Mit Moby Dick aufs Containerschiff - Roland Schwarz - E-Book

Mit Moby Dick aufs Containerschiff E-Book

Roland Schwarz

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Beschreibung

Jedes Buch kann Leben verändern! Martin aus Graz will nach der Lektüre von Moby Dick Kapitän werden – heute fährt er als solcher über die Weltmeere. Ben aus York liest The Lord of the Rings und begeistert sich so sehr für komplexe alte Sprachen, dass er Linguistik studiert. Fabienne aus Salzburg erlebt als Mädchen zahllose Abenteuer mit der Knickerbocker-Bande und ist nunmehr als rasende Reporterin aufsehenerregenden Ereignissen und Rätseln auf der Spur. Diese und 25 weitere Geschichten aus aller Welt, die Roland Schwarz zusammengetragen hat, beweisen, dass Bücher unser Leben nachhaltig beeinflussen, ja ihm eine entscheidende Wende verleihen können. Die Erzählungen spannen einen Bogen von Johann Wolfgang von Goethes Lyrik, Marlen Haushofers Prosa, Stefan Zweigs psychologischen Novellen bis hin zu Thomas Brezinas Kinder- und Jugendliteratur und J. K. Rowlings fantastischer Zauberwelt. Lesen spendet nicht nur Rückzug, Trost und Unterhaltung: Es verändert unsere Welt und unsere Selbstwahrnehmung viel stärker, als wir es je vermuten würden! Call to Action: Schreiben Sie Roland Schwarz und erzählen Sie ihm von dem Buch, das Sie nachhaltig beeinflusst hat! Eine Inspiration für Jung und Alt! Kurzgeschichten und Anekdoten

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In Erinnerung an meinen Papa –die Liebe zu Büchern verdanke ich allein ihm und Mama!

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Verlag Anton Pustet

Bergstraße 12, 5020 Salzburg

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Lektorat: Markus Weiglein

Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel

Coverbild: Michael Rosskothen/shutterstock.com

Illustration: Marthe Van de Staey, Martin Graf-Schwarz

eISBN 978-3-7025-8099-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-7025-1059-6

www.pustet.at

Dem Einsatz vereinzelter kurzer Zitate liegt eine intensive Phase der Rechteabklärung seitens des Autors mit anderen Verlagen bzw. den jeweiligen Rechteinhaber*innen zugrunde. Trotz der intensiven Bemühungen kann es sein, dass nicht alle Rechteinhaber*innen ausfindig gemacht werden konnten. Bei begründeten Forderungen bezüglich des Urheberrechts wird gebeten, sich mit dem Autor oder dem Verlag in Verbindung zu setzen. Berechtigte Ansprüche, die nachträglich bekannt gemacht werden, werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Roland Schwarz

MitMoby DickaufsContainerschiff

Wie Bücherunser Leben verändern

Inhalt

Vorwort

Von der lebensverändernden Macht und Magie der Bücher

Aufbruch zu neuen Horizonten

Mit Moby Dick aufs Containerschiff

Herman Melville und Moby Dick

Von Rivendell nach Ried im Innkreis

J. R. R. Tolkien und Der Herr der Ringe

Von Rudolfsheim nach Rishikesh

Hermann Hesse und Siddhartha

Von Rohrbach nach Rapa Nui

Christoph Ransmayr und der Atlas eines ängstlichen Mannes

Sprachkurs in Hogwarts

J. K. Rowling und Harry Potter

Telegraph Highway

Unterwegs mit Mark Twain, John Steinbeck und Jack Kerouac

Keep on Rocking

Bruce Dickinson und seine Autobiografie What Does This Button Do?

Von Südseeabenteurern, Astrophysikern und Nobelpreisträgerinnen

Der verschmähte Englischlehrer

Margaret Atwoods Der Report der Magd und die Reden des Poeten und Politikers Václav Havel

Geschichtsunterricht von unten

Swetlana Alexijewitsch und Secondhand-Zeit

Tiefenentspannung auf den Cookinseln

Robert Louis Stevenson und seine Südsee-Tagebücher

Die Pferdeflüsterin

Jack London und Wolfsblut

Über das Universum an die Universität

Stephen Hawking und Eine kurze Geschichte der Zeit

Politische Bildung am Bauernhof

George Orwell und Farm der Tiere

Auf der Suche

Post-mortem Gambit

Stefan Zweig und Die Schachnovelle

Treffpunkt Schlachthof

Christiane F. und Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

Echte Knickerbocker lassen niemals locker

Thomas Brezina und die Knickerbocker-Bande

Die Schranken der Freiheit

Marlen Haushofer und Die Wand

Von Vampiren, Massagesalons und leeren Gräbern

Bram Stoker und Dracula

Ärztin aus Leidenschaft

Elaine N. Aron und Sind Sie hochsensibel?

Heilkraft und Unsterblichkeit der Lyrik

Lawson’s Creek

Henry Lawson und seine Outback-Gedichte

Abschiedslektüre

Die Gedichte von Emily Dickinson

Der Kastanienbaum

Die Naturlyrik von John Clare

Byronische Balz am Bosporus

Die Liebesgedichte von Lord Byron

Eine Sternstunde der Menschheit

Johann Wolfgang von Goethe und die Marienbader Elegie

Liebe und andere Leidenschaften

Sky Lounge

Emily Brontë und Sturmhöhe

Thai in Vindobona

Thomas Mann und Der Tod in Venedig

Das Dilemma des böhmischen Lebemannes

John Fowles und Die Geliebte des französischen Leutnants

Nicht über die Türschwelle!

