Mord aus heiterem Himmel - Achim Kaul - E-Book

Mord aus heiterem Himmel E-Book

Achim Kaul

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Zweifel und Zick knobeln an ihrem ersten Fall. Ein Allgäu-Krimi der besonderen Art. Ein unglaublicher Tatort. Ein wahnwitziger Todesfall. Ein wortwitziges Ermittlerduo. Der Himmel ist heiter über Bad Wörishofen. Doch der Sommer wird mörderisch. Ein Kunstprofessor beendet sein wichtigstes Manuskript. Kurz darauf stürzt er mitten über dem Kurpark aus großer Höhe in den Tod. Ein rätselhafter Selbstmord? Eine luftige Art des Mordens? Kommissar Zweifel und seine junge Kollegin Zick stehen vor einem Labyrinth aus Fragen. Bei Ihren Ermittlungen beweisen sie Spirit, Cleverness, Schlagfertigkeit und Humor. Nach schmerzhaften Begegnungen und kniffligen Wortgefechten steht Ihnen schließlich die entscheidende Konfrontation bevor.

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Achim Kaul

Mord aus heiterem Himmel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22.Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Mord aus heiterem Himmel

23. Juli

Melinda Zick knallte ihren halb vollen Kaffeebecher auf den Frühstückstisch. Sie war wütend auf ihre Mutter, die ihr diesen bescheuerten Namen gegeben hatte. Sie war wütend auf ihre Nachbarn, die jeden, aber auch wirklich jeden Abend auf dem Balkon unten grillten und die sie im Treppenhaus immer so unverschämt musterten. Sie war wütend auf ihren Chef, der eisern darauf bestand, jeden Morgen um halb neun eine Besprechung abzuhalten. Sie war wütend auf die letzte Nacht, wütend auf diesen elenden, immer wiederkehrenden Albtraum, wütend auf das verdammte Messer in diesem Albtraum. Sie war wütend auf sich. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch, sprang, immer noch wütend, vom Tisch auf, riss ihre Jacke von der Stuhllehne und floh aus ihrer Wohnung, nicht ohne die Eingangstür ordentlich krachen zu lassen. Als sie das Treppenhaus hinunterrannte verhallte das Echo ihrer Tür allmählich, was ihr ein gutes Gefühl gab. »Für eine Veganerin bin ich ganz schön aggressiv«, dachte sie und musste beinahe schmunzeln.

Zwei Stunden davor betrat Ferdinand Alba den Kurpark. »Ein fabelhafter Morgen«, dachte er. Der Himmel blank gefegt, die frische Morgenluft Balsam für seine Seele. Kein Ton war zu hören im Kurpark. Die Pfauen und Goldfasane träumten in ihrer Voliere von fernen Ländern. Die große Wiese, eingerahmt von gewaltigen Platanen, Ahorn- und Mammutbäumen, lag unberührt vor ihm. Zu dieser frühen Stunde war das nicht anders zu erwarten. Sechs Uhr war eine gute Zeit für ihn, um sich unbeobachtet seinen Qi-Gong-Übungen widmen zu können. Nur flüchtig erklang ein entferntes Fauchen, ein merkwürdiges Geräusch, welches er nicht einordnen konnte. Er zog seine Leinenschuhe aus und lief barfuß über das feuchte Gras, bis er einen geeigneten Platz gefunden hatte. Dort stellte er sich locker hin, fokussierte einen größeren Ast am Rand der Wiese, vermutlich ein Opfer des nächtlichen Gewittersturmes, holte tief und langsam Atem und begann mit den Atemöffnern. Die gleichmäßigen und konzentrierten Bewegungen ließen ihn zur Ruhe kommen. Nachdem er anschließend die acht edlen Übungen jeweils fünf Mal wiederholt hatte, verbeugte er sich. Er warf einen Blick zu dem dunklen Ast hinüber. Etwas hatte seine Neugier geweckt. Er schien nun anders dazuliegen als zuvor. Aus der Entfernung von etwa sechzig Metern war das schwer zu beurteilen. Er näherte sich dem Schatten am Wiesenrand. Was er nun zu sehen glaubte, konnte nicht wahr sein. Seine Schritte verlangsamten sich, wurden kleiner. Schließlich stand er vor dem vermeintlichen Ast und blickte fassungslos in das starre Gesicht Professor Mindelburgs. Ihm wurde schwindlig, seine Knie gaben nach. Er schwankte und gleich darauf lag er neben der Leiche.

»Zweifel, jetzt reicht es allmählich«, sagte Alois Klopfer. Der Chef des Kommissars redete wie immer, wenn er sich aufregen musste, besonders leise. Kommissar Adam Zweifel lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und streckte die langen Beine aus. Die Arme hinter seinem kahlen Kopf verschränkend musterte er seinen Vorgesetzten mit der ganzen Gelassenheit seiner 48 Jahre.

»Wie viele sind es diesmal?«, fragte er mit müdem Unterton. Sein Chef, der einige Jährchen jünger war, warf ihm einen scharfen Seitenblick zu.

»Sie könnten die Angelegenheit ruhig ein bisschen ernster nehmen.«

»Als ob wir sonst keine Probleme hätten.«

»Sie sind es, der unnötig Probleme produziert, mein Lieber. Wenn schon die Presse ihre Messer wetzt, dann – und darauf können sie ihre Riesterrente verwetten – wird mir morgen der Polizeipräsident mit ein paar deutlich ausgesprochenen Verhaltensmaßregeln behilflich sein.«

»Wegen ein paar Smartphones, die zufällig Bekanntschaft mit Newtons Gesetz gemacht haben? Abgesehen davon hab’ ich keine Riesterrente.«

»Zweifel, sie sind zwar Gesetzeshüter, aber die Naturgesetze sind davon nicht betroffen.«

»Sie lassen sich aber so leicht anwenden.«

»Ich wiederhole mich äußerst ungern, Zweifel, es reicht! Ich verbiete Ihnen hiermit ein für alle Mal, unschuldigen Passanten die Handys aus der Hand zu schlagen.«

»Ich kann nun mal den Anblick nicht ertragen. Den Kopf permanent über so ein dämliches Teil gesenkt mitten durch die Menschenmassen latschen, ohne auf andere zu achten. Das ist krankhaft. Die sind alle wie ferngesteuert. Sie müssen die mal beobachten, wenn …«

»Mir ist ihr gestörtes Verhältnis zur modernen Kommunikationstechnik hinreichend bekannt, mein Lieber. Vielleicht können wir uns jetzt über – ja, was ist denn?«

Die Bürovorsteherin, Frau Lucy, kam, wie immer ohne anzuklopfen, herein. Sie wedelte lässig mit einem Blatt Papier.

»Arbeit für den Kommissar«, flötete sie.

Melinda Zick fuhr gerade mit ihrem Fahrrad, das gegen mindestens fünf verkehrstechnische Vorschriften verstieß, auf den Hof der Polizeiinspektion, als ihr Handy klingelte.

»Mel, du musst mir helfen.« Es war ihr Bruder Zacharias. Ihre Mutter hatte ein eigenartiges Talent bei der Namensfindung ihrer Kinder bewiesen. Nach Mels fester Überzeugung war sie damals komplett unzurechnungsfähig gewesen. Und objektiv betrachtet, bestanden berechtigte Zweifel daran, dass ihr Geisteszustand sich seither geändert hatte. Ihre Mutter war und blieb eine Spinnerin. Leider schien ihr Bruder einiges von ihr geerbt zu haben.

