Und jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne - Elli Voss - E-Book

Und jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne E-Book

Elli Voss

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Beschreibung

Ein Erbe kommt selten allein

In Uschis Gegenwart fühlen sich alle Menschen wohl. Sie ist unschlagbar darin, erhitzte Gemüter zu beruhigen und hat für jede Situation den richtigen Tee parat. Kein Wunder, dass sie in der florierenden Anwaltskanzlei ihres Mannes Titus der gute Geist ist. Denn bei GLÜCKLICH ERBEN melden sich Menschen, für die ein Erbe vor allem eins nach sich zieht: Ärger. Für Uschi steht daher fest: Sie will niemals etwas erben. Als ein Notar ihr verkündet, dass ihre Großtante Henriette ihr etwas vermacht hat, will sie das Erbe sofort ausschlagen. Doch so einfach ist das nicht. Und schon bald steht Ursula in Klein Ziff vor einer Bretterbude und sieht sich nicht nur mit einem Erbe, sondern auch mit vielen großen Fragen konfrontiert.

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Das Buch

»Kommen wir zur Sache. Gut, dass Sie sofort kommen konnten. Frau Hoffmann hat Frau Ehrenfried nämlich etwas vermacht. Und da Sie, liebe Frau Ehrenfried, nicht mehr ihren Mädchennamen tragen, hatten wir Schwierigkeiten, Sie zu finden.«

Dieses Problem ist mir auch nicht unbekannt. »Jetzt haben Sie mich ja gefunden«, sage ich. »Haben Sie’s dabei?«

Er scheint verwirrt. »Sie meinen, ob ich Ihr Erbe eingesteckt habe? Meine liebe Frau Ehrenfried, ich fürchte, was Ihnen Ihre Tante vermacht hat, das können Sie nicht im Wagen mit nach Hause nehmen.«

Er dreht sich um und zeigt auf einen Bretterverschlag im Hintergrund. »Voilà.«

Ich verstehe nicht. »Was ist das?«

»Das war Henriettes letzter Laden. Der Bahnhofkiosk. Er gehört jetzt Ihnen.«

Der Satz schlägt ein. Bitte nicht, denke ich. Bitte kein Ding erben. Und schon gar keine Baracke. Oder einen Kiosk. Oder was auch immer. Das brauche ich nicht. Das will ich nicht. Tante Hetti, das ist nicht dein Ernst.

»Etwas unkonventionell, ich gebe es zu«, sagt Koppenrat.»Aber mit ein paar Handgriffen sieht dieses schöne Objekt wieder aus wie neu.«

»Nein«, sage ich leise. »Nein danke. Ich dachte an ein Amulett. Oder ein altes Buch. Oder ein Bild. Ich nehme gern ein Bild. Aber keinen Kiosk. Danke. Das geht nicht.«

Die Autorin

Elli Voss ist das offene Pseudonym von Isabella Straub, geboren 1968 in Wien. Sie studierte Germanistik und Philosophie und arbeitet als Journalistin und Werbetexterin in Klagenfurt am Wörthersee. Unter ihrem Klarnamen schreibt sie literarische Romane.

ELLI VOSS

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 07/2022

Copyright © 2022 by Elli Voss

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Katja Bendels

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg, unter Verwendung eines Motives von © iStockphoto / Pobytov

Satz: Uhl+Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24557-3V001

www.heyne.de

TEIL I Unruhe auf der Ersatzbank

1

»Kanzlei Ehrenfried, Glücklich Erben, was kann ich für Sie tun?«

»Endlich!«

»Herr Endlich?«

»Endlich komme ich durch!«

»Tut mir leid, dass Sie …«

»Dr. Ehrenfried, aber ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf!«

»Haben Sie einen Termin?«

»Braucht man hier etwa fürs Telefonieren schon einen Termin? Was ist denn das für eine Kanzlei?«

Der Mann am Telefon ist außer sich. Nichts Ungewöhnliches. Das sind viele, die bei uns anrufen. Ich male Kringel auf ein Blatt Papier. Blumen mit langen Stielen und exotischen Blüten. Später werde ich sie lila ausmalen. Ich bin ganz ruhig. Nur nicht aufregen. Langsam ein- und ausatmen. Und immer lächeln. Wenn man lächelt, sendet das Gehirn Botenstoffe, die für gute Laune sorgen. Im besten Fall springt die Laune auf meinen Gesprächspartner über. In weniger guten Fällen – nun ja.

»Herr Doktor Ehrenfried ist in einer Besprechung«, flöte ich mit meiner Alles-wird-gut-Stimme. »Er ruft Sie gerne zurück. Darf ich mir Ihren Namen und Ihre Nummer notieren?«

»Schon wieder? Ich habe in dieser Kanzlei schon so oft meinen Namen hinterlassen, dass der mittlerweile überall draufstehen muss! Knall! Winfried Knall!«

»Doppel L?«

»Doppel Ö sicher nicht! Wer sind Sie überhaupt?«

Die letzte Frage brüllt er so laut, dass ich den Hörer vom Ohr weghalten muss. Ich schließe die Augen für einen Moment, um mich zu sammeln. Lächeln, Uschi, lächeln. Dieser Mann hat ein Problem. Er hat nichts gegen dich persönlich, er hat bloß etwas gegen seine momentanen Lebensumstände.

»Ich bin Ursula Ehrenfried.«

Kurze Pause am anderen Ende.

»Also dann sind Sie seine … seine …«

»Genau.«

Die Ehefrau von Dr. Titus Ehrenfried, dem Spezialisten für verzwickte Erbschaftsangelegenheiten – die bin ich. »Zum Ehrenfried« geht man, wenn sämtliche andere Schlichtungsversuche versagt haben. Er ist quasi die letzte Option vor dem Duell im Morgengrauen. Titus’ Beratung ist nicht günstig, dafür leistet er erstklassige Arbeit. Sein Ruf eilt ihm voraus, und wir eilen ihm nach mit den Terminen – tatsächlich platzt sein Kalender aus allen Nähten. Und ich, Ursula Ehrenfried, bin stolze Besitzerin einer ganzen Schublade voll mit Zeichnungen, die ich während meiner Telefonate mit seinen Klienten produziert habe: Blumen, auf denen freundliche Käfer herumturnen, Fantasielandschaften mit und ohne Sonne, Himmel mit und ohne Wolken.

»Dann richten Sie Ihrem Mann aus, dass er mich gefälligst zurückrufen soll. Mein Vater hat mich enterbt.«

Herr Knall hat seine Stimme auf Zimmerlautstärke zurückgedreht. Jetzt kann ich auch Enttäuschung und Fassungslosigkeit heraushören. Phase zwei. Ab sofort ist er zugänglich für Erklärungen und Vorschläge, ohne dass die Gefahr einer erneuten Explosion besteht.

»Wissen Sie, Herr Knall, wir haben derzeit ein hohes Aufkommen an Fällen«, sage ich. »Deshalb wurden Sie noch nicht zurückgerufen. Aber ich darf Ihnen eines versichern: In Vater-Sohn-Konflikten ist Dr. Ehrenfried Spezialist. Und das ist noch untertrieben: Er ist hervorragend. Um nicht zu sagen: ein Genie. Bisher konnte er noch jeden Fall zur Zufriedenheit aller Parteien lösen.«

Okay, das ist ein bisschen übertrieben. Aber zumindest ist es genau das, was Herr Knall im Moment hören möchte. Und – ganz ehrlich – auch das, was er benötigt: Zuversicht. Einen Menschen, der ihm zuhört und der auf seiner Seite steht. Ein bisschen riskant ist das Ganze zwar, weil ich überhaupt keine Ahnung habe, was bei Knalls daheim vorgefallen ist, aber mein Credo lautet: Wenn man die Erwartungen der Klienten möglichst hochschraubt, gehen sie mit einem guten Gefühl ins Erstgespräch und sind eher bereit, ihr Scherflein beizutragen, einfach weil da schon ein Lichtlein der Hoffnung am Ende des Tunnels glimmt.