Francesco Petrarca und seine Canzoniere, Andrew Marvell und seine Carpe-Diem-Gedichte

Von der Wüste über die Wolken

Die Lyrik von Edgar Allan Poe

Nachwort, Danksagung

Literatur und Quellen

Vorwort

Von der lebensverändernden Macht und Magie der Bücher

August 2013

Im Hemingway Museum in Oak Park am Rande von Chicago, wo ich einen Teil meines Sommers verbrachte, brach ein junger Mann vor mir regelrecht zusammen. Tränen kullerten über sein Gesicht. Als ich ihn fragte, ob er Hilfe brauche, zeigte er bloß auf die Glasvitrine vor sich, die einige Fotos, Briefe und Zitate von Ernest Hemingway zur Schau stellte. Relativ zentral, darauf hatte er seinen Zeigefinger gerichtet, stach eine Aussage aus dessen Zeit an der High School hervor: „My name is Ernest Miller Hemingway – I intend to travel and write.“

„Ich weiß“, sagte ich, bemüht, nicht sarkastisch zu klingen. „Es ist bewegend, was diese Genies bereits in jungen Jahren von sich geben. Prophetisch!“

„Ach was, prophetisch. Bullshit. Ersetzen Sie Ernest Miller Hemingway mit jedem beliebigen Namen jedes zweiten High-School-Absolventen – es wäre kein Plagiat. Fast jeder hat doch diesen Traum irgendwann einmal.“

„Und diese Erkenntnis rührt Sie so zu Tränen?“, war ich doch etwas verdutzt.

„Er hat meinen Traum gelebt, verstehen Sie nicht? Meinen Traum.“

„Ich kann Sie beruhigen. Erstens sind Sie nicht der Einzige hier, der gerne Schriftsteller geworden wäre. Zweitens sind Sie noch jung, der Traum lebt ja noch! Und drittens – sehen Sie sich doch um in diesem Museum: Möchten Sie wirklich fünf Kriege miterleben, nur um etwas Stoff zum Schreiben zu gewinnen?“

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich diese Frage so spontan ausgesprochen hatte, sie klingt ja ziemlich düster. Vielleicht weil mir die Tatsache, dass Hemingway tatsächlich fünf Kriege miterlebt hatte, Angst einflößte. Vielleicht weil mir das alte Sprichwort „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ durch den Kopf spukte. Mein Einwand zeigte auf den jungen Mann, der sich mittlerweile ein bisschen beruhigt und aufgerappelt hatte, jedenfalls durchaus Wirkung.

„Sie haben ja recht. Es geht mir eigentlich viel zu gut … Ich lebe in einem Reihenhaus in Ann Arbor, spiele zweimal pro Woche Basketball, lasse mir dienstags und freitags Pizza ins Haus liefern und schaue abends mit meiner Freundin Fernsehserien. Mein Gott, ein langweiligeres Leben gibt es ja wohl nicht … Ich muss weg!“

Ein paar Wochen später, ich war bereits wieder zurück in Österreich, erreichte mich ein Brief des jungen Mannes, mit dem ich noch im Hemingway-Haus meine Kontaktdaten ausgetauscht hatte. Er gab kurz und stolz bekannt, dass er sich von seiner Freundin eine Auszeit genommen, sein Netflix-Abo gekündigt, unbefristeten und unbezahlten Urlaub genommen habe und nunmehr lediglich mit Zelt, Schlafsack und Notizblock auf dem Appalachian Trail unterwegs sei. Ich war überrascht und gleichermaßen beeindruckt – was für ein mutiger Schritt! Es ist ja unbestritten, dass die Muse bevorzugt jene küsst, die sich ganz und gar auf ihre innere Stimme konzentrieren: herausgerissen aus den normalen Lebensumständen und nicht abgelenkt durch Banalitäten. Das ist wohl der Grund, weshalb viele Dichterinnen und Dichter die Einsamkeit bevorzugen. Man denke nur an die größte aller amerikanischen Lyrikerinnen, Emily Dickinson, die sich über ihr ganzes Erwachsenenleben hinweg mehr oder weniger ins Haus zurückzog, nur um sich der Poesie hinzugeben. Anderen wiederum kommen die besten Gedanken beim Spazieren, beim Wandern – wenn sie einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen und die Gedanken schweifen lassen. Der vorhin erwähnte über 3 000 Kilometer lange Pfad ist einer der längsten Wanderwege der Welt. Er zieht sich quer durch das vom Norden nach Süden verlaufende Mittelgebirge im Osten der USA. Fände mein neuer Bekannter dort vielleicht keine Inspiration, so aber doch bestimmt Einsamkeit und malerische Landschaften. Er plane, schrieb er mir damals, bereits einen epischen Roman über seine Reise. Ich freute mich mit ihm – und beneidete ihn gleichfalls.

September 2013

Noch während der ersten Schulwoche legte ich meinem Vorgesetzten, dem Direktor, ein Ansuchen für ein Sabbatical auf den Tisch, und ich fühlte mich richtig gut dabei. So hatte die Begegnung in jenem Haus, in dem einer der größten Erzähler aller Zeiten geboren wurde, eine tiefere Bedeutung für mich. Ohne den Brief des ergriffenen jungen Mannes hätte ich dieses Schreiben wohl nie verfasst. Ich wusste, auch wenn ich tausende Kilometer gehen sollte, auch wenn ich Monate einsam in einer Hütte verbringen und trotzdem niemals irgendwo eine Zeile von mir publiziert werden würde, so hatte ich dennoch die richtige Entscheidung getroffen. My name is Roland Schwarz. I intend to travel and write.