»Zack«, sie wusste, dass er diese Abkürzung hasste, »was glaubst du wohl, was ich heute den ganzen Tag zu tun habe?«

»Du musst mir helfen, Mel.« Pause. »Und nenn’ mich nicht Zack, verdammt.«

»Wieso bist du überhaupt schon wach? Ist doch gerade mal halb neun.«

»Das ist ja der Punkt. In einer halben Stunde stehen die Typen von der Bank bei mir auf der Matte.«

»Seit wann kommen die persönlich vorbei? Dein Kontostand muss ja unterirdisch sein.«

»Mel, du hörst mir einfach nie zu. Die kommen doch wegen meines Projektes.« Schlagartig fiel ihr ein, dass ihr Bruder ja einen Laden aufmachen wollte. »DESSERT INN – vegane Desserts vom Allerfeinsten«. Sie stieg vom Rad. »Ich hab’ doch keine Ahnung, wie ich mit denen reden soll.«

»Sei einfach höflich und beantworte alle Fragen. Aber phantasier’ nicht rum.«

»Mel, das würd’ echt viel bringen, wenn du, also wenn eine von der Polizei, mit dabei …«

»Ich kann nicht!«, fiel sie ihm ins Wort und schloss gleichzeitig ihr Rad ab. Gerade kam Zweifel um die Ecke und winkte sie zu sich. »Du packst das schon allein. Bis dann.« Sie legte auf und packte ihr Handy weg.

»Morgen Melzick«. Adam Zweifel war der Einzige, der sie so nannte. Sie hatte sich nie darüber beschwert. Insgeheim gefiel ihr diese Anrede ganz gut. Hatte für sie irgendetwas Straßenkämpferisches.

»Zweifellos ein guter Morgen«, war ihre Standardantwort darauf.

»Wir haben einen Kunden.«

»Wer ist es?«

»Steigen Sie ein, ist nicht weit. Kurpark.«

»Jemand im Kneipp-Becken ersoffen?«

»Melzick – nicht in diesem Ton!«

Einige Minuten später waren sie dort.

Alles an dem imposanten Gebäudekomplex atmete Reichtum: die edlen, in Kaisergelb gehaltenen Fassaden mit den raumhohen, doppelflügeligen, strahlend weiß gerahmten Sprossenfenstern, die säulenverzierten, weitläufigen Terrassen, die smaragdgrünen, kunstvoll geschmiedeten Balkonbrüstungen, die großzügig und erhaben geschwungenen Kuppeln aus hellem Marmor, welche die beiden Penthäuser krönten, sowie der reichlich prätentiöse Fahnenmast, der für jedes der Gebäude anzeigen mochte, ob die jeweilige Königin anwesend war. Die wimmelnden Blätterschatten der hochherrschaftlichen, altehrwürdigen Baumsenioren spielten millionenfach auf den kostbaren Mauern, die speziell für das Morgenlicht entworfen zu sein schienen. In der Ferne, in blassem Blau schimmernd, die Diamanten der Alpenkette. Reine Luft wie aus Seide. Ein trügerisch friedlicher Anblick. Zwei eisgraue Augen blickten aus einem der Panoramafenster des südlich gelegenen Penthauses und nahmen den feinen Schleier wahr, der sich über die Stadt zu senken begann.

»Wer ist das?«, fragte Kommissar Adam Zweifel den Mann in der dunkelblauen Uniform. Dieser bemühte sich, ruhig und sachlich zu schildern, was er wusste. Es gelang ihm nicht.

»Wahnsinn, das ist einfach der Wahnsinn!«

»Nein, ich meine die alte Dame dort auf der Bank und den jungen bleichen Herrn daneben«, versuchte Zweifel die Aufregung mit ernstem Ton zu dämpfen. Es gelang ihm. Max Kater, so hieß der junge Mitarbeiter des Wachdienstes, riss sich zusammen.

»Natürlich, selbstverständlich, sie haben recht. Äh, Augenblick.« Er holte ein Notizbuch aus seiner hinteren Hosentasche und schlug es hastig auf.

»Das ist Frau Eichhorn, Anna Eichhorn, 82 Jahre«, sagte er nach kurzem Blättern. »Sie hat die beiden gefunden.«

»Wie jetzt – gibt es zwei Leichen?«, fragte Melzick.

»Was, äh, nein, nein …«

»Junger Mann, wie lange muss ich denn noch hier rumsitzen? Es wird langsam Zeit für mein Frühstück«, meldete sich die alte Dame zu Wort. Kater schaute sie mit großen Augen an.

»Das äh, das müssen Sie, äh, ich glaube der Herr Kommissar kann …«

»Nur ein paar Minuten Geduld, wenn ich Sie darum bitten dürfte.« Der Kommissar hatte den richtigen Ton getroffen. Sie musterte ihn aus hellblauen Augen. Dann lehnte sie sich schweigend zurück und verschränkte die Arme über einer dezenten, sündhaft teuren Perlenkette.

»Also«, wandte sich Zweifel an den etwas unbeholfen wirkenden Wachdienstler und nahm ihn für ein paar Schritte zur Seite, »wer sitzt da neben Frau …, Frau …«

»Eichhorn. Ja.« Wieder blätterte er in seinem Notizbuch. »Da handelt es sich um Ferdinand Alba«, sagte er. »Frau Eichhorn hat ihn und den Toten gefunden. Angeblich lag er bewusstlos neben ihm.« Er kratzte sich heftig am Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, als könnte er immer noch nicht fassen, womit er es hier zu tun hatte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Zweifel, »klappt der uns zusammen? Haben Sie einen Arzt gerufen?«

»Ja, ja, hab’ ich. Der Doktor war schon vor Ihnen da und hat ihn sich angesehen. Und ihm eine Spritze gegeben.«

»Und wo ist der Doktor jetzt?«

»Da drüben, bei dem Toten.« Er zeigte mit dem Finger kurz in die Richtung.

»Gut. Tun Sie mir bitte den Gefallen und bleiben Sie bei unseren beiden Hübschen hier.« Kater nickte eifrig und Zweifel überquerte das Gras, gefolgt von Melzick.

»Ist die Spurensicherung schon verständigt?«, wandte er sich an sie.

»Keine Ahnung, aber ich ruf gleich mal an«, erwiderte sie und zückte ihr Smartphone. Sie blieben kurz stehen. »Hallo Penny, hier ist Mel. Wir haben Arbeit für dich. Im Kurpark. Die große Wiese. Gut, bis gleich.« Sie steckte das Smartphone wieder in die Gesäßtasche Ihrer schwarzen Jeans.

»Wer ist Penny?«, fragte Zweifel.

»Ach, das wissen Sie noch gar nicht? Wir haben eine Urlaubsvertretung bekommen. Penelope Stock. War mit mir auf der Polizeiakademie und hat sich dann spezialisiert. Sie kümmert sich jetzt lieber um Leute, die nicht mehr vor ihr davonlaufen können.«

»Verstehe«, sagte Zweifel. Zwanzig Meter entfernt saß ein Mann, etwa Mitte sechzig, von äußerst umfangreicher Gestalt auf einer Bank. Seine für sein Alter erstaunlich dichten, hellgrauen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Die Bank lag im Morgenschatten einiger mächtiger Koniferen. Er bewegte sich nicht, als der Kommissar und seine Assistentin auf ihn zukamen. Sein Blick war seitlich auf eine orangefarbene Decke gerichtet, die nicht weit entfernt von ihm auf dem noch feuchten Gras lag. Darunter zeichnete sich undeutlich ein menschlicher Körper ab. Zwei Beamte sicherten den Fundort. Als Zweifel und Melzick vor dem dicken Grauhaarigen stehen blieben, wandte er sein Gesicht mit den großen dunklen Augen ihnen zu und stand schwerfällig auf.

»Dr. Wollmaus«, sagte er. Er reichte ihnen nicht die Hand.

»Kommissar Zweifel, meine Assistentin Zick.« Er nickte.

»Sie kennen den Toten?« Abermals nickte er.

»Professor Abraham Mindelburg.« Zweifel ging zu der orangefarbenen Decke und schlug sie zurück. Professor Mindelburg lag auf der Seite, wobei »liegen« nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Sein Körper hatte sich einige Zentimeter tief in den weichen Untergrund eingegraben.