Und tatsächlich höre ich einen Seufzer der Erleichterung am anderen Ende der Leitung.

»Da bin ich aber froh«, sagt er. »Wir kämpfen seit fünf Jahren. Drei Anwälte haben wir schon verschlissen. Der Alte gibt nicht auf. Es ist einfach nicht mehr zu ertragen.«

»Kann ich sehr gut nachfühlen«, gebe ich zurück.

Und das ist nicht einmal gelogen. Ich höre täglich von schrecklichen Begebenheiten und schmutzigen Tricks: Kinder, die um ihren Pflichtteil gebracht werden, indem das Vermögen ins Ausland transferiert wird. Kinder, die schon beim Begräbnis der Eltern nach dem Haus fragen. »Freunde«, die das Testament des Nachbarn manipulieren, um sich das Erbe zu sichern. Familien, die sich über das Erbe auf ewig entzweien oder dabei alte Rechnungen begleichen. Und wofür? Für Geld, das noch nicht einmal in der Lage ist, unser Glück zu vermehren. Schnöder Mammon, der so viel Unglück auf dem Gewissen hat. Deshalb firmiert die Kanzlei in meinem Handy auch unter dem Namen UNGLÜCKLICHERBEN.

Würde man mir persönlich ein Erbe anbieten, ich würde dankend ablehnen. Kein Interesse, merci vielmals, geben Sie’s jemand anderem, aber verschonen Sie mich.

»Und Sie meinen wirklich, dass Dr. Ehrenfried mir helfen kann?«

Winfried Knalls Stimme ist jetzt gelassener, seine Atmung deutlich ruhiger.

»Aber natürlich! Und wenn ich mir noch eine Anmerkung erlauben darf: Atmen Sie doch beim nächsten Mal, wenn Sie an den Streit mit Ihrem Vater denken, dreimal tief durch. Stehen Sie dabei aufrecht und spüren Sie den Boden unter den Füßen, der Sie trägt. Probieren Sie’s gleich aus.«

»Wie? Jetzt?«

»Natürlich. Es wird keinen besseren Moment geben.«

Ich höre ihn lange ein- und langsam ausatmen.

»Und das dreimal, einverstanden?«, sage ich. »Wiederholen Sie die Übung, wann immer Sie sich gestresst fühlen. Ich mache das auch.«

»Das ist ja mal eine ungewöhnliche Kanzlei«, sagt Herr Knall.

»Stets zu Diensten«, erwidere ich und zeichne ins rechte Eck des Blattes eine lachende Sonne, die ihre Strahlen zu den Blumen hinunterstreckt. Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt. Ein wenig Pippi Langstrumpf steckt doch in uns allen drin. Auch wenn man schon über fünfzig ist.

Während ich mich mit einem zufriedenen Lächeln von Herrn Knall verabschiede, blicke ich auf und sehe Frau Elsbeth an der Kommode lehnen, die Arme über ihrem Chanel-Jäckchen verschränkt, den Blick auf mich geheftet. Als ich auflege, klatscht sie in die Hände, als hätte ich aus dem Stand einen doppelten Salto rückwärst hingelegt.

»Respekt, Uschi, Respekt. Wie ist Ihnen das nur wieder gelungen?«

Ich zeige auf mein Telefon. »Habe ich den Knall von Ihnen geerbt?«

Das tut Frau Elsbeth nämlich gerne: schwierige Kundschaft zu mir verschieben. Mir eilt der Ruf voraus, dass es mir gelingt, selbst die aufgebrachtesten Zeitgenossen zu beruhigen.

»Eine unglaubliche Nervensäge, dieser Knall«, sagt Frau Elsbeth und betrachtet ihre perfekt manikürten Fingernägel in Mattrosé. »Sie wissen ja, ich hab’s nicht so mit« – sie macht eine kleine Pause – »unhöflichen Zeitgenossen.«

»Ich weiß«, erwidere ich und schenke ihr ein Lächeln. »Bei mir war er ganz zahm.«

Frau Elsbeth schüttelt ungläubig den Kopf. »Nicht zu fassen, wie Sie den Cholerikern den Wind aus den Segeln nehmen.«

Ein Lob aus dem Mund von Frau Elsbeth macht mich stolz. Sie ist schließlich nicht nur eine Kollegin, nein. Sie ist eine Grande Dame: strenge Margaret-Thatcher-Frisur in Beton-Optik, pastellfarbene Kostümchen, stets kombiniert mit Strumpfhose und Riemchenpumps – wie aus dem Ei gepellt. Elsbeth Kessler-Rothstein, so ihr vollständiger Name, ist gewissermaßen die graue Eminenz der Kanzlei. Seit gut vierzig Jahren arbeitet sie für die Anwälte Ehrenfried, erst für den Senior, jetzt für den Junior. Keinem Mitarbeiter hat sie in diesen Jahrzehnten das »Du« angetragen, und weil ihr Nachname länger ist als so mancher Gesetzestext, belassen wir es bei Frau Elsbeth. Sie ist das organisatorische Gewissen der Kanzlei. Ohne sie würde in kürzester Zeit alles zusammenbrechen. Ich bewundere ihre Klarheit und Disziplin – beides gehört definitiv nicht zu meinen Kernkompetenzen.

Womit ich aber wiederum punkten kann, ist Einfühlungsvermögen. Deshalb wollte ich auch immer etwas mit Menschen machen – und nicht mit Bildschirmen. Es ist mir Freude und Genugtuung, Anrufe wütender und verzweifelter Zeitgenossen entgegenzunehmen und bedauernswerte Menschen mit Hoffnung zu füttern. Fühlen sich die Anrufer nach einem Gespräch mit mir besser, dann geht es auch mir gut. Wahrscheinlich ist es eine Art Talent oder eine charakterliche Anlage. Die Atem- und Entspannungsübungen habe ich mir im Selbststudium angeeignet, nicht zuletzt, weil auch ich sie gut gebrauchen kann. Sie sind kein Hexenwerk, sondern leicht nachzuahmende Tricks, die bei jedem wirken.

»Ach, bevor ich’s vergesse«, sagt Frau Elsbeth. »Ich habe vorhin Frau Walsch eingetragen. Sie wissen schon, die Dame mit dem Irish Setter.«

»Und der bissigen Schwester«, ergänze ich, während ich meine neueste Zeichnung in die Schublade zu den anderen Zeichnungen gleiten lasse. »Ich erinnere mich.«

»Es wäre schön«, sagt Frau Elsbeth, »wenn Sie bei diesem Termin im Haus wären.«

»Ich bin doch ohnehin da.«

»Ich meine, wenn Sie die Walsch begrüßen könnten.« Frau Elsbeth ziert sich ein bisschen. »Vielleicht könnten Sie ihr einen Ihrer berühmten Tees kochen, dem Hund einen Napf mit Wasser … ach, Sie wissen schon. Und eventuell die eine oder andere Atemübung? Ich habe vorhin mitgehört … Eins kann ich Ihnen verraten: Die Walsch wird unsere Unterstützung brauchen. Bevor sie zum Chef hineingeht, sollte sie Kraft getankt haben.« Frau Elsbeth hebt fragend ihre perfekt gezupften Augenbrauen.

Schon verstanden, liebe Frau Elsbeth: Meine zwischenmenschlichen Talente stehen hoch im Kurs in dieser Kanzlei. Das ehrt mich. Andererseits bereitet mir ihre Bitte aber auch ein wenig Sorge. Neuerdings sieht Titus es nämlich gar nicht gerne, wenn ich länger mit seinen Klientinnen und Klienten plaudere. Was ich als Aufmunterung und Unterstützung verstehe, bezeichnet er als Ablenkung und Einmischung, die der Sache nicht guttun. Wenn ich nachfrage, was daran denn seinen Unmut erregt, antwortet er: Unser Geschäft sind Zahlen und Fakten. Nicht Chakren und Räucherstäbchen. Und wenn ich dann einwerfe, dass ich kein einziges Mal ein Räucherstäbchen in der Kanzlei entzündet habe und auch nicht daran denke, das zu tun, heißt es: Da bin ich mir nicht so sicher, Ursula. Es geht hier um unseren guten Ruf. Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst.

»In Ordnung«, sage ich zu Frau Elsbeth, die auf eine Antwort wartet. »Ich kümmere mich um Frau Walsch. Wie heißt ihr Hund noch mal? Hexi?«

»Huxley. Nach dem Schriftsteller.«

»Wie extravagant.«

Eine Möglichkeit wäre, mich mit Frau Walsch und ihrem sabbernden Setter in die Teeküche zurückzuziehen. Die betritt Titus eigentlich nie. Sein Revier ist sein eindrucksvolles und mit tonnenschweren Eichenmöbeln ausgestattetes Büro, das beinahe so weitläufig ist wie unsere gesamte Wohnung. Dort sitzt er hinter seinem kinderpoolgroßen Schreibtisch, auf dem sich zahlreiche Ingredienzien seiner Welt wiederfinden: ein Stapel Schachzeitschriften, die er in der Mittagspause durchblättert; eine Kiste feinster Zigarren, die er einst von einem zufriedenen Klienten geschenkt bekommen hat; ein Füller mit Goldfeder in einer schicken Schatulle; ein Foto im Goldrahmen, das ihn mit seinen Eltern zeigt (er in der Mitte, sie mit stolzem Blick zu ihm aufschauend); ein Foto mit mir aus den Anfangstagen, als wir einen Berg besteigen wollten, dann aber den ganzen Tag in einem Lokal an der Talstation der Gondelbahn verbrachten. Und eine orangefarbene Stresswurst, die ich ihm mal zu einem runden Geburtstag geschenkt habe, die liegt auch auf seinem Schreibtisch. Sie ist aus einem undefinierbaren Material gefertigt und lässt sich auch mit größter Kraft kneten, ohne zu platzen oder die Form zu verlieren. Die linke vordere Ecke des Schreibtisches ist schließlich für die Kaffeetasse reserviert, die Frau Elsbeth meinem Mann jeden Tag um Punkt neun und um Punkt eins serviert. Mit einem Stück Süßstoff. Ohne Milch.

Frau Elsbeths und mein Büro hingegen ist eher spartanisch eingerichtet: in die Jahre gekommene zusammengestoppelte Büromöbel, ein paar Pflanzen in den lichtarmen Ecken, Frau Elsbeths Kalender mit Tiermotiven und an der Wand ein Schwarz-Weiß-Porträt von Titus’ Großvater, dem ehrwürdigen Gründer der Kanzlei. Gütiges Lächeln eines alternden Herrschers. Laut Frau Elsbeth, die ihn noch persönlich in Amt und Würden erlebt hat, war er ein lustiges und sympathisches Kerlchen, das nie um einen Scherz verlegen war und die Damenwelt bis ins hohe Alter mit Komplimenten und Pralinen verwöhnt hat. Kurzum: ein Charmeur der ganz alten Schule, dem ich mich verbunden fühle, obwohl ich leider nicht mehr die Gelegenheit hatte, ihn kennenzulernen.

Auch er hieß bereits Titus. Eine ganze Reihe an Titussen gibt es in dieser Familie. Die Gene lassen sich übrigens nicht verleugnen. Großvater Ehrenfried steht dafür Pate: Mit breitem Gesicht und fleischigen Lippen, die verbliebenen fünf Haare quer über den Schädel gekämmt, sieht er durch seine Brille mit schmaler Fassung freundlich in die Ferne. Im Gegensatz zu seinem Enkel hätte er sich über unkonventionelle Methoden, die frischen Schwung in die Kanzlei bringen, bestimmt gefreut. Davon bin ich überzeugt.

Ich schenke Opa Ehrenfried ein Lächeln, bevor ich in der Küche unseren Teevorrat überprüfe. Welche Kräutermischung werde ich Frau Walsch zubereiten, um sie für das Gespräch zu stärken? Den Fühl-dich-wohl-Tee mit Lavendel und Kamille oder gleich den Es-kann-nur-besser-werden-Tee mit Hagebutte und Salbei? Nicht, dass ich mir davon eine plötzliche Glücksgefühl-Überschwemmung verspreche – doch wird der Tee mit verständnisvollen Worten angereichert, kann er durchaus den Blutdruck senken und ausgleichend auf das Gemüt wirken.

Gerade als ich aus der Teeküche zurückkehre, um Frau Elsbeth um ihre Meinung zu fragen, stürmt Titus mit hochrotem Gesicht aus seinem Büro. Er fingert an seinem Krawattenknoten, wie er es immer tut, wenn er besonders wütend ist und sich Luft machen muss.

»Wer hat mit dem Knall gesprochen?«

Ich sehe Frau Elsbeth an. Frau Elsbeth sieht mich an. Sie kennt Titus. Ich kenne Titus. Aber ich bin diejenige, die seinen Ärger noch länger spüren wird, das weiß Frau Elsbeth.

»Was ist passiert?«, fragt sie nonchalant.

Titus ignoriert sie. »Ursula«, sagt er leise, »ich glaube, du nimmst das hier nicht ernst.«

Er nennt mich Ursula. Ich weiß nicht, wohin ich schauen soll, fühle mich wie eine Schülerin, die von einem Lehrer zurechtgewiesen wird, weil sie beim Schummeln erwischt wurde. So sollte man sich nicht fühlen. Nicht mit fünfzig. Nein, niemand sollte sich so fühlen müssen. Egal in welchem Alter.

»Dieser Knall hat behauptet, dass du mit ihm Atemübungen gemacht hast.«

»Er war so aufgeregt«, sage ich. »Außerdem …«

»Und dass ich angeblich bei Vater-Sohn-Konflikten immer eine Lösung fände. Weil ich ein Genie sei.«

Er betont das Wort »Genie« ganz eigenartig.

»Mozart war ein Genie«, sagt Titus. »Maradona war ein Genie. Leonardo da Vinci war ein Genie. Aber ich«, – er schlägt mit der Hand auf die Kommode –, »ich bin einfach nur ein Anwalt, der hart arbeitet und sein Handwerk versteht.« Titus mustert mich forschend. »Machst du dich etwa über mich lustig?«

Ich schiele hinüber zu Opa Ehrenfried. Der hätte mich bestimmt in Schutz genommen. Er hätte verstanden, dass ich hier nur mein Bestes gebe. Ich möchte mich in eine meiner Fantasielandschaften flüchten, mit einer lachenden Sonne und Bäumen, die in den Himmel wachsen, und …

»Ursula, ich rede mit dir. Kann es sein, dass du mich nicht verstehst? Dass du nicht verstehen willst, was wir hier tun?«

»Na, na.« Frau Elsbeth eilt mir zu Hilfe. »Chef, niemand will Ihnen schaden. Im Gegenteil.«

»Umso erfreulicher.« Titus flüstert jetzt. Höchste Alarmstufe. »Ich werde es dir nicht noch einmal sagen, Ursula. Hör auf damit. Bitte hör auf damit.«

»Aufhören? Womit? Gut über dich zu sprechen?«

Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Ein ganzer See, der nur darauf wartet, über die Ufer zu treten.

»Du weißt schon, was ich meine.«

»Ach ja?« Plötzlich spüre ich eine Wut, die die Scham verdrängt. »Ich fürchte aber, du verstehst mich nicht! Weil wir hier nämlich tagein, tagaus deine Klienten betreuen, bevor sie zu dir vorgelassen werden. Was glaubst du eigentlich, wie viele von denen überhaupt in der Lage wären, mit dir zu sprechen, wenn wir sie vorher nicht beruhigt hätten?«

Mein Herz hämmert in meiner Brust. Wenn ich etwas nicht ertrage, dann ist es, ungerecht behandelt zu werden. Außerdem ist es nicht in Ordnung, dass er mich vor Frau Elsbeth zurechtweist. Ich tausche einen Blick mit ihr. In ihren Augen liegt die ganze Güte der fortgeschrittenen Jahre.