2021/22

Acht ereignisreiche Jahre sind ins Land gezogen – turbulente, schöne, leidenschaftliche, verwirrende, abenteuerliche. Ich habe viele Schritte getan, in mehreren Ländern gelebt und bin Menschen begegnet, die mir von ihrem Leben und der Macht und Magie der Bücher erzählt haben. So habe ich etliche spannende, erheiternde und denkwürdige Anekdoten und Geschichten, die ich im Laufe der Zeit auf verschiedenen Erdteilen gehört und zuweilen auch selbst (mit-)erlebt habe, gesammelt und aufgeschrieben. Mein Dank gebührt daher jenen, die mir diese Geschichten erzählt und mich dazu inspiriert haben, sie aufzuschreiben. Dank gebührt aber vor allem den Schriftstellerinnen und Schriftstellern für die Kraft und Vision ihrer Werke. Mit Moby Dick aufs Containerschiff ist der Beweis dafür, dass die poetische und visionäre Kraft der Literatur unser Leben nachhaltig beeinflussen und gestalten, ja ihm eine entscheidende Wende verleihen kann. Es ist ein Versuch zu zeigen, dass die Lektüre guter Bücher unser Leben interessanter, poetischer, und immer wieder ein bisschen weniger einsam macht. Wir glauben für gewöhnlich, die Kunst imitiere das Leben. Es funktioniert aber genauso umgekehrt. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir Bücher lesen. Ein Buch – jedes Buch – hat die Macht, Menschenleben zu verändern.

Die meisten der folgenden Geschichten bzw. Kapitel sind so wiedergegeben, wie sie mir erzählt oder zugetragen wurden. Ich-Erzähler und personale Erzählperspektive wechseln je nach Geschichte. Zuweilen habe ich allerdings die Namen jener geändert, die mir die entsprechenden Ereignisse erzählt haben und bisweilen den Ort des Geschehens verlegt. Außerdem habe ich ab und zu sanft den Handlungsbogen ausgeschmückt und die Realität im Sinne einer guten Lesbarkeit ein wenig entfremdet – dass auch, weil nicht alle meiner Begegnungen wollen, dass ihre persönlichen Geschichten namentlich öffentlich werden; und um zu zeigen, dass Erlebnisse und Ereignisse, sobald sie von jemandem zu Papier gebracht werden, Erzählungen im eigentlichen Sinn – also immer fiktional und hochsubjektiv – sind.

Am Ende jeder Geschichte findet sich die Kurzbiografie der erwähnten inspirierenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihren wichtigsten und bekanntesten Werken. Ich habe jene Details aus deren Leben hervorgehoben, welche für Werk und Wirken am bedeutsamsten sind und waren – und mir bisweilen Wertungen und auch (man möge es mir verzeihen) manche Superlative erlaubt.

Die derzeitige Auswahl an Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist erst der Anfang. Natürlich ließe sich eine derartige Sammlung noch vielfältiger und bunter gestalten, angereichert mit Werken aus weiteren Kulturräumen. Ich sammle weiter – und wie Sie mir Ihre ganz persönliche, lebensverändernde Geschichte nach bewegender Lektüre übermitteln können, erfahren Sie im Nachwort.

Roland Schwarz

Prag, im Frühjahr 2022

Mit Moby Dick aufs Containerschiff

Herman Melville und Moby Dick

Of course he [Moby Dick] is a symbol. Of what?I doubt if even Melville knew exactly. That’s the best of it.

Der englische Schriftsteller D. H. Lawrence über Moby Dick

„Nennt mich Ishmael.“ Dies ist einer der simpelsten und doch erhabensten Eröffnungssätze der Weltliteratur. Drei Wörter, die wie der Mast eines Walfängers einen 900-Seiten-Roman navigieren. Unser Erzähler heißt Ishmael und er spricht uns direkt an.

So will ich es auch mit Ihnen halten. Jedoch, bitte – nennen Sie mich nicht Ishmael. Nennen Sie mich irgendwie. In dieser Geschichte geht es nämlich nicht um mich, sondern um einen jungen Mann, dessen Lektüre dieses großen amerikanischen Romans seinen Träumen und folgerichtig seinem Leben eine nachhaltige Wendung verliehen hat. Die Rede ist natürlich von Moby Dick.

Bevor wir in die Geschichte eintauchen, eine Frage: Welches Buch ist in Ihrem Leben das wichtigste gewesen? Jenes, das Ihr Leben verändert, Ihnen die Augen geöffnet, Ihnen neue Welten offenbart hat? Diese Frage ist sicherlich schwierig zu beantworten, wohl auch, weil die Kindheit ein anderes Buch grundlegend prägt als die Jugendzeit oder das Erwachsenendasein. Nun, für jenen jungen Mann, von dem diese Geschichte handelt, war tatsächlich nur ein Buch ausschlaggebend. Ausschließlich dieses eine. Vor allem deswegen, weil er, nachdem ich ihm diese Lektüre aufgezwungen hatte, fast kein anderes mehr zur Hand genommen hat. Ich musste ihn dazu drängen. Somit bin ich nicht nur Erzähler, sondern gleichzeitig Figur dieser Geschichte: Ohne mich hätte sich Folgendes nicht auf diese Weise zugetragen.

Wir schreiben das Jahr 2004, ich bin an den Instituten für Anglistik und Geographie der Karl-Franzens-Universität in Graz als Lehramtskandidat inskribiert, mein Freund Martin studiert nur letzteres – sein Abschluss würde irgendwann einmal „Diplomgeograph“ lauten. Wir lernten uns während einer hydrologischen Exkursion kennen und zeigten auf ebendieser beide großes Interesse an den Abflussregimen steirischer Gebirgsbäche sowie an fermentierten Getränken in abendlicher Geographenrunde. So holte uns unser Professor, ein kurz vor der Emeritierung stehender älterer Herr mit strengem Blick (aber offensichtlich gutem Auge für geographische Nachwuchshoffnungen), während der Rückreise nach Graz nach vorne in den Bus, bedachte unseren Fleiß und unser Interesse mit lobenden Worten und bot uns Stellen als seine Studienassistenten an. Dankend nahmen wir an, sicherten sie immerhin finanziell unsere Abende in unserer zweiten Alma Mater – einem Wirtshaus am Rande des Bezirks St. Leonhard.

Die Studentenzeit schreibt bisweilen unerklärliche Geschichten. Wir zwei waren strebsame, wenn auch lebemännische Studenten, verbrachten die Tage an der Universitätsbibliothek oder in den Lernsälen, die Abende in erwähntem Wirtshaus bei Bier und Most und Gesprächen über Philosophie, Frauen und den Sinn des Lebens. Wir tranken und schwadronierten viel, studierten schnell und ruhten wenig. Zumindest bis in die Endphase, als die letzten Seminare, Prüfungen und die Diplomarbeit anstanden. Denn in diesem finalen Abschnitt des fidelen Studentenlebens schien meinen Freund irgendwann die Leidenschaft für Geographie und das universitäre Leben – nicht jedoch für die randstädtische Schank – schleichend verlassen zu haben. Irgendwann erschien er morgens nicht mehr um Acht am Institut, sondern erst gegen Mittag. Irgendwann schrieb ich schon an meiner Diplomarbeit – und er nicht einmal mehr an seinen Seminararbeiten. Ich hatte ihn öfter darauf angesprochen, mal freundlich, mal verständnisvoll, mal leicht aggressiv, seine Antwort jedoch blieb stets die gleiche: Er sehe keinen Sinn in seinem Studium, die Welt sei doch noch immer voller Abenteuer. Und warum sollte er Arbeiten abtippen, die niemanden interessierten und die auch keiner jemals lesen würde?

Martin sinnierte: „Es muss doch mehr geben im Leben!“

„Was soll das bitteschön sein?“, erwiderte ich, gespannt auf eine tiefgründige Antwort.

Er schüttelte nur den Kopf und sagte: „Ich weiß es nicht.“

Zum Glück hatte ich gerade eine Prüfung über anglo-amerikanische Romane hinter mir und ein bestimmtes Buch im Kopf, das dem Gemütszustand meines verwirrten und leidenden Kommilitonen wohl am ehesten Linderung und Rat verschaffen würde: Moby Dick von Herman Melville. Ich musste dabei an einen großen Romancier aus Prag denken, der einst erkannte: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Das Meer sollte im Narrativ meines Freundes noch eine bedeutende Rolle einnehmen.

In der Geschichte, die ich hier wiedergebe, ist der große amerikanische Roman mehr als nur ein Roman – er ist Medizin, Lebenshilfe, therapeutisches Hilfsmittel. Sie kennen den Inhalt sicher: Der eingangs genannte Erzähler Ishmael, verwirrt und des Lebens überdrüssig, verspürt den unbändigen Drang zur See zu gehen, um seiner trägen Melancholie zu entfliehen und seinem Dasein einen erfrischenden Hauch von Abenteuer zu verleihen. Er landet schließlich auf dem Walfänger Pequod, dessen getriebener und enigmatischer Kapitän Ahab einen sagenumwobenen weißen Wal zu erlegen strebt. Ich brachte Martin eines Abends im Spätherbst mein eigenes Exemplar dieses Romans mit, auf das ich nebenbei erwähnt recht stolz war. Immerhin hatte ich mit einem dünnen Bleistift ab und an, wo mir die häufigen philosophischen und naturhistorischen Exkurse besonderen Tiefgang zu haben schienen, etliche Randnotizen verzeichnet.

In den folgenden Tagen sah ich meinen Freund spärlich und wenn, dann tief in Gedanken versunken, aber irgendwie gelöst, ja mit der steten Andeutung eines verschmitzten Lächelns im Gesicht. Ich hatte mit dem Buch ins Schwarze getroffen, er ließ es mich auch wissen: „Ich liebe dieses Buch!“ Ja, ich erinnere mich genau an den Wortlaut, weil Martin das Wort „lieben“ so gut wie nie zuvor verwendet hatte, weder für sein Studium noch für Frauen – eine Ausnahme könnte höchstens sein Segelboot gewesen sein. Gegen Ende des Semesters – es war später Jänner, wir saßen wie üblich abends beim Stammwirt in geselliger Runde – versetzte er uns mit einer bedeutungsschwangeren Ankündigung in sprachloses Staunen: „Nach dem Studium werde ich Kapitän!“

Ich wusste, woher dieses Luftschloss kam, und entgegnete wohl ein wenig zu zynisch: „Moby Dick ist tot!“

„Du irrst dich gewaltig mit dieser Feststellung“, erwiderte mein schlagfertiger Freund. Ich solle mir keine Sorgen um ihn machen, denn er wolle nach Abschluss des hiesigen Studiums und einer anschließenden Ausbildung an der Seefahrtsschule Cuxhaven nicht als Walfänger enden, sondern sich in den Dienst einer Container-Reederei einschreiben. Ihn lockten die Weltmeere, und zwar allesamt, und ein Containerschiff – „Man muss halt auch ein wenig mit der Zeit gehen!“ – sei zu diesem Zwecke der am wenigsten steinige Weg.

Ich und der versammelte Stammtisch, einschließlich der gerade Bier servierenden Wirtstochter, waren völlig verblüfft und verdutzt. Unser Freund Martin schien tatsächlich der Meinung, der Weg in die Kapitänskajüte eines derartigen Schiffes sei ein gar gemütlicher Spaziergang!

Wir drehen die Zeit um sieben Jahre nach vorne und schreiben den Dezember 2011. Ich arbeite mittlerweile als Gymnasiallehrer, bin soeben am frühen Nachmittag von der Schule nach Hause gekommen und halte eine Postkarte aus Namibia in meinen Händen: „Beste Grüße, ein herzliches Prost und ein wehmütiges Lächeln in die Heimat, welche ich im Herzen trage, jedoch nicht vermisse. Haltet die Ohren steif und frohe Weihnachten!“

Martin hatte es also geschafft und seine Ankündigung vor sieben Jahren, die wir bestaunt, unterstützt, jedoch vor allem eher belächelt hatten, tatsächlich wahrgemacht. Sein Geographiestudium hatte er mit mäßigem Erfolg – aber doch – beendet, nur um einige Wochen nach seiner Sponsion nach Cuxhaven zu ziehen, sich einen weiteren Abschluss an der dortigen Seefahrtschule „zu holen“ und nun – nach mehreren Praktika und Einsätzen bei den unterschiedlichsten Schiffsunternehmen – als zweiter Offizier eines Containerschiffes die Welt zu bereisen. Letzte Woche Spanien, heute Namibia, übermorgen Hongkong.

Ich habe Martin vor ein paar Monaten während meiner Sommerferien in Hamburg getroffen und ihm, so wie man es eben macht, wenn man einen Freund lange nicht gesehen hat, folgende Frage gestellt: „Bist du glücklich? Immerhin basiert deine Suche nach Glück auf der Lektüre eines Romans über einen weißen Wal.“

„Du irrst, mein Freund. Moby Dick ist kein Wal. Moby Dick, dessen Reinheit und Schönheit Melville sogar ein eigenes Kapitel widmet, ist ein Symbol, ein Mysterium. Christen nennen es vielleicht die Suche nach Gott. Ich nenne es die Suche nach dem Wahren und Schönen.“

Diese Epiphanie der Walsymbolik war mir schon aus dem Literaturseminar meiner Studentenzeit geläufig, doch die nächste Offenbarung meines Freundes nicht. Als ich ihn fragte, ob er nicht Angst habe, bei diesem Streben nach dem Wahren so tragisch wie Kapitän Ahab im Buch zu enden, antwortete er in einer erhabenen Manier, die ein Ordinarius der Literaturwissenschaft nicht schöner hätte ausdrücken können: „Ahab ist besessen davon, Moby Dick zu finden und zu erlegen und sich als Besieger des Göttlichen aufzuschwingen. Nicht einmal der Verlust seines Beines vermochte seine absurde Geisteshaltung zu ändern. Ich jedoch will das Wahre und Schöne nicht besiegen, ich will es ja nicht einmal finden. Denn solange ich es suche, befahre ich die Weltmeere. Und das alleine ist eine – ja, meine! – Vision von Glück.“

Ich war beeindruckt und gerührt von diesem Credo und auch von jenem Gedanken, dass Literatur genau das macht, was sie im besten Falle immer macht, was ihre ureigenste Funktion ist: prodesse et delectare – lehren und unterhalten, vor allem ersteres! Herman Melville spürte im Umfeld der Erstveröffentlichung nachweislich, dass sein monumentaler Moby Dick kein unmittelbarer Erfolg werden würde, aber er war davon überzeugt, der Roman sei so tiefgründig, dass sich seine Leserinnen und Leser letztendlich völlig darin verlieren und eintauchen würden. Und genau das war meinem Freund Martin passiert: Ohne die Erkenntnisse der Lektüre dieses großen Romans hätte er die Wahrheit und Wirklichkeit der Seefahrt gar nicht erst wahrgenommen. Er hätte womöglich nie an der Seefahrtschule inskribiert und würde jetzt das nomadische Leben auf den Weltmeeren nicht so zu schätzen wissen. Doch Dichtung ist Wahrheit. Der weiße Wal ist „unerlegbar“, weil er gar kein Wal ist. Und Weiß ist die Farbe der Unendlichkeit, der Reinheit und der Stille. Und somit hatte mein Freund vor sieben Jahren, als ich am Stammtisch beiläufig, zynisch und unwissend – und wohl auch ein wenig scherzhaft – den Tod des weißen Leviathans beschworen hatte, natürlich recht gehabt, als er darauf ein wenig empört antwortete: „Du irrst!“

Heute freue ich mich außerordentlich darüber.

