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Kurt Christmann

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Beschreibung

Ludwig Wertheimer, der irdische Vertreter des Heiligen Stuhls im oberbayerischen Flecken Rossmarktl unweit von Altötting war ein Mann, der mit beiden Beinen inmitten seiner Gemeinde stand: Ein Seelsorger, Menschenversteher und Helfer aus Leidenschaft. Mit milder Strenge, aber größtem Interesse, nahm er seinen Schäfchen gerne die Beichte ab. Dieser religiösen Reinigung bedurfte er allerdings selbst am meisten, es stand nämlich plötzlich für ihn alles auf dem Spiel. Besonders, als er von seinem gefestigten Lebensweg plötzlich in die Unwegsamkeit eines Labyrinths geriet Der Pfarrer war erheblich mit himmlischen und irdischen Gesetzen in Konflikt geraten. Als katholischer Geistlicher spielt man halt nicht im Lotto, und schon gar nicht gewinnt man dort. Und noch weniger hat ein Hochwürden etwas in einer Spielbank verloren, auch nicht incognito. Pfarrer Ludwig war dazu ein Träumer. Nach der Jugendzeit in seiner hessischen Heimat in der Nähe von Limburg an der Lahn und den unseligen Erlebnissen an der Ostfront träumte er von einer besseren Zukunft für die Jugend und sogar von der Öffnung seiner Kirche, entledigt nicht nur vom Zölibat. Vor allem aber war er ein lebenslustiger Genießer. Hin- und hergerissen zwischen Amt und Gemeinde und den schönen Seiten des Lebens. >An diesen Tagen war Pfarrer Ludwig Eins mit seinen Schäfchen und sie mit ihm, man konnte wirklich Pferde mit ihm stehlen, dem Hochwürden< Die wendungsreiche Handlung spielt im oberbayerischen Altöttinger Land der sechziger Jahre. Durch Zeitsprünge in die Jugendzeit des Pfarrers Ludwig findet man sich aber auch in Dauborn nahe Limburg an der Lahn wieder, denn dieser ist hessischen Ursprungs. Eine kurzweilige Erzählung, die durch ihre bildhafte Sprache mitnimmt in die Zeit von Hirtenbriefen und verrufenen Mischehen, von Disziplin, Ordnung und Benehmen - und dem Gegenteil davon. Zum mitfühlen, mitfiebern, zum nachdenken und vor allem zum mitlachen. Zutiefst menschlich.

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Seitenzahl: 373

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Die Wege des Herrn sind unergründlich

Paulus an die Römer

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Oh´ Mensch, lerne tanzen! Sonst haben die Engel im Himmel keinen Grund, um zu singen.

In Anlehnung an Aurelius Augustinus

Prolog

„Es muss sich was ändern!“

Ludwig Wertheimer hatte in einem halben Lebensjahrhundert schon Erlebnisse und Erfahrungen gesammelt, die ebenso gut die doppelte Zeitspanne hätten ausfüllen könnten. Immer angetrieben von der anerzogenen inneren Einstellung, sein Bestes geben zu müssen. Er kam 1911 im mittelhessischen Dauborn zur Welt und hatte später fast den ganzen Krieg an der Ostfront mitmachen müssen. Nicht aus Überzeugung, nein, es war eher Pflichtgefühl und Gehorsam gegenüber seinem Dienstherrn. Ludwig Wertheimer war nämlich im Auftrag der katholischen Kirche als „Kriegspfarrer auf Kriegsdauer“ zum Dienst in der Wehrmacht verpflichtet worden. Nach den schier endlos-entsetzlichen Wirren landete er nach der Kapitulation in Bayern, wo er schließlich 1954 in Rossmarktl im Chiemgau eine kleine Gemeinde und somit eine neue Heimat fand. Die Jahre des Wiederaufbaus waren für alle „Änderung in Reinkultur“. Beileibe nicht nur, weil damals gerade überall die Häuser an Abwasserkanäle angeschlossen und die ersten Motorräder gegen VW-Käfer getauscht wurden.

Ganz anders die katholische Welt des Pfarrers. Hier hatte sich gefühlt seit Jahrhunderten nichts getan, und es sah auch nicht so aus, dass Reformen oder gar eine Reformwelle bevorstand. Diejenigen, die das Sagen hatten, dachten allem Anschein nach gar nicht daran, Fenster und Türen zu öffnen, damit frische Luft hereinströmen konnte. Im Gegenteil. Man war in den kirchlichen Führungsetagen stolz darauf und genauestens bedacht, alles Althergebrachte wie einbetoniert zu erhalten und vor allem jede der „allzu bewährten“ Formalitäten und hohlen Regeln unverrückbar zu zelebrieren - als ob das das Wichtigste wäre, um einen Glauben zu verkünden. Und die Jugend, der sich der Gottesmann so stark verbunden fühlte, war drauf und dran, aufzubegehren.

„Unter den Talaren, der Muff aus tausend Jahren“

war eine der neuen Parolen. Obwohl doch die Eltern nichts anderes im Sinn hatten, als dass es ihren Kindern besser gehen sollte als ihnen, der geschundenen Generation. Es muss sich was ändern, sonst kommt der Tag, an dem wir mit unserer Jugend die Zukunft verlieren, sagte sich Pfarrer Ludwig immer öfter. Wenn schon nicht im Großen, dann wenigstens hier bei mir im kleinen Rossmarktl. Er hatte auch schon ein Motto: Zukunft braucht Herkunft, alles fließt.

Ludwig besann sich auf sich selbst, nämlich immer das Beste zu versuchen. Vor allem in seiner Rolle als Seelsorger, Menschenversteher und Helfer aus Leidenschaft. Und warum sollte das nicht auch hier in der kleinen bayerischen Welt möglich sein?

„Vater unser“,

hatten sie im Jugendclub gefragt,

„wie könnte das eigentlich im Jahr 2000 klingen?“

Und er hatte sich mit einigen an die Arbeit gemacht. Ein kühnes Experiment in eine Zeit, in der wahrscheinlich alles möglich sein wird, dachten sie sich…

Auch für den Pfarrer selbst stand plötzlich mehr auf dem Spiel als gedacht. Denn er hatte in seinem Heimatdorf als Jungendlicher auch gelernt, dass das Leben nicht nur aus Pflichten bestand, sondern auch aus der Kür. Das Leben bedeutete dort schon immer auch Lebens-Lust. Da sollte sich Jeder genug um sich selbst kümmern, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Und Ludwig Wertheimer wollte ganz sicher nicht auf der Strecke bleiben. In der steten Hoffnung, dass die „Strecke“ nicht in ein unwegsames Labyrinth führen und schließlich in einem Beichtstuhl-Desaster enden würde. Aber manchmal war die Praxis eine andere, als es alle Theorie vermuten ließ…

Pfarrer Ludwig stand auf und öffnete das mittlere Schrankfach. Er goss sich einen wohlmeinenden Schluck von seinem leckeren Asbach uralt in einen großen Schwenker. Dieser Rüdesheimer Weinbrand gehörte für ihn zusammen mit seinem Fegefeuer, letzteres erinnerte ihn jedes Mal an den unverwechselbaren Dauborner Korn aus der fernen Heimat, in die obere Liga seiner überaus geliebten geistigen Getränke. Das waren seine Momente, und sie waren nicht selten. Ludwig ging zum Fenster. Er ließ die guten Tropfen langsam im handwarmen Glas kreisen, genoss das sich ausbreitende Aroma und nahm einen neugierigen ersten Schluck. Der Abgang war genussvoll-vertraut wie immer.

Unbestimmt schaute er zwischen den Gardinen hindurch in den Pfarrgarten. Die Frühjahrssonne ließ die vielen Grüntöne paradiesisch erscheinen, ein Hochamt der Natur. Das hatten auch zwei Amseln und der kleine Stammgast, ein rotbraunes Eichhörnchen, zu schätzen gelernt. Seine Gedanken gerieten zu einem großen imaginären Strauß. Es war ein opulenter Strauß bestehend aus wunderbaren Blumen, keine Farbe schien zu fehlen. Allerdings waren einige davon bereits verwelkt – merkwürdig. Noch merkwürdiger fand Ludwig, dass es sogar überdimensionale Stacheln an zwei Blumenstängeln gab, die sich gefährlich seinen Fingern entgegen streckten. Was hatte das zu bedeuten?

Man muss sein Leben vorwärts leben, aber den Erinnerungen einen friedlichen Platz geben, dachte Ludwig und leerte sein Glas mit einem Zug. Dann ging er zu seiner Marie-Luise, die er in der Küche hantieren hörte.

I

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Vater unser im Himmel, Du hast uns nach Deinem Willen geschaffen, Du bist der Herr über uns und das Universum. Dein Wille geschieht, mit oder ohne unseren Verstand.

Es war keine übliche Beerdigung, zu der sich die Angehörigen der Verstorbenen auf dem idyllischen Friedhof der kleinen Gemeinde Rossmarktl im Dreieck zwischen Inn und Salzach im tiefsten Oberbayern versammelt hatten. Normalerweise erfasste ein derartiger Anlass den ganzen Ort, löste Mitgefühl, Trauer, zuweilen Bestürzung aus. Und die Kondolenzen am offenen Grab schienen nicht enden zu wollen, bevor man sich endlich im Wirtshaus Zum Hirschen entspannen konnte. Bei der nunmehr Verschiedenen, es war die 68-jährige Bäuerin Theresa vom Holzner-Hof, war es anders. Es lag eine gewisse Teilnahmslosigkeit über dem Ort. Jeder ging seinem Tagwerk nach, und das war am 30. Mai anno 1962 nun mal die Heumahd. Der Geruch des duftenden Heus konkurrierte ländlich-unnachahmlich mit der Schwere vereinzelter Misthaufen, die zu dieser Jahreszeit tägliche Rekordstände erreichten. Die Sonne sorgte für einen tadellosen Frühsommertag – auch das kein gutes Omen für eine Beerdigung, besonders für die Hauptperson im Sarg. Kein Zweifel, die Trauer galt nur unwesentlich der Verblichenen. Umso größer war die Anteilnahme mit den Hinterbliebenen. Der Bauer Antonius Holzner und seine beiden Söhne Gerhard und Florian waren allesamt rechtschaffene und stattliche Männer. Alle drei mit Bart, der Vater freilich trug mit Stolz einen ausladenenden Schnauzbart, der die freundlichen Augen zu unterstreichen schien. Sie wirkten äußerlich erstarrt und gedankenverloren. Ihre zwiespältigen Gefühle in dieser Stunde konnten diejenigen, die die Familie näher kannten, geradezu mit Händen greifen. Und das waren nun mal alle Rossmarktler. Niemand konnte einen Zweifel daran haben, dass diese drei aus demselben Holz geschnitzt waren und sich auch prima verstanden, ja stolz aufeinander waren. Der Pfarrer hatte in seiner Ansprache viel von Sündenvergebung und der Gnade des Herrn im Himmel und auf Erden gesprochen. Die Trauergemeinde hörte es mit unbewegten Blicken und machte sich ihre eigenen Gedanken. Und sie war erfüllt von zunehmender Ungemach angesichts der makellosen Sonne.

Toni Holzner dachte drei Tage zurück. Es war kein guter Tag gewesen. Seine Frau Theresa war wieder schlecht gelaunt gewesen, besonders schlecht sogar. Sie hatte an allem etwas auszusetzen, selbst die acht Milchkühe blieben heute hinter ihrer Erwartung zurück. Ganz zu schweigen von ihrem Toni. Der im Ort allseits beliebte Bauer hatte sich nämlich beharrlich geweigert, ihren unablässigen Nörgeleien und Forderungen, er solle sich endlich ändern, nachzukommen. Unter „ändern“ verstand die Angetraute nämlich, dass sich ihr Mann seines eigenen Willens komplett entledigte.

„Bevor es soweit kommt, jag´ ich Dich vom Hof!“,

schimpfte dann der zornesrote Toni. Es war bis auf die Straße zu hören.

„Ja, ja, das könnte Dir so passen!“

war die übliche, geifernde Antwort bei dieser ehelichen Routine geworden. Es schien immer mehr, als könnte nur ein gehöriges familiäres Gewitter die Hausmacht der Bäuerin ein-für-allemal…, na ja.

Der Blitz schlug ein, als Toni seinen Hut für´s Wirtshaus aufsetzte. Theresa geriet dermaßen in Rage – sie kam gerade die Treppe herunter – , dass sie einen Zinnkrug aus dem Wandregal neben dem obersten Treppenabsatz herausriss. Diesen schleuderte sie wutentbrannt samt Klappdeckel quer durch die Stube in Toni´s Richtung.

„Du bleibst hier! Immer diese Sauferei! Das mache ich nicht mehr mit!“

Die gute Nachricht für den zu Tode erschrockenen Toni war, dass ihn der Krug klar verfehlte und polternd unter dem Dielenschrank verschwand. Die schlechte Nachricht für die entsetzt schreiende Theresa war, dass sie das Gleichgewicht verlor und kopfüber auf mehreren Treppenstufen aufschlug. Unten angekommen, war sie tot, wie der eilig aus dem Nachbarort herbeigerufene Dr. Berlinger bestätigte. Genickbruch. Toni setzte seinen Hut wieder ab. Seine Söhne standen fassungslos da und wussten nicht mit der entsetzlichen Situation umzugehen. Nachdem der Doktor gegangen war, setzten sie sich schweigend an den großen Tisch und tranken Schnaps. Wie oft hatten die drei, jeder auf seine Weise, schon gedacht, wie es wohl weitergehen sollte. Jetzt wussten sie es, und es tat weh, dass ihnen kein Familienglück beschieden war mit ihrer Mutter. Der Rest bis zur Beerdigung waren alles Formsachen. Die Nachbarn bemerkten, dass der Toni alle Fenster drei Tage und Nächte offen hielt. Es schien, als sollte Theresas Seele ungehindert ausziehen und gleichzeitig ein frisches Klima einziehen können.

Am nächsten Tag war die Stimmung im Hirschen prima. Gustl Fichtner dirigierte hier höchstpersönlich und unumschränkt das örtliche Spinnennetz. Der Wirt strahlte normalerweise nur aus zwei Gründen: Entweder, es gab wichtige Neuigkeiten, wozu selbstverständlich ganz besonders alle Arten von Gerüchten zählten. Oder es wurde überreichlich geordert. Heute war beides der Fall. Antonius Holzner war aus gegebenem Anlass natürlich nicht zugegen, was an und für sich schade war. Schließlich war er schon immer Einer von ihnen. Alle nannten ihn seit seiner Kindheit den Holzner-Toni. Sein Hof stammte von seinen Eltern, er war außer beim Militär nie weg gewesen. Besonders stolz war er auf seine beiden Buben, die in ihm nicht nur ihren Vater, sondern ihr Vorbild sahen. Inzwischen waren sie schon 21 und 23 Jahre alt. Mit Lederhosen, Jankerl und Hut sahen sie erwartungsvoll ihrem selbständigen Leben entgegen. Sie waren so beliebt im Dorf wie ihr Vater. Im Unterschied zu ihm aber vor allem bei den feschen Dirndln.

Nach einigen Maß Bier wandte man sich am Stammtisch vermehrt dem Schnaps zu. Und dem wahren Charakter der gestern Verstorbenen. Ihre zunehmend harmonieferne Art war nämlich ein offenes Geheimnis.

„Sie woar eine gar grantige, fettliche Bissgurken!“ Und:

„Nur rumg´schrien hots oallwei, geizig no dazua!“

„Endlich a Ruah is im Holzner-Hof!“

„Der saubere Toni, boald is er wieder der Oide, unser Spezi hoalt“, war da zu hören. Und so war am Ende die ganze Beerdigung eine reine Formsache: Hinablassen, Segen, nichts von Auferstehung, Amen.

Pfarrer Ludwig atmete auf, als er die Tür des Pfarrhauses hinter sich verschloss. Er war schon fast acht Jahre Seelsorger in Rossmarktl und fühlte sich hier von Anfang an wohl. Ludwig war Jahrgang 1911, von stattlicher Statur, etwa 1,80 m groß mit langsam ergrauenden, ehemals dunkelbraunen Haaren. Seine graublauen Augen strahlten mit den sie umgebenden kleinen Lachfalten Freundlichkeit und Vertrauen aus, unterstützt von einem gepflegten Schnauzbart, vor allem aber von seiner sonoren Stimme und einem kräftigen Händedruck. Besonders seine Stimmgewalt verlieh seinen Predigten eine unnachahmliche Präsenz im Kirchenschiff. Kein Zweifel, er besaß eine natürliche Autorität. Ludwig war sich seiner Wirkung auf Andere durchaus bewusst, weshalb er stets auf sein Äußeres angemessenen Wert legte und mit einer gewissen Eitelkeit, die er bei sich beobachtete, kein Problem hatte. Im Personalausweis war als besonderes Merkmal „Narbe an der rechten Stirnseite“ vermerkt. Diese hatte er sich 1944 zugezogen, als sich ein Landser unglücklich neben ihm bücken wollte und dabei den Schaft seines umgehängten Sturmgewehrs heftig gegen die Schläfe des Kriegspfarrers schlug. Mittlerweile bescheinigte die Narbe ihrem Herrn ein gewisses Draufgängertum, das sich in ländlichen Kreisen durchaus respektfördernd auswirkte.

Bis Ende letzten Jahres lebte seine Haushälterin Marie-Luise bei ihm, dem Gemeindepfarrer. Dass sie als Mittvierzigerin inzwischen das kanonische Alter erreicht hatte, sah man ihr mitnichten an, ihr Pfarrer schon gar nicht. Sie war eine unverwüstlichfreundliche, schlanke Frau mit einer glatten, dunkelblonden Frisur, etwa einen Kopf kleiner als ihr Chef. An ihrem Oberkiefer konnte man zwischen ihren Schneidezähnen eine kleine Zahnlücke erkennen, die ihr eine mädchenhafte, warmherzige Ausstrahlung verlieh, derer sich Marie-Luise allerdings nicht bewusst war. Sie schien immer ein Lächeln auf den Lippen zu haben. Man spürte, dass sie die Menschen liebte. Niemand sollte allerdings an ihrer Entschlossenheit zweifeln, die unvermittelt aufkam, wenn es galt, Streit („Zirkus“, wie sie es nannte) zu schlichten.

Die beiden waren ein eingespieltes Team. Die Gemeinde beobachtete zwar eine „gewisse Harmonie“, stellte aber vorsichtshalber keine Fragen. Man war gut katholisch. Marie-Luise hatte nach jeder Beerdigung einen gemütlichen Kaffeetisch mit etwas Gebäck und sogar einem Himbeergeist aus der Jahrgangsflasche gedeckt. Danach gönnte sich der Gemeindepfarrer eine Brasil-Zigarre der Marke Handelsgold, deren Rauch er sich genüsslich um die Nase streichen ließ, während sein Blick auf eine kunstvoll geschnitzte Tafel fiel, die neben dem Kachelofen an der Wand hing. Darauf war „Gott ist Liebe“ zu lesen. Das waren für einen katholischen Pfarrer durchaus himmlische Momente. Besonders, wenn die gutherzige Marie-Luise sich ebenfalls des Obstlers erfreute, einmal sogar dreimal hintereinander. Das war am 13. August im Vorjahr, als die „sog.“ DDR begann, die Berliner Mauer zu bauen. Ab diesem Tag konnte sie sich nämlich nicht mehr mit ihrem geliebten Bruder aus Ost-Berlin treffen. Für Marie-Luise war das ein schwerer familiärer Schicksalsschlag gewesen.

An solche himmlischen Obstler-Momente war jetzt nicht mehr zu denken. Sein Dekan Laurentius hatte ihm zum 1. April die schon 62 Jahre alte Sophia zugeteilt. Diese hatte ihr Leben im treuen, aber strengen Dienst der Geistlichkeit versehen. Pflichterfüllung, Verzicht und Enthaltsamkeit, das waren ihre Ideale. Nachdem der Dekan bei der letzten Visitation der Gemeinde St. Martin in Rossmarktl die zugewandte Fürsorglichkeit von Marie-Luise genossen hatte und sich von ihr (leider!) sogar zum Abendessen einschließlich des edlen Messweins überreden ließ, erinnerte sich der Kirchenfürst an eine spezielle Führungsmethode namens „labora rotatio“. Diese Methode galt im Vatikan schon seit alters her als eine Art Geheimwaffe des Papstes und seiner Helfer und hatte im wahrsten Wortsinn schon zu un-geahnten Ergebnissen geführt. Kurzum: der Dekan verfügte zwei Wochen später ohne jede Begründung den Stellentausch von Marie-Luise und seiner Sophia. Letztere war ihm einfach zu alt und zu katholisch. Dabei galt Laurentius selbst unter den Pfarrern als knochentrockener Theologe von sturer, ideologischer Beharrlichkeit, verkündungsfern sozusagen. Ludwig wusste jetzt genau, warum er ihn nie so recht leiden konnte. Eigentlich hatte der Dekan ihm gar nicht so viel zu sagen. Wenn nicht der Passauer Bischof Landersdorfer diesem aus gesundheitlichen Gründen wichtige Leitungsbefugnisse auf Zeit übertragen und den Dekan damit zu seinem regionalen Stellvertreter gemacht hätte. Das war nichts weniger als ein Jammer. Der Bischof war seit 1936 im Amt. Er galt als souveräner Vertreter des Vatikans, ausgestattet mit großer Lebenserfahrung und einer gehörigen Portion Mutterwitz, kein Vergleich mit dem Dekan. Da hieß es für Ludwig und seine Pfarrersbrüder, Demut an den Tag zu legen. Dass die Altöttinger Muttergottes, der man jedes Jahr um die 30 Heilungen zusprach, sich ausgerechnet ihres hiesigen Dekans annahm oder genauer gesagt, sich diesen einmal gehörig vornahm – wer wollte damit rechnen.

Seit Sophias Einzug gab es für den Pfarrer Ludwig nachmittags eine kleine Brotzeit mit Schwarzbrot und Bergkäse, Wasser, und nur auf ausdrücklichen Wunsch einen Kaffee. Der Himbeergeist war plötzlich im Apothekerschrank verschlossen. Und die Weinflaschen, das war ihm erst kürzlich aufgefallen, waren jetzt durchnummeriert. Zu seinem Entsetzen hatte er kurz nach Ostern sogar seine fünf Pornohefte vermisst. In der morgendlichen Eile hatte er sie wohl auf dem Nachttisch liegen lassen, was sich als fatales Versäumnis erwies. Dank Sophia verschwanden diese im Altpapier und tauchten Tage später auf verschlungenen Wegen wieder im kirchlichen Jugendclub auf. Obwohl sie inzwischen recht abgegriffen aussahen, waren die Hefte insgesamt doch noch brauchbar. Seither erfreuten sich die Abendtreffs im Club St. Martin aufgeregter Beliebtheit bei der heranwachsenden katholischen Jugend. Dass es bedingt durch derlei Anregungen in dem Raum mit den beiden Tischkickern schon zweimal zu Pfänderspielen gekommen war, ist zum Glück für Kirche und Betroffene nicht nach draußen gedrungen.

Leider geriet Pfarrer Ludwig mit dem unheilvollen Abgang von Marie-Luise in ein weiteres, gehöriges Dilemma. Seine weltliche Leidenschaft galt nämlich neben Marie-Luise, Alkohol und Zigarren besonders dem Glücksspiel, seit er als Jugendlicher über erstes bescheidenes Geld verfügte. Vor Jahren hatte er sich in München ein Roulette gekauft und er besaß selbstverständlich auch ein Set Präzisionswürfel. Im Laufe der Zeit konnte er Marie-Luise davon überzeugen, dass auch gute Katholiken Spaß am Spiel haben durften. Dass es irgendwann auch um Geld ging, erhöhte nur den Spaßfaktor.

Schließlich hatte auch das Lotto seine Aufmerksamkeit erregt. Schon länger hatte Ludwig in der Montagsausgabe des Alt-Neuöttinger Anzeigers die wöchentlich gezogenen Lottozahlen verfolgt. Mit unwiderstehlicher Spannung verglich er die Gewinnzahlen mit seiner privaten Tippreihe. Als er zweimal hintereinander vier Richtige hatte, stand sein Entschluss fest: Er würde tippen! Und noch etwas stand fest: Er war „nicht ganz“ frei von Spielsucht. Das ging freilich niemand in Rossmarktl etwas an – um Gottes Willen. Sollte er tatsächlich gewinnen, würde er damit Gutes tun. Bedürfnisse gab es genug in der Gemeinde. Aber soweit war es noch lange nicht, denn er konnte ja nicht selbst wöchentlich zur Kramerin in die Schulgasse gehen und Lottoscheine ausfüllen. Das musste Marie-Luise machen. Er dachte daran, dass sie mindestens einmal im Monat nach Altötting zu ihrer Mutter fuhr, die dort bei ihrem Bruder wohnte. Da ließ sich alles diskret regeln. Er legte sich auf folgende Zahlenreihe fest, die im Unterschied zu seinen bisherigen privaten Zahlen unverändert getippt werden sollten:

7 – 8 – 16 – 17 – 25 – 27 / Zusatz-Zahl 36

Rien ne va plus! Ludwig verspürte eine seltsame Erregung. Er war jetzt Teil einer für die Öffentlichkeit unsichtbaren Welt, die eigentlich einem katholischen Pfarrer verschlossen war, hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Gewinnrisiko. Ja, es war gewiss ein Risiko für Hochwürden, am Ende auch noch eine nennenswerte Summe zu gewinnen. Das waren noch Zeiten!

Sophia jedenfalls, so hatte Ludwig inzwischen vorsichtig in Erfahrung gebracht, dachte noch nicht an Rente. Vielmehr dachte sie daran, im Pfarrhaus und in der Kirche „endlich“, wie sie meinte, für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Besonders an Letzteres legte sie zweifellos erhöhte Maßstäbe an. Ludwig quittierte die neue Entwicklung mit der Bemerkung, dass Staub auch nur und nichts anderes als Materie sei, nur halt manchmal leider an der falschen Stelle - was bei Sophia lediglich verständnisloses Schulterzucken hervorrief.

Die St. Martinskirche, jedenfalls das Kirchenschiff, stammte aus dem Jahr 1721 und entsprach weitgehend dem gotischen Stil. Auf jeder Seite gab es zwei überdimensional hohe Spitzbogenfenster, die außen von Sandsteinriemchen umrahmt waren. Eines der Fenster, es befand sich auf der Ostseite gegenüber der Kanzel, stach besonders hervor. Es zeigte ein Kreuz, zusammengesetzt aus gelben, weißen und roten Glas-Segmenten. Umgeben war das Kreuz aus einer Vielzahl von weißen, hell- und dunkelblauen sowie türkisen Mosaiken verschiedener Größe. Im Licht der Morgensonne eine wahre Farbenpracht. „Ich bin das Licht der Welt“, stand auf einer Tontafel darunter. Vom Pfarrer hatte Sophia erfahren, dass das Fenster vor einigen Jahren aufgrund eines Vermächtnisses ermöglicht wurde. Die kleine Gemeinde hätte sich so ein Kunstwerk sonst bestimmt nicht leisten können. Nein, ein Ort der Düsternis war dieses bescheidene Gotteshaus nicht.

Über dem Kirchenschiff sah man ein mächtiges Netzgewölbe, dessen Ränder in einem rost-roten Ton angestrichen waren, das hob den der Gotik nachempfundenen Stil nochmals angenehm hervor. Im Kirchenschiff gab es die üblichen unbequemen Holzbänke mit den Fußbänkchen zum Niederknien davor. Wenigstens waren diese mit einem roten Teppichvlies gepolstert. Es gab Platz für etwa 240 Personen. Vorne dominierte der Hochaltar das Gotteshaus, drei Treppenstufen erhöht. Darüber gab es nur noch das große vergoldete Kreuz. Der Altartisch war stets mit einer rundum bestickten, ansonsten blütenweißen Decke bedeckt. In der Mitte des Altars, etwas erhöht, befand sich der Tabernakel, bereit für die Aufnahme der geweihten Hostien. Rechts und links davon brannten während der Messen zwei große, weiße Kerzen. Davor befanden sich das aufgeschlagene, ledergebundene Messbuch auf einem kleinen Buchständer sowie die Kanontafeln für die Zelebration der Messe. Während der Zeit zwischen dem Karfreitags-Abendmahl und der Osternacht war der Altar freilich absolut entblößt als Zeichen der Trauer. In der Spitze des Hochaltars konnte man das kunstvoll geschnitzte Relief mit der Figur des Heiligen St. Martin hoch zu Ross bewundern, der seine Gans auf dem Arm hielt. Auch die Stirnseiten der vorderen Bankreihen waren mit Schnitzereien verziert, auf denen man die Martinsgans in unterschiedlicher Darstellung sehen konnte. Aufgrund seines Lebenslaufs ist der Heilige St. Martin Schutzheiliger der Reisenden, der Armen sowie der Reiter, aber auch der Flüchtlinge, Gefangenen, Abstinenzler und der Soldaten. Das fand Ludwig auch für sich selbst durchaus passend, selbstverständlich abgesehen von den Abstinenzlern.

Bei dem Altar stand die große, kunstvoll verzierte Osterkerze mit den Weihrauchkörnern und Nägeln auf dem Osterleuchter – Sinnbild für die menschliche Natur Christi, aber auch für seinen verklärten Leib nach der Auferstehung, während die Flamme, die nur an Ostern brannte, das Zeichen seiner göttlichen Natur darstellte. Mit etwas Abstand, rechts vor dem Altar, befand sich die Kanzel, die von einem flachen, geschnitzten Holzdach quasi wolkenartig „geschützt“ wurde. Die Kanzel war ebenfalls kunstvoll mit Motiven aus dem Leben Christi geschnitzt und ruhte auf einem mit Sandstein verkleideten Sockel. Auf der linken Seite in einer Nische unweit des Altars konnte man das Reliquienhäuschen sehen, das durch eine Glasscheibe verschlossen war. Dort wurde ein kleines Mantelstück, welches der Überlieferung nach vom Heiligen St. Martin persönlich getragen wurde, aufbewahrt. Vor der Kanzel rundeten das Taufbecken - ebenfalls filigran aus Sandstein geschlagen, eine über einen Meter hohe dunkelblaue Blumenvase aus massivem Glas sowie der ebenfalls geschnitzte stationäre Opferstock die Innenausstattung ab. Letzterer war in Anbetracht der bäuerlich-ländlichen Verhältnisse bemerkenswert geräumig und innen mit Schaumgummi ausgepolstert, um die stets willkommenen Spenden möglichst geräuschlos zu empfangen. Dem gleichen Zweck dienten zwei weinrote Klingelbeutel, die auf einem Hocker einsatzbereit lagen. Mussten nicht schon immer die Schafe ihren Hirten ernähren? Von der gebotenen Dankbarkeit zeugte immerhin die neben dem Opferstock aufgestellte Kerze mit dem Bild der Muttergottes und den großen Lettern DANKE.

Gegenüber des Altars blinkten die Orgelpfeifen mattsilber von der Empore herab und ließen ahnen, wem im Zweifel die akustische Oberhand im Hause des Herrn zustand. Das einzig Bequeme, abgesehen von dem bereits erwähnten Opferstock, war das weiche, lederbezogene Sofa in der Sakristei, welches den gemeinen Gläubigen freilich verborgen blieb.

Das ganze Gotteshaus schien in Sophias Augen erfüllt von Staub und Spinnweben, weshalb es nicht allein nach Weihrauch roch. An vielen Stellen muteten die Bänke und die Ablagen für die Gebetsbücher regelrecht klebrig an – vermutlich (und hoffentlich nur) vom vielen Angstschweiß der Gläubigen. Ganz zu schweigen vom Glockenturm; dieser war bisher scheinbar jeder Grundreinigung entgangen. Sophia fühlte sich gebraucht. Sie wollte endlich wieder mal auf etwas stolz sein können. Vielleicht, dachte sie sich, würde es sogar der Pfarrer Ludwig irgendwann bemerken und sie entsprechend loben, womöglich sogar in seiner Predigt vor der ganzen Gemeinde! Weiterer Motivation bedurfte es nicht. Niemals jedoch würde sie auch nur einen dieser Gedanken preisgeben.

Damit hatte sich das pfarrhäusliche Aufgabenspektrum unvermittelt rasant weiterentwickelt. Zum Leidwesen von Hochwürden. Dieser empfand durch Sophias Aktivitäten jeden Tag erneut eine stumme Kritik an seiner Person, wie er in der Vergangenheit solche Zustände hat dulden können. Und nicht zuletzt war es eine konkludent-unverhohlene Kritik an seiner Marie-Luise. Auch den Besuchern fiel die gespannte Unruhe auf, wenn sie zu Anlässen aller Art vorsprachen. Die gastfreundliche, gediegene Atmosphäre war mit Marie-Luise verschwunden. Es galt jetzt für jedermann, keine Zeit zu verschwenden. Auch nicht die des Pfarrers. Sophia nahm Fahrt auf – im Namen der Dreifaltigkeit.

Nach einigen Wochen entsprach das Innere des Gotteshauses im Wesentlichen Sophias Vorstellungen. Ihr Rücken dagegen gar nicht, dachte sie morgens beim Aufstehen. Trotzdem rückte sie in der Folgezeit unbeirrt mit ihrem Putzgeschirr bis in den Glockenturm vor. Dieser galt von alters her als das Wahrzeichen von Rossmarktl. Die Gemeinde hatte unter dem Vorgänger Ludwigs, einem strengen Hohepriester alten Schlages, kräftig und vor allem ausdauernd – „Vergelt´s Gott!“ - spenden müssen, um die überfällige Renovierung zu stemmen. Der viereckige Turm hatte einen Sockel aus grauem Sandstein. Auch die schwere Eichentür sowie die Fenster und Luken unterhalb der Turmspitze waren mit schmalen Sandstein-Riemchen umrandet. Das galt jedoch nicht für die vier Uhren, die in identischer Form und Größe in alle Himmelsrichtungen wiesen. Unter der Zwiebelspitze konnte man eine graue Umrandung erkennen, die dem stattlichen Mauerwerk einen gebührenden Abschluss gab. Selbstverständlich ragte oberhalb der Zwiebel, die kunstvoll verkupfert war, ein golden gestrichenes, über drei Meter hohes Metallkreuz gen Himmel.

Sophia fiel es schwer, den Wassereimer immer höher hinauf und das Schmutzwasser anschließend immer tiefer hinab zu schleppen. Der dicke Staub auf Geländern und Stufen machte hartnäckig Gewohnheitsrecht geltend, vom Taubendreck ganz zu schweigen. Sie musste die Holzkonstruktion nicht nur abkehren, sondern auch gründlich abbürsten, bevor überhaupt an feuchtes Abwischen zu denken war. Es war eine staubige Angelegenheit. Abends berichtete sie Pfarrer Ludwig, der ihr meist teilnahmslos zuhörte, über ihre Fortschritte. Dass sie nicht gelobt wurde, fiel ihr nicht weiter auf, sie war schon lange nicht mehr gelobt worden. Hauptsache, es hörte jemand zu. Später schlief sie nach kurzem Abendgebet völlig erschöpft ein. Dann ging Ludwig leise an den Apothekerschrank und zweifelte an seinem Schicksal und dem Dekan.

Die drei Kirchenglocken hingen über der 98. Stufe im Turmgebälk. Bis vor etwa 12 Jahren musste der schon in die Jahre gekommene Messner Sebastian (Bastl) Brachmayer zu allen Messen und Beerdigungen oder, was Gott sei Dank bisher nicht vorkam, im Katastrophenfall, die Glocken von Hand läuten. Dazu musste er jeweils zehn Minuten lang rhythmisch und mit ernster Miene an dem dicken, neben der Kanzel herabhängenden Seil ziehen. Inzwischen erledigte das ein Elektromotor per Knopfdruck. Allerdings bestand Ludwig darauf, dass der Messner zumindest die Segensglocke wie in alten Zeiten weiterhin von Hand in Schwung brachte, und zwar „momentgenau“, wie er es nannte. Tradition musste sein!

Für Sophia war es jedes Mal erhebend, direkt neben den Glocken zu stehen und ihre Inschriften zu lesen. „Lobet den Herrn“, stand da auf der großen Glocke, darunter, kleiner: 1935. Vom Pfarrer wusste sie, dass die Kirche im Jahr 1721 gebaut wurde und das alte Geläut, freilich nicht so prachtvoll wie das jetzige, 1917 für Kanonenkugeln eingeschmolzen werden musste. Die beiden kleineren Glocken kamen im April 1945 durch eine amerikanische Panzergranate zum Absturz und zerborsten mit großem Getöse. Es hatte sich nämlich eine Handvoll Landser im festen Glauben an unbedingten Gehorsam und Endsieg im Turm verschanzt. Sie hatten dort ihr vorzeitiges Ende gefunden. Grauenvoll, sie waren doch noch so jung gewesen! Sie hätten lieber an die katholische Kirche glauben sollen, dachte Sophia.

Seit 1958 war das Geläut wieder komplett. Manchmal kam sie im Eifer des Putzens versehentlich mit dem Besenstiel an eine der Glocken, die das prompt mit einem hellen „Bim“ quittierte. Sophia erschrak jedes Mal gehörig und hoffte, dass niemand den ungeplanten Ton hörte, besonders, wenn es sich bei der getroffenen Glocke um die Totenglocke handelte. Sie hatte nämlich beobachtet, dass immer, wenn die Totenglocke geläutet wurde, die Holler-Dagmar aus der Borngasse mit dem Fahrrad zur Kirche eilte, um die Neuigkeit auf dem offiziellen Aushang genauestens in Erfahrung zu bringen und danach für deren sofortige Verbreitung sorgte. Nicht auszudenken, wenn es gar keinen Aushang gab. Als es einmal trotz aller Vorsicht erneut passierte, versprach Sophia sogleich, die Sache zu beichten – Hauptsache, der bronzene Glockenguss erhielt frisch gewienert seine alte Ausstrahlung zurück.