»Du glaubst also wirklich, dass dein Tee eine Wirkung hat.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Oder diese Atemübungen.«

Ich atme tief durch. »Was wir machen, hat sehr wohl eine Wirkung«, erkläre ich mit fester Stimme. »Und du solltest das verdammt nochmal respektieren.«

Ich stehe auf. Die Luft knistert.

Titus steht immer noch da, das Telefon in der Hand. Eine jüngere Version seines Großvaters, größer und schlanker, aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar.

»Du gehst?«, fragt er und streicht sich nervös übers Kinn.

»Allerdings«, erkläre ich. Und diesmal halte ich seinem Blick stand.

»Vergiss nicht, wir sind heute bei meinen Eltern«, sagt Titus.

Ich halte vor Schreck die Luft an.

»Schöne Grüße von mir«, sagt Frau Elsbeth. »Er war ein guter Chef. Wie Sie natürlich auch«, beeilt sie sich, mit einem Blick auf Titus hinzuzufügen.

»Richte ich aus.« Ich schalte den Computer ab. Wie gut der es hat, er kann jetzt schlafen gehen. Dann hänge ich mir die Tasche über die Schulter und richte mich auf.

»Ist noch was?«, frage ich Titus.

Er steht nur da, ohne ein Wort.

Doch als ich rausgehe, höre ich, wie er Frau Elsbeth bittet, Herrn Knall anzurufen und zu ihm durchzustellen.

Jetzt helfen nur noch Räucherstäbchen.

2

»Was meinst du mit: Er hat sich verändert?«, fragt Meret.

Ich klemme das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während ich den Bügel mit dem schwarzen Kleid vor den Oberkörper halte und mein Spiegelbild mustere. Gesmoktes Oberteil. Schick, aber overdressed für den Abend. Die Schwiegereltern mögen es sportlich-lässig. Leger, wie sie es nennen. Bitte zieht euch was Legeres an.

»Hallo, bist du noch da?«

»Klar, sorry. Wir sind bloß heute Abend bei Titus’ Eltern, und ich …«

»So schnell kommst du mir nicht raus aus der Nummer, Uschi. Noch einmal: Was bedeutet, er hat sich verändert?«

Ich hänge das Kleid zurück in den Schrank und setze mich aufs Bett – auf den Patchwork-Überwurf, den ich in einem Handarbeits-Anfall vor einigen Jahren selbst genäht habe. Noch ohne Lesebrille und gesegnet mit einer ordentlichen Portion Geduld. Ich lasse den Blick schweifen. Alles in diesem Raum ist makellos sauber und an seinem Platz: der Spiegelschrank, die Kommode mit den Fotos von Titus, seiner Tochter Livia und mir, darüber ein gerahmter Druck (abstrakt, aber dennoch gefällig, um den Schlaf nicht zu stören), die Duftkerze (»betörend-sinnlich«) in ihrem verzierten Glas – der Raum könnte einer Schöner-Wohnen-Bildstrecke entnommen sein. Nur in mir drin, da herrschen Unordnung und Aufruhr.

»Am Anfang wollte Titus zu allem meine Meinung wissen. Und es war sehr erwünscht, dass ich mich einbrachte. Wenn ich ihn gefragt habe, ob es okay sei, wenn ich mich mit den Klienten vorab unterhielte, hieß es immer: Natürlich, was fragst du? Du bist Teil der Firma. Du gehörst dazu. Mach, was du für richtig hältst. Daran erinnerst du dich doch auch, oder? Manchmal frage ich mich schon, ob ich mir das vielleicht nur einbilde.«

»Klar. Genauso war das«, bestätigt Meret. »Haargenau meine Erinnerung. Alles, was du vorgeschlagen hast, war willkommen. Ich war voller Ehrfurcht.«

»Ehrfurcht?«

Das scheint mir jetzt doch zu hoch gegriffen. Ehrfurcht hat Meret vor kaum etwas.

»Davor, dass du dir einen Mann geschnappt hast, der nicht nur einen guten Job hatte, sondern auch noch so wahnsinnig aufmerksam war.«

»Eben. Er hat mir jeden Fall haarklein erzählt. Abends haben wir oft noch stundenlang zusammengesessen und diskutiert, weil ich angeblich so ein gutes psychologisches Gespür habe. Genauso hat er’s formuliert: psychologisches Gespür. Und heute …«

Ich seufze.

»Ja?«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Halb sieben.

»Du, ich muss mich fertig machen. Können wir morgen …?«

»Nichts da. Also: Was ist heute mit deinem Gespür? Ich will live dabei sein bei eurer Ehekrise. In meinem Freundeskreis verstehen sich im Moment alle viel zu gut. Das ist furchtbar langweilig.«

»Du bist ein Vampir«, sage ich. »Labst dich am Unglück der anderen.«

»Lass mir meine kleinen Freuden.« Jetzt ist sie es, die seufzt.

»Na wenigstens eine, die sich darüber freut«, sage ich.

»Übrigens: Es sind immer die Kleinigkeiten, die am Ende in eine Katastrophe münden. Geschirrspüler schief eingeräumt? Servietten falsch gefaltet? Willkommen beim Scheidungsrichter.«

»Meret, bitte.«

»Spann mich nicht auf die Folter! Also, was hat unser Superanwalt ausgefressen?«

»Er hält mich von seinen Klienten fern. Ich soll nicht mehr mit ihnen reden. Ganz ehrlich: Was tue ich dann noch dort? Er weiß genau, wie gerne ich mit ihnen plaudere. Das ist es, was ich kann: sie in ihrer Lage unterstützen, ihnen zuhören. Aber es ist nicht mehr erwünscht. Wahrscheinlich wäre es ihm am liebsten, wenn ich einfach nur seine Termine eintrage und ansonsten den Mund halte.«

Ich spüre ein dumpfes Ziehen in der Magengegend. Mein Herz ist wie eingeschnürt. Und dort, wo früher die Leichtigkeit saß, macht sich Enttäuschung breit.

»Hm«, brummt Meret. »Vielleicht bist du zu gut?«

Mir entfährt ein spitzes »Ha!«. Die macht sich doch über mich lustig.

»Ich weiß ja nicht, aber könnte es sein, dass du dich vielleicht auch verändert hast?«, sagt sie jetzt. »Nur so eine These.«

»Meret, was soll das? Bist du auf seiner Seite?«

»Natürlich nicht. Ich versuche es nur zu verstehen. Versetze dich mal in seine Lage. Also, wenn du er wärst: Warum würdest du wollen, dass du den Kontakt zu den Klienten abbrichst?«

Ich überlege. »Weil ich mir nicht mehr traue?«

»Okay. Gibt es dafür einen Anlass?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Und sonst?«

»Weil da jemand ist, dem ich mehr vertraue?«

»Gibt es dafür Anzeichen?«

Ich atme tief ein und aus. Überlege. Hat Titus tatsächlich das Vertrauen zu mir verloren? Aber warum? Ein Abgrund tut sich auf.

»Entschuldige, ich will dich nicht verunsichern, Süße«, sagt Meret schnell. »Ich liefere dir nur Stoff zum Nachdenken.«

»Danke, aber ich fürchte, dieser Stoff geht mir nicht aus.«

»Und noch was: Wenn du dir ganz sicher bist, dass du dich nicht verändert hast – dann solltest du es möglicherweise tun.«

»Wie meinst du das jetzt wieder?«

Und da fällt mein Blick in den Spiegel, diesmal ohne Kleid in der Hand. Ich sehe diese ältere Frau auf dem bunten Bettüberwurf sitzen. Runder Rücken, eingezogene Schultern, ein Häufchen Elend. Sofort strecke ich den Rücken durch und fahre mir mit den Fingern durchs Haar.