»Plötzlicher Herztod«, sagte Dr. Wollmaus. »Dürfte vor schätzungsweise drei Stunden passiert sein.« Zweifel betrachtete die Lage des Körpers genauer. Melzick stand daneben. Die ganze rechte Seite war in der lockeren Erde verschwunden, so dass der Kopf flach auf dem Boden lag. Es war ein rätselhafter Anblick, so als läge der Professor halb versunken in einem Moor. Auf den ersten Blick waren keinerlei Verletzungen zu erkennen.

»Er war bereits bei den Engeln, als sein Körper aufschlug. Er hat sich im Fallen zu Tode erschreckt«, sagte Dr. Wollmaus.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Melzick und schaute in den Morgenhimmel. »Er kann ja wohl nicht aus heiterem Himmel heruntergefallen sein.«

»Nein«, sagte Dr. Wollmaus bedächtig in seiner tiefen Stimme, »von so hoch oben wohl nicht. Ich schätze aber, ein paar hundert Meter werden es gewesen sein.« Zweifel sah ihn fragend an. Dr. Wollmaus erwiderte den Blick. »Nur so lässt sich seine Lage erklären. Oder haben Sie eine andere Idee?«

Zweifel kratzte nachdenklich sich an der Nase. »Der Boden ist durch das Unwetter heute Nacht sehr aufgeweicht. Sie könnten richtigliegen, Doktor.«

»Natürlich liege ich richtig.«

»Fragt sich allerdings, von wo er herabfiel«, sagte Zweifel, »und vor allem ob mit oder ohne Absicht.« Abermals nickte Dr. Wollmaus und starrte vor sich hin.

»Er war über achtzig und hatte ein schwaches Herz. Im Übrigen habe ich meinen besten Schachpartner verloren. Er machte überaus unterhaltsame Fehler. Auf hohem Niveau natürlich. Er liebte es, seine Figuren zu opfern.«

»Und Sie, Doktor?«

»Nun, ich ziehe es vor, die Figuren meiner Gegner zu opfern.« Zweifel nickte.

»Ganz nach Tartakowers Devise.« Dr. Wollmaus griff nach seinem Arztkoffer und schaute Zweifel überrascht an.

»Sie spielen Schach, Herr Kommissar?«

»Sagen wir, mich interessieren Menschen, die ihre geistigen Fähigkeiten auf die Spitze treiben.«

»Ich verstehe.« Er warf noch einen Blick auf die orangefarbene Decke, die der Kommissar wieder sorgfältig über den Toten gebreitet hatte. Dann räusperte er sich.

»Ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber wenn es für Sie in Ordnung ist, dann möchte ich die Obduktion durchführen.« Zweifel blinzelte verblüfft zu ihm hinüber.

»Sie sind Gerichtsmediziner?«

»Ich war es, mehr als zwanzig Jahre lang.«

»Und danach?«

»Das tut nichts zur Sache. Ich kenne übrigens Ihren zuständigen Kollegen, Dr. Kälberer. Und mir ist klar, dass er die Leiche zu untersuchen hat.« Er machte eine Pause, um Zweifel Zeit zum Nachdenken zu geben. »Ich kann mit ihm reden.« Zweifel winkte ab.

»Nicht nötig. Ich denke, das geht in Ordnung.«

»Gut. Den ausführlichen Bericht haben Sie gestern. So ist doch immer noch die Zeitvorgabe, stimmt’s? Bis dann also.«

»Ach Doktor«, rief ihm Zweifel nach«, Sie wissen sicher, ob der Professor Angehörige hat und wo er wohnt.«

»Ja, das weiß ich natürlich.« Zweifel notierte Namen und Adressen. Dr. Wollmaus entfernte sich und der Kommissar warf seiner Assistentin einen Blick zu.

»Muss ich mir diesen Namen, Tarta-irgendwas, merken?«, fragte Melzick, nachdem der Arzt außer Hörweite war.

»Nein, müssen Sie nicht. Dieser Tartakower war mal ein außergewöhnlicher Schachgroßmeister, berühmt für seine geistreichen Attacken und Aphorismen. Ist lange her, irgendwann in den Zwanzigerjahren. Damals gab es noch kein Internet.« Melzick schaute ihn an.

»Kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Leute damals kommunizierten.«

»Auf die primitive Art, würde ich sagen. Frontal. Von Angesicht zu Angesicht. Die harte Tour eben.«

»Also völlig ungeschützt. Schreckliche Vorstellung.« Zweifel schloss ergeben die Augen und sagte nur: »Melzick!« Sie grinste. Dann sprach sie kurz mit den beiden Beamten. Sie würden sich um den Abtransport kümmern, sobald Penny Stock, die mit ihren Leuten von der Spurensicherung jeden Moment auftauchen musste, mit ihrer Arbeit fertig sein würde.

2. Kapitel

Kurz darauf wandte sich der Kommissar an die alte Dame, die im Beisein Max Katers geduldig ausgeharrt hatte.

»Sie sind also Frau Eichhorn. Ich bin Kriminalkommissar Adam Zweifel.«

»Ein sehr passender Name«, sagte Frau Eichhorn nicht im Mindesten beeindruckt.

»Wen haben Sie denn nun wann gefunden? Erzählen Sie mal.« Der Junge neben ihr auf der Bank schien bei diesen Worten noch mehr in sich zusammenzusinken. Sie schaute den Kommissar mit ihren hellblauen Augen offen an.

»Ich ging im Walde so für mich hin … ach nein – das ist aus einer anderen Geschichte.« Sie kicherte leise und zwinkerte ihm zu. »Entschuldigung, Herr Zweifel, ich bin nicht mit allem einverstanden, was ich sage, müssen sie wissen.« »Na prima«, dachte Melzick bei sich, »noch eine Spinnerin.« Sie betrachtete sie etwas genauer: dunkelblaue Seidenbluse, strahlend weiße Hose, gelber Seidenschal, es sah alles sehr teuer aus. Silbergraues langes Haar, zu zwei Zöpfen geflochten, gebräuntes Gesicht mit erstaunlich wenigen Falten, flinke Augen, ein auffallender Pigmentfleck auf der rechten Schläfe. Alles in allem eine sehr eigenwillige Person mit viel Gold an den alten Fingern.

»Also ich war auf meinem Morgenspaziergang«, fuhr sie fort. »Genau genommen mache ich den nur jeden zweiten Morgen. Ich muss mir meine Kräfte einteilen.« Unwillkürlich warf Zweifel einen Blick auf den Rollator, der neben der Bank parkte.

»Wie üblich kam ich an dem Ententeich vorbei, dessen Ufer im Übrigen gerade von einem Biber neugestaltet wird. Zumindest will uns das ein Schild weismachen, welches die Kurverwaltung schon vor einem Jahr dort aufgestellt hat. Na – soll mir recht sein.« Sie hob kurz die Schultern und versank dann in Schweigen. Zweifel wartete. Er musterte den Jungen neben ihr, der einen jämmerlichen Anblick bot. Dann schaute er auffordernd zu seiner Assistentin hinüber.

»Das war jetzt aber noch nicht alles, oder?«, warf Melzick ein. Die Alte zuckte zusammen, als ob sie erst jetzt ihre Anwesenheit bemerkt hätte. Sie hüstelte etwas verlegen.

»Natürlich nicht, junge Dame«, überspielte sie den Moment. »Ich blieb für einen Moment stehen, warf einen Blick in die Runde und überlegte, bei wem ich mein Mittagessen einnehmen sollte. Sie müssen wissen, ich habe einen großen Bekanntenkreis und möchte niemanden benachteiligen.« Melzick zog die Augenbrauen hoch und schüttelte leicht verwundert den Kopf.

»Was meinen Sie damit?« Die alte Dame bedachte sie mit einem prüfenden Blick. Die hennaroten Dreadlocks, welche Melzicks Kopf zierten, fielen ihr erst jetzt auf.

»Nun, ich möchte reihum jedem meiner Freunde und Freundinnen das Vergnügen meiner Anwesenheit während der wichtigsten Mahlzeit des Tages bescheren. Wie klingt das in Ihren Ohren?«

»Ziemlich raffinierte Methode, um sich durchzufuttern.«

»Oh, Sie lieben klare Worte. Ich glaube, das gefällt mir.« Kommissar Zweifel lauschte geduldig diesem Dialog, dann räusperte er sich.

»Das Frühstück«, sagte er. Frau Eichhorn zuckte erneut zusammen.

»Was meinen Sie, Herr Kommissar?«

»Nun ja, je eher Sie uns alles erzählt haben, desto schneller kommen Sie zu ihrem Frühstück.«

»Ach ja – das Frühstück.« Sie betrachtete den Kommissar nachdenklich von oben bis unten. »Sie haben nicht zufällig etwas …« Zweifel hob abwehrend die Hände.

»Also gut, dann eben in aller Kürze. Ich ging an der großen Wiese vorbei, dort wo die höchsten Bäume im Park stehen. Und da sah ich ihn im Schatten liegen.« Mit diesen Worten versetzte sie dem Jungen, der mit geschlossenen Augen neben ihr kauerte, einen sanften Rippenstoß. Er kippte sofort zur Seite. Melzick sprang gerade noch rechtzeitig zu ihm hin und stützte ihn. Er öffnete die Augen und schaute verständnislos jeden der Reihe nach an. »War ein ziemlicher Schock für mich, Herr Kommissar, das können Sie mir glauben«, sagte die Alte und zupfte an den Ärmeln ihrer dunkelblauen Seidenbluse. »Vor allem, weil neben dran noch etwas lag. Ich blieb stehen wie angewurzelt. Ja – und dann bewegte er sich und …«, der Junge ließ ein Stöhnen hören. Melzick hatte ihn wieder gerade hingesetzt und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. »Und ich sah den anderen dort liegen«, sagte Eichhorn und nickte langsam.

»Haben Sie ihn erkannt«, fragte Zweifel. Sie richtete sich gerade auf.

»Ich kenne weder den Toten«, Pause, Seitenblick auf Ferdinand Alba zu ihrer Linken, »noch den Scheintoten hier.« Noch bevor der Kommissar etwas darauf erwidern konnte, war lautes Rufen aus der Richtung des Ententeichs zu vernehmen. Gleich darauf sahen sie eine ganz in schwarz gekleidete, große, hagere Frauengestalt mit wehenden graublonden Haaren quer über die Wiese laufen, wobei sie heftig mit beiden Armen winkte.

»Anna«, war zu hören, »Anna, Anna!«

»Da kommt mein Frühstück«, sagte Anna Eichhorn und nickte, als sei sie sehr einverstanden mit dieser Unterbrechung. Kurz darauf war die Ruferin bei ihnen angelangt. Auf den letzten Metern hatte sie merklich ihre Schritte verlangsamt und blickte nun misstrauisch und schwer atmend auf die Personen, die, womöglich in böser Absicht, ihre Freundin umzingelten.

»Hier bist du also«, stieß sie hervor. »Was sind das für Leute? Warum bist du nicht gekommen? Brauchst du Hilfe?« Bei der letzten Frage schaute sie den Kommissar feindselig an. Dies war Serafina Moor pur. Max Kater, der junge Mann vom Wachdienst, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, versuchte, sich mit wenigen Schritten noch etwas weiter zu entfernen, als ihr Habichtblick auf ihn fiel.

»Kater«, bellte sie, »was ist hier vorgefallen?« Der Angesprochene zuckte leicht zusammen und blieb stehen. Kommissar Zweifel verlor etwas an Geduld. Er zückte seine Marke und hielt sie kurz in die Luft.

»Adam Zweifel, Kriminalpolizei. Sie heißen?« Es folgte ein kurzer Blickkontakt zwischen den zwei Damen. Dann fixierte Serafina Moor den Kommissar.

»Darf ich Ihre Marke noch einmal etwas genauer sehen?« Melzick schüttelte leicht verwundert den Kopf, ohne dabei die Hand von der Schulter des Jungen zu nehmen, der regungslos und mit geschlossenen Augen der Dinge harrte. Zweifel griff nochmals, allerdings betont langsam, in die Innentasche seines Jacketts.

»Also, bevor das hier eskaliert, Serafina, lass es gut sein. Das ist wirklich ein echter Kommissar, ohne Zweifel«, sagte Anna Eichhorn. »Wir sind hier sowieso fertig, denn ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte.« Serafina Moor hob eine Augenbraue.

»Worüber?«

»Später.«

»Ganz wie du meinst«, schnaubte ihre Freundin. Und, gegen den Kommissar gewandt: »Mein Name ist Moor, Serafina Moor.« Dies wurde mit geschlossenen Augen in einem herablassenden Ton hingeworfen. Zweifel ignorierte sie fürs erste, ebenso die letzte Behauptung Anna Eichhorns.

»Frau Eichhorn, ist Ihnen bevor, oder nachdem Sie die beiden dort liegen sahen, etwas Bemerkenswertes aufgefallen?«

»Es war ja zu erwarten, dass Sie danach fragen. Mir ist tatsächlich etwas aufgefallen. Kurz nachdem ich im Park angekommen war, am nördlichen Ende, dort wo das Labyrinth ist, Sie wissen schon, der Barfußpfad, die Leute laufen da im Kreis mit bloßen Füßen über alles Mögliche, schreien ab und zu vor Schmerz und finden es ganz toll.«

»Und da war also jemand?«

»Nein – da war Stille, keine Menschenseele. Daher fiel mir auch das Geräusch auf.«

»Was für ein Geräusch?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es kam irgendwie von weit her. Als ob jemand ein riesiges Gebläse laufen ließe und doch irgendwie anders. Es war nur kurz zu hören und dann nicht mehr, aber ich habe keine Ahnung, von wo es kam.« Sie zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, aufzustehen. Ihre Freundin Serafina stützte sie am Ellenbogen. Anna Eichhorn machte mit dem Kopf eine leichte Bewegung in Richtung des Kommissars.

»Und das ist wirklich alles, Herr Zweifel. Wenn Sie in den nächsten Tagen das Bedürfnis haben sollten, mit mir zu plaudern, so bin ich sicher, dass Sie mich finden werden. Ich gehe jetzt.« Sie schnappte sich mit Hilfe Serafina Moors ihren Rollator und setzte sich mit ihr zusammen in Bewegung, einen verdutzten Herrn Kater und einen schmunzelnden Kommissar zurücklassend. Ferdinand Alba unterdessen schlug plötzlich die Augen auf.

»Sie sind weg«, sagte er mit einer unerwartet kräftigen Stimme. Melzick, deren Hand sich an seine Schulter gewöhnt hatte, ließ ihn los. Kommissar Zweifel bedachte den aus seinem Scheintod Erwachten mit einem langen, nachdenklichen Blick aus seinen fast schwarzen Augen. Dann fasste er einen Entschluss.

»Melzick, ich schlage vor, Sie bringen Herrn Alba nach Hause.« Dabei nickte er ihr zweimal kurz zu. Sie arbeiteten lange genug zusammen. Melzick verstand sofort. Sie sollte den Jungen alleine befragen.

»Können Sie aufstehen?«, fragte sie ihn.

»Jetzt schon«, sagte er.

»Herr Kater, wenn Sie noch einen Moment Zeit hätten«, sagte Zweifel nach einem kurzen Blick auf dessen Namensschild. »Wir treffen uns nachher in meinem Büro, Melzick.« Sie hob die Hand.

»Ay Käpt’n.« Zweifel wartete bis die beiden sich entfernt hatten. Dann drehte er sich zu Kater um.

»Schon lange dabei?« Kater zuckte die Schultern.

