romana schon als emotionaler Vulkanausbruch, so etwas brächte er im richtigen Leben nicht einmal mit vorgehaltener Pistole über die Lippen. Das war übrigens immer schon so. Der heißeste Moment in unserer Flirtphase war jener, in dem er mir versehentlich Brennnesseltee über die Beine geschüttet hat.

Wir sitzen in Reihe zwölf. Reihe 13 gibt es keine, wie im Flugzeug – der Aberglaube greift um sich. Hinter uns geht’s gleich mit Reihe 14 weiter, und da sitzen zwei entzückende ältere Damen, die schon um neun Uhr früh ihre Wurstbrote auspacken. Ohne hinzusehen, kann ich alles rein vom Geruch her fein unterscheiden: Auf einem Brot muss Salami liegen, auf dem anderen Räucherschinken, eins riecht nach nichts – ist wohl Mozzarella drin. Wer fast zwanzig Jahre lang Pausenbrote schmiert, der hat ein Näschen für Wurstsorten. Bei »The Smell of Germany« hätte ich gute Chancen auf einen Juror-Sessel.