Genauso beeindruckend wie die Glocken selbst fand Sophia die schweren Balken und Verstrebungen im Turm. Es war bereits Anfang September und an manchen Tagen immer noch so heiß wie im Hochsommer. Der Turm glich dann nachmittags einem Backofen. Sophia hatte daher ihre Arbeit auf den frühen Morgen gleich nach dem Frühstück verlegt. Dem Pfarrer war´s egal, sein Einfluss auf ihren Tatendrang war ohnehin gering. Ordnung und Sauberkeit sind dem Herrn wohlgefällig, dachte er, da konnte auch ein katholischer Pfarrer wenig einwenden.

Sophia hatte sich angewöhnt, oben angekommen, nicht nur erst mal auszuschnaufen, sondern auch die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Genau genommen war es anfangs ein distanziertes Beobachten. Der Ort war wie immer ziemlich ruhig. Man hörte Traktormotoren, zwei Hunde bellten aufgeregt, manchmal drang Kinderlachen oder –geschrei nach oben. Draußen waren die meisten Felder abgeerntet, einige sogar schon umgepflügt. Der blass wirkende Wald dürstete nach Wasser. Immer wieder schauten Tauben oder Spatzen neugierig vorbei, freilich auch in Sophias Abwesenheit, was die frischen Hinterlassenschaften der Tiere deutlich dokumentierten.

Mit der Zeit genoss Sophia diese friedlichen Momente, und eines Tages bemerkte sie sogar eine lange nicht mehr gespürte Vorfreude auf diese täglichen Eindrücke. Das konnte nur daran liegen, dass sie im Turm nicht nur der Höhe wegen ihrem Herrn näher war, sondern auch seinen Blick von oben auf die Welt teilen konnte. Überhaupt „von oben“. Je kleiner die Menschen in ihrer Welt ausschauten, umso friedlicher (und ordentlicher!) erschienen sie. Alles Böse schien einfach unten zu bleiben, schlechte Gedanken konnte man schon gar nicht erkennen. Am liebsten wäre sie für immer hier oben geblieben. Wie damals als Zwölfjährige in Alzgern bei Neuötting. Dort war Sophia als dritte Tochter des dortigen Bäckers zuhause gewesen. Nachmittags, wenn sie nicht die Backstube aufräumen und putzen musste, war sie mit ihrer Clique (damals nannte man das „Kameraden“) unterwegs. Zwei von ihnen waren Messdiener in der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt.

Eines Tages stiegen sie heimlich in den Kirchturm, der Kirchendiener hielt wie immer um diese Zeit Mittagsschlaf. Aufregend war das, natürlich streng verboten. Überdies war der Kirchendiener Stammkunde in der elterlichen Bäckerei, die nebenbei als Marktplatz für allerlei Informationen, Gerüchte und Meinungen fungierte. Nachdem es mit der Turmbesteigung einmal einwandfrei geklappt hatte, gelangen ihnen noch etliche Wiederholungen. Unvergessen der Tag, als sie in einem Ritz im Glockengebälk einen Briefumschlag entdeckten. Es war ein Abschiedsbrief. Ein gewisser Franz Fürleitner hat sich von seiner Verlobten im Oktober 1914 mit vielen Liebesschwüren in den Krieg verabschiedet. Der Brief sollte als gutes Omen hier bis zum vermeintlich baldigen und vor allem glorreichen Kriegsende bleiben. Dann wollte man Hochzeit feiern. Der Gefreite Franz kam aber nicht mehr zurück, und Traudl, seine Verlobte, hatte den Umschlag wohl vergessen. Oder sie hätte den Schmerz, diesen nach alldem wieder in Händen zu halten, nicht ertragen. Die Wege des Herrn …

Gedankenverloren saß Sophia zwischen den Glocken und starrte ins Nichts. In ein paar Tagen würde sie hier oben fertig sein. Aber heute hatte sie komischerweise keine Lust zu arbeiten. Die Muße in den milden Sonnenstrahlen, die den Weg durch Luken und Ritzen fanden, war unwiderstehlich, sogar für Sophia. Was mochte das alte Gemäuer schon alles erlebt haben? Der unbändige Stolz der Maurer und Zimmerleute beim Richtfest, die Ängste der Dachdecker-Gesellen im Wind, womöglich leidenschaftliche Stunden eines früheren Pfarrers (Sophia wagte gar nicht, sich das vorzustellen. Aber als Novizin im Kloster Der Englischen Fräulein in Altötting hatte man davon getuschelt – freilich nicht ohne ernste Warnungen!); oder es waren eingeschlafene Glöckner, die verbissen kämpfenden und sterbenden Soldaten, Gewitterstürme, Hitze und klirrende Kälte, lange Hochzeits- und Trauerzüge vor der Tür…

„Und stolze Bürgermeister“,

sagte am Abend der staunende Pfarrer Ludwig, als Sophia zum ersten mal bei Tisch etwas von ihrer Gedankenwelt preisgab. Dann fuhr er fort:

„Es ist nämlich bei uns eine alte Tradition, dass jeder neugewählte Bürgermeister um Mitternacht die Siegesfanfare aus der obersten Luke heraus bläst und danach eine Flasche selbstgebrannten Schnaps als Opfergabe für den heiligen St. Florian zum Schutz vor Feuersbrunst ausschüttet. Dabei ist es immer wieder vorgekommen, dass sich Jugendliche genau unterhalb der Luke im Gebüsch versteckt haben und mit offenen Mündern nach oben schauten, sobald die ersten Tropfen im Blattwerk aufschlugen. Nicht alle, die zum ersten Mal dabei waren, haben es danach ohne fremde Hilfe wieder aus dem Gebüsch geschafft“.

Ludwig schien ausgesprochen belustigt, als er von diesem merkwürdigen Brauch berichtete. Dass man geflissentlich von der Beseitigung des schützenden Gebüschs abgesehen hatte, gehörte in Rossmarktl zur örtlichen Tradition.

Von solchen Sitten hatte Sophia noch nichts gehört. Man hatte ihr im Kloster viel von Pflichten und Entsagung gepredigt. Das Leben im Allgemeinen drang kaum durch die schweren Tore, lautes Lachen schon gar nicht.

In der folgenden Nacht schlief sie schlecht. Sophia begann sich zu fragen, warum sie anscheinend so wenig vom Leben wusste. Seit einiger Zeit war ihr ein älteres Ehepaar aufgefallen. Immer oberbayerisch-schmuck herausgeputzt, saßen sie fast jeden Sonntag in der dritten Reihe rechts in der Messe. Pfarrer Ludwig schien die beiden zu mögen und hielt beim Ausgang jedes Mal einen kurzen, freundlichen Plausch mit ihnen. Sie hatte erfahren, dass es der Altbauer vom Huber-Hof im Wiesenfeld mit seiner Frau Ida war. Vor Jahren war Anton Huber lange Zeit ein allseits geschätzter Bürgermeister der Gemeinde gewesen. Auch sein Vater Karl, ein Landmann von bestem Schrot und Korn, war schon Bürgermeister - in den Anfangsjahren des Dritten Reiches. Weil er sich aber standhaft weigerte, in die Partei einzutreten, wurde er 1938 kurzerhand aus dem Amt gejagt. Der Huber-Hof war ein geradezu malerisches Gehöft, westwärts als Wetterschutz halb umrahmt von einer Reihe aus Tannen und Birken. Auf dem First prangte ein kunstvoll geschnitzter Glockenturm, wie man sie hauptsächlich im Allgäu bewundern kann. Rechts neben dem Wohnhaus war ein schilfbewachsener Ententeich angelegt, daneben eine kleine Kapelle mit Kruzifix. Vor zwei Jahren feierten die Hubers ihre Goldene Hochzeit mit einem großen Fest. Ludwig zelebrierte wunschgemäß eine eigene Messe in Erinnerung an die guten und schweren Zeiten für das Jubelpaar. Die beiden waren es auch, die sie bei ihren Beobachtungen vom Turm jeden Morgen und bei jedem Wetter erkannte, wenn sie mit ihrem lebhaften, aber gehorsamen Münsterländer zu einem Rundgang aufbrachen. Dabei hatte die Huberin stets ihren Arm bei ihrem Mann eingehängt – es erweckte den Eindruck von Unzertrennlichkeit, ja Glückseligkeit.