Herman Melville

* 1. 8. 1819 in New York City

† 28. 9. 1891 ebenda

Obwohl am selben Ort geboren und verstorben, war Melville ein rastloser Reisender. Als Kind musste er die Schule abbrechen, weil der Familie das Geld ausging. Er versuchte sich im Pelzhandel, heuerte auf Walfängern an, bereiste die Südsee und arbeitete als Matrose für die Kriegsmarine. Die literarische Verarbeitung seiner exotischen Südseeabenteuer (zum Beispiel Typee, 1946) wurde, nach anfänglichen Absagen von Verlagen, zu großen Erfolgen. Nachdem sich Melville nach ausgedehnten Abenteuern wieder in den USA niedergelassen hatte, animierten ihn seine Erlebnisse zu seinem Opus magnum Moby Dick (1851). Allerdings interessierten ihn zu diesem Zeitpunkt seichte Südseeabenteuer nicht mehr – er war längst in die Welt der Metaphysik, Philosophie und Religionen eingetaucht.

Moby Dick ist ein Kompendium, ja eine Art Enzyklopädie mit 135 Kapiteln über Seefahrt und Wale, das Meer und den Himmel, Gut und Böse, Wissenschaft und Metaphysik. Der Roman wurde zunächst wenig beachtet, vielmehr belächelt, verrissen und geriet rasch in Vergessenheit. Ein Schicksal, das andere seiner späten Romane teilten. Melville konnte von der Schriftstellerei nicht lange leben und verdingte sich von 1866 bis 1885 als Zollinspektor im Hafen seiner Heimatstadt, wo er 1891 schließlich, beinahe in Vergessenheit geraten, verstarb. Im frühen 20. Jahrhundert wurde er „wiederentdeckt“. Der Roman über den weißen Wal, von dem zu Melvilles Lebzeiten nur einige tausend Exemplare verkauft wurden, gilt heute als einer der größten der Weltliteratur.

Von Rivendell nach Ried im Innkreis

J. R. R. Tolkien und Der Herr der Ringe

John Ronald Reuel Tolkien gilt als Vater der Fantasy-Literatur, jedoch ist sein Hauptwerk The Lord of the Rings, auf Deutsch Der Herr der Ringe, so viel mehr als nur eine Fantasiegeschichte. Deshalb subsumiert man das Buch zuweilen unter die Rubrik „High Fantasy“, um die Qualität deutlicher von anderen Werken dieses Genres abzuheben. Manche Tolkien-Fans, darunter auch Literaturwissenschaftler*innen, fordern gar, den Herrn der Ringe als Epos zu klassifizieren, also in die hehre Reihe des Nibelungenliedes, Beowulfs oder des Rolandsliedes zu stellen. So ganz nebenbei ist das Buch mit über 150 Millionen verkauften Exemplaren überhaupt eines der kommerziell erfolgreichsten Bücher der Literaturgeschichte. Sein Autor war so viel mehr als der Verfasser von massentauglichen Fantasiegeschichten, nämlich Oxford-Professor für Literatur und Linguistik, der nebst seinem Kampf um Mittelerde zusätzlich wissenschaftliche Arbeiten, vor allem zur Geschichte der englischen Sprache, verfasste. Es ist diese Verbindung von Linguistik und Fantasiewelt, die den Herrn der Ringe so besonders macht. Das Buch sollte einem jungen Mann dabei helfen, seine eigentliche Leidenschaft zu erkennen und seinen beruflichen Weg zu finden.

Unsere Geschichte spielt in York, einer mittelgroßen und mittelalterlich geprägten Stadt im Norden Englands. Und sie beginnt im Jahr 1998. Am Heiligen Abend lag für den elfjährigen Ben ein Weihnachtspäckchen mit drei Büchern unter dem Christbaum, die eine große Saga in einer Welt namens Mittelerde erzählten: The Lord of the Rings von J. R. R. Tolkien. Das Geschenk stammte von seiner Urgroßmutter Charlotte, welche in den Nachkriegsjahren unter Professor Tolkien an der Oxford University Literatur und Linguistik studiert hatte und später Englischlehrerin wurde. Sie wollte ihrem Lieblingsenkel mit dem berühmten Fantasy-Werk ihres einstigen Lieblingsprofessors eine Freude machen und ihn auf diese Weise sanft an die Leidenschaft des Lesens heranführen. Das hätte freilich auch schiefgehen können – eine aberwitzig lange Geschichte, die auf weit über eintausend Seiten zelebriert wird, für einen so jungen Menschen. Es ist ihr aber gelungen, vielmehr noch: Charlottes Enkel liest die Geschichte, verliert und verliebt sich in Mittelerde, liest die Geschichte als Teenager nochmals und entwickelt eine Faszination für Fremdsprachen, die später seinen beruflichen Werdegang prägen sollten.