Du siehst haargenau so aus wie Annette Frier – das habe ich früher oft gehört. Wegen der Frisur, der Stupsnase und den Wangengrübchen, nehme ich an. Heute sehe ich gar nicht mehr so aus wie Annette Frier. Eher wie Annette Frust. Keinen Tag jünger als einundfünfzig. Zerknittertes Gesicht, zerknitterte Seele. So kann ich unmöglich bei den Schwiegereltern aufkreuzen. Vielleicht ist es das, was Meret meint, wenn sie sagt, ich soll mich verändern: Ich soll den Spaß wiederfinden. Das Leben besteht ja nicht nur aus Arbeit. Im Gegenteil. Vielleicht sollte ich mir wieder mal was gönnen. Ein Erholungswochenende in der Einsiedelei, dem Wellnessbauernhof in den Bergen. Oder Kurzurlaub am Meer mit Meret. Oder allein. Man kann ja auch sehr gut alleine auf Urlaub fahren.

»Rot oder grün?«, frage ich.

Meret ist verwirrt. »Wie bitte?«

»Ich kann mich nicht entscheiden. Soll ich die rote Bluse anziehen oder die grüne?«

»Lodengrün oder froschgrün?«

»Apfelgrün.«

»Dann die rote. Trinken wir morgen ein Gläschen zusammen? Ich habe einen neuen Verehrer.«

Meret und die Männer. Tausendundeine Affäre. Ich kann die Toms und Kilians und Manfreds nicht mehr unterscheiden. Meret ist fünf Jahre jünger als ich, in Sachen Liebeserfahrung aber ist sie ein Methusalem. Ich hingegen bin eine treue Seele. Immer gewesen. Langweilig würde Meret es nennen. Und ja, bestimmt habe ich kein besonders abenteuerliches Leben. In der anderen Waagschale aber liegt, was mir mehr bedeutet: Sicherheit. Verlässlichkeit. Und Stabilität.

»Um fünf im Liebstöckel«, sage ich, bevor ich das Gespräch beende und die rote Bluse vom Bügel streife.

»Na so was, heute in Signalfarbe!«

Das sind Hildes erste Worte, nachdem sie die Tür geöffnet hat. Wir sind ein wenig zu spät, aber daran sind Hilde und Titus senior schon gewöhnt. Deren Sohn hat im Auto noch mehrere Calls abgewickelt, wie er es nennt – Gespräche mit befreundeten Anwälten und Klienten, die natürlich nicht aufgeschoben werden konnten. Immer wieder haben wir am Straßenrand angehalten, weil Titus in seinen Unterlagen blättern musste. Dabei haben wir nicht mehr als drei Sätze miteinander gesprochen.

Titus’ Eltern wohnen in Neukönigsdorf, einer Siedlung in einer der plattesten Gegenden des Landes. Schlösser gibt es hier keine, von einem König haben wir auch noch nicht gehört – aber Dorf trifft es ganz gut. Am Rande einer Wohnsiedlung mit weiß getünchten Niedrigenergiehäusern haben sie sich vor einigen Jahren einen Bungalow als Alterssitz errichten lassen. Ohne das kleinste Hindernis, ohne Stufen und Stolperfallen. Vorausdenkend und vernünftig – das Haus als Ebenbild ihrer selbst. Weder Bäume noch Sträucher oder Beete, weil das alles nur Arbeit macht, wie Hilde nie vergisst zu betonen. Und gearbeitet habe sie in ihrem Leben wahrlich genug. Nun sei die junge Generation dran.

Mit der jungen Generation meint sie ihren Sohn. Zwar ist der auch schon dreiundfünfzig, aber für Mama bleibt er der kleine Stöpsel, der er einmal gewesen ist. Sie nennt ihn manchmal immer noch Bub, obwohl sie sich auf die Zehenspitzen stellen muss, um ihm an die Brust zu reichen. Hilde ist klein, zierlich und flink.

»Und? Wie geht’s in der Kanzlei?«

Die immer gleichen Fragen, die Titus immer gleich beantwortet: »Alles bestens, Mutti. Was gibt’s heute zum Essen?«

Sein erster Weg führt ihn wie immer schnurstracks in die Küche, wo er die Deckel von den Kochtöpfen hebt und die Nase in den Dampf steckt. »Mmh, wie das riecht! Ex-zel-lent.«

Ich bleibe wie immer im Flur stehen und warte, bis Titus senior aus seinem Arbeitszimmer humpelt. In letzter Zeit wollen die Knie nicht mehr so wie er, und das empfindet er als himmelschreiende Ungerechtigkeit.

»Ursula, Liebes, alt werden ist nicht schön.« Das sagt er jedes Mal zur Begrüßung, und auch dieses Mal lässt er es nicht aus. Dabei schiebt er sich langsam an der Wand voran. Der Anblick schmerzt. Ich habe den alten Mann in mein Herz geschlossen. Er hakt sich bei mir unter. »Gehen wir schon mal vor ins Esszimmer, Ursulinchen. Schicke Bluse!«

Er geht stramm auf die achtzig zu, aber seine Augen unter den wild wuchernden weißen Brauen sind immer noch hellwach. Einem Titus Ehrenfried macht man nichts vor.

»Grüße von Frau Elsbeth«, sage ich.

»Die gute Seele, immer noch nicht in Rente?«

»Ich glaube, sie wird uns erst verlassen, wenn sie mit den Füßen voran hinausgetragen werden muss.«

Titus senior lacht. Das gefällt ihm, diese Hingabe für die Arbeit. Das ist die Welt, die er kennt und in der alles seine Ordnung hat. Er und Frau Elsbeth waren das perfekte Team. Die beiden verstanden sich ohne ein einziges Wort. Sie wusste immer instinktiv, wann es besser war, ihn nicht zu stören, und wann sie in seinem Büro willkommen war. Es war eine Art telepathische Büro-Ehe, die Hilde mit Argusaugen verfolgte, an der aber letztlich niemand etwas auszusetzen hatte.

Der Dielenboden knarzt. Mein Schwiegervater setzt sich an seinen angestammten Platz am ovalen Esstisch, der liebevoll gedeckt ist: Spitzentischtuch, Stoffservietten, das gute Besteck. In der Ecke tickt die Pendeluhr, an der Wand hängt eine Frühlingslandschaft in Öl aus dem Pinsel eines regionalen Hobbymalers, mit dem Titus senior seit Jahrzehnten befreundet ist. Im Bücherregal hinter Glasvitrinen steht wie eh und je das obligatorische Meyers Konversationslexikon neben diversen Reader’s-Digest-Ausgaben der großen Werke der Weltliteratur. Auf der blank geputzten Kommode mit Intarsien liegt immer ein Packen Spielkarten bereit. Einmal die Woche wird im Hause Ehrenfried tarockiert.

»Wein? Bier?« Titus senior hält eine Flasche hoch.

»Danke, ich bleibe beim Wasser«, antworte ich und weiß: Jetzt kommt die Geschichte mit dem Wodka Martini. Und so ist es.

»Alkohol konserviert, Ursulinchen. Mein Vater hat noch mit neunzig jeden Tag seinen Wodka Martini getrunken. Und? Hat’s ihm geschadet?«

Ich lächle, hebe das Wasserglas und proste ihm zu. In diesem Haus herrschen eherne Gesetze. Und genau das ist es auch, was ich am Leben mit Titus schätze: Er bietet mir in diesen verrückten Zeiten eine konstante Welt, in der alles seine Regelmäßigkeit hat.

