Mit Sehbeeinträchtigung im Alltag klarkommen - Pamela Cory - E-Book

Mit Sehbeeinträchtigung im Alltag klarkommen E-Book

Pamela Cory

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Beschreibung

Die Gabel zum Mund führen, Zähneputzen, die Haustüre aufschließen - unser Alltag besteht aus unzähligen Tätigkeiten, die für sehende Menschen selbstverständlich sind. Kinder und Erwachsene mit Sehbeeinträchtigungen stellen sie vor erhebliche Herausforderungen. Doch auch sie können lebenspraktische Fähigkeiten erlernen. Mit der richtigen Strategie und passenden Hilfsmitteln lernen vor allem Kinder schnell, sich im Alltag zurechtzufinden. Wie der Prozess erfolgreich gestaltet wird, erklärt dieses praxisnahe Fachbuch. Die Autorin, Pionierin auf dem Feld der lebenspraktischen Fähigkeiten in Deutschland, liefert detaillierte Anleitungen, die auf jahrelanger Erfahrung beruhen. Denn Menschen mit Sehbeeinträchtigungen kommen im Alltag bestens klar - mit der richtigen Vorbereitung.

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Pamela Cory

Mit Sehbeeinträchtigung im Alltag klarkommen

Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten

2., aktualisierte Auflage

Mit einem Geleitwort von Frank Laemers

Mit einem Beitrag von Julian Iriogbe

Mit 35 Abbildungen und einer Tabelle

Ernst Reinhardt Verlag München

Pamela Cory, Gründerin und langjährig im Leitungsteam des Instituts für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter (IRIS) e. V. in Hamburg, ist als Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg tätig.

Julian Iriogbe ist Förderschullehrer, zertifizierter Smartphonetrainer und Rehafachperson Orientierung & Mobilität für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung. Gerne beantwortet er Fragen – auch zu den Bedienungshilfen von iOS - unter [email protected].

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03189-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61730-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61731-9 (EPUP)

2., aktualisierte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von ©hakinmhan/stock.adobe.com

Bildrechte Innenteil / Fotografenrechte:

Erik u. Christian Reker: Abb. 32, 34; Martin Beyer: Abb. 27, 30, 35; Birgit Röpke: Abb. 6; Brynjúlfur ƥorsteinsson: Abb. 1, 25, 26, 29, 33

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de · E-Mail: [email protected]

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

1 Lebenspraktische Fähigkeiten: Einführung

1.1 Was sind lebenspraktische Fähigkeiten?

1.2 Wie hat sich die Vermittlung von LPF bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung entwickelt?

2 Die Aneignung von LPF bei sehenden Kindern

2.1 Wie eignen sich sehende Kinder LPF an?

2.2 Wozu soll man sich LPF aneignen?

2.3 Welche Rolle spielt der Erwachsene in diesem Lernprozess?

2.4 Das Spiel als mächtiges Lernmedium

2.5 Geeignete Rahmenbedingungen für das Lernen in den Baby- und Kleinkindjahren

2.6 Durch die Hirn- und Lernforschung unterstützte Lernprinzipien

2.7 Grundregeln einer geeigneten Lernsituation bei der Aneignung motorischer Fähigkeiten

3 Wie lernen Kinder mit Sehbeeinträchtigungen LPF?

3.1 Begriffsklärung

3.2 Was bringt es einem Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung, LPF zu können?

3.3 Welche Auswirkungen hat das Nicht-Sehen auf das Erlernen von LPF?

3.4 Entwicklungsetappen der Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten

3.4.1 Erste Entwicklungsetappe (1970er Jahre) – Entwicklung von geeigneten nicht-visuellen Techniken

3.4.2 Zweite Entwicklungsetappe (1980er Jahre) – Prinzipien der „Sensorischen Integration“

3.4.3 Dritte Entwicklungsetappe (ab Mitte der 1980er Jahre) – Aktives Lernen nach Lilli Nielsen

3.5 Können Kinder, die gar nicht sehen können, komplexe Alltagsverrichtungen selbstverständlich erlernen?

3.6 Können Kinder mit Sehbeeinträchtigungen und mit Schwierigkeiten bei der Handlungsplanung Alltagsverrichtungen selbständig ausführen?