»Ich hab’ vor acht Monaten angefangen.«

»So so, gerade mal acht Monate. Aber Sie sind doch von hier? Ich meine, Sie kennen den Ort?« Kater schaute den Kommissar fragend an und nickte dann. »Sie kennen die Gerüchte, Sie wissen, wer mit wem, Sie haben Einblick in die Keller, wo die Leichen liegen …« Kater grinste und nickte abermals. »Hm, Hm.« Zweifel strich mit der flachen Hand über seinen kahlen Schädel, während er sich umblickte. Dann legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun, Kater. Dieser Fall, wenn es denn einer ist, hat gerade erst begonnen. Es ist gut möglich, dass Sie mir später behilflich sein können, sozusagen als vorgeschobener Horchposten. Wollen Sie das tun?« Kater machte ein ernstes Gesicht und nickte nach kurzem Zögern. »Diese Frau Moor scheint Sie ja zu kennen.«

»Sie wohnt am Stadtrand in der alten Villa Fontenay. Hässlicher Kasten, wenn Sie mich fragen, aber ein wunderbarer Park drum herum. Ich war da mal Gärtner, aushilfsweise. Sie kommandiert gerne herum. Und sie hat ein gutes Namensgedächtnis. Leider.«

»Ist sie schon lange in Bad Wörishofen?«

»So zwei Jahre ungefähr.«

»Und woher kam sie?«

»Aus dem Norden. Sylt, soviel ich weiß. Prominentenviertel. Ihr verstorbener Mann hatte dort in Kampen ein riesiges Anwesen.« Zweifel schaute ihn anerkennend an.

»Sie sind wirklich gut informiert.« Sie tauschten ihre Mobilfunknummern aus, dann streckte er dem jungen Mann die Hand hin. »Auf gute Zusammenarbeit.«

Melzick und Ferdinand Alba liefen schweigend nebeneinander her. Er hatte die Hände in den Taschen seiner viel zu weiten Jeans vergraben. Die Sonne war nun höher gestiegen und hatte den blassen Dunst, der stellenweise über dem Kurpark gelegen hatte, vertrieben. Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Erst am frühen Nachmittag würde es hier wimmeln, von Tagesausflüglern, alten Kurgästen und jungen Familien mit quäkenden Kindern. Melzick genoss die Ruhe und das langsame Gehen neben diesem merkwürdigen Außerirdischen. Am Ausgang des Parks lenkte er zielstrebig seine Schritte Richtung Norden, wo der Weg zwischen weiträumigen Wiesen hin zum Waldrand führte, wie sie verdutzt bemerkte.

»Sie wohnen doch nicht etwa im Wald?«, entfuhr es ihr. Er antwortete nicht, schob stattdessen, wie zum Trotz, die Hände noch tiefer in die Hosentaschen. »Ich bin bewaffnet«, sagte sie. Er drehte seinen Kopf kurz in ihre Richtung.

»Ich nicht«, war seine Antwort. »Und außerdem bin ich ziemlich bescheuert«, dachte Melzick. Bevor sie die Sache wieder ausbügeln konnte, blieb er plötzlich stehen.

»Haben Sie schon mal auf einen Menschen geschossen?« Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute zum Waldrand hin, der in der Ferne vor ihnen lag. Ein schmaler Streifen Dunkelheit unter dem strahlenden Morgenlicht. Ein kleiner Rest der Nacht hatte sich dort unter einer dünnen Decke verkrochen.

»Hab’ ich.«

»Und?«

»Hab’ ihn getroffen.«

»Wo?«

»Wo ich wollte, am rechten Bein.« Sie schaute ihn an. »Können wir weitergehen?« Alba folgte ihr, sichtlich beeindruckt. Während sie schweigend den Weg fortsetzten, dachte sie an den Mann. Dachte an seine Beine, die vor ihr weggerannt waren, die in einer schäbigen Jogginghose gesteckt hatten, die sie ins Visier genommen hatte, bis er sich nach ihr umdrehte, atemlos, schon sehr weit weg. Und wie sie dann geschossen hatte, mit ruhiger Hand. Sie war die Beste gewesen in ihrem Ausbildungsjahrgang. Mit Abstand. Ein Talent, für das sie keine Erklärung hatte. Als sie den Mann getroffen hatte, schrie er auf, griff mit beiden Händen an sein verwundetes Bein, machte noch zwei, drei Schritte, kam ins Stolpern und stürzte. Sie war unfähig gewesen, sich ihm zu nähern. Sie hatte die Waffe weggesteckt und war einfach stehen geblieben wo sie war, bis die anderen kamen. Dieser Mann hatte kurz zuvor in der Innenstadt wahllos um sich geschossen: Ein Amoklauf. Es war ihr erster Einsatz gewesen. Seither hatte sie nie wieder geschossen, und wenn es nach ihr ging, würde sie es auch nie wieder tun. Mit einer unwilligen Kopfbewegung verscheuchte sie den Gedanken daran. Ihr kam in den Sinn, weshalb sie hier mit Alba durch die Gegend lief.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte sie ihn.

»Achtundzwanzig. Was passiert jetzt mit dem Professor?«

»Er kommt in die Gerichtsmedizin. Wir wollen aus dem ungeklärten Todesfall einen aufgeklärten Todesfall machen.« Er nickte. Sie waren nun am Wald angelangt und folgten einem schmalen, kurvigen Weg. Struppiges Unterholz zu beiden Seiten. Hohes Gras. Brennnesseln, Brombeerbüsche, lange Schatten.

»Er hat mir sehr geholfen. Es hat …«, er stockte und holte tief Luft. Sie waren wieder stehengeblieben. Er rang um Atem. Sie schaute ihn fragend an, hob die Hand. Er wehrte sie ab. »Geht schon wieder. Wir sind gleich da.«

»Waren Sie befreundet?« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie kannten ihn schon länger.«

»Seit ein paar Jahren.

»Wie haben Sie …«, doch Melzick konnte ihre Frage nicht zu Ende formulieren. Sie starrte auf einen Punkt, etwas entfernt und in rund fünfzehn Metern Höhe. »Was ist denn das?«

»Wir sind da«, sagte er.

»Ist das denn erlaubt?«, fragte sie, den Kopf im Nacken.

»Typisch deutsche Frage«, sagte Alba und ergriff mit einer Hand eine Strickleiter. »Denjenigen, auf den es ankommt, habe ich gefragt.«

»Und wer ist das?« Er klopfte mit der anderen Hand auf den silbrig schimmernden mächtigen Stamm einer 250-jährigen Buche. Dann begann er, vorsichtig zu klettern.

»Achten Sie auf die sechste und die siebte Sprosse«, rief er ihr über die Schulter zu.

»Warum?«, rief sie zurück.

»Die sind präpariert. Ich mag keine ungebetenen Besucher.« Melzick schaute sich um, spähte zwischen den hohen, mächtigen Buchen, die sich an diesem Ort versammelt hatten, umher. Stille im Wald, von Bienen eingefangen. Sie schaute nach oben. Alba war schon verschwunden. Sie seufzte. Dann kletterte sie ihm nach in sein Baumhaus.

3. Kapitel

Zur gleichen Zeit stand Zweifel vor der smaragdgrünen, extra breiten Eingangstür des südlichen Victoria-Palais. Das auf Hochglanz polierte Messingschild wies nur vier Namen auf. Der oberste, leicht abgesetzt von den übrigen, lautete Marie-Theres Mindelburg. Professor Mindelburgs Schwester wohnte nicht einfach nur, sie residierte. Dafür eignete sich das Victoria-Palais allerdings vorzüglich. Er drückte auf den matt und edel schimmernden Klingelknopf. Das Auge der Überwachungskamera, schwarz, klein und böse, links von ihm,

ignorierte er. Zwei, drei, vier Minuten tat sich überhaupt nichts. Zweifel hatte das erwartet. Audienzen verlangen Geduld. Er trat ein paar Schritte zurück und ließ den Blick nach oben schweifen. Die eindrucksvolle Fassade leuchtete blassgelb im Morgenlicht. Die Balustraden und Pfeiler der oberen Balkone waren von majestätischer Ruhe umgeben. Er schlenderte noch ein paar Schritte nach rechts in Richtung des parkähnlichen Gartens, der sich hinter dem Wohnpalast erstreckte. Sein Blick strich über den perfekt gepflegten Rasen, auf dem, fast unbemerkt, lautlos und pflichtbewusst ein Mähroboter seinen Dienst versah. Vereinzelt standen prachtvolle Bäume, gelassen und stolz. Sein Blick verlor sich in ihrem flirrenden Blättermeer. Er hörte die sonore Stimme nicht sofort.