Bei uns daheim wurde nicht groß gekocht. Ein Wurstbrot musste reichen, wenn Mama abends völlig geschafft von der Arbeit nach Hause kam. Sie saß damals an der Supermarktkasse – vor Erfindung des Scanners, wohlgemerkt. Sie hatte alle Preise im Kopf. Wenn ich damals nach dem Beruf meiner Eltern gefragt wurde, sagte ich immer: »Meine Mama ist Managerin.« Und das war nicht gelogen. Sie managte mich, den Haushalt, die Arbeit, das Leben. Ohne Unterstützung. Mein Vater war nach und nach versickert – ich weiß nicht, wie ich es anders nennen sollte. Anfangs kam er noch hin und wieder vorbei, dann gingen wir in den Zoo oder in den Park. Aus dieser Zeit gibt es noch Bilder, auf denen er den Arm um mich legt, um seine Fürsorge zu demonstrieren. Bald darauf fand er eine neue Frau, und die Besuche wurden spärlicher, bis er eines Tages überhaupt nicht mehr auftauchte und nur noch als schmerzende Leerstelle vorhanden war.

Weshalb muss ich jetzt daran denken? Ich nehme einen Schluck Wasser, um die Erinnerungen zu vertreiben. Du bist nicht mehr neun, Uschi, ermahne ich mich. Erwachsenen stehen diverse Mechanismen zur Verfügung, um mit Rückschlägen aller Art zurechtzukommen.

Aus der Küche dringen Gesprächsfetzen ins Esszimmer. Ein paar Worte kann ich verstehen, andere gehen in Topfgeklapper oder in Titus juniors Erzählungen unter. »Umstrukturierung … notwendig … murmel, murmel … Konstrukt, weil … Papa doch auch … größere Investition …«

Umstrukturierung? Der Kanzlei? Wovon redet Titus da? Und weshalb weiß ich nichts davon?

Ich bin alarmiert. Jetzt aber kommt erst einmal die Frittatensuppe ins Spiel. Hilde stellt die dampfende Schüssel auf einem Korkuntersetzer in der Mitte des Tisches ab. Titus kommt mit dem Brotkorb hinterher. Er sitzt wie immer zu meiner Linken, Hilde uns gegenüber.

Die Pendeluhr tickt, man hört das Klappern der Löffel in den Suppentellern, dann und wann fährt ein Auto am Bungalow vorbei und schickt sein Scheinwerferlicht durchs Esszimmer.

»Ach ja«, sagt Titus mit einem Mal zu mir. »Dein Handy.«

»Was ist damit?«

»Es hat gesurrt vorhin.«

»Gesurrt?«

»Vibriert. Was weiß ich.«

Ah. Ich hatte meine Tasche im Flur abgestellt und dort vergessen.

»Sicher nicht wichtig.«

Weiteres Geklapper.

Titus hält inne. »Hervorragend, Mutti«, lobt er. »Wer diese Suppe ein einziges Mal bei dir gegessen hat, der wird sie nie wieder in einem Gasthaus bestellen.«

Hilde senkt verlegen den Blick und greift nach ihrer Halskette. »Nicht doch«, sagt sie bescheiden. Dann wendet sie sich an ihren Mann: »Weißt du, dass der Bub umbauen wird?«

»Nicht umbauen«, korrigiert Titus. »Umstrukturieren. Das hat mit der rechtlichen Konstruktion der Kanzlei zu tun. Die Räume bleiben, wie sie sind.«

»Das ist ja interessant.« Ich lege den Löffel in den Suppenteller. Mir ist der Appetit vergangen. »Davon weiß ich gar nichts.«

»Ach, nichts Wichtiges.« Titus schüttelt den Kopf. »Ich hole mir nur einen Partner dazu. Ich schaffe das alles nicht mehr allein. Zu erfolgreich, wenn man so will.« Er lächelt schief und rückt die Brille auf der Nase zurecht.

Zu erfolgreich. Das muss einem erst mal einfallen. Natürlich freue ich mich, doch zugleich schlägt das innere Alarmsystem an. Warum hat er mir verheimlicht, dass er einen neuen Partner an Bord holt?

»Alles in Ordnung, Ursulinchen?«, fragt Titus senior. Er hat sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt, und legt seine Hand auf meine – nur für einen Moment, aber ich spüre, dass er sich sorgt.

Ich nicke ihm zu und schenke ihm ein Lächeln. »Alles gut«, murmle ich.

Jetzt blickt auch Hilde zu mir herüber. »Noch Suppe, Ursula?«

Ich lege die Hand auf meinen Bauch und schüttle den Kopf. »Unmöglich«, sage ich.

»Uschi isst wie ein Spatz«, lügt Titus und grinst.

Mir ist nicht zum Lachen zumute. Mit dir bin ich noch nicht fertig, mein Lieber. »Gratulation«, sage ich.

»Zu was?«, fragt er. »Dass ich eine Frau habe, die wie ein Spatz isst?«

»Zur Umstrukturierung«, antworte ich. »Schön, dass ich das auch erfahre.«

Er schenkt mir einen Blick der Marke Das-ist-jetzt-nicht-der-richtige-Zeitpunkt und bekommt von mir einen Darüber-sprechen-wir-noch-verlass-dich-drauf-Blick zurück.

»Entschuldigt mich bitte. Ich muss mal kurz …« Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf.

Auf dem Weg zur Toilette nehme ich den Umweg über den Flur und hole das Handy aus meiner Tasche. Tatsächlich. Vier Anrufe in Abwesenheit! Ist was passiert? Sonst ruft mich doch auch niemand an. Unbekannte Nummer. Und eine neue Nachricht auf der Mobilbox. Mit klopfendem Herzen höre ich sie ab. Die Nachricht ist schlecht zu verstehen, ich soll wohl einen Herrn Koppenrat zurückrufen. Dringend.

Also gut. Ich rufe zurück. Ein Tonband springt an. »Notariat Koppenrat. Sie erreichen uns außerhalb unserer Bürozeiten …«

Ach so. Was Berufliches. Frechheit, dass dieser Koppenrat es wagt, mich um acht Uhr abends zu belästigen! Als ob es nicht reichen würde, dass ich von neun bis vier in der Kanzlei erreichbar bin. Ich stecke das Handy zurück in die Tasche und ordne meine Haare vor dem Spiegel. Dort sieht mir wenigstens wieder Annette Frier entgegen. Jetzt noch ein Lächeln aufsetzen – na bitte, geht doch. So. Und nun zurück ins Esszimmer. Der Schweinebraten wartet.

Es ist stockfinster, als wir den Heimweg antreten. Hilde und Titus senior winken uns von der Türschwelle aus. Titus junior setzt den Wagen zurück und legt dabei den Arm um den Beifahrersitz.

»Das war doch wieder einmal nett, findest du nicht?«, sagt er.

Ich ziehe es vor, nicht darauf zu antworten.

»Komm, Uschi, bist du etwa beleidigt, weil ich dich wegen der Umstrukturierung nicht um Erlaubnis gefragt habe?«

»Um Erlaubnis?« Ich spüre, wie die Wut wieder in mir hochkocht. Titus schaut konzentriert auf die Straße. Er ist tiefenentspannt, wie immer nach einem ausführlichen Essen.

»Weißt du, wie ich mich fühle, Titus? Vollkommen isoliert. Allein. Wir führen doch eine Ehe – oder etwa nicht?«

Jetzt kratzt Titus sich doch ein wenig nervös das Kinn. »Wird das jetzt was Grundsätzliches?«

»Ich denke schon«, sage ich.

»Du bist also grundsätzlich unzufrieden.«

»Es geht nicht um Befindlichkeiten«, sage ich mit wachsendem Zorn. »Es geht darum, was hier gerade passiert. Dass du mich aus deinen Entscheidungen ausschließt. Dass ich nicht mehr mit deinen Klienten sprechen darf. Dass es nicht mehr erwünscht ist, wenn ich mich einbringe.«

Pause. Er blickt zu mir herüber. »War’s das?«

»Reicht das noch nicht?«

»Ich möchte nur sicher sein, dass ich verstanden habe, was du mir vorwirfst.«

»Ich werfe dir nichts vor, Titus, ich stelle fest.«

Ich versuche, vernünftig zu sein. Ganz ruhig. Fakten auf den Tisch. Bloß nicht emotional werden, damit kann er nichts anfangen.