3.7 Können Kinder mit einer Sehbehinderung LPF selbstverständlich erlernen?

4 Nicht-visuelle Methoden der Alltagsbewältigung

4.1 Ist die Ausführung von motorischen Handlungen bei Menschen mit Sehbeeinträchtigungen genauso wie bei sehenden Menschen?

4.1.1 Handlungsausführung „Kaffee/Tee in einen Becher gießen“

4.1.2 Handlungsausführung „Tischfläche systematisch reinigen“

4.2 Modell der Aufgabenanalyse und ihre individuelle Anpassung

4.2.1 Die sehende oder normale Methode muss bekannt sein

4.2.2 Kriterien für nicht-visuelle Methoden

4.2.3 Die ausgewählte nicht-visuelle Methode in Teilschritte zerlegen

4.2.4 Analyse der Voraussetzungen für die Ausführung von ausgewählten Aufgaben

4.2.5 Analyse des Ist-Standes des Lernpartners

4.2.6 Lerninszenierungen für die Anbahnung von Voraussetzungen

5 Das Kind mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen – Aktives Lernen nach Lilli Nielsen

5.1 Begrifflichkeiten

5.2 Rahmenrichtlinien der LPF-Vermittlung bei Menschen mit schwerstmehrfachen Beeinträchtigungen

5.3 Fallbeispiele aus dem Bereich des Aktiven Lernens

5.3.1 Thomas bei der Aufgabe, die Hände zur Körpermittellinie zusammen zu bringen

5.3.2 Martin bei der Aufgabe, sein Interesse für sich und seine Umwelt zu wecken

5.3.3 Pina bei der Aufgabe, die Hände zum Mund zu bringen

5.3.4 Henri bei der Aufgabe, sich aufrecht hinzustellen

5.3.5 Peggy bei der Aufgabe, sich mehr zu bewegen

5.4 Lernhilfen zum Aktiven Lernen

5.4.1 Die Resonanzplatte

5.4.2 Der Kleine Raum (Little Room)

5.4.3 Der Bündelgreifer

5.4.4 Die Stützbank

5.4.5 Die Kopfstütze

5.4.6 Die beleuchtete Goldplatte (Tipping-Board)

5.4.7 Das Essef-Brett (Federbrett)

5.4.8 Das Hopsa Dress

5.4.9 Abschließende Hinweise zu den Lernhilfen des Aktiven Lernens

6 Vermittlung von LPF bei Menschen mit Sehbeeinträchtigungen in Bildungseinrichtungen

6.1 Bildungseinrichtungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen in Deutschland

6.1.1 Wird der Bildungsauftrag zur Vermittlung von LPF von den Bildungseinrichtungen erfüllt?

6.1.2 Erforderliche Rahmenbedingungen für eine effektive LPF-Vermittlung

6.2 Inklusion

6.3 Sicherung der Kostenübernahme

6.4 Weiterentwicklung der Vermittlung von LPF

6.4.1 Wo gibt es LPF-Vermittlungsangebote?

6.4.2 Auswirkungen der Einschränkungen bei einer LPF-Kostenübernahme

6.4.3 Appell an die Eltern

6.5 Zukunftsaussichten für den Förderbereich „Vermittlung von LPF bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung“

Schlusswort

Literatur

Anhang 1: Weiterbildungsangebote zur Rehabilitationsfachkraft im deutschsprachigen Raum

Anhang 2: Apps – kleine Alltagshelfer in der Hosentasche

Sachverzeichnis

Geleitwort

Wenn man Fachleute, die mit Menschen mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung arbeiten, nach den Spezifika fragt, die angeboten bzw. vermittelt werden, findet man häufig an erster Stelle die Bereiche Orientierung und Mobilität (O&M) und lebenspraktische Fähigkeiten (LPF). Erst danach kommen weitere Besonderheiten, die wir heute alle im Expanded Core Curriculum (Allman 2014) oder auch in den Spezifischen Curricula des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (Degenhardt et al. 2016) finden, wie z.B. der Umgang mit assistiven Technologien, soziale Interaktionskompetenz, die Bereiche Berufliche Bildung und Freizeit, aber auch die Wahrnehmungsförderung aller Sinne – um nur einige zu nennen.