»Hast Du es?«, fragte Serafina Moor Anna Eichhorn. Diese schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Sie waren an der Villa Fontenay angelangt. Das Blatt Papier, das sie dem toten Professor aus der Brusttasche hätte entwenden sollen, war nicht zu finden gewesen.

»Jemand muss schneller gewesen sein«, sagte Anna Eichhorn mit einem Seitenblick auf ihre Freundin. Diese runzelte die Stirn und sagte mit vor Ärger zischender Stimme:

»Das ist einfach unglaublich. Hast Du auch wirklich genau nachgesehen?« Eichhorn nickte verdrossen.

»Die Tasche war leer.«

»Na dann«, sagte Moor mit Ingrimm, »kommt dafür nur unser lieber Dr. Wollmaus in Frage.«

»Ein wundervoller Garten, nicht wahr, Sir?« Zweifel fuhr herum. In respektvollem Abstand verharrte ein ganz in schwarz gekleideter, silberhaariger Mann von unbestimmbarem Alter. Er hielt sich sehr gerade und ließ sich nicht anmerken, dass er diesen Satz zum zweiten Mal äußerte. Der Kommissar war immer noch vertieft in den Anblick des Parks.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« Der hauchfeine Oxfordakzent war nur für geübte Ohren erkennbar. Doch Körpersprache und Wortwahl waren unverkennbar: Dies war ein Butler bester englischer Schule, wie man ihn bestenfalls in einer Dokumentation der BBC zu sehen bekam. Der Kommissar räusperte sich.

»Adam Zweifel. Ich möchte mit Frau Mindelburg sprechen.« Der Butler legte den Kopf etwas schief.

»Zweifel, Sir?«

»Ja – Kriminalpolizei.« Er zeigte seinen Dienstausweis. Sein Gegenüber stutzte für einen winzigen Moment. Dann verbeugte er sich leicht.

»In diesem Falle wird es am besten sein, wenn Sie mir folgen wollen, Sir«, sagte er mit einer einladenden Geste seiner behandschuhten Rechten.

»Nur, wenn Sie mir vorher verraten, wer Sie sind«, sagte Zweifel.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Mein Name ist Willoughby.«

»Nun, Willoughby, dann wollen wir mal.« Der Butler ging voraus und verblüfft registrierte Zweifel, dass sie sich offensichtlich auf den Weg in die Tiefgarage machten. Zwischen den beiden identischen Gebäudekomplexen des Victoria-Palais führte, verborgen hinter einer dichten Hecke, eine gewundene Marmortreppe in die Tiefe. Eine dunkelblau schimmernde, schwere Metalltür kam nach einer leichten Biegung ins Blickfeld. Rechts davon war ein kleines Display in der dunklen Stahlbetonwand eingelassen. Willoughby tippte routiniert eine sehr lange Zahlen- und Buchstabenkombination ein und nach einer kurzen Verzögerung öffnete sich die Tür automatisch und lautlos. Sie betraten nun den Aufenthaltsraum für eine Schar exklusiver Luxusgefährte. Willoughby deutete vage auf einen grünen Bentley, der, auf Hochglanz poliert, in der Mitte des Raumes ruhte.

»Wenn Sie sich hier ein paar Minuten gedulden wollen, Sir. Frau Mindelburg wird in Kürze erscheinen.« Zweifel nickte und Willoughby ging gemessenen Schrittes zu einer extra breiten Aufzugstür, die sich in der weißglänzenden Seitenwand befand. Auch hier tippte er wieder einen äußerst langen Sicherheitscode ein. Ein gedämpfter Gongschlag war zu hören, die Tür glitt lautlos zur Seite, und wenig später war er verschwunden. Zweifel schaute sich um. Eine dünne Nervosität beschlich ihn, wie stets, wenn er kurz davorstand, eine Todesnachricht zu überbringen.

»Sie haben ihn hoffentlich weggeschickt, Willoughby? Wir sollten uns etwas beeilen.« Marie-Theres Mindelburg stand in ihrem Salon, eine Handtasche in der Linken, in der Rechten ein Smartphone, auf das sie flüchtig schaute.

»Das war leider nicht möglich, Madam. Es handelt sich um einen Polizisten«, sagte Willoughby.

»Das spielt keine Rolle.« Sie steckte das Smartphone in ihre elegante Handtasche. »Hat er gesagt, worum es geht?« Sie warf einen Blick auf ihren Butler. »Nein, das hat er wohl nicht.«

»Er ist von der Kriminalpolizei, Madam.« Sie stockte auf ihrem Weg zur Eingangstür. »Ich hab’ ihn gebeten, beim Wagen zu warten.«

»Gut, Willoughby.«

»Darf ich Madam?« Er griff nach dem schmalen Aktenkoffer, den sie von einem kleinen Tisch neben dem Eingang genommen hatte.

»Nein, den nehme ich selbst.« Als sie in der Eingangstür stand, drehte sie sich noch einmal um und warf einen langen Blick durch die Panoramafenster am anderen Ende des Raumes.

Zweifel war ein wenig umhergegangen und hatte die wenigen, dafür umso imposanteren Karossen zumeist italienischer oder britischer Herkunft begutachtet. Als sich die Aufzugstür öffnete, war er gerade dabei, sich das Display etwas näher anzusehen, auf dem Willoughby den Sicherheitscode eingetippt hatte. Er drehte sich halb um. Vor ihm stand eine große, grauhaarige Frau. Die Eleganz ihrer Kleidung war nicht zu übertreffen. Zwei kalte, graue Augen musterten ihn durch eine schwarzumrandete Brille. Sie reichte ihren kleinen Aktenkoffer dem Butler, der ihn sogleich im Kofferraum verstaute.

»Sie kommen ungelegen. Ich bin auf dem Weg nach München«, sagte sie anstelle einer Begrüßung. Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme und sprach in einer leisen Art und Weise, die Widerspruch nicht zu dulden schien.

»Ich bin untröstlich, Frau Mindelburg«, sagte Zweifel und holte seinen Dienstausweis hervor. »Mein Name ist Adam Zweifel. Ich muss Sie dringend sprechen.« Willoughby wartete an der geöffneten Wagentür. Sie seufzte.

»Also gut, dann fahren Sie eben mit und wir lassen Sie unterwegs aussteigen.« »Beschlossen und verkündet!«, dachte Zweifel. »Diese Frau ist es gewohnt, zu bestimmen.« Es würde interessant sein, zu sehen, wie sie auf seine Neuigkeit reagierte. Seine Nervosität war verflogen, als er neben ihr auf dem cognacfarbenen Leder saß. Willoughby, im Zweitberuf Chauffeur, startete die Limousine und achtete, sobald sie die Tiefgarage verlassen hatten, auf keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen, ungeachtet seines offiziellen Passagiers.

»Und was ist nun so dringend, Herr Zweifel?«

»Wann haben Sie zuletzt ihren Bruder gesehen?« Sie schaute aus dem Fenster und antwortete nicht sofort.

»Das war an einem Sonntagnachmittag, irgendwann im letzten Monat.«

»Sie treffen sich regelmäßig mit ihm?«

»Wir haben keine festen Termine, wenn Sie das meinen. Aber er kommt hin und wieder bei mir vorbei.« Sie fixierte ihn über ihre schwarz geränderte Brille hinweg. »Ich verstehe den Grund Ihrer Fragen nicht, Herr Zweifel. Was ist mit Abraham?« Ohne sich lange um die Formulierung Gedanken zu machen, sagte Zweifel:

»Sein Leben hat heute Morgen geendet.« Sie zeigte keinerlei Reaktion. Er glaubte schon, sie hätte ihn nicht verstanden. Dann bemerkte er ihre Hände, die ganz weiß geworden waren.

»Er ist also tot«, sagte sie leise.

»Es tut mir leid, Frau Mindelburg.« Sie nickte kaum merklich. Willoughby beobachtete sie aufmerksam im Rückspiegel.

»Mein Bruder Abraham Mindelburg ist tot«, sagte sie langsam und nun etwas lauter vor sich hin, als könne sie die Tatsache so besser begreifen. Die ganze Zeit über hatte sie aus dem Seitenfenster geblickt, wo nun die von dieser Tatsache völlig unbeeindruckte Landschaft grün in grün vorbeifloss, unter einem klaren blauen Himmel. Sie schaute Zweifel an. »Wo?«

»Jemand hat ihn heute Morgen im Kurpark gefunden.«

»Jemand?«

»Er ist dort aus großer Höhe auf eine Wiese gestürzt.« Zweifel wurde jetzt, da er es aussprach, erst richtig bewusst, wie absurd sich das anhörte. Willoughbys wachsames Auge traf ihn im Rückspiegel.

»Das verstehe ich nicht. Wie …?«

»Wir wissen noch nichts Genaueres, aber …«, er verstummte. Sie hatte eine Hand leicht erhoben, dann ließ sie sie wieder fallen.

»Mein Bruder hat extreme Höhenangst, Herr Zweifel.«

»Nun, der Arzt meinte, dass sein Herz vor Schreck stehen blieb während seines Sturzes.«

»Der Arzt?«

»Dr. Wollmaus.«

»Ja, sicher, Dr. Wollmaus. Das sieht ihm ähnlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Aber Herr Kommissar – sie sind doch Kommissar – ich frage Sie: Wie lange dauert wohl ein Sturz, selbst aus großer Höhe? Wie will er denn da mit Sicherheit feststellen können, wann das Herz meines Bruders …« Sie brach ab und verbarg ihr Gesicht in den langen, schmalen, weißen Händen. Der Schmerz kam mit Verzögerung. Zweifel hatte dies oft genug beobachtet. Er wartete einige Minuten ab, ohne sie anzusehen und dachte über ihren Satz nach. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er die Behauptung des Arztes nicht hinterfragt hatte. Er wischte den Ärger jedoch gleich darauf beiseite. Nach der Obduktion würden sie hoffentlich klarer sehen. Und überhaupt: Von wo herab konnte er denn gestürzt sein? Unwillkürlich suchte er den Himmel ab und wusste mit einem Mal die Antwort. Dabei musste er an seine Assistentin denken. Melzick war ungewöhnlich clever, wenn es darum ging, Rätsel zu lösen. Außerdem hatte sie ein Talent dafür, die richtigen Fragen zu stellen. Was ihr fehlte, war, Geduld mit ihren Mitmenschen zu haben. Sie hatte auch keine Geduld mit sich selbst. Und das war wohl auch der Grund für ihre latente Aggressivität, ihre Art, anderen ins Wort zu fallen. Zweifel hatte sie von Anfang an respektiert – mit Aggressionen konnte er gut umgehen.

»Was werden Sie jetzt tun, Kommissar?« Marie-Theres Mindelburg hatte ihren ruhigen, beherrschten Ton wiedergefunden. Er schaute zu ihr hinüber und räusperte sich.

»Dasselbe wie immer – ich suche nach der Wahrheit.« Sie verzog die Lippen, dann hielt sie ihre rechte Hand mit vier langen weißen Fingern in die Höhe. Er konnte diese Geste nicht deuten.

»Sie werden sie nicht finden. Suchen Sie den Mörder.« Sie machte nach jedem Wort dieses Satzes eine kleine Pause. Es klang wie ein Befehl.

»Sie sind davon überzeugt, dass ihr Bruder umgebracht wurde?«

»Ich bitte Sie, Herr Kommissar. Er hatte krankhafte Höhenangst, wie ich schon sagte. Er war ganz sicher nicht freiwillig in einer solchen Höhe. Man muss ihn mit Gewalt dazu gezwungen haben. Ein Unfall kann es daher nicht gewesen sein.«

»Dann frage ich Sie ganz geradeheraus: wer hätte ihn denn umbringen sollen?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wir sind in fünfzehn Minuten am Hauptbahnhof, Madam«, kam Willoughbys Stimme von vorn. Zweifel war überrascht. Sie mussten mit einer Geschwindigkeit von weit über 2oo Stundenkilometern gefahren sein.

»Danke Willoughby«, sagte sie.

»Haben Sie einen Verdacht?«, wiederholte Zweifel seine Frage. Sie hatte ihre Hände nun gefaltet.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, mein Bruder war ein eigenartiger Mensch. Niemand kannte ihn solange wie ich. Doch was heißt schon kennen?« Sie seufzte. »Ich weiß wie seine Stimme klang, welche Länder er bereist hatte, was er als kleiner Junge anstellte, um beachtet zu werden. Aber ich habe keine Ahnung davon, was in ihm vorging, was seine Pläne waren, seine Absichten. Es ist vielleicht seltsam, so etwas zu sagen, aber ich sehe ihn eher als Gast in meinem Leben. Ein Gast, der allerdings selten zu Besuch kam. Daher weiß ich nichts von seinen Freunden, wenn er welche hatte. Und noch weniger von seinen Feinden, wenn Sie danach fragen.« Zweifel rieb sich mit der linken Hand bedächtig über seine Glatze. Er richtete seine dunklen Augen auf sie.

»Dennoch steht für Sie außer Frage, dass er ermordet wurde. Er war demnach jemand, den Sie für geeignet halten, ermordet zu werden?«

»Sie haben eine merkwürdige Art, sich auszudrücken, Herr Zweifel, um nicht zu sagen, eine zynische Art. Finden Sie das angebracht?«

»Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Hatte Ihr Bruder Talent dazu, sich Feinde zu machen?« Sie warf einen scharfen Blick auf ihn.

»Davon müssen wir konsequenterweise wohl ausgehen, oder nicht?«

»Wissen Sie, womit er sich in der letzten Zeit beschäftigte?«

»Er war Kunstsachverständiger. Soviel ich weiß schrieb er an einem Buch über verlorengegangene Gemälde. Er hat aber ein ziemliches Geheimnis daraus gemacht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass er mit diesem Buch ein Risiko einging?«

»Sie meinen, ob er jemandem auf der Spur war?« Sie zögerte etwas. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Aber ausschließen können Sie es ebenso wenig?« Sie nickte nach abermaligem Zögern.

»Hören Sie, Herr Kommissar, wir sind gleich am Hauptbahnhof. Ich habe dort eine eminent wichtige Verabredung.«

»Sie verreisen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es könnte sich aus diesem Gespräch ergeben.«

»Und mit wem treffen Sie sich?« Sie schaute ihn an und versuchte ein Lächeln, doch sie beantwortete seine Frage nicht. Wieder rieb er kreisförmig mit der linken Hand über seinen kahlen, gebräunten Schädel. Für dieses Mal würde er ihr Schweigen akzeptieren.

»Ich möchte, dass Sie für uns in den nächsten Tagen erreichbar sind. Können Sie das einrichten?«

»Nun, falls ich verreise, ist es nur für ein oder zwei Tage. Ich werde mich ja auch um die Beerdigung kümmern müssen, nicht wahr?« Zweifel nickte. Willoughby bog gerade in die Taxibucht vor dem Haupteingang des Bahnhofs ein und hielt. Zweifel reichte Marie-Theres Mindelburg die Hand und Willoughby öffnete ihm schweigend den Wagenschlag. Fürs Erste war alles gesagt.