Auch Tolkien war schon als Junge besessen von Sprachen, lernte im Selbststudium und unter dem Tutorium seiner Mutter gleich mehrere, studierte sie dann akademisch, untersuchte ihre Geschichten und regionalen Varianten, verglich sie miteinander und wurde in weiterer Folge Professor für Linguistik, um dieser Leidenschaft hauptberuflich nachgehen zu können. Und wenn er einmal nicht in seinem Studienbüro am Merton College alte Texte unter die Lupe nahm, erzählte er seinen Kindern Geschichten von fernen fiktiven Ländern, von Menschen, Elben und Zwergen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass er irgendwann diese Geschichten aufschreiben und sie mit seiner Leidenschaft für Sprachen verknüpfen würde. Tolkien konstruierte für sein großes Mittelerde-Epos gleich mehrere Sprachen, um diese Fantasiewelt noch viel kunstvoller und authentischer zu machen. Im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff „conlangs“ – constructed languages. Im Unterschied zu anderen Autorinnen und Autoren jedoch, die in Romanen oftmals nur ein paar Zeilen oder Wörter einer neuen Sprache in ihre Geschichte einstreuen, kreierte Tolkien auf höchst durchdachte Weise komplette Sprachsysteme mit extensivem Vokabular, umfassender Grammatik und mehreren regionalen Varianten einer Sprache, ja sogar Mundarten. So gibt es, nur um ein Beispiel zu nennen, in Der Herr der Ringe eine elbische Hochsprache, eine Art „Elbenlatein“ mit dem Namen Quendin, aus dem sich andere elbische Sprachen entwickelt haben. So wurde aus dem Wort „kwendī“ („Elben“) im Zuge der sogenannten elbischen Völkerwanderung „pendi“ für die Talari-Elben und in weiterer Folge „kindi“ bei den Avari-Elben. (Vergleichbar sind diese Sprachsysteme, um wieder in die reale Welt zurückzukehren, mit den romanischen Sprachen, die sich alle aus Latein gebildet haben.)

Ben war fasziniert von diesem Sprachenwirrwarr, diesem linguistischen Fleckerlteppich, was für einen jungen Schüler, der in einem Land zur Schule ging, wo das Erlernen von Fremdsprachen ohnehin eine Randerscheinung ist, eine wohl noch stärkere Wirkung entfachte als auf seine kontinentaleuropäischen Altersgenossen. Er begann die elbische Sprache zu lernen und deren Grammatik zu verstehen, vertiefte sich in die Etymologie und Sprachgeschichte seiner eigenen Muttersprache, fing an, regionale Unterschiede der englischen Sprache zu beobachten, absolvierte in den Sommerferien einen Online-Crashkurs in Finnisch, um dessen Einfluss auf das Elbische zu begreifen – und schließlich, nachdem er während eines Skiurlaubs in Österreich ein paar Brocken Deutsch aufgeschnappt hatte, stand seine Entscheidung fest: Er wollte nach der Matura Sprachen studieren!

Ein Aspekt in Tolkiens Werk faszinierte Ben noch mehr als alle anderen – einer, den er während seiner Reisen in mehreren europäischen Ländern später selbst beobachten konnte: dass Sprachen immer auch ein bisschen die Mentalität der Menschen widerspiegeln. Und diese Erkenntnis hatte er zum ersten Mal bei der Lektüre von Tolkiens Saga: Elbisch ist schön, melodisch und sanft – ganz wie seine edlen Sprecher. Tolkien machte von einer lateinischen „Basis“ Gebrauch und garnierte diese unter anderem mit Elementen des Finnischen, das er ebenfalls besonders sonor und melodisch empfand. Orquin, die Sprache der Orks, ist hingegen eine harsche und raue Sprache, was ebenfalls Sinn macht, wenn man bedenkt, dass sich das Dasein der hässlichen und ungestalten Sprecher nahezu ausschließlich um Mord, Totschlag und Dunkelheit dreht. Die Sprache ist so primitiv, dass sie außer zum Fluchen und Grölen zu nicht viel taugt. Später erkannte Ben auf einer Reise nach Kalabrien, dass sich Italienisch, die Tochter des Lateinischen, ebenso durch eine besondere Melodik auszeichnet. Er war fasziniert von den Spracheigenschaften des Finnischen, er fand auch Gefallen an der deutschen Sprache, die zwar im Allgemeinen als hart und ein wenig schroff empfunden wird, aber faszinierende Satzkonstruktionen zu bieten hat. Diesen hatte übrigens der große Mark Twain schon ein paar Jahrzehnte vor Tolkien ein eigenes Buch gewidmet – The Awful German Language, in dem er moniert, dass man ein Teleskop brauchen würde, um das Verb in deutschen Nebensätzen zu finden. Dazu kämen endlose Komposita und eine fast militärische Prosodie, welche die vermeintlich deutschen Tugenden wie Fleiß und Ehrgeiz widerspiegeln würde. Später, als er als Student ein Auslandssemester in Graz absolvierte, faszinierte ihn die österreichische Varietät dieser Sprache, deren Rhythmus ein wenig melodischer klingt, deren Aussprache sich ein wenig sanfter gestaltet und deren Lexik ein wenig mehr Lebensgefühl vermittelt.

