Mord aus zweiter Hand - Achim Kaul - E-Book

Mord aus zweiter Hand E-Book

Achim Kaul

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Beschreibung

Ein Ermordeter im Merkurbrunen, ein Erhängter im Wittelsbacher Park: sind schwarze Mitbürger die Opfer von Rassisten? Ein makabres Video geht viral. Anschläge erschüttern das Vertrauen in die Polizei. Die Medien spielen verrückt. Entwickelt Augsburg sich zu einer kriminellen Hochburg? Kommissar Zweifel und seine Assistentin Zick bewegen sich auf dünnem Eis. Bei der Tätersuche begegnen sie giftigen Nachbarn, geldgierigen Juristen und gerissenen Journalisten. Die Lage spitzt sich zu, als der Polizeichef sich einmischt.

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Ein Ermordeter im Merkurbrunnen, ein Erhängter im Wittelsbacher Park — sind schwarze Mitbürger Opfer von Rassisten? Es braut sich was zusammen. Ein makabres Video geht viral. Anschläge erschüttern das Vertrauen in die Polizei. Die Medien spielen verrückt. Kommissar Zweifel und seine Assistentin Zick bewegen sich auf dünnem Eis. Bei der Tätersuche begegnen sie giftigen Nachbarn, geldgierigen Juristen und gerissenen Journalisten — eine explosive Mischung. Die Lage spitzt sich zu, als der Polizeichef sich einmischt.

Achim Kaul (*1959) war lange Vermögensberater, bevor er sich seinem Traumberuf Schriftsteller widmete.

Er veröffentlichte seit 2019 drei Kriminalromane sowie unter dem Pseudonym Micha Luka drei Abenteuerromane für Kinder.

»Überwegs — Vonwegens Begegnungen«, der Roman einer ungewöhnlichen Reise, erschien 2022.

Kaul erhielt im selben Jahr in München den Spacenet Award für eine seiner Kurzgeschichten. Zuletzt erschien im Frühjahr 2023 »Ferne Giraffen«, ein Band mit acht mysteriösen Short Storys.

»Mord aus zweiter Hand« ist der neueste Augsburg-Krimi mit dem Ermittlerduo Zweifel und Zick.

Für Bettina, Julia und Adrian

und für Carla

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Nachbemerkungen und Dank

1. Kapitel

Melzick wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als sie hörte, wie die Flaschen mit einem hässlichen Klirren an einer Hauswand zerschellten. Ihr Kopf dröhnte. Die Schmerzen waren unerträglich geworden. Nicht einmal eine kalte Dusche hatte geholfen. Trotzdem — sie hätte in der Wohnung bleiben sollen. Oben unter dem Dach, in dem Haus Nummer fünfundsechzig in der Maximilianstraße. Unerträglich heiß zwar, aber weit weg von diesen Männern, die etwa zwanzig Meter hinter ihr torkelten, grölten, ein Opfer witterten.

Melzick ging etwas rascher Richtung Moritzplatz. Es war kurz nach drei Uhr an diesem Sonntagmorgen in einer der heißesten Nächte des Jahres. Sie würde mit diesen Typen schon fertig werden, aber sie hatte absolut keine Lust auf eine Konfrontation.

»Heh! Bleib stehen! Du da! Bleib stehen, verdammt! Wir kriegen dich sowieso!«, brüllte einer in ihrem Rücken. Melzick widerstand dem Reflex, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Da krachte direkt vor ihren Füßen eine volle Bierflasche auf das staubige Straßenpflaster. Sie explodierte buchstäblich und das Bier spritzte hoch bis in ihr Gesicht. Melzick blieb stehen und wischte sich die ekelhaft warme Brühe von der Stirn. Sie holte tief Luft.

Na schön, Jungs, dachte sie, ihr habt es nicht anders gewollt. Sie spähte die Maximilianstraße Richtung Rathaus entlang. Kein Mensch war zu sehen. Nur im Merkurbrunnen plantschte ein herrenloser Hund wie wild herum.

Melzick drehte sich langsam um. Vier Männer, stockbetrunken, schwankten auf sie zu. Einer hielt sich für den Anführer und deutete mit beiden Armen auf sie, als hätte er zwei Revolver in den Händen. Er drückte ab. Der Hund in ihrem Rücken fing an zu bellen. Melzick lief energisch auf den Revolverhelden zu und blieb direkt vor ihm stehen. Er war zwei Köpfe größer als sie, doppelt so breit und kam sich anscheinend vor wie John Wayne. Melzick streifte die drei anderen mit einem raschen Blick, dann stemmte sie die Arme in die Hüften.

»Okay, Jungs, was schlagt ihr vor?«, fragte sie im Befehlston einer Oberstudienrätin, die kurz davor war, die Geduld zu verlieren.

»Wassn fürn Vorschlag?«, lallte John Wayne. Im Licht der Straßenlaternen konnte Melzick deutlich erkennen, dass er Mühe hatte, die Augen offenzuhalten.

»Laber hier nich rum«, mischte sich einer seiner Kumpels ein. Er war der kleinste der Bande und der dickste. Er stolperte auf seinen kurzen Beinen mit gesenktem Kopf auf Melzick zu.

Ihre Kopfschmerzen waren schlagartig verschwunden. Wie ein Torero wich sie mit zwei raschen Schritten zur Seite aus und ließ den Stier ins Leere torkeln. John Wayne meldete sich zu Wort.

»Was bissn du überhaupt für eine?« Melzick ignorierte seine Frage und fasste die beiden Helden ins Auge, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten.

Sie zückte ihr Smartphone, und ehe einer der vier reagieren konnte, hatte sie von jedem ein wenig schmeichelhaftes Foto geschossen.

»Heh, was soll das?«, krakeelte Nummer drei, dessen Hals und rechte Gesichtshälfte ein stümperhaftes Spinnen-Tattoo zierte.

»Sofort her mit die Negative. Diss iss rechtswidrig«, lispelte der vierte. Er musste schon im Rentenalter sein. Dessen ungeachtet zierten giftgrüne Leuchtdioden seine Sneaker.

»Das einzige Negative hier seid ihr, Jungs«, stellte Melzick fest. »Die Fotos sind Beweismaterial. Das wird später für die Anklage verwendet.«

»Was is los? Wassn für ’ne Anklage?« John Wayne schien mit einem Schlag nüchtern geworden zu sein.

»Vandalismus. Nächtliche Ruhestörung. Tätlicher Angriff auf die Staatsgewalt. Beamtenbeleidigung.« Der Hund im Merkurbrunnen bellte sich die Seele aus dem Leib, als stimmte er Melzicks Aufzählung in allen Punkten zu.

Der Revolverheld glotzte Melzick aus glasigen Augen und mit offenstehendem Mund an. Der kleine dicke Stier ließ sich, der Schwerkraft gehorchend, auf den Hintern fallen und beschränkte sich aufs Kopfschütteln. Spiderman kratzte, von der Situation sichtlich überfordert, an seinem Spinnen-Tattoo. Einzig der Senior mit den Teenagerschuhen fand Worte.

»Mädchen«, schnaufte er entschieden, »dein Ton passt mir nicht. Der passt mir überhaupt nicht.« Zur Bekräftigung rülpste er nachdrücklich.

Währenddessen schien der Hund überzuschnappen. Melzick drehte sich irritiert zu ihm um. Er tobte in dem flachen Becken des Merkurbrunnens herum, als würde er unter Strom stehen. Es war ein junger Schäferhund und Melzick fragte sich, wo zum Teufel das dazugehörige Herrchen war.

Eine schwere und klebrige Hand griff nach ihrer nackten Schulter.

Sie hatte nur ihre Radlerhosen und ein Achselshirt angezogen und bereute das zutiefst, während sie die Finger des Seniors packte und mit geübtem Griff in eine äußerst schmerzhafte Position umdrehte. Sein Schmerzensschrei übertönte kurzzeitig den hysterischen Hund. Melzick wäre es durchaus recht gewesen, wenn über die Ruhestörung empörte Anwohner sich eingemischt hätten.

»Du hast mir die Finger gebrochen!«, krächzte der Senior. »Verdammich, du Miststück hast mir sämtliche Finger gebrochen!«

»Nö, hab ich nicht«, sagte Melzick und lockerte ihren Griff. »Das ist nicht meine Art.«

John Wayne grunzte unverständlich und kam mit unsicheren Schritten auf sie zu. Der kleine Dicke lag mittlerweile flach auf den warmen Pflastersteinen und schnarchte. Offensichtlich war er nicht daran interessiert, sich an der weiteren Auseinandersetzung zu beteiligen. Spiderman dagegen hatte aufgehört, an seiner Tätowierung herumzufummeln. Er rempelte John Wayne unsanft an.

»Kannste nich mal den Köter zum Schweigen bringen? Der macht einen ja wahnsinnig.« Der Schäferhund bellte, jaulte, tobte, als würde ihm das Fell abgezogen. Immer wieder sprang er wie toll vom Brunnenrand ins Wasser. Irgendetwas stimmte da nicht. Melzick sah eine Chance, die Situation zu entspannen.

»Wie wärs, wenn wir mal nachsehen, was mit ihm los ist?«

»Erst will ich wissen, was du mit Arturs Hand angestellt hast«, schnaufte John Wayne und legte seinen Arm schwerfällig um die Schultern des Seniors. Der hatte seine Finger unter die linke Achsel geklemmt und stöhnte vor Schmerzen.

»Das hat er sich selbst zuzuschreiben«, erwiderte Melzick ungerührt. »Den Griff lernt man an der Polizeihochschule im ersten Semester.«

»Polizei? Was faselst du da?«, knurrte Spiderman.

Melzick verlor allmählich die Geduld, zumal das irre Verhalten des Hundes an ihren Nerven zerrte.

»Also gut, Jungs, jetzt sperrt mal die Ohren auf, ich hab eine schlechte Nachricht für euch. Ich bin Polizeiobermeisterin beim Kommissariat Eins in Augsburg.«

»Was is los? Spinnt die?«, lallte Spiderman.

»Ja verreck«, brummte Artur, der Alte.

John Wayne runzelte seine Stirn so stark, dass die wenigen wirren Gedanken dahinter eng zusammenrücken mussten.

»Wenn du uns verarschen willst, Kleine, dann …«, stieß er hervor. Dann brach er ab, weil er vergessen hatte, wie der Satz weiterging.

»Halt die Klappe«, knurrte Artur. Melzick zog ihre Dienstmarke aus dem Bund der Radlerhose und hielt sie den Helden unter die Nase.

»Die gute Nachricht ist: Ich bin gerade nicht im Dienst. Ich könnte also so tun, als ob ich euch nicht begegnet wäre.«

»Könntest du, so so …« In John Waynes trüben Augen glomm so etwas wie ein Wetterleuchten. Melzick hob ihren Zeigefinger und sah sie der Reihe nach an.

»Ich sag euch, was jetzt passieren wird. Wir kümmern uns zuallererst um diesen verrückten Hund. Danach räumt ihr eure kaputten Bierflaschen fein säuberlich auf, weckt euren Kumpel dahinten und macht euch still und leise auf den Heimweg.«

»Und wenn wir dazu keine Lust haben, was dann?«, wollte John Wayne wissen.

Melzick schüttelte den Kopf und warf ihm einen Blick zu, der ihm zu verstehen gab, dass er gerade den Preis für die dämlichste Frage des Jahres ergattert hatte.

»Mann, du hast doch gehört, die ist von der Polizei«, knurrte Artur. »Was wird sie wohl machen?«

»Die Polizei rufen«, mischte sich Spiderman ein. Melzick nickte ihm zu.

»Meine Kollegen sind schneller da, als euer müder Bruder dahinten auf die Beine kommt. Wollt ihrs drauf ankommen lassen?«

»Herrgott, dieser Köter macht mich wahnsinnig!«, rief Spiderman. »Dem dreh ich jetzt den Hals um!«

»Langsam, langsam«, bremste Melzick. »Wir verteilen uns über die ganze Breite der Maxstraße und kreisen den Brunnen von allen Seiten ein. Alles klar, Jungs?« Sie nickten keineswegs enthusiastisch. »Gut, John Wayne, du gehst da rüber.«

»Wen meinst du mit John Wayne?«

»Sorry, wie ist dein richtiger Name?« John Wayne kratzte sich am Kopf und warf den anderen einen Blick zu.

»Bleiben wir erst mal bei John Wayne.«

»Ok. Spiderman, du hältst dich ein paar Meter rechts von ihm, dann komme ich und Artur geht ganz rechts außen.«

»Spiderman«, brummte Spiderman, »du traust dich was, Kleine.« Er schien jedoch nichts gegen seinen Kampfnamen zu haben.

»Was macht die Hand?«, fragte Melzick mit einem Seitenblick auf Artur.

»Frag nicht so blöd, Mädchen. Dir geb ich sie jedenfalls nicht mehr.« Er deutete mit dem Kinn zum Merkurbrunnen.» Und was willst du mit dem Hund anstellen?«

»Weiß ich noch nicht. Wir versuchen erstmal, so nah wie möglich an ihn ranzukommen. Muss ja einen Grund geben, weshalb der so durchdreht.«

Während der kleine Dicke sich grunzend auf eine Seite wälzte und seinen Filmriss verlängerte, schlichen Melzick, John Wayne, Spiderman und Artur sich an den Merkurbrunnen heran. Melzick dirigierte sie und ließ dabei den Hund nicht aus den Augen. Der winselte jetzt in fiependen Tönen und schlug mit den Pfoten auf das Wasser. Zum ersten Mal kam Melzick der Gedanke, dass sein Herrchen vielleicht gar nicht so weit weg war, wie sie gedacht hatte. Der Hund beachtete die vier Gestalten, die sich von allen Seiten dem Brunnen näherten, nicht eine Sekunde lang. Er war zu sehr damit beschäftigt, nach etwas im Wasser zu fassen. Melzick gab den drei Männern das Zeichen, stehenzubleiben, als ihr klarwurde, was da im Maul des Hundes hing und woran er so besessen zog und zerrte.

»Ach du meine Fresse!«, rief John Wayne.

»Ihr bleibt wo ihr seid«, befahl Melzick. »Das ist ein Tatort und wenn ihr schon mal TATORT gesehen habt, wisst ihr, was das heißt.« Spiderman fluchte leise und Artur spürte, wie seine Knie nachgaben.

Melzick war am Brunnenrand angelangt und redete beruhigend auf das verstörte Tier ein. Der Hund ließ die Hand nicht los und schaute sie aus irren Augen an, als sei er vom Teufel gehetzt. Es war eine schwarze Hand, ein schwarzer Unterarm, eine schwarze Leiche, die den ansonsten halbleeren Merkurbrunnen in Augsburgs Prachtstraße zum Tatort machte.

Wäre ich nur zuhause geblieben, dachte Melzick nicht zum ersten Mal in dieser Nacht, während sie nach ihrem Smartphone griff.

2. Kapitel

Kommissar Adam Zweifel stand am Bett seines Vaters und schüttelte den Kopf. So hatte er ihn noch nie gesehen. Das Bett stand in einem kahlen Raum der Unfallchirurgie im Zentralklinikum. Zweifel warf der alten Dame, die stumm am Fenster stand, einen fragenden Blick zu. Frau Müllerschön, bei der sein Vater zur Untermiete wohnte, zog ratlos die Schultern hoch.

»Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Ich weiß nur, dass Ihr Vater es geschafft hat, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Krankenhaus betreten habe.«

Zweifels Vater Ed saß in seinem Bett, hob seine linke Hand von der Decke und ließ sie kraftlos fallen. Er vermied es, seinen beiden Besuchern in die Augen zu sehen. Stattdessen starrte er mit einem Auge auf einen Fleck an der blassgrün gestrichenen Wand. Das andere Auge war zu einem Schlitz zugeschwollen. Die Nase war hinter einem voluminösen Verband vor neugierigen Blicken geschützt. Das gleiche galt für die rechte Hand sowie den linken Fuß.

Zweifel fragte sich, wer seinen Vater so perfekt eingewickelt hatte. Er fragte sich noch mehr, doch er sagte erstmal nichts, denn in diesem Moment stürmte eine ebenso voluminöse Schwester gut gelaunt mit einem Tablett herein.

»So, Herr Zweifel, da bin ich wieder. Oh, Sie haben Besuch, na das ist doch mal eine gute Nachricht. Tut die Nase noch sehr weh? Wir wollen hoffen, dass Sie keinen Schnupfen bekommen, was?«

Sie plapperte pausenlos Punkt und Komma ignorierend, während sie sich flink und elegant wie eine Eiskunstläuferin um das Krankenbett herumbewegte, das Tablett abstellte, das Kopfkissen aufschüttelte, das Bett glattstrich. »Sie glauben ja nicht, wie viele alte Leute ich kenne, die nie Besuch bekommen. Ich hoffe, der Kaffee ist nicht zu heiß. Nussschnecken habe ich keine bekommen. Werden die Croissants ausreichen? Sind leider nicht ganz frisch. Da müssen Sie wohl ein Auge zudrücken, wie? Aber das tun Sie ja schon. Passen Sie bitte auf, dass Sie keine Flecken auf das schöne weiße Bett bringen. Wird das überhaupt gehen mit der linken Hand? Sie sind ja anscheinend Rechtshänder. Immerhin haben Sie mit rechts zugeschlagen. War ganz schön mutig von Ihnen. Ich bin ja so erleichtert, dass es noch Männer mit Zivilcourage gibt. Brummt der Kopf noch? Na, jetzt trinken Sie erstmal den Kaffee. Medikamente bringe ich später. Wenn Sie noch was brauchen, bitte nicht laut schreien. Drücken Sie einfach diesen Knopf und schon erscheint Schwester Karlotta.«

Mit diesen Worten verschwand Schwester Karlotta. Zweifel starrte die sich schwungvoll schließende Tür an, dann Frau Müllerschön, dann seinen Vater, der schuldbewusst nach dem Kaffeebecher griff.

»Was war das?«

»Schwester Karlotta persönlich, nehme ich an«, sagte Frau Müllerschön.

»Bevor du jetzt wieder mit deinem üblichen Kopfschütteln anfängst, nimm dir eins von diesen Dingern«, sagte Ed Zweifel. »Die kann ich nicht ausstehen.« Kommissar Zweifel seufzte ergeben und griff nach einem der Croissants. »Aber pass auf die Krümel auf, ich will keinen Ärger mit dieser Karlotta.« Zweifel zögerte kurz, dann biss er rücksichtslos eine Ecke ab.

»Offensichtlich hast du heute schon genug Ärger gehabt.« Sein Vater hielt eine Antwort für überflüssig. Er konzentrierte sich auf seinen Kaffee, blies sachte in den Becher und schlürfte ein paar Schlucke, wobei er sein unversehrtes Auge schloss. Zweifel widmete sich, Krümel auf den Linoleumboden verstreuend dem trockenen Gebäck, das wider Erwarten lecker war. Er nickte Frau Müllerschön zu.

»Möchten Sie vielleicht auch ein paar Krümel verteilen?« Sie schüttelte sanft den Kopf, zog sich einen Besucherstuhl ans Fenster und setzte sich.

Ed war klar, dass die beiden auf eine Erklärung warteten. Er fühlte sich unbehaglich.

»Du hast dich ordentlich einwickeln lassen. War das auch Schwester Karlotta? Hast du starke Schmerzen? Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist? Willst du uns davon erzählen?« Zweifel konnte nicht anders, er musste seine Fragen im Rudel loswerden.

Sein Vater schluckte bedächtig, nickte und sagte:

»Ja. Nein. Ja. Nein.« Sein Sohn seufzte nochmal und steckte den Rest des Croissants in den Mund.

»Schön«, sagte er, »so einfach kommst du mir nicht davon. Lass dir ruhig Zeit. Frau Müllerschön und ich haben sowieso nichts Besseres vor, oder?« Sie räusperte sich vornehm und verkündete:

»Ich bin ganz Ohr.« Ed schnaufte tief durch.

»Mir ist das irgendwie unangenehm, so von mir zu erzählen.«

»Das ist ja ganz was Neues«, erwiderte Zweifel und griff nach dem zweiten Hörnchen. »Dieser Schwester Karlotta musst du ja auch schon einiges erzählt haben.« Sein Vater wedelte diese Bemerkung leicht gekränkt mit der linken Hand in eine Ecke des Zimmers.

»Ich war ihr ausgeliefert. Die hat mir alles aus der Nase gezogen, bevor sie sie eingepackt hat. Das war ’ne ganz besondere Verhörtechnik.« Er trank von seinem Kaffee und stellte den Becher mit unsicherer Hand auf das Nachttischchen.

Dann begann er zu berichten.

»Ich war auf dem Rückweg von Stadtbergen. Ein alter Freund von mir hat dort einen Buchladen. Lauter alte Schinken, Kunstbücher, Fotobände, nichts Wertvolles. Aber viel Wissenswertes. Jede Menge kluger und gelehrter Staub. Er hockt dort den ganzen Tag allein herum und stöbert und schmökert in seiner eigenen Welt. Ich leistete ihm dabei Gesellschaft, bis wir beide genug davon hatten. Dann verabschiedete ich mich und ging zur Endhaltestelle der Sechserlinie, die ist da gleich um die Ecke.

Ich musste zehn Minuten warten, bis die Straßenbahn kam. Ich stieg ganz hinten ein. Kurz darauf kam ein Junge angerannt und warf sich keuchend auf einen Sitz weiter vorn. Die Tram war fast leer. Im letzten Moment stiegen noch zwei Männer ein und setzten sich direkt hinter den Jungen.

Er war ein dünner, schwarzer Schlaks, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Die Männer waren bestimmt doppelt so alt. Einer der beiden war blond, Bürstenhaarschnitt, Sommersprossen, der andere schwarzhaarig mit hohen Geheimratsecken und einem Feuermal im Gesicht. Beide waren etwa gleich groß, mit breitem Kreuz, trugen dunkelblaue Hosen und Hemden, eine Art Uniform. Niemand, den man zu einem Tänzchen auffordert. Sie schienen den Jungen zu kennen, ihn verfolgt zu haben, denn sie redeten intensiv auf ihn ein. Anfangs verstand ich kein Wort, aber es war deutlich, dass der Junge am liebsten wieder ausgestiegen wäre. Ein paar Mal versuchte er aufzustehen, aber sie hielten ihn eisern an den Schultern fest.

Außer mir war noch ein Rentnerpaar in Riechweite des Ärgers, der sich da zusammenbraute. Bevor die Tram losfuhr drehte die Frau sich zu dem Jungen um und musterte ihn. Empört verzog sie ihre Nase und raunte ihrem Mann etwas ins Ohr. Worauf er einen vorwurfsvollen Blick über die Schulter warf. Gleich danach standen die beiden auf und marschierten nach vorn, vorbei an einer Schülerin oder Studentin, die angestrengt aus dem Fenster starrte.

Ich war nun der einzige in der Nähe des Jungen. Von da an konnte ich jedes Wort verstehen, denn die beiden rabiaten Zeitgenossen drehten die Lautstärke auf.

›Zeig mal her deinen Asylantrag‹, knurrte der Blonde. ›Wir müssen den kontrollieren. Hast du noch nicht mitgekriegt, was? Den müsst ihr Bimbos ab sofort vorzeigen, wenn ihr in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigt.‹ Die dreiste Dummheit dieser Bemerkung ließ mich hellhörig werden. Der andere boxte dem Jungen auf die Schulter.

›Verstehst du überhaupt Deutsch, du Halbaffe?‹ Der Junge nickte. Wieder bekam er einen Schlag auf die Schulter. ›Wie war das? Ich hab nix gehört. Hat er was gesagt?‹, fragte er seinen blonden Kampfgenossen. Der schüttelte den Kopf und deklamierte, als wäre er auf einer Wahlveranstaltung:

›Es geht nämlich um Gerechtigkeit. Das muss gerecht zugehen hier in Deutschland. Dafür sind wir da. Halbaffen haben in Deutschland nix verloren. Wir haben hier nämlich ein Klimaproblem. Kein gutes Klima für eure Sorte. Ein Scheißklima, sozusagen. Verstehst du, was ich sage?‹ Der Junge nickte heftig und versuchte zum x-ten Mal aufzustehen. Sie drückten ihn auf seinen Sitz. ›Der nickt nur. Der sagt einfach nix. Wie soll man da kontrollieren, ob er Deutsch kann?‹, sagte der Sommersprossentyp.

›Wir müssen ihn wohl motivieren, was meinst du?‹, sagte der mit dem Feuermal und grinste. ›Ob ihn wohl so-was-moti-viert?‹ Der Junge bekam bei jeder Silbe einen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.« Zweifels Vater atmete tief durch und blickte an die Decke.

»Da hielt ich den Moment für gekommen, mich an dem Gespräch zu beteiligen. Mit ein paar Schritten war ich im Auge des Sturms. Der Junge starrte mich verwirrt an. Die beiden dampfenden Kämpfer für Gerechtigkeit auf deutschem Boden dagegen ignorierten mich.

›Bitte um Verzeihung‹, wenn ich ungefragt das Wort ergreife‹, sagte ich. ›Möglicherweise kann ich etwas zur Entspannung der Situation beitragen.‹

›Was will der denn?‹, knurrte der mit dem Feuermal.

›Setz dich mal schön brav wieder auf deinen Platz, Alterchen‹, polterte der Blonde.

›So leid es mir tut, Ihnen widersprechen zu müssen — mein Platz ist hier. An der Seite der Gerechtigkeit, sozusagen.‹ Nun hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Sie wandten mir gleichzeitig ihre erhitzten Gesichter zu.

›Was ist los mit dir, Alterchen? Ist dein Hörgerät kaputt?‹ ›Das hier ist eine private Unterhaltung. Wir haben dich nicht eingeladen.‹

›Da befinden Sie sich im Irrtum, wie nicht anders zu erwarten‹, entgegnete ich. ›Sowohl Wortwahl, als auch Lautstärke und vor allem der Inhalt Ihrer Äußerungen laden sehr wohl ein. Und zwar zum Widerspruch. Zur Korrektur. Zur Richtigstellung.‹« Ed Zweifel verschränkte in seinem Krankenbett die Arme, was wegen der dick eingewickelten rechten Hand nicht ganz einfach war. »Ich wollte die beiden Herren erst vor den Kopf stoßen und dann in den Hintern treten, verbal natürlich. Anfangs zumindest.«

Sein Sohn nickte und ahnte einiges. Frau Müllerschön ging es ähnlich, denn sie hatte eine Hand vor den Mund gelegt und lauschte gespannt Ed Zweifels folgenden Worten. »Ich erklärte es ihnen. ›Was das Thema Halbaffen angeht: wussten Sie, dass man diese in zwei Gruppen unterteilt? Da haben wir einmal die Feuchtnasenprimaten, wie zum Beispiel die Koboldmakis, die man oft auf Zooplakaten sieht, mit ihren großen Augen. Und zum anderen die Trockennasenprimaten.‹

Der Blonde grunzte genervt. ›Alterchen, das interessiert uns einen Scheißdreck. Steck deine Affennase nicht in unsere Arbeit!‹ Doch diesen Einwand ließ ich nicht gelten.

›Außer in Kreuzworträtseln haben Halbaffen ihren bevorzugten Lebensraum auf Madagaskar. Das dort herrschende Klima behagt ihnen so gut, dass sie weit davon entfernt sind, sich in Deutschland um Asyl zu bewerben.‹

›Jetzt hab ich aber genug von deinem Grufti-Gelaber. Ich helf dir gern beim Aussteigen‹, fauchte der mit dem Feuermal.

›Ich bin gern bereit, Ihre unhöfliche Art mir gegenüber für den Moment außer Acht zu lassen. Ich bin nicht bereit, auszusteigen. Und ich bin nicht bereit, Ihr Verhalten gegenüber diesem jungen Mann zu tolerieren.‹

Nun war der Punkt gekommen, an dem der Blonde sich bemüßigt fühlte, aufzustehen.

Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte der Junge, riss sich los und sprang in höchster Eile die ganze Straßenbahn entlang bis zum vordersten Einstieg.

›So Freundchen‹, knurrte der Blonde und fletschte die Goldzähne, ›wird Zeit, dass die Sache eskaliert.‹ Sein Komplize, dessen Gesicht sich auch außerhalb des Feuermals dunkelrot färbte, sprang ebenfalls auf. Was also hätte ich tun sollen? Über den Begriff Bimbo referieren? Einen Vortrag zum Thema gewaltfreie Kommunikation halten? Oder einfach mal präventiv zuschlagen?«

»Oh mein Gott«, murmelte Kommissar Zweifel.

»Was soll ich sagen? Der Typ ist meinem Präventivschlag so schnell ausgewichen, dass ich stattdessen nicht nur die Haltestange erwischte, sondern von den Typen auch ein paar knallharte Argumente aufs Auge gedrückt bekam.«

»Und dein Fuß?«

»Ich hab den Hintern des blöden blonden Herrn mit den Goldzähnen verfehlt.«

»Aha, und was hast du stattdessen getroffen?«

»Den Kasten, in dem man die Streifenkarten entwertet.«

»Sowas ähnliches hab ich schon befürchtet«, sagte Zweifel.

»Wir hielten gerade an der Luitpoldbrücke und meine Kontrahenten schienen an einem weiteren Meinungsaustausch nicht interessiert. Sie waren dabei, auszusteigen und dabei kam mir besagter Hintern als Zielobjekt durchaus angemessen vor, um meinen Standpunkt nachhaltig zu vertreten.«

»Und es gab keinen in der ganzen Straßenbahn, der was davon mitbekommen hat?«, fragte Zweifel.

»Doooch«, erwiderte sein Vater mit drei O’s. »Es gibt Augenzeugen und zwar für den Tritt gegen diesen blöden Kasten. Das könnte übrigens teuer werden.«

»Was soll das heißen?«

»Der Lokführer oder wie sagt man bei einer Straßenbahn?«

»Straßenbahnfahrer«, sagte Frau Müllerschön.

»Genau. Der Straßenbahnfahrer hat wohl irgendwas mitbekommen und kam in Begleitung des naserümpfenden Rentnerehepaars nach hinten. Beide zeigten mit dem Finger auf mich. ›Ich hab genau gesehen, wie er dagegen getreten hat‹, sagte der Mann. Die Frau nickte. ›Und zwar mit voller Wucht.‹ Und ich stand daneben auf einem Bein und wusste vor Schmerzen und Empörung nicht, wohin ich zuerst schreien sollte. Der Straßenbahnfahrer schaute sich das Teil kurz an. ›Das ist Beschädigung städtischen Eigentums. Ich brauche Ihre Personalien. Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.‹« Frau Müllerschön murmelte leise:

»In was für einer Welt leben wir bloß?« Zweifel räusperte sich und sah seinen lädierten Vater nachdenklich an.

»Du kannst von Glück sagen, dass du diesen Hintern verfehlt hast. Solche Typen …« Sein Vater unterbrach ihn, indem er die unverletzte Hand hob.

»Du kannst dir deine Belehrungen sparen. Das weiß ich alles schon längst. Aber du warst nicht in dieser Situation. Da gabs nicht viel zu überlegen.«

»Was war mit dem Jungen?«

»Der hat sich in Sicherheit bringen können, nehme ich an.«

»Er wäre dein wichtigster Zeuge. Nur wirst du seinen Namen nicht kennen«, sinnierte Zweifel halblaut vor sich hin.

»Haben Sie dem Straßenbahnfahrer die Situation nicht erklärt?«, fragte Frau Müllerschön. »Das war doch eindeutig Notwehr.«

»So eindeutig auch wieder nicht. Immerhin hat mein Vater ja zuerst zugeschlagen«, wandte Zweifel ein.

»Aber er hat nicht getroffen«, beharrte sie. »Zumindest kein Gesicht. Und auch kein anderes Körperteil.« Sie schnaubte durch ihre kleine Nase. »Mir fehlen einfach die Worte. Der ganze Vorfall gehört in die Zeitung.«

»Das könnte was werden«, sagte Ed Zweifel. »Das Mädchen, das ich zuerst für eine Schülerin oder Studentin gehalten habe, kam näher, als sie merkte, dass die Schläger weg waren und die Denunzianten ihren Auftritt hatten. Sie hörte alles mit an und ergriff sofort meine Partei, indem sie auf meinen etwas ramponierten körperlichen Zustand hinwies. In Wahrheit konnte ich mich kaum auf den Beinen halten.« Frau Müllerschön schüttelte ungläubig den Kopf.

»Nebenbei hat sie mir eine Karte zugesteckt. ›Das kommt an die Öffentlichkeit‹, sagte sie. ›Geben Sie mir Ihre Nummer, ich rede mit meinem Chef. Dann melde ich mich bei Ihnen.‹ Das waren ihre Worte.«

»Aber du hast doch gar kein Smartphone«, sagte Zweifel.

»Ich hab ihr deine Nummer gegeben.«

»Du hast was?« Ed nickte.

»Würde mich nicht wundern, wenn es demnächst bei dir klingelt. Sie hat einen sehr energischen Eindruck auf mich gemacht. Außerdem hat sie einen Krankenwagen gerufen und mir ihr Telefon geliehen.«

Zweifel musste an die atemlose Stimme denken, mit der Frau Müllerschön ihm mitgeteilt hatte, dass sein Vater sie aus der Notaufnahme des Zentralklinikums angