Modern Wargames - Jorge Maga - E-Book

Modern Wargames E-Book

Jorge Maga

2,1

Beschreibung

Gewalttätige Kriegsspiele sorgen schon heute für kontroverse Diskussionen, aber was wäre, wenn die reale Welt und die Cyberwelt des Computers immer weiter verschmelzen würden? Der Leser begleitet Eric und seine Familie, die glücklich in Nouveau-Paris leben. Diese moderne unterirdische Metropole liegt im verschneiten Norden unseres Globus, den eine neue Eiszeit fest im Griff hat. Doch das Glück ist trügerisch. Zu sehr vertraut Eric auf die moderne Technik und die vermeintlich friedvolle Weltregierung, die ein Überleben der Menschheit nach dem Klimagau erst möglich gemacht haben. Dazu spielt Erics Sohn Frederik für sein Leben gerne „Modern Wargames“, ein neues, extrem realistisches Computerspiel. Aber er tut dies heimlich, da seine Eltern nichts für solche Gewaltspiele übrig haben. Ein folgenschweres Unglück und die Freundschaft mit einer Familie aus der normalerweise unerreichbaren gehobenen Klasse wirft ihr ruhiges Leben aus der Bahn und ermöglicht ihnen Einblicke in eine verlogene und intrigante Welt, in welcher die Grenzen zwischen real und irreal kaum noch greifbar sind. Es wäre vielleicht besser für sie gewesen, diese Realität nie entdeckt zu haben …

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Inhalt

Modern Wargames

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Impressum

Modern Wargames

Roman von Jorge Maga© 2011

Über den Autor

Jorge Maga wurde 1964 in Göttingen in eine Musikerfamilie geboren. In Bochum ging er bis zum Abitur zur Schule. Nach einer kleinen und ereignisreichen Odyssee über Berlin und Alsfeld (Hessen) entschlossen sich er und seine Frau mit ihren zwei Kindern nach Andalusien auszuwandern. Dort arbeitete Jorge Maga zunächst als Grafikdesigner und aus dieser Tätigkeit heraus als freischaffender Fotograf und Autor. Unter anderem schrieb er mehrere Jahre lang unterhaltsame Reiseberichte für ein deutschsprachiges Magazin an der Costa del Sol. Mehr über ihn und seine Arbeit ist auf seiner Homepage zu finden. (www.das-maga-zin.com) 

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Frederik steht auf einer leichten Anhöhe, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Vor ihm klaffen die Ruinen altertümlicher Betonbauten wie abgefackelte Bohrtürme im Sumpf von Öl und Schlamm. Ein paar dornige Sträucher trotzen dem trostlosen Klima und versuchen mit ihren kleinen grünen Blättern ein wenig Farbe und Leben in die graue Winterlandschaft zu tupfen. Die possierlichen kleinen Ratten, die zwischen all den Trümmern nach Nahrung suchen, berührt das nicht weiter. Diese Überlebenskünstler mit den glänzenden schwarzen Knopfaugen und den kleinen kreisrunden Öhrchen wuseln emsig durch die verstreuten Trümmer und suchen unermüdlich nach etwas Nahrhaftem. Auf der linken Seite, hinter den Ruinen der alten Stadt, erheben sich stattliche Berge, die einmal von prächtigen Wäldern bedeckt gewesen sein müssen. Doch die vertrockneten Holzgerippe, welche davon noch übrig geblieben sind, unterstreichen lediglich die düstere Stimmung von Sterben und Tod dieser unheimlichen Szenerie. In der Ferne verdunkeln auch noch gewaltige Rauchsäulen den Himmel und verhindern, dass die Sonne wenigstens ein bisschen Wärme verbreiten kann. Statt dessen bläst ein eisiger Wind von hinten und fegt ein Gemisch aus Schnee und Asche über den frostigen Boden.

Frederik spürt nichts von der Kälte, soweit ist die Technik nicht fortgeschritten, obwohl seine Ausrüstung das Neueste ist, was die Waffenindustrie zu bieten hat, selbstverständlich sicher gegen alle Wetter- und Umwelteinflüsse, auch gegen die meisten der antiquierten Schnellfeuerwaffen seiner hoffnungslos unterlegenen Gegner. Sie bietet auch gegen die moderneren Laserkanonen einen ausreichenden Schutz, die extrem hitzebeständige Ummantelung hält lange genug Stand, um sich in Sicherheit zu bringen. Und wenn sie ihn mal an empfindlichen Stellen erwischt haben, sind ihm höchstens ein paar Kabel durchgeschmort. Da sind die Granaten unangenehmer. Jedes Mal, wenn er von solchen getroffen wird, gibt es blaue Flecken und er muss sich ein Healthpackage suchen, um wieder zu hundert Prozent einsatzbereit zu sein.

Im Augenblick ist alles ruhig. Frederik durchsucht im Telemodus die Ruinen nach feindlichen Rebellen. Nichts Ungewöhnliches ist zu sehen. Der Blick auf die eingeblendete Karte im Monitor verrät ebenfalls nichts, zumindest werden keine Lebensformen angezeigt. Frederik wagt den Einsatz des Flightjackets, wählt ihn aus der Liste und hebt ab. Das ist immer das Größte, abheben und tatsächlich das Gefühl haben, über der Landschaft zu fliegen. Dieser Realismus wurde erst mit den neuen Home-Server-Units mit Fullbodycontrol möglich. Und dieser Begriff ist wörtlich zu verstehen. Frederik steckt in einem unbequem wirkenden Kunststoffanzug mit unzähligen Drähten und komplizierter Hydraulik, der computergesteuert jede Bewegung des Körpers direkt in den Rechenprozess integriert, umgekehrt jeden Einfluss, der den Körper betrifft, unmittelbar zurück gibt. Frederik macht sich in seinem jugendlichen Eifer keine Gedanken über diffizile mechatronische Zusammenhänge, ihn interessiert nur das unheimlich reale Feeling, das er hier erleben kann. Der absolute Traum eines jeden Computerspielezockers. Daher konzentriert er sich völlig auf die zu lösende Aufgabe und die einzusetzenden Strategien, kurz, worauf er achten muss, um zu gewinnen.

Er schwebt zügig und umsichtig über das Trümmerfeld, nicht zu hoch, um nicht zu schnell entdeckt zu werden. Vorne rechts liegen einige zerbombte Panzer, schräg dahinter laut Computer die Zielkoordinaten. Die Frage ist, ob der direkte Weg sicher ist. Meistens nicht, das zeigt die Erfahrung, aber Frederik liebt das Risiko. Schon ist er an den Panzerwracks vorbei, jetzt über die wie Toastbrotscheiben aufgeschichteten Betondecken eines zusammengebrochenen Wohnhauses. Plötzlich, er hat es gewusst, von links, aus dem dunklen Rachen eines ehemaligen Metrozugangs, eine Boden-Luft-Rakete. Keine Chance. Sind die also immer noch in der U-Bahn, schießt es ihm durch den Kopf, da wird er von der Detonation herumgeschleudert.

Schnell richtet er sich auf, rückt seinen Helm zurecht und logt sich wieder ein. Zum Glück war auf der Anhöhe ein Speicher-Terminal, um dort einen neuen Startpunkt zu setzen. Während die Daten geladen werden, überlegt er sich eine neue Strategie, um den Gegner im U-Bahn-Schacht zu eliminieren, gleichzeitig nicht zu viel Zeit zu verlieren, denn diese läuft ab, gnadenlos. Zehn Minuten hat er noch, um das versteckte Radar der Rebellen zu zerstören. Schafft er es vorher, hat er die Chance, auf der Bestenliste wieder ganz nach oben zu kommen. Also, tief durchatmen, wieder das Flightjacket wählen und diesmal bei den Panzern landen.

Dort angekommen tauscht er zunächst das Flightjacket gegen einen tragbaren Raketenwerfer und schleicht sich vorsichtig zu der Betonruine, hinter der sich der Metroeingang befindet. Auf einmal hält er inne. Unwahrscheinlich denkt er sich. Die Details sind unglaublich. Er ist ja sowieso jedes Mal begeistert von der absoluten Realität des Modern Wargames, aber ab und zu verschlägt es ihm den Atem. Auf dem Boden liegen nicht nur Wrackteile, das wäre zu erwarten. Nein, das geht weiter über alten Hausmüll, kaputte Möbel, verlorene Wäschestücke, alles, was herumfliegen könnte und von Eis und Schnee wie in einer gigantischen Tiefkühltruhe eingefroren und dem weiteren Einfluss der Zeit entzogen ist. Wer denkt sich das alles aus? Und der immense Aufwand, diese detaillierten Landschaften zu programmieren. Er erinnert sich gut an die Erkundung eines verlassenen Flüchtlingslagers. Als dort zwischen all den typischen Lagerresten verhungerte Kinder herumlagen, hätte er beinahe die Escape-Taste gedrückt. Das war hart an der Grenze. Aber was will er erwarten. Es ist ein superheftiges Kriegsspiel, und bestimmt nicht für Kinder gemacht. Oh ja, da hört er in Gedanken schon seinen Vater reden. Gibt es nicht auch friedliche Spiele? Musst du immer kämpfen und töten? Aber das ist doch nur ein Spiel. Meine Güte! Ich würde doch niemals wirklich töten, diskutiert er sogar schon in Gedanken mit seinem Vater. Wie gut, dass er Modern Wargames getarnt spielen kann. Seine Eltern glauben, er würde in einem Bergwerk mit anderen um die Wette buddeln. So was Uncooles. Er geht lieber heftig ran. Da muss es richtig brodeln, wie in Modern Wargames eben. Absolut real. Und absolut geil, wie man früher gesagt haben soll.

Eine Granate detoniert wenige Meter neben ihm und schleudert ihn zu Boden. Das kommt davon, wenn die Gedanken woanders sind, tadelt er sich selbst. Schnell rafft er sich auf, will seinen Raketenwerfer laden, was aber nicht geht, denn sein linker Arm blockiert. Das darf doch nicht wahr sein, denkt er sich, die haben mir einen Arm abgesprengt. Frederik überfliegt seine Waffenliste. Dann eben auch Granaten, den Werfer kann er mit einer Hand bedienen. Vorsichtig schleicht er weiter. Hinter ihm eine weitere Detonation. Ein Glück, sie wissen nicht genau, wo er ist. Schnell ein paar Haken schlagen und zwischen den aufgeschichteten Betonplatten durchschieben. Das ist problematisch mit einem fehlenden Arm. Mühsam gelangt er an das andere Ende des eingestürzten Wohnblocks. Vorsichtig schiebt er sich in seiner defekten Montur an den Rand und sieht sich um. Dort, hinten links ist der Metroeingang. Die ballern einfach blind in seine Richtung und trauen sich dafür nicht einmal aus ihrem Loch. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Frederik nimmt den Eingang ins Visier, drückt ab, die Automatik feuert gleich mehrere Granaten, alle ins gleiche Ziel. Er wartet, bis sich der Rauch verzogen hat. Keine Geschosse kommen mehr aus dem Aufgang, wieder ein Problem erfolgreich gelöst.

Jetzt noch das Radar. Es bleiben sieben Minuten, weit mehr als genug, denn er kann es da hinten schon sehen. Berechnend montiert er eine Sperrfeuerkanone, die schießt eine Minute lang auf alles, nur nicht auf ihn. Das müsste reichen, um rüber zu laufen, die Sprengladung zu befestigen und mit dem Flightjacket abzuhauen. Er zündet die Waffe und rennt los. Rechts und links pfeifen die Kugeln an ihm vorbei, dazu feuert ein Laser auf alles, was sich bewegt, sei es umherfliegender Müll, ein Vogel oder eben auch mal ein Gegner, falls sich einer in dieses Feuerwerk verirrt. Das Laufen gestaltet sich zwischen den Trümmern schwieriger als erwartet und mehrmals verliert er beinahe die Balance. Endlich hat er das Radar erreicht, die Kanone schießt immer noch eine Salve nach der anderen und bietet einen gewissen Schutz. Die Sprengladung ist angebracht und der Zeitzünder läuft, es bleiben zehn Sekunden.

Das Sperrfeuer hört auf, Frederik startet sein Flightjacket, wird jäh von einer Granate getroffen und stürzt hart zu Boden. Trotzdem rafft er sich auf, wählt die Bazuka und zielt in die Richtung, aus der er beschossen worden war. Wenn ich schon ein weiteres Leben verliere, dann will ich wenigstens noch ein paar Punkte für abgeschossene Gegner. Die Mission ist sowieso fertig, denkt er sich und ballert wie wild, bis er von der Explosion seiner eigenen Bombe herumgewirbelt wird.

Wow, so macht das Spaß ... Frederik setzt sich auf den Boden und checkt den Spielstand. Ja! Wieder oben auf der Bestenliste! Peacemaker ist eben der Beste! Jedes Mal freut er sich über seinen gelungenen Codenamen. Er ist sich sicher, dass von denen da draußen doch keiner versteht, warum er sich so nennt. Die anderen haben in der Zwischenzeit ebenfalls ihre Aufgaben erfüllt, jedoch nicht so schnell und effizient wie er. Es war eine kurze Mission, so bleibt ihm noch Zeit, bevor er die Serverunit verlassen muss, weil seine Stiefmutter anschließend damit arbeitet. Er fragt kurz die Gewinndaten ab, 50.000 Punkte dazu, insgesamt ist er damit bei 950.000 Punkten, bei einer Million gibt es eine Extraprämie. Diesmal bekommt er zusätzlich zu der normalen Gewinnerprämie von 500 Dollar den Jackpot für den Besten, weitere 2.500 Dollar, die umgehend auf sein Konto überwiesen werden. Es hat sich mal wieder gelohnt. Frederik lehnt sich bequem zurück, genießt noch einmal kurz das Siegerglück und fährt in Ruhe den Server herunter.

2

Frederik verlässt die Steuerkabine der Homeserver-Unit, von den meisten kurz UNIT genannt. Sie ist eine geniale Erfindung, ermöglicht sie es doch, an einer Arbeitsstelle zu arbeiten, die auf einem anderen Kontinent liegt. Dass damit ebenfalls Spiele gespielt werden können, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Da der Spieler durch das Fullbody-Kontrollsystem mit seinem ganzen Körper integriert ist, kann er stehen, sitzen, laufen. Endlich sind die Sportspiele richtig anstrengend. Aber solche Spiele sind nichts für Frederik. Arbeiten, das geht auch während seiner Pflichtausbildung, die er ein weiteres Jahr durchstehen muss, bis er endlich fertig ist. So lange kann er Modern Wargames spielen, das ist genug Training. Ganz unrecht hat er nicht, zumindest was das Training anbetrifft, denn dazu kommt der Sport in der Schule und das regelmäßige Gewichtstraining mit seinen Freunden. Das reicht, um dem Körper des Siebzehnjährigen die uncoolen Pubertätsproportionen auszutreiben, finden er und seine Freunde. Nur der Kopf, der könnte etwas mehr trainiert werden, das finden zumindest seine Eltern. Frederik ist das egal, ihm reicht es, den Abschluss der Pflichtausbildung zu schaffen, anschließend kann er endlich machen, was er will.

„Mama, die Kiste ist frei,“ ruft Frederik und kämmt sich mit seinen Fingern grob seine dunkelbraunen Locken, die sich störrisch und leicht fettig auf seine Schultern kräuseln. Lucy ist zwar seine Stiefmutter, aber sie hat sich gewünscht, dass er sie Mama nennt. Sie fände es schöner, würden sie auf diese Weise eher einer richtigen Familie gleichen. Ihm war es egal und er tat ihr den Gefallen.

„Oh, so früh schon? Und? Wieder gewonnen?“ tönt es aus dem Wohnzimmer.

„Klar, diesmal hat es sich richtig gelohnt.“ Er braucht nicht mehr laut zu rufen, denn Lucy ist in den Flur gekommen. Sie ist groß, hat geheimnisvoll schimmerndes schwarzes Haar und ist intelligent. Ein guter Durchschnitt, der dank ausgeklügelter Unterrichts-, Ernährungs- und Fortpflanzungssysteme für jeden erreichbar ist. Dicke und dumme Menschen gibt es nicht mehr, sie dienen nur noch dem Amüsement in Anekdoten und ausgesuchten alten Filmen. Manchmal denkt Frederik an seine eigentliche Mutter, die normal aufgewachsen war. Aber seine Erinnerung an sie ist verschwommen. Er war zu jung, als sie eines Tages nicht nach Hause kam, und weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Eric, sein Vater, spricht nicht mit ihm darüber. Nur eines weiß er, sie hatte nicht die übliche Standardfigur sondern war gemütlich pummelig. Seine eigene Lockenpracht hat er von ihr geerbt, und er hat es geliebt, auf ihrem Schoß zu sitzen, und sich an ihren weichen Bauch und Busen zu kuscheln. Ganz anders Lucy. Nicht dass er sie nicht mag, sie ist lieb und nett, aber eben nur lieb und nett. Außerdem macht sie sich ständig Sorgen um ihn. Sie ist doch nur seine Stiefmutter, es kann ihr egal sein, was aus ihm wird.

„Das ist ja prima. Vielleicht kannst du die Erfahrungen, die du dort beim Arbeiten sammelst, einmal gebrauchen.“

Was ein Glück, dass du nicht weißt, welche Erfahrungen ich dort mache, denkt sich Frederik und verabschiedet sich mit einem Küsschen auf die Wange seiner Stiefmutter. Er wollte weg, seine Freunde besuchen.

Lucy schaut ihm hinterher, seufzt kurz und geht zu Eric ins Wohnzimmer. Sie hat tatsächlich keine Ahnung von Frederiks heimlichem Treiben, obwohl sie seine Vorlieben für solche gewalttätigen Computerspiele kennt. Ein Thema, über das sie sich mit ihrem Mann des öfteren unterhalten hat. Sie wundert sich über Frederiks Sorglosigkeit und setzt sich auf die ramponierte Couch ihrer Sitzgarnitur, die sich über die Jahre an jene Antiquität in der Mitte angepasst hat, einem unglaublich hässlich verschnörkelten Tischchen aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

„Frederik hat wohl wieder was bei seinen Servicejob-Wettspielen gewonnen. Dafür scheint er ja immerhin ein Händchen zu haben!“ ruft sie durch die geöffnete Schiebetür, welche das Wohnzimmer mit dem Arbeitsplatz ihres Ehemannes verbindet. Auch das hatte sie sich gewünscht, nicht die Schiebetür, sondern dass Eric sie heiraten sollte. Es war seit ihrer Kindheit der größte Wunsch gewesen, eine richtige Familie zu gründen, um sich auf diese Weise von der Allgemeinheit zu unterscheiden. Keine Antwort erwartend nimmt sie ihr Glas von jenem kitschigen Ungetüm eines Tisches und trinkt den letzten Schluck ihres Vitamintrunks.

„Na ja, für mich ist das nach wie vor die reinste Ausbeuterei. Zehn Mal so viel müsste er für diese Arbeit bekommen. Ganz abgesehen von den anderen, die bei dem Wettstreit leer ausgegangen sind, ihre Arbeit aber mit Sicherheit trotzdem gemacht haben,“ moniert Eric. Ihm gefällt diese Art Wettspiel nicht. „Daraus sollten die besser richtige Servicejobs machen. Dann würde es weniger Arbeitslose geben.“

„Trotzdem ist mir das immer noch lieber, als dass er an seinem elenden Spielcomputer Krieg spielt,“ erwidert Lucy, obwohl sie grundsätzlich gleicher Meinung ist. Sie wechselt schnell das Thema. „Habe ich schon erzählt, was heute in der Parkanlage passiert ist? Ich habe dort mit Sophie auf einer Bank gesessen, als plötzlich Wolken aufgezogen sind. Und dann hat es angefangen zu regnen!“

„Das gibt es nicht! Sind die tatsächlich mit der Installation der neuen Wetteranlage fertig geworden?“ Eric ist überrascht. Er hatte zwar in den Nachrichten gehört, dass die Arbeiten fortschreiten würden, aber so schnell hatte er nicht damit gerechnet. „Und? Wie ist es?“ er erhebt sich aus seinem bequemen Drehstuhl und ist neugierig auf Lucies Bericht.

„Einfach unglaublich. So einen sanften Frühlingsregen kannte ich nur noch aus dem Kino. So was mal wieder richtig zu erleben war einfach toll. Erst zogen Wolken auf, keine Ahnung, wie die das machen ...“

„Eine neuartige Projektion, dreidimensional“ unterbricht Eric begeistert.

„Kann sein, jedenfalls wurden die Wolken immer dichter, aber die Sonne kam an einzelnen Stellen noch durch. Schließlich fing es ganz sanft an zu regnen, weißt du, dieses leise Rieseln und Rauschen, eben wie im Kino. Einfach toll.“ Lucy bekommt einen richtig verträumten Blick. „Das ist so lange her, als ich das letzte Mal im Regen herumgelaufen bin – noch bevor wir uns kennengelernt haben.“

„Bei euch gab es normalen Regen? Also bei uns in Mittelafrika hat es entweder geschüttet und gestürmt oder es war strohtrocken. Beides unerträglich. Eigentlich haben wir uns auch immer nur drinnen aufgehalten. Deswegen war die Entscheidung für mich nicht schwer, nach Europa zu gehen. Ob es über mir nun regnet oder schneit, heiß oder kalt ist, egal. Dafür wird meine Arbeit hier besser bezahlt.“

Eric ist Mitte dreißig, Fachmann für Telekommunikation, und hat als Jugendlicher das Netzwerk in der Firma seines Vaters aufgebaut und gewartet. Zusätzlich hat er diese Fähigkeit durch Studium und Kurse perfektioniert. Ganz nach oben kann er es nicht schaffen, das ist für jemanden aus der Server-Class nicht möglich. Sein Vater war nach dem Klimagau zur falschen Zeit am falschen Ort, hat das Beste daraus gemacht und seinem Sohn einen guten Start ermöglicht. Es war seine Idee, Eric zum Telekommunikationstechniker auszubilden, und er hat richtig damit gelegen. Nach dem GAU war das gesamte Kommunikationsnetz zusammengebrochen. Vieles konnte zwar schnell wieder in Betrieb genommen werden, aber es bleibt genug Arbeit. Die gesamte Nordhalbkugel war in kürzester Zeit unbewohnbar, es gab eine Völkerwanderung in die südlichen Regionen, wie es diese Welt bisher nicht erlebt hatte. Erst nach zwanzig Jahren werden die ersten Siedlungen im Norden errichtet, dringend benötigte Meisterwerke der Architektur, die dem widrigen Klima trotzen. Zu viele Menschen drängen sich auf der Südhalbkugel, ein brisantes Problem. Außerdem sollen die Rohstoffe der Nordhälfte wieder genutzt werden. Diese waren so wertvoll geworden, dass sich der immense Aufwand rechnet. Als eine neue Ansiedlung im Herzen Europas aufgebaut werden sollte, direkt auf dem Zentrum des alten Paris, wurde Eric angeboten, als Chefingenieur die Installation und Wartung des gesamten Kommunikationsnetzes der Stadt zu überwachen. Ein Traumjob und Pionierarbeit dazu. Besser hätte es Eric nicht erwischen können. Natürlich hatte er sofort zugesagt, und wenn er behauptet, er hätte dies wegen des besseren Verdienstes gemacht, ist das pure Untertreibung. Und Lucy weiß das.

„Du hast gut reden. Erzähle mir doch nicht, dass du nur wegen des Geldes hier bist. Einen Traumjob hast du.“

„Aus dem Du ja wohl genauso Nutzen ziehst,“ erwidert Eric mit einem schelmischen Grinsen, das sein wettergezeichnetes Gesicht unter dem braunen Igelschnitt gerissener erscheinen lässt. Nicht umsonst hat sich Lucy diesem Mann gleich zugetan gefühlt, als sie ihn kurz nach ihrem Umzug nach Nouveau-Paris kennengelernt hatte. Und dass sich dieser Mensch dazu als ein intelligenter, anständiger, kurz idealer Lebenspartner herausgestellt hat, perfekt! In dieser Lage muss Lucy nicht arbeiten, aber den ganzen Tag herumsitzen ist genauso nichts für sie. Und nicht Müssen hat seine großen Vorteile, zum Beispiel kann sie bei der Job-Suche wählerisch sein und braucht nicht jedes erstbeste Angebot annehmen. Das ist der Grund, weshalb sie erneut auf der Suche ist. Der Job, den sie zurzeit hat, ist nicht begeisternd. Sie serviert in einem Hotel in Puerto Rico und hatte gehofft, auf diese Weise wenigsten ab und zu etwas Ähnliches wie ein Heimatgefühl zu erhaschen. Nichts dergleichen. Zum einen kommt das Feeling trotz moderner Technik nicht über die Kabel und Sender, wenn sie über die Unit den Roboter dort steuert. Zum anderen meinen die Hotelgäste, sie könnten mit einem Roboter machen, was sie wollen. Sie vergessen zu schnell, dass dieser von einem Menschen gesteuert wird, der das alles erdulden muss. Sie wünscht sich, dass bald einer der Plätze in einem Privathaushalt frei wird, die ausschließlich an „Trusted Server“ vergeben werden, ein Titel, den bisher wenige Server mit viel Mühe und Erfahrung, spezieller Ausbildung und einwandfreiem Ruf erhalten haben. Und Lucy hat sich diesen Titel erarbeitet und hofft, dass sie es an einem solchen privaten Arbeitsplatz mit interessanteren Menschen zu tun hat. Im Augenblick sind ihre Gedanken jedoch in der Vergangenheit versunken, in ihrer ehemaligen Heimat.

„Oh ja, es gab da wirklich noch normalen Regen, diesen sanften Frühlingsregen. Natürlich nur manchmal. Meistens hat es auch bei uns nur in Strömen gegossen. Doch ab und zu gab es genau diesen sanften Frühlingsregen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal nach Regen sehnen würde. Es sind schon merkwürdige Zeiten.“

Eric seufzt. Deutlich erinnert er sich an die Abende, an denen sein Großvater von seiner Kindheit schwärmte, der guten alten Zeit. Damals, zur Jahrtausendwende, konnten sie draußen auf der Wiese vor ihrem Haus am Waldrand spielen. Da sollen zwar die ersten Vorboten des Klimagaus bemerkbar gewesen sein, aber sie wurden gründlich ignoriert und als Kind habe er nichts davon mitbekommen. Das war Stoff für Film und Fernsehen, die Realität sah anders aus. Und seine Eltern? Die hätten andere Probleme gehabt. Politik, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen und Kriege. Wen habe da das Klima wirklich interessiert. Und dann sei das passiert, vor dem all jene als Pessimisten abgestuften Wissenschaftler eindringlich gewarnt hatten. Nicht so, wie sie es erwartet hatten, es gab zu viele unbekannte Faktoren, die das globale Klima beeinflussten. Letztendlich war es von allen Prognosen etwas. Irgendwie wird es schon weitergehen, soll die Devise seiner Eltern gewesen sein, eine weitverbreitete Meinung zu jener Zeit. Sie hätten ja auch gut reden gehabt, hatten sie selbst die Folgen ihrer Ignoranz nicht zu spüren bekommen. Eric erinnert sich, wie die schwärmerische gute-alte-Zeit-Stimmung seines Großvaters an dieser Stelle seiner Erzählungen jedes Mal in Frust und Resignation umschlug. Es ändert auch nichts mehr, denkt Eric sich, er lebt in der Welt nach dem GAU, und versucht das Beste daraus zu machen. Dass er mit dieser Einstellung seinen Urgroßeltern erschreckend gleicht, gesteht er sich nicht ein.