Während der Unterricht in Orientierung und Mobilität bzgl. der Finanzierung für die betroffenen Menschen über die Krankenkassen gut gesichert ist, trifft dies für die Finanzierung des Unterrichts in lebenspraktischen Fähigkeiten in Deutschland bislang leider keinesfalls zu.

Wie bedeutsam dieser Bereich aber auch schon im Kindesalter ist, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2002 von Lewis und Iselin. Dort wurden jeweils Eltern von 6- bis 9-jährigen Kindern mit bzw. ohne Sehschädigung in Bezug auf altersgemäße Kompetenzen aus dem lebenspraktischen Bereich gefragt, inwieweit ihre Kinder diese Aufgaben alleine, mit Unterstützung einer erwachsenen Person bzw. noch gar nicht durchführen können. Die Items bezogen sich u.a. auf die Bereiche Körperhygiene, Ankleiden, Essen bzw. einfache Essenszubereitungen, Umgang mit Geld, Telefonieren, sowie häusliche Tätigkeiten. Während die Kinder mit einer Sehschädigung lediglich 44% der genannten Aufgaben ohne Hilfe erledigen konnten, waren es bei den sehenden Kindern mit 84% fast doppelt so viele Aufgaben, die von diesen alleine bewältigt werden konnten. Dies zeigt zum einen, welche Bedeutung das Sehen bzw. das Nachahmungslernen für sehende Kinder in diesem Bereich hat, macht aber auch deutlich, welch hohe Bedeutung die Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten im Fall von Blindheit und Sehbeeinträchtigung im Kindes- und Jugendalter hat.

Bei Menschen mit erworbener Sehschädigung im Seniorenalter ermöglicht eine Schulung in lebenspraktischen Fähigkeiten oftmals, die erlebte Hilflosigkeit zu überwinden und zu erleben, dass trotz Sehbeeinträchtigung alltägliche Aufgaben und Verrichtungen, die ein Leben lang mit visueller Kontrolle vollzogen werden konnten, nun mit anderen Strategien auch weiterhin durchführbar sind. Dies gibt dann vor allem auch ein Stück Lebensqualität zurück.

Letztlich unterstützt die Schulung in LPF auch die Teilhabechancen von Menschen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung in vielen gesellschaftlichen Kontexten.

Auch in diesem Sinne ist dieses von Pamela Cory vorgelegte Buch eine Bereicherung. Die Autorin selber gilt im deutschsprachigen Raum als Pionierin auf diesem Gebiet. So hat sie das Thema LPF zu Beginn der 1970er Jahre aus den USA nach Deutschland gebracht und dieses dann vor allem in der Ausbildung der Reha-Fachkräfte zuerst in Marburg an der Deutschen Blindenstudienanstalt und dann seit den 1980er Jahren im von ihr und ihrem Mann Dennis geleiteten Institut zur Integration und Rehabilitation Sehgeschädigter (IRIS) in Hamburg maßgeblich geprägt und weiterentwickelt. An einem Teilstück dieser Weiterentwicklung lässt sie die Leserinnen und Leser in diesem gut strukturierten Buch teilhaben. Dabei weist die Autorin darauf hin, dass vieles von dem, was hier beschrieben wird, im Team mit anderen Kolleginnen und Kollegen und vor allem mit den Lernpartnerinnen und Lernpartnern entstanden ist. Etwas Spannendes wird dabei in diesem Buch deutlich, nämlich dass es letztlich nicht um die Vermittlung von einzelnen Fähigkeiten geht – wie dies z.B. ein älteres Werk zum Bereich O&M und LPF aus den 1990er Jahren suggeriert, sondern dass im Mittelpunkt des Tuns der Mensch mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung mit seiner jeweils spezifischen Ausgangslage steht. Ausgehend von den vorhandenen Strategien muss ein individuelles Programm entwickelt werden, dessen Ziel es ist, in dem Bereich der lebenspraktischen Fähigkeiten das, was möglich ist, zu erreichen.