4. Kapitel

»Nicht dahin!«, sagte Ferdinand Alba zu Melzick, die sich gerade etwas außer Atem auf einen kleinen Hocker setzen wollte, der aussah wie eine Kreuzung aus Buschtrommel und Klavierstuhl. »Der hält Sie nicht aus. Ist auch eher als Tisch gedacht. Nehmen Sie das dort.« Gleichgültig ließ sie sich auf einem schmalen Brett, das längs an der Wand angebracht war, nieder und schaute sich um. Das Baumhaus bestand aus zwei übereinander angebrachten Räumen. Der Untere, Größere, in dem sie sich befanden, war eine Art Wohnraum. Außer dem Brett, auf dem Melzick saß, gab es eine große Anzahl von Regalbrettern, die mit unzähligen vergilbten und zerfledderten Taschenbüchern gefüllt waren. In der Mitte stand der Hocker, auf den sie sich beinahe gesetzt hatte. In einer Ecke war ein Sitzsack platziert, wie sie in den siebziger Jahren beliebt gewesen waren, in dem für damals typischen Orange. Auf diesen ließ Alba sich nun fallen. Auch ihn hatte der Aufstieg angestrengt. In zwei Wänden war je ein quadratisches Fenster ausgespart. Auf dem Fußboden lag ein Sisalteppich. Rund um die niedrige Eingangstür waren mit Reißzwecken alte Schwarzweißfotos, zum Teil noch mit weiß gezacktem Rand, befestigt. Über die Strickleiter gelangte man auf einen schmalen Sims, der sich rund um die vier Wände hinzog. An einer Außenwand waren Vierkanthölzer als Stufen montiert, über die man den oberen Raum erreichte. Was Melzick nicht sehen konnte: Dort war ein Atelier eingerichtet. Fenster in allen Wänden sowie eine gläserne Lichtluke im Dach. Ein alter Rattantisch, übersät mit rostigen Konservendosen, in denen sich hunderte von Pinseln mit farbverschmierten Griffen von ihrer Arbeit ausruhten. An den Wänden wenig Leinwand. Der Boden »Jackson-Pollock«-mäßig gesprenkelt. Terpentin- und Ölfarbenduft in der staubigen, grünschimmernden Luft. Mitten im Raum eine alte Staffelei, die schon viel ertragen hatte, und die aktuell einer unbefleckten Leinwand Halt und Sicherheit gab.

»Was sind das für Fotos?«, fragte Melzick.

»Die hab’ ich von meinem Großvater«. Sie stand auf und ging näher heran.

»Wer ist die Frau?« Sie hatte festgestellt, dass praktisch auf jedem Bild dieselbe Person zu sehen war.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Zumindest habe ich keinen gefunden, der es mir sagen könnte.« Sie betrachtete die Bilder genauer. Sie mussten über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen worden sein.

»Ihr Großvater muss sich sehr für sie interessiert haben. Warum haben Sie die hier aufgehängt?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ungewöhnlich helle Augen«, dachte er bei sich. »Blasses Coelinblau«.

»Die müssen ziemlich alt sein«, sagte sie.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht noch ein Spritzer Indigo, aber ganz wenig«, dachte er, »für die Schatten in der Iris«. Er bemerkte, wie sie ihn anstarrte und versuchte, sich auf eine vernünftige Antwort zu konzentrieren.

»Fünfziger Jahre schätze ich. Ist aber nicht wichtig. Ich meine – mir ist es egal. Das Licht – ich finde das Licht auf alten Schwarzweißfotos sehr schön. Nicht auf allen natürlich. Eigentlich sind es nur wenige. Man findet es selten. Auf denen da ist es gut zu erkennen. Die alten Momente leuchten auf, finde ich. Man kommt ganz leicht hinein in die Bilder. Ich bin da gerne. Deswegen …, sicher habe ich sie aus diesem Grund da aufgehängt. Ich …, ach was rede ich denn da wieder für einen sentimentalen Schwachsinn.« Er warf beide Hände in die Luft. Melzick hatte sich wieder gesetzt.

»Wie haben Sie den Professor kennen gelernt?« Er schaute nervös an die Decke.

»Wollen Sie eigentlich etwas trinken? Ich habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten.«

»Was haben Sie denn hier draußen?«, fragte sie skeptisch. Statt einer Antwort schwang er sich aus seinem bequemen Sitzmöbel in die Höhe, verschwand durch die schmale Öffnung des Eingangs und kletterte an der Außenwand auf den Holzstufen nach oben in sein Atelier. Sie war drauf und dran, ihm zu folgen, überlegte es sich aber anders und blieb sitzen. Von draußen klang heftiges Blätterrauschen herein, ein Wind war aufgekommen. Sie fragte sich, ob er hier oben auch übernachtete. Und wie es sich wohl anfühlen mochte, nachts bei Sturm und Regen, fünfzehn Meter über dem Waldboden in einer schwankenden Hütte zu schlafen. Der Gedanke begann ihr zu gefallen. Alba kam nach einigen Minuten zurück mit einer dampfenden Thermoskanne Kaffee und zwei blauen Keramikbechern.

»Solarzellen?«, fragte sie. Er nickte.

»Für die Kaffeemaschine reicht es aus«, sagte er und schenkte ein.

»Ich sehe keine Lampen.«

»Natürlich nicht. Elektrisches Licht im Wald – das geht ja gar nicht. Dafür hab’ ich Kerzen«, sagte er und streckte ihr einen vollen Becher entgegen. Dann setzte er sich mit seinem Kaffee wieder in seine Ecke.

»Verstehe«. Sie versuchte einen Schluck und verbrannte sich die Zunge. »Also – wie haben Sie Professor Mindelburg kennen gelernt?« Er nippte vorsichtig an seiner Tasse und ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie zog ebenso genervt wie auffordernd die Augenbrauen in die Höhe. Ihre Zungenspitze fühlte sich ganz rau an und brannte.

»Er hat mir geholfen.«

»Wobei?«

»Er hat ein paar meiner Bilder gekauft. Außerdem kennt er die richtigen Leute in dem Metier. Kannte.« Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an seinen toten Gönner.

»Wie war das heute Morgen, als Sie ihn fanden?« Er stellte seinen Becher ab und verschränkte die Arme.

»Das war absolut strange. Wenn ich mir vorstelle, dass ich da meine Übungen machte und ihn dabei im Blickfeld hatte. Die ganze Zeit. Die ganze Zeit liegt der tote Professor praktisch vor mir. Aber ich konnte es nicht erkennen. Er lag ja da wie ein dicker Ast.«

»Was für Übungen?«

»Qi Gong, die acht edlen Übungen. Schon mal davon gehört?« Sie nickte.

»Aber irgendetwas hat Sie veranlasst, zu ihm hin zu gehen?« Er musterte ihre hennarote Haarkonstruktion.

»Muss wohl so gewesen sein. Irgendwas kam mir komisch vor.«

»Haben Sie vorher irgendjemanden bemerkt, einen Spaziergänger oder Radfahrer? Haben Sie vielleicht etwas gehört?« Er griff sich an die Nase und überlegte, dann schüttelte er den Kopf.

»Gesehen habe ich keinen. Gehört? Ich kann mich nicht mehr – oh, warten Sie.« Er schaute sie an und runzelte die Stirn. »Etwas hat gefaucht.«

»Wie – gefaucht?«

»Na gefaucht eben. Ich kann’s nicht anders beschreiben.«

»Wann haben Sie das gehört?«

»Als ich mit den Übungen anfing, glaube ich. Ja – da bin ich ziemlich sicher.«

»Und wann war das etwa?«