»Du meinst den Knall heute.«

»Nicht nur den Knall. Ich könnte dir zig Beispiele aufzählen.«

»Du führst eine Liste über meine Vergehen?«

»Natürlich nicht. Versuch nicht, vom Thema abzulenken.«

»Falls du auf die Umstrukturierung anspielst: Du willst also, dass ich dich konsultiere, bevor ich eine unternehmerische Entscheidung treffe, ist es das?«

Typisch Titus. So typisch. Plustert alles auf, bis mir meine eigenen Bedenken lächerlich vorkommen.

»Ich will einfach Teil deines Lebens sein! Ich habe das Gefühl, ich sitze auf der Ersatzbank. Das war doch früher auch nicht so.«

»Du meinst, da habe ich dich mitspielen lassen, um in deinem Bild zu bleiben.«

Ich schöpfe Hoffnung. Er versteht es. Er versteht mich.

»So ist es«, bestätige ich. »Ganz genau.«

»Aber jetzt ist eben Klaus da«, sagt er. »Ein neuer Trainer, wenn du so willst.«

Wie bitte? Ich glaube, nicht richtig gehört zu haben. »Und wer ist jetzt Klaus?«

»Mein Partner. Den ich mit ins Spiel hole.«

»Und da brauchst du mich nicht mehr«, stelle ich fest.

»Uschi, bitte.«

»Das wolltest du doch damit sagen, oder etwa nicht?«

»Klaus hat gemeint, wir sollen mit der psychologischen Klientenbetreuung aufhören, das bringt nur Verwirrung rein.«

Da bleibt mir die Luft weg. »Psycho… was? Halt an. Halt sofort an.«

Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Er hat einen Einflüsterer, dem nicht passt, was ich mache? Aber nicht mit mir, mein Lieber. Nicht mit mir.

Titus fährt unbeirrt fort. »Immer mit der Ruhe. Klaus ist ein wirklich fähiger Notar. Gemeinsam sind wir die Marktführer auf dem Gebiet des Erbrechts. Du wirst ihn bald kennenlernen, dann wirst du mir recht geben.«

»Recht geben? Wobei? Dass es richtig war, mich abzuschießen? Ich habe gesagt: Halt an.«

»Da vorn ist die Autobahnauffahrt. Du wirst ja wohl hier nicht aussteigen.«

»Doch. Werde ich.« Ich presse den rechten Fuß so fest auf die Matte, als wäre darunter ein zweites Bremspedal versteckt.

Titus bremst, blinkt und fährt rechts ran.

»Okay«, sagt er. »Wie du willst.«

Ich reiße die Tür auf, springe aus dem Wagen. Und jetzt?

Es ist stockfinster. Keine Ahnung, wo wir sind.

Titus beugt sich über den Beifahrersitz und sieht zu mir hoch. »Hast du dich beruhigt? Dann steig wieder ein.«

Ha! Da kann er lange warten. Ich schlage die Tür heftiger zu als notwendig und marschiere in die Nacht hinaus.

Am Horizont glimmen ein paar Lichter. Darüber wölbt sich ein Himmel ohne Sterne. Glanzlose Nacht. Was für ein Omen. Weit sind wir nicht gekommen. Vor mir leuchtet ein Straßenschild im Scheinwerferlicht: Altkönigsdorf 3 km. Ich drehe mich um. Der A6 steht immer noch unbewegt am Straßenrand, lautlos und beleuchtet wie ein UFO.

Mein Telefon summt, aber ich gehe nicht ran, sondern stapfe wütend weiter.

Als ich mich das nächste Mal umdrehe, ist der Wagen fort.

3

Meret greift in die Schale und stopft sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund. Die ganze Frau riecht bereits geröstet und gesalzen. Als sie wieder sprechen kann, sagt sie: »Irre, Uschi. Du überraschst mich immer wieder. Ich wusste gar nicht, dass du so impulsiv bist.«

»Um ehrlich zu sein: Ich auch nicht«, gebe ich zu.

Ich sonne mich in Merets Aufmerksamkeit und schmücke mein Erlebnis ein wenig aus. »Da war keine Menschenseele auf der Straße. Gehsteige hochgeklappt und die Häuser zappenduster. Nur ein Käuzchen hat gerufen. Plötzlich sehe ich ein Tier über die Straße huschen. Genau habe ich’s nicht gesehen, aber es hätte ein Fuchs sein können.«

»Ein Fuchs?« Meret hält im Kauen inne.

»Natürlich, in solchen Siedlungen finden sie ja alles, was sie zum Leben brauchen. War mir trotzdem nicht geheuer, hab lieber die Straßenseite gewechselt.«

Okay, hier lehne ich mich ein wenig aus dem Fenster. Wahrscheinlich war es nur eine zu groß geratene Katze, aber so sicher kann man sich nicht sein, es war ja schließlich dunkel.

»Und Titus? Ich meine, ist er zurückgekommen?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich wäre auch nicht eingestiegen. Hab mir ein Taxi gerufen und war sogar noch vor ihm zu Hause. Der Fahrer kannte wohl irgendwelche Schleichwege. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erstaunt er war, als er reinkam und mich auf der Couch sitzen sah.«

»Was hast du gesagt?«

»Das hat aber lange gedauert!«

»Und er?«

»Fand das nicht witzig.«

Meret grinst. »Gefällt mir. Guter Plot-Twist.«

Sie liebt Daily Soaps und operettenhafte Beziehungskomödien. Wann immer sie ein paar Minütchen aus ihrem Alltag herausschinden kann, sitzt sie vor der Glotze. Noch lieber ist es ihr allerdings, wenn es sich um echte Geschichten handelt, aus dem Suppentopf des Lebens geschöpft sozusagen.

Wir sitzen im Liebstöckel, unserem Lieblingslokal. Modern-rustikales Ambiente, dezentes Licht, das die Fältchen charmant kaschiert, Bluesrock im Hintergrund und an der Bar Roland mit seinem Hipster-Bärtchen, der immer ein nettes Tischchen für uns hat.

»Und dann?«, fragt Meret. »Wie ist es ausgegangen?«

»Gar nicht. Wir haben uns angeschwiegen und irgendwann schlafen gelegt.«

Für Meret mag die Geschichte ja unterhaltsam klingen, aber ich bin ein wenig schockiert von mir selbst: Bin ich tatsächlich aus dem Auto gesprungen? Normalerweise gehe ich Konfrontationen aus dem Weg, ich bin nämlich eine miserable Streiterin. Konflikte kosten mich enorm viel Kraft, und meistens führen sie ohnehin zu nichts.

Auch Titus hat sich aufs Schweigen verlegt, sodass wir den Rest des Abends in der Wohnung stumm aneinander vorbeigeschlichen sind. Was ich noch an Fragen hatte, notierte ich mir deshalb auf meiner inneren To-ask-Liste: Warum schließt du mich aus deinen Entscheidungen aus? Warum passt es dir plötzlich nicht mehr, wenn ich versuche, das Klima in der Kanzlei zu verbessern? Und warum erzählst du deiner Mutter mehr als mir? Okay, ob ich die letzte Frage wirklich stelle, werde ich mir noch durch den Kopf gehen lassen. Deine Mutter oder ich kommt bei Männern selten gut an.

Auf jeden Fall habe ich gestern Nacht nicht im Schlafzimmer, sondern auf der Couch geschlafen. Und heute Morgen war ich auch nicht im Büro. Wozu auch? Titus hat ja jetzt Klaus. Soll der Wunderwuzzi ihm doch die Termine eintragen, wenn er sich schon in meine Arbeit einmischt.

Mit Wehmut erinnere ich mich an die Anfangsphase unserer beruflichen Gemeinschaft. Ich hatte meinen Job im Reisebüro verloren, und Titus überredete mich so lange, zu ihm in die Kanzlei zu wechseln, bis ich gar nicht mehr anders konnte, als zuzusagen. Wo ist dieses Vertrauen geblieben? Kann es sein, dass es mit den Jahren einfach verpufft ist? Die halbe Nacht habe ich über diese Fragen gegrübelt, ohne eine Antwort darauf zu finden.