Dies wird auch daran deutlich, dass sich ein Kapitel dieses Buches dem Bereich der Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen in Kombination mit einer Sehbeeinträchtigung ausführlich widmet. Darin zeigt sich, wie der Ansatz des Aktiven Lernens nach Lilli Nielsen das LPF-Konzept im deutschsprachigen Raum nachhaltig beeinflusst hat.

Pamela Cory ist inzwischen im wohlverdienten Ruhestand. Sie unterrichtet aber schon lange und immer noch an der Universität Hamburg und seit 2012 auch an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg. Unsere Studierenden sind tief beeindruckt; denn sie sehen nach dem Seminar das Thema LPF mit anderen Augen. Geht es doch letztlich um die Frage: Wie kann ich motorische Handlungen unter nicht visuellen bzw. beeinträchtigten visuellen Bedingungen vermitteln? In diesem Prozess steht das „Wie wir etwas lernen“ im Vordergrund. Umso erfreulicher ist es, dass Pamela Cory die Anregung aufgenommen hat, dieses vorhandene Wissen nun gut nachvollziehbar in dem vorliegenden Buch zu publizieren und so einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Dieses Buch richtet sich sowohl an Einsteigerinnen und Einsteiger, die einen Überblick über dieses breite Feld gewinnen wollen, aber auch an Expertinnen und Experten aus dem Reha-Bereich, die anregende Denkanstöße oder vielleicht auch den einen oder anderen Reibungspunkt finden werden. Dieses Buch ersetzt auf keinen Fall die Ausbildung der Rehabilitationsfachkraft für die Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten, weckt aber vielleicht das Interesse für diese Weiterbildung.

Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung sowohl im Bereich der Pädagogik und (Re-)Habilitation von Menschen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigungen, als auch im Bereich der Pädagogik und (Re-)Habilitation von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen. Diese haben oftmals auch eine Sehbeeinträchtigung, doch der größte Teil von ihnen erhält bislang oft keine spezifische Unterstützung durch Fachleute aus dem Förderschwerpunkt Sehen.

Heidelberg im Juli 2020, Frank Laemers

Vorwort

Worum geht es in dem vorliegenden Buch?

Wie kommt jemand, der nicht sehen kann, mit den gewöhnlichen Anforderungen seiner Lebenswelt zurecht? Ist das Sehen eine Grundbedingung für die selbständige Bewältigung des Alltags? Wird ein Kind mit einer Sehbeeinträchtigung motorische Handlungen genauso automatisch erlernen wie ein sehendes?

Anfang der 1970er Jahre wurde im Allgemeinen davon ausgegangen, dass der Schicksalsschlag „Blindheit“ mit Hilflosigkeit in der Alltagsbewältigung gleichzusetzen war. Heute weiß man, dass das nicht sein muss. Inzwischen hat sich die Methodik der Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) bei Menschen, die schlecht oder gar nicht sehen können, über die letzten Jahrzehnte hinweg von einem anfänglich technikorientierten Training zu einem personenzentrierten Lernprozess des aktiven Lernens gewaltig verändert.

Um dem Leser bewusst zu machen, welche Vorteile und – noch wichtiger – welche Nachteile jede Stufe in diesem langjährigen Entwicklungsprozess mit sich gebracht hat, setzt sich das Buch mit diesen Veränderungen auseinander. Diese Kenntnisse unterstützen den Leser bei der Inszenierung geeigneter Lernsituationen für die Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung. Quintessenz des Buches ist: Der Weg ist das Ziel. Wie sich ein Mensch mit einer Sehbeeinträchtigung lebenspraktische Fähigkeiten aneignet, ist für seine Souveränität entscheidend.