Ben hatte also seine Leidenschaft für Linguistik entdeckt, die Tolkiens Herr der Ringe ihn ihm entfacht hatte – und zwar so stark, dass die Lektüre seinem Leben eine entscheidende Wendung verlieh, als er an der Universität in Liverpool zuerst in den Fächern Deutsch und Französisch inskribierte, dann ein Auslandssemester in Graz absolvierte, nach dem Bachelor-Abschluss als Sprachassistent nach Paris ging, und nunmehr als Englischlehrer im oberösterreichischen Innviertel, wo er die österreichischen Regiolekte ein bisschen näher studieren möchte, ein neues berufliches Umfeld fand. Das Schöne an der Sprachenwelt Tolkiens ist, dass der Kult weiterlebt: Im Internet finden sich Elbisch-Sprachkurse, die Wörterbücher werden ständig ergänzt, es gibt sogar Übersetzer*innen, die ihre Dienste anbieten, falls sich jemand zum Beispiel einen schönen Spruch auf Elbisch auf die Schulter tätowieren lassen möchte. Die Offenheit gegenüber Sprachen wäre sicher im Sinne Tolkiens, der 1973 verstarb – wenn er nur wüsste, dass sich seine „conlangs“ auch heute noch weiterentwickeln und dutzende Fanclubs, ja in der Tat linguistische Gesellschaften, in der realen Welt dafür sorgen, dass sie nicht aussterben! Somit war der Schöpfer von Mittelerde nicht nur der Vater der Fantasy-Literatur, sondern überhaupt der konstruierten Sprachen, die in weiterer Folge andere Werke der Popkultur inspiriert haben: Man denke nur an Klingonisch in Star Trek, die Sprache der Na’vi im Blockbuster Avatar oder das Valyrische in Game of Thrones.

So „endet“ also diese Episode: Ben genießt sein Leben in Ried im Innkreis, spielt im Innviertler Lehrerteam Fußball, erfreut sich an Dialektrunden beim Fußballer-Stammtisch und inhaliert die österreichische Mentalität, um die Sprache noch besser zu verstehen. An den wenigen Abenden allerdings, an welchen er keine gesellschaftlichen Verpflichtungen hat, stattet er immer wieder seiner Herr-der-Ringe-Gesellschaft online einen Besuch ab, informiert sich über die neuesten Erkenntnisse über das Elbische oder Khuzdul (Sprache der Zwerge) und frischt sein Vokabular auf, damit es nicht ganz einrostet. Er brachte nicht sonderlich viele Bücher mit nach Österreich, bietet ihm doch seine Garçonnière in der Nähe des Bundesschulzentrums nur wenig Platz. Jedoch seine vergilbte Ausgabe von Herr der Ringe, die 1998 unter dem Christbaum gelegen hatte, schmückt nach wie vor sein kleines Buchregal über dem Schreibtisch.

John Ronald Reuel Tolkien

* 3. 1. 1892 in Bloemfontein im heutigen Südafrika

† 2. 9. 1973 im britischen Bournemouth

Bereits in seiner Kindheit interessierte sich Tolkien für Sprachen und Sagen. Seine Mutter brachte ihm unter anderem Deutsch, Französisch und Latein bei, zudem las er mit Genuss die Artus-Legenden, von Siegfried dem Drachentöter, dann als Jugendlicher das große englische Epos Beowulf (dessen Held übrigens gegen einen im Berg lauernden Drachen kämpft – Erinnerungen an Tolkiens Buch Der Hobbit werden wach) und vertiefte sich in historische Linguistik. Diese Leidenschaft führte den religiösen Adoleszenten 1911 an die Oxford University, an der er 14 Jahre später zum Professor für englische Sprache ernannt wurde. Sein Forschungsgebiet blieb die Linguistik, sein Hobby das kreative Schreiben. 1937 wurde Der Hobbit publiziert, 1954/55 sein Hauptwerk Der Herr der Ringe, das in drei Bänden erschien, aber strenggenommen und unter Berücksichtigung der Intention des Autors keine Trilogie ist. Der große Erfolg kam für Tolkien selbst überraschend, ist aber schnell erklärt: Im Zentrum stehen der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, unscheinbare Helden, blutige Gemetzel, ein allmächtiger Ring, eine bunte Welt mit vielen Völkern und Sprachen – und all das erzählt in detailverliebter, entschleunigter Prosa. Nach zwei Weltkriegen in Europa schien es vielleicht eine logische Folge, den Leserinnen und Lesern eine Fantasiewelt zur Flucht vor dem Alltag zu schaffen – nicht jedoch, um diese in eine „heile Welt“ umzuschreiben. Der Herr der Ringe ist große Literatur und wir können Tolkiens Sohn Christopher dankbar sein, dass er nach dem Tod seines Vaters dessen unvollendete Werke posthum publizierte, darunter auch Das Silmarillion (1977), die mythologische Vorgeschichte zum Mittelerde-Epos.

Von Rudolfsheim nach Rishikesh

Hermann Hesse und Siddhartha

Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege,sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht.

Hermann Hesse

Hat man seine Leidenschaft für Yoga entdeckt und fragt nach einer Übungseinheit bei einem Schälchen Jasmintee die gesellige Runde, welches Buch im Leben das wichtigste gewesen ist, welche Lektüre dem eigenen Werdegang einen entscheidenden Wendepunkt verliehen hat, dann wird eine Erzählung auffallend oft genannt: Siddhartha von Hermann Hesse. Ich bat also meine Yogafreundin Hanna, ihre Geschichte – ihre besondere Beziehung zu diesem Buch – exemplarisch zu schildern.

Hanna ist im Mittelburgenland aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach der Matura inskribierte sie Betriebswirtschaft in Wien; gegen Ende ihres Studiums absolvierte sie ein Praktikum bei einer großen Baufirma – nach der Sponsion stieg sie in Vollzeit als Personalmanagerin ein. Das Gehalt war gut, die Überstunden waren erträglich, ihre Mansardenwohnung im 15. Bezirk adrett und die umliegenden Gastrobetriebe ebenso. Samstags frühstückte sie gerne in einem der hippen Cafés, wo man Kaffee mit Sojamilch,