»Was gibt’s Neues aus der Flirtzone?«, frage ich Meret mit dem dringenden Bedürfnis nach einem Themenwechsel. Gehirn auslüften, mal an was anderes denken, Stimmung drehen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie gestern ein Date.

Meret hat sämtliche Erdnüsse aufgeknabbert und zeigt Roland das leere Schüsselchen, auf dass er es auffülle. Roland lächelt und nickt zum Zeichen, dass er verstanden hat. Ich vermute, dass er ein wenig in Meret verknallt ist. Wäre ich auch an seiner Stelle. Denn wenn ich Annette Frier bin, dann ist Meret … hm, sagen wir: Christine Neubauer. Vollbusig und insgesamt üppig; jede Menge Kurven, und alle an den richtigen Stellen. Eine Sanduhrfigur, wie sie im Buche steht. Ihren Schmollmund wird man nie aufspritzen müssen, weil der von Natur aus prall ist. Meret ist eine Sexbombe mit Betonung auf Bombe: Wenn sie stinkig ist, explodiert sie binnen Sekunden. Ist sie gut gelaunt, ist sie die beste Freundin der Welt – loyal, unterstützend und unheimlich witzig.

»Flirtzone? Wie bist denn du drauf?« Meret verzieht das Gesicht. »Aber ich sag dir: Das war der größte Reinfall meiner Liebeskarriere. Der allergrößte.«

»Komm schon, das sagst du immer.«

Gespielt erboster Blick. »Also bitte, Uschi. Du warst ja nicht dabei.«

»Dann nimm mich halt mit zu deinen Dates!«

Das schlage ich Meret übrigens nicht zum ersten Mal vor – also dass ich unauffällig am Nebentisch sitze, um ihre Verehrer unvoreingenommen zu beurteilen. Dann wüssten wir wenigstens beide, wovon wir reden. Aber so bin ich auf ihre lückenhaften und äußerst subjektiven Nacherzählungen angewiesen.

»Und bist du sicher, dass Robert …«

»Welcher Robert? Er hieß Roman.«

Vergangenheitsform. Er hieß. Also hat sie ihn schon wieder in die Untiefen der Dating-Plattform entlassen wie einen Fisch, den man zurück ins Meer wirft, weil einem die Schuppen doch nicht gefallen.

Immerhin trotzt sie ihrem Alleinerziehenden-Dasein die größtmögliche Portion Spaß ab. Sagenhaft, wie abenteuerlustig sie ist. Und sie hält sich nie mit ihrer Meinung zurück – auch hierin sind wir grundverschieden. Mit Ende vierzig lebt sie mit ihren Kindern Florentin und Kassandra, genannt Flo und Cassy, in einer locker-flockigen Wohngemeinschaft inklusive Essens- und Bringdienst. Man könnte auch sagen: Mama-Taxi mit der Lizenz zur Sechzig-Stunden-Woche. Neben dem Mutter-Dasein ist sie nämlich auch noch ein erfolgreiches EPU. Bedeutet: Ein-Personen-Unternehmen. Sie berät Start-ups in puncto Markenaufbau, Marktkommunikation und Werbung und hat enorm viele Aufträge. Ich bin dafür, bei alleinerziehenden EPUs noch ein K für »Kinder« dranzuhängen, um deren Realität sichtbar zu machen: EPUK. Die sollten dann auch speziell gefördert werden, finde ich. Schließlich beobachte ich bei Meret immer wieder fasziniert, was sie alles zugleich auf die Reihe bekommt. Manchmal erinnert sie mich an Kali, die indische Göttin mit den vielen Armen.

»Warum hast du diesen Roman überhaupt getroffen, wenn du schon wusstest, dass er mit siebenundvierzig noch bei seiner Mama lebt und in seinem Kinderzimmer Gras raucht, statt zu arbeiten?«

Meret hebt die Hand. »Stopp. Du übertreibst maßlos. Er raucht hin und wieder. Und er hat auch schon mal gearbeitet. Also …« Nachdenkpause. »Vor einiger Zeit. Hat er. Zumindest. Einmal. Gearbeitet.« Ihre Stimme wird leiser und leiser.

»Dann ist ja alles gut.«

Meret seufzt und spielt mit einem Untersetzer.

Ich habe mich, was Fortpflanzung betrifft, übrigens für die bequemste Lösung entschieden, allerdings ohne es zu planen: für ein Kind, das ich nicht selbst ausbrüten und zur Welt bringen musste. Weil es nämlich schon da war. Titus’ Tochter aus erster Ehe: Liv, heute 23 und gefragte Schlaf-Influencerin mit fast einer halben Million Followern. Als ich sie kennenlernte, war sie schon aus dem Gröbsten raus und gleichzeitig noch nicht in der Pubertät. Das angenehmste Alter, um sich unvoreingenommen anzunähern und Freundschaft zu schließen. Ich bewundere Liv für ihren Optimismus und die Fähigkeit, ihre Ziele mit unerschütterlicher Beharrlichkeit zu verfolgen. Da sie als Teenager eine ziemliche Schlafmütze war, habe ich mal zu ihr gesagt: Für dich wäre ein Job am besten, den du im Schlaf erledigen könntest. Damals steckten die sozialen Medien noch in den Kinderschuhen, aber heute hat sie es tatschlich geschafft: Sie lebt von ihrer Instagram-Reichweite und ihren Werbepartnern, vom Pyjama-Hersteller über den Bettdecken-Produzenten bis zum Baldriantropfen-Händler. Liv ist heute erfolgreiche Unternehmerin mit einem Gespür für Trends. Sie war es auch, die mir geholfen hat, mich bei und mit Titus zu Hause zu fühlen. Wenn ich nach einem Streit mit ihm mit dem Gedanken spielte, mich von ihm zu trennen, dachte ich immer sofort an Liv. Von ihr könnte ich mich niemals trennen. Sie ist mein Bonus-Kind, ein Bonus, den ich vom Leben erhalten habe, ohne etwas dafür zu tun.

Meret sieht auf die Uhr. »Ich habe noch eine Stunde, dann sollte ich die Kids von ihren Bildschirmen loseisen.«

Wir haben so unterschiedliche Leben, denke ich, bevor ich zum Glas greife. Und so unterschiedliche Lebensphilosophien. Meret ist der Typ Ich-gehe-ans-Limit-und-hole-mir-alles, während ich eher der Kategorie Mit-den-Energien-haushalten-und-das-Beste-aus-dem-machen-was-da-ist angehöre. Meret würde am liebsten ihr ganzes Leben über den Haufen werfen und nach San Francisco auswandern (was aus nachvollziehbaren Gründen nicht möglich ist), während ich konstant daran arbeite, an den kleinen Stellschräubchen meines Lebens vor Ort zu drehen, um die letzten Unstimmigkeiten zu beseitigen. Ich will verändern, was vorhanden ist; Meret will wegwerfen und neu beginnen.

Roland bringt Meret ein Schälchen mit Erdnüssen und ein Glas Apfelschorle. »Für dich auch noch was?«

In diesem Moment meldet sich mein Handy mit aufgeregtem Blinken. Ich betrachte die Nummer genauer. Mist. Mistmistmist. Dieser Notar. Ich habe tatsächlich vergessen, ihn zurückzurufen.

»Darf ich?«, frage ich Meret und deute auf das Handy. Meret macht eine Ja-doch-nur-zu-Geste.

»Hier Manfred Koppenrat. Spreche ich mit Frau Ehrenfried?«

»Am Apparat«, sage ich. »Ich nehme an, es geht um einen Fall aus der Kanzlei meines Mannes?« Ich will ihn schon erbost auf die Uhrzeit hinweisen, in der er mich zu stören wagt, als Koppenrat zu meiner Überraschung erwidert: »Nicht im Geringsten. Wir suchen Sie.«