An wen wendet sich das Buch?

Dieses Buch ist ein Praxisbuch für pädagogische und therapeutische Fachkräfte, u.a. Sonderpädagogen, Rehabilitationslehrer, Ergotherapeuten, Erzieher in Förderschulen und Einrichtungen der Behindertenhilfe, die die Verantwortung für die Anbahnung von motorischen Handlungen bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung mittragen. Zwar gibt es Rehabilitationslehrer mit einer spezialisierten LPF-Qualifikation, die dafür ausgebildet sind, Betroffenen mit einer Sehbeeinträchtigung lebenspraktische Fähigkeiten zu vermitteln, jedoch liegt die Verantwortung für LPF nicht alleine in der Verantwortung der Rehabilitationslehrer. Rehabilitationslehrer können den Lernprozess begleiten, beteiligte Personen beraten, Anregungen geben und im Rahmen von Einzelschulungen gezielt unterstützen.

Das Buch liefert keine Fertigrezepte und ist auch keine wissenschaftlich-theoretische Auseinandersetzung mit der Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten. Ebenso ist es kein Ersatz für eine qualifizierte Weiterbildung zum Rehabilitationslehrer im LPF-Bereich. Ein LPF-Lehrer muss in der Lage sein, mit einer heterogenen Gruppe von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zu arbeiten. Manche dieser Betroffenen sind von Geburt an blind, andere sind spät erblindet, manche sind vollblind, andere haben noch ein Sehen, das unterschiedlich eingesetzt werden kann. Manche sind plötzlich erblindet, andere haben ihr Sehen allmählich über einen längeren Zeitraum verloren. Manche haben viele Umwelterfahrungen, auf die aufgebaut werden kann, andere verfügen über nur wenige Erfahrungen. Es sind Menschen jeden Alters, vom Kleinkind bis zu Personen in einem hohen Lebensalter. Ferner kann die Sehbeeinträchtigung von zusätzlichen Wahrnehmungsbeeinträchtigungen, von Lernproblemen, von einer geistigen Behinderung, von Körperbehinderungen oder von Altersgebrechlichkeit begleitet werden. All diese Aspekte stellen hohe Anforderungen an das Wissen und das Einfühlungsvermögen eines Rehabilitationslehrers. Hier wird deutlich, wie intensiv und umfassend die Ausbildung sein muss, um eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit dieser Problematik zu gewährleisten. Eine qualifizierte Weiterbildung im LPF-Bereich beinhaltet dezidierte Aspekte mehrerer Theorie- und Praxisfächer wie Augenheilkunde, Audiologie, Begriffsbildung, Neurophysiologie, Kindes- und motorische Entwicklung, Gerontologie, Rechtskunde, Gesprächsführung, Low Vision, psycho-soziale Aspekte einer Sehbeeinträchtigung, Kommunikationssysteme (wie Körpersprache, Schwarzschrift und Punktschrift) und Hilfsmittelkunde. Darüber hinaus muss diese Weiterbildung dem Absolventen eine solide Grundlage für bewährte nicht-visuelle Techniken und Strategien anbieten, wie auch eine intensive supervisierte Lehrpraxis mit Betroffenen verschiedenen Alters und in verschiedenen Lernbereichen. Eine qualifizierte Weiterbildung stattet den zukünftigen Rehabilitationslehrer mit Kompetenzen aus, die ihn befähigen, Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung jeden Alters, mit und ohne zusätzliche Behinderungen, lebenspraktische Fähigkeiten zu vermitteln (Cory 2009a).