„Glückseligkeit?“,

murmelte Sophia nachdenklich vor sich hin,

„gibt es das wirklich in dieser Welt, …nicht nur im Himmel?“

Man hatte ihr von klein auf eine bestimmte Art von Freudlosigkeit vorgelebt. Ihre Eltern hatten gerade einen schweren Krieg überstanden. Sie hatte noch sechs Geschwister, vier Schwestern und zwei Brüder. Der älteste Sohn sollte die Bäckerei weiterführen, so wollte es der Vater und nicht zuletzt die Tradition. Ordnung und Gehorsam, tagein – tagaus. Ach ja, und Respekt vor den Eltern, dem Lehrer, dem Apotheker, dem Pfarrer und der Obrigkeit im Allgemeinen. Natürlich wurde Sophie, wie sie damals noch hieß, zum Schulunterricht, schreiben, lesen und rechnen lernen, angehalten. Aber nachmittags hatte sie sich von klein auf um ihre häuslichen Pflichten zu kümmern. Aufräumen, spülen, putzen, Feuerholz, nähen und stricken lernen, es nahm kein Ende, bis sie schließlich abends todmüde in´s Bett fiel. Bücher gab es sowieso keine im Haus, höchstens die endlos-halbstarken Sprüche ihrer Brüder forderten sie immer wieder heraus, stumpften aber gleichzeitig auch ab. Nur sonntags beruhigte sich die familiäre Betriebsamkeit. Nach der Kirche und dem Mittagessen mit Fleisch und Nachtisch kam es bei schlechtem Wetter vor, dass Mensch ärgere Dich nicht! gespielt wurde. Obgleich sie oft gewann, hatte sie nie das Gefühl, dass man ihr die Freude wirklich gönnte. Kein Wunder, dass die kleine Sophie immer etwas in sich gekehrt wirkte. Schließlich wurde sie nach der Volksschule mit 14 Jahren als Novizin dem Kloster Der Englischen Fräulein in der Neuöttinger Straße in Altötting übergeben. Die Mutter hatte pflicht- und traditionsgemäß die Schwiegermutter nach ihrer Erlaubnis gefragt.

„Is scho recht für´s Sopherl“,

war die lakonische Antwort. Abgesehen von den pflichtschuldigen Geburtstagswünschen konnte sich die seit 12 Jahren verwitwete Oma ihrerseits schon lange nicht mehr an ein warmherziges Wort, geschweige denn an eine Zärtlichkeit in ihrem Leben erinnern. Insgeheim erhoffte sich die Alte wohl ein gutes Omen im Himmel. Damit war das seelische und körperliche Schicksal der Tochter entschieden. In wenigen Tagen würde sich nicht nur die Pforte des Klosters für die arme Sophie endgültig schließen. Genau betrachtet durfte sie nur eines aus ihrem bisherigen Leben im Kloster behalten: Es war ihr Name, jedenfalls fast. Fortan, so der klösterliche Beschluss, sollte sie Sophia in Erinnerung an eine frühkirchliche Märtyrin heißen, die um 304 n. Chr. der Christenverfolgung zum Opfer fiel.

Gewiss, sie sah mit ihrer schlanken, hochgewachsenen Figur nicht chancenlos auf dem Heiratsmarkt aus. Aber das spielte in den eintönig-mausgrauen, alles verbergenden Kleidern keine Rolle mehr. Anscheinend wusste dort die Mutter Oberin, dass es völlig ausreichte, sich um die eigene Seligkeit durch beten und beichten zu kümmern. Von Glück war generell nicht die Rede, zumindest nicht vom irdischen Glück. Genauso wenig war auch an ein Zurück zu denken. Für die Familie war es stets auch eine existentielle Frage, die Kinder durch Hochzeit oder eben den Einzug in ein Kloster versorgt zu wissen. Dass ein edler Prinz seine Prinzessin ausgerechnet aus Gottes Käfig befreite, war bis dato noch nicht vorgekommen. Eher schon, dass sich ein einsamer, hormonisierter Mönch eingeschlichen und beigelegt hätte. Davon durfte aber weder der Herr noch die Oberin noch sonst wer erfahren. Das galt natürlich auch für den frechen Vers, den ihr ein Mitbruder aus der nachbarlichen Paulusgemeinde bei der Gartenarbeit einmal grinsend zugeraunt hatte:

Unter Kutten und Talaren,

kannst Du großes Glück erfahren.

Denn dem Abt und auch den Mönchen

gefielen stets schon junge Nönnchen.

Getreu der Sage alter Zeit:

„Der Herr kommt stündlich, sei bereit!“

Obwohl Sophia mit ihren 14 Jahren mit solchen Sprüchen nichts anfangen wollte – zu sehr war sie von den strengen Ermahnungen der Mutter Oberin beeindruckt -, ganz aus dem Kopf gingen sie ihr aber auch nicht. Immerhin war sie von ihren Brüdern fleißig vorgeprägt worden. Der Mitbruder in Christo zögerte allerdings nicht lange, die unschuldige Novizin als „Kalte Sophie“ abzutun. Das alles focht aber die Kleine nicht wirklich an. Wenn ihr nun mal dieser Lebensweg bestimmt war, dann wollte sie ihn auch in aufrichtiger Treue und ohne Anfechtung gehen. Und das machte sie einzig und allein mit ihrem Gott aus.

Pfarrer Ludwig wusste von alldem nichts Genaues, aber er ahnte doch, dass die Sophia ein entsagungsreiches Leben hatte. Bei genauer Betrachtung musste man wohl feststellen, dass sich einige an ihr versündigt hatten – man hatte ihr ganz offen-sichtlich die Lebensfreude genommen. Sie hatte müde Augen und zweifellos auch ein paar Falten zu viel im Gesicht. Dass sie keine Begeisterung ausstrahlte, oft gar ausgesprochen freudlos wirkte, tat ihrer Pflichterfüllung keinen Abbruch. Wenigstens daran hatte Ludwig nichts auszusetzen. Hatte er selbst sie eigentlich immer respektvoll und freundlich behandelt, sie gar schon einmal gelobt? Na ja… Vielleicht sollte er sie doch mit etwas mehr Nachsicht behandeln. Wenn sie doch endlich mal reden würde!

Ludwig entschied sich, den Anfang zu machen und begann, über sich zu reden. Es war ein regnerischer Sonntagabend im November, als er sie bat, sich noch ein wenig zu ihm zu setzen. Das gemütliche Holzfeuer brannte im Kachelofen, auf dem Tisch flackerte eine Kerze und spiegelte sich in zwei Weingläsern. Ludwig hatte mit Bedacht einen edlen Roten aus Unterfranken ausgewählt. Sophia konnte ihre Verunsicherung kaum verbergen. Was wollte der Pfarrer von ihr?

„Sophia, Du bist nun schon seit einem dreiviertel Jahr hier bei uns in der Gemeinde, aber mir ist aufgefallen, dass wir noch immer so wenig voneinander wissen. Natürlich habe ich von Anfang an gesehen, wie gottesfürchtig und fleißig du bist. Daran denke ich jedes Mal, wenn ich nur sehe, wie blitzblank unsere Kirche geworden ist, ganz zu schweigen vom Glockenturm. Und wie Du jeden Tag für mich und unsere Gäste sorgst“

„Danke, Herr Pfarrer, das ist doch meine Aufgabe. Aber ich dachte schon, dass Ihnen das gar nicht richtig bewusst ist…“

Sophia schaute verlegen vor sich auf die Tischdecke.

„Aber wo denkst du hin, Sophia? Wie gesagt, ich denke, wir sollten uns einfach etwas besser kennen lernen, findest Du nicht?“,

sagte Ludwig und stand auf, um Holz nachzulegen. Der Kachelofen verströmte eine behagliche Wärme, es war absolut ruhig im Haus.

„Du wirst es nicht glauben, aber wir hätten uns ohne weiteres bereits während Deiner Zeit in Altötting begegnen können. Denn, immer wenn ich dort bin, gehe ich in die `Justinuskirche der Englischen Fräulein´. Ich liebe diese Kirche mit ihrem weißen Marmor. Sie ist nicht so riesig und mit so viel fast erdrückender Pracht wie viele Gotteshäuser“

„Oh Gott, das ist ja kaum zu glauben! Und jetzt, hier in Rossmarktl, fällt uns das erst auf. Ja, Sie haben recht, das ist auch für mich eine besondere Kirche gewesen“

Sophia war hin und weg. Ihre Gesichtszüge erhielten von irgendwoher den seltenen Auftrag, Freude auszustrahlen. Ludwig stieß mit ihr an.

„Auf Dein Wohl, Sophia“

Dann begann er zu erzählen, dass er Jahrgang 1911 ist und mithin am 11. Dezember 51 Jahre alt wird. Er stammte aus der alteingesessenen Bauernfamilie Wertheimer in Dauborn. Das liegt im beschaulichen Wörsbachtal südlich von Limburg an der Lahn in Hessen, eine Gegend, die man ob ihrer Fruchtbarkeit den „Goldenen Grund“ nannte. Seine Eltern waren nicht nur in der Landwirtschaft tätig, sondern sie betrieben auch wie etliche andere Bauern im Ort eine bemerkenswerte Schnapsbrennerei. Dauborn war schon seit 1700 Schwerpunkt für die Kornbrennerei. Der Ursprung des aufblühenden Wirtschaftszweiges ging auf das benachbarte Zisterzienser-Kloster Gnadenthal zurück. Der Schnaps - nichts für Empfindliche! - hieß schlicht Dauborner und wurde in braunen Tonkrügen verkauft. Allerdings nur der Teil, der nach ausgiebigem Eigenkonsum noch übrig war. Dass manche Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung gerne und süffisant auf die roten Nasen und angeblich hohe Erbgut-Überschneidungen hinwiesen, damit hatten die Dauborner gelernt, umzugehen, indem sie einfach weghörten oder darüber lachten, je nach Situation. Im Gegenteil, der verbreitete Spott hatte ihnen nur noch zu mehr unerschütterlichem Selbstbewusstsein verholfen. Sie waren nicht nur tüchtige, sondern auch stolze und zufriedene Menschen. Davon zeugte die Inschrift neben dem Rathauseingang:

Der Herr gab dem Dauborner Bauer den Pflug,

damit dieser Korn hat und Schnaps in sein´m Krug.

Denn von alters her weiß doch ein Jeder, der klug:

„Selbst in härtesten Zeiten bleibst so Du am Zug!“

Weshalb voll Stolz ganz Hessen tut kund:

„Dauborn – die Perle im Goldenen Grund!“

Selbstverständlich hatte auch jemand dazu eine Melodie komponiert, die bei den jährlichen Festen, aber auch bei Familienfeiern zu fortgeschrittener Stunde mit grandioser Lautstärke vorgetragen wurde, vor allem und selbstredend die letzte Liedzeile.

Ludwig Wertheimer wurde von seinen Eltern Heinrich und Henriette gemeinsam mit seinen vier Geschwistern im katholischen Glauben erzogen. Das war in Dauborn eine große Ausnahme, denn hier waren fast alle evangelisch. Bei Wertheimers war das ganz früher ebenso, bis die Urgroßmutter als junges Mädchen entgegen aller Warnungen und Drohungen einen strengen Katholiken aus Limburg heimbrachte, der sie alsbald und vermutlich bei erster Gelegenheit schwängerte. So kam es, dass die eilige Hochzeit in Limburg stattfand und die junge Familie Teil der kleinen katholischen Gemeinde wurde – sehr zum Missfallen der Brauteltern. Aber was wollte man machen, Hauptsache, keine Schande! Jeden zweiten Sonntag fuhr die Familie mit der Pferdekutsche zur Messe in´s nahegelegene Oberbrechen. Nur zu besonderen Anlässen wie Taufen oder zu wichtigen Hausbesuche kam der dortige Pfarrer mit dem Pferd angeritten. Ludwig erinnerte sich daran, dass sich die Evangelischen im Ort mächtig lustig machten über den reitenden Boten Gottes, dessen Satteltaschen auf dem Rückweg stets prall gefüllt aussahen. Und als dieser einmal unterwegs am Waldrand von seinem Pferd abgeworfen wurde, weil sich das Tier vor einem aufspringenden Hasen erschreckt hatte, nahm der abschätzige Spott über die Katholiken im Allgemeinen und den Oberbrechener Pfarrer im Besonderen seinen freien Lauf. Von Mitgefühl über den ausgekugelten Arm des reitenden Glaubensboten war seitens der Protestanten nichts zu hören.

So kam Ludwig früh mit dem kleinen Gemeindeleben in Verbindung. Als Jugendlicher schloss er sich den Pfadfindern und den Messdienern in Oberbrechen an. Der Vater kam aus dem Krieg mit Frankreich nicht zurück, sodass seine Mutter zusammen mit den Großeltern die Landwirtschaft und die Brennerei führen musste, natürlich mit früher Hilfe der Kinder. Auch ein Knecht und eine Magd gehörten zum Haushalt. Ludwig mochte die beiden, sie hatten immer ein freundliches Wort und deckten oft genug seine Streiche. Und sie konnten ihm viel vom ländlichen Leben, von Wind und Wetter und manchen handwerklichen Geschicklichkeiten erzählen. Trotz der täglichen Arbeiten zuhause war Ludwig ein fleißiger Schüler und brachte es zu guten Noten. Er galt schnell bei Geschwistern und Freunden als Streber, oft genug aber auch als Ratgeber und Helfer. Eifriger und gut gelittener Helfer war er auch in der noch jungen Feuerwehr des Ortes.

Einmal nahm ihn seine Mutter mit zu seiner Tante Elli nach Mainz. Sie war dort mit Onkel Wilhelm, einem gutmütigen schnauzbärtigen Volksschullehrer mit Vollglatze, verheiratet. Viel zu selten konnte er bei den Beiden sein, obwohl sie doch seine Lieblingsverwandten waren. Leider hatten sie keine Kinder. Es war der 10. April 1921. An diesem Tag wurde der neue Bischof Ludwig Maria Hugo geweiht. Neun Jahre war der Dauborner Bub damals. Welch eine Pracht, welch eine Festlichkeit, wie viel Weihrauch, was für ein Dom! Kein Zweifel, Gott persönlich musste hier anwesend sein. Der kleine Ludwig war wie vom Blitz getroffen und konnte sich vor Begeisterung, aber auch vor grenzenlosem Respekt, kaum halten. So etwas hatte er sich nicht vorstellen können.

„Willst Du aach emol en Parrer wern?“,