Ohne die Anregungen und den Einsatz von K. Heslinga (aus den Niederlanden), Bernt von Lueder (Hamburger Landesamt für Rehabilitation), Prof. Dr. Waltraud Rath (Universität Hamburg) und Dr. Lilli Nielsen (Dänemark) wären die heutige Förderung und Weiterentwicklung der LPF-Vermittlung im Blinden- und Sehbehindertenwesen seit den 1970er Jahren nicht möglich gewesen. Die Erstellung dieses Buches ist der Anregung von Frank Laemers (Pädagogische Hochschule Heidelberg) zu verdanken. Sie basiert auch auf dem jahrelangen Gedankenaustausch mit meinen Kolleginnen Heike Kruse (Landesförderzentrum Schleswig), Cornelia Sill-Hansen, Ilse Lewerenz und Iris Schumann (alle von IRIS, Hamburg), Britta Kaufmann (Berufsbildungswerk Soest) und Gabriele Mühe-Semsrott (Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte, Hamburg).

Der besseren Lesbarkeit wegen wird die grammatische männliche Form im Text verwendet, es sind alle Geschlechter gemeint.

1 Lebenspraktische Fähigkeiten: Einführung

Worum geht es hier eigentlich? Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) beginnen gleich nach der Geburt und sind lebenslang von Bedeutung. Sobald wir auf die Welt kommen, fangen wir an, uns zu bewegen. Wir sehen die Menschen in unserer Nähe, die sich bewegen, uns berühren, viele Dinge tun. Wir lernen unseren Körper immer besser kennen und steuern und beobachten genau, was die Personen in der Umgebung tun – wir sind mittendrin in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen von immer neuen motorischen Handlungen. Die Konfrontation damit hält bis zum Tode an. Auch der alte Mensch, dessen Fingerbeweglichkeit beeinträchtigt ist, fühlt sich manchmal sehr gefordert. Zum Beispiel kann es für ihn alles andere als einfach sein, ein eng verschweißtes Päckchen zu öffnen.

1.1 Was sind lebenspraktische Fähigkeiten?

LPF sind motorische Handlungen, die im Alltag anfallen, egal ob im Arbeitsbereich oder zu Hause. Sie sind elementare Fähigkeiten, kleine Handgriffe und Bewegungen, die eingesetzt werden, um selbständig mit den Anforderungen des Alltags fertig zu werden. Dazu gehören das Greifen von Gegenständen, das Führen einer Gabel zum Mund, die Handgelenkrotation beim Umrühren eines Teiges, das Aufhängen eines Mantels auf einen Kleiderbügel oder die Fähigkeit, einen Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken.

Allzu oft werden nur komplexe Aufgaben wie Kuchen backen, das Essen mit Messer und Gabel, Zähne putzen oder Schuhe an- und ausziehen als lebenspraktische Fähigkeiten bezeichnet. Diese sind aber komplexe Aufgaben, die aus einer Vielzahl von einzelnen elementaren Fähigkeiten zusammengesetzt sind (Hergert/Hofer 2011).

1.2 Wie hat sich die Vermittlung von LPF bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung entwickelt?

Anfang der 1970er Jahre gab es in deutschen Einrichtungen für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung eine überwiegend komplette Rundumversorgung. Es wurde zu der Zeit angenommen, dass es Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung in der Regel nicht zugemutet werden konnte, die einfachsten elementaren motorischen Handlungen selbständig auszuführen. Sowohl die meisten Betroffenen selbst als auch ihre Angehörigen, Betreuer, Erzieher und Lehrer waren fest der Meinung, Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung würden nie in der Lage sein können, ihren Alltag selbständig zu meistern (Kap. 3.4.1).

Die Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten (damals „Fertigkeiten“) wurde im Jahre 1976 erstmalig als offizielles Lernangebot für Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung in Deutschland (Deutsche Blindenstudienanstalt, Marburg a. d. Lahn, BRD) eingeführt. Die damalige Vermittlungsform war durch das Einüben von nicht-visuellen Techniken im Einzelunterricht geprägt. Das neue Lernfeld bot Hoffnung, jedoch mussten die pädagogischen Prinzipien der Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten immer wieder überprüft, neu durchdacht und weiterentwickelt werden. Die seitdem gesammelten Erfahrungen haben es deutlich gemacht, dass wie wir etwas lernen der Schlüssel zum Lernerfolg ist und daher im Mittelpunkt des Lernprozesses bei der Anbahnung von motorischen Handlungen stehen muss.

2 Die Aneignung von LPF bei sehenden Kindern

2.1 Wie eignen sich sehende Kinder LPF an?

Im Folgenden stehen nicht die Entwicklungsstufen sehender Kinder im Mittelpunkt, sondern die Art und Weise, wie sie motorische Handlungen erlernen. Genau diese Erkenntnisse über das „Wie“ waren eine der Schlüsselinspirationen für die Weiterentwicklung der Didaktik von lebenspraktischen Fähigkeiten bei Kindern mit einer Sehbeeinträchtigung.

Um die Bedeutung hierfür hervorzuheben, wird gesondert auf die Baby- und Kleinkindjahre von sehenden Kindern eingegangen. Gerade diese Lernjahre scheinen ideale Bedingungen für eine Art des Lernens mit sich zu bringen, die die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder prägen.

Kleinkinder, denen es gut geht, sind entdeckende Wesen. Sie sind neugierig, wissbegierig und an allem interessiert. Sie können sich lange mit einer Sache beschäftigen und sind dabei ganz konzentriert. Diese intrinsische Motivation unterstützt das Kind dabei, mit Gegenständen zu experimentieren und etliche Bewegungsabläufe spielerisch auszuprobieren, um so die Welt aus eigener Kraft erobern zu können.

Durch das Sehen erhalten wir die meisten Informationen über unsere Umwelt. So liefert uns der Fernsinn nicht nur Informationen über unsere unmittelbare Umgebung, sondern gibt uns Hinweise auf Begebenheiten und Standorte außerhalb unserer Reichweite, solange diese noch in Sichtweite sind. Dies dient der räumlichen Orientierung.

Das Sehen ist der Hauptkatalysator für die eigenständige Anbahnung von motorischen Handlungen, denn es regt das Kind an, sich und seine Umwelt wahrzunehmen. Das Kind will alles, was es sieht, anfassen. Es wird durch visuelle Anreize angeregt, sich zu bewegen, und setzt sich aktiv mit sich und seiner Umwelt auseinander, indem es Gegenstände wahrnimmt, sich ihnen nähert, nach ihnen greift und mit ihnen hantiert. Das alles geschieht mit wahrer Entdeckerfreude. Bewegung bedeutet Freude für das Kind. Hier können wir unzählige Wiederholungen beobachten, wie das Kind auf natürlichem Wege die Voraussetzungen für motorische Handlungen anbahnt. Diese Bewegungsfreude ist eine grundlegende Bedingung für die motorische Entwicklung, Begriffsbildung und Persönlichkeitsentfaltung des Kindes.

Darüber hinaus ist das Sehen für die Aneignung und für die Steuerung motorischer Handlungen sowie für die Handlungsplanung entscheidend. Ständig beobachtet das Kind andere Menschen und erfährt so nebenbei, was für Alltagsverrichtungen ausgeführt werden und wie sie sehend durchgeführt werden können. Das gesamte Vorstellungsvermögen eines sehenden Menschen wird stark von diesen visuellen Bildern geprägt. Und letztendlich bietet das Sehen dem Kind einen Ansporn für weitere Versuche, seine Selbständigkeit zu erweitern. Wenn es älteren Kindern bei etlichen Tätigkeiten zuschaut, kann das Kind angeregt werden, seine Vorbilder nachzuahmen und somit noch mehr Selbständigkeit erlangen zu wollen (Hecker 2004).

2.2 Wozu soll man sich LPF aneignen?

Die Aneignung lebenspraktischer Fähigkeiten bedeutet für das Kind eine Steigerung seiner Selbständigkeit wie auch Eigenverantwortung. Die Selbstbestimmung über Handlungsmöglichkeiten wird dadurch erweitert. In der Lage zu sein, komplexe motorische Handlungen selbst auszuüben, führt zu einer höheren Anerkennung durch die Erwachsenenwelt und hat einen positiven Einfluss auf die soziale Akzeptanz des Kindes. Diese allgemeinen Ziele sind erstrebenswert; allerdings verschleiern sie die ureigene Bedeutung dieser so grundlegenden Lernphase für das Kind. Um dies zu verdeutlichen, brauchen wir nur die Fragen zu stellen: Wie kommt es, dass manche Kinder sehr aktiv und andere dagegen eher passiv sind? Ist dies eine Frage der Anlage oder lässt es sich auf ihre Umwelt zurückführen?

Die Baby- und Kleinkindjahre sind die wichtigsten Lernjahre für das Kind. Dabei ist das Spiel die treibende Kraft, mit der das Kind seine Welt eigenständig erkundet. Das Spielen ist mit Lernen gleichzusetzen. Gerade diese Lernphase ermöglicht die ersten Auseinandersetzungen mit etwas Neuem. Das Kind ist ständig mit etlichen Herausforderungen konfrontiert: dem Spüren des eigenen Körpers und der Entwicklung eines Körperbewusstseins und -schemas. Außerdem muss es unwillkürliche Bewegungen gezielt steuern lernen und stets ums Gleichgewicht ringen. Diese Lernphase ist primär ein Übungsfeld für das Kind, um Strategien zu entwickeln, die ihm helfen, Alltagsprobleme eigenständig zu lösen. Es erfährt Freude und Stärkung des Selbstbewusstseins bei der Entwicklung eigener Problemlösungsstrategien, unabhängig von Lob und Zustimmung des Erwachsenen. Daraus entsteht eine Beharrlichkeit bzw. ein Durchhaltevermögen, das zu einer Steigerung der Frustrationstoleranz des Kindes führen kann. Betrachten wir beispielsweise ein Kind, das schließlich nach zahlreichen Versuchen erfährt, dass es „Musik“ auf einer Klaviertastatur erzeugen kann. Sollte diese Entdeckung mit kindgerechten Impulsen von einem Klavierlehrer positiv verstärkt werden, wird das Kind möglicherweise dadurch motiviert sein, bestimmte Fingerübungen auf der Tastatur immer wieder vorzunehmen, obwohl die Sonne scheint und sie das Kind normalerweise zum Spielen nach draußen locken würde. Wie es solchen Herausforderungen zu dieser Zeit begegnet, wie es die für sich richtige Lösung findet, spielt auch in seinem späteren Leben eine sehr wichtige Rolle. Wird das Kind selbst die Initiative ergreifen, um auf Entdeckungsreisen zu gehen, oder wird es passiv abwarten und sich schließlich an der Zustimmung der Erwachsenen orientieren?

2.3 Welche Rolle spielt der Erwachsene in diesem Lernprozess?

Wie können wir die Kindesentwicklung fördern? Welche Förderangebote können wir kleinen Kindern bieten, um ihre Intelligenz zu fördern und ihre Persönlichkeit zu stärken?

Der Philosoph und Pädagoge Heinrich Jacoby (1889–1964) beteuerte: „Das Kind anregen zu müssen, das glauben wir nur, weil wir zu wenig Ahnung davon haben, was jeder Mensch an Entfaltungsmöglichkeiten mit auf die Welt bringt“ (Aly 1988, 9). Auch seine Zeitgenossin, die Familienärztin Emmi Pikler (1902–1984), hat davor gewarnt, dem Kind Lösungsstrategien auf einem Tablett zu präsentieren, denn „ein Kind, das durch selbständige Experimente etwas erreicht, erwirbt ein ganz andersartiges Wissen, als eines, dem die Lösung fertig geboten wird“ (Pikler 1988, 73). Sonst kann es zu leicht passieren, dass „das Kind das Experimentieren einstellt, unselbständig, passiv wird und sein ganzes Interesse den Erwachsenen zuwendet“ (Pikler 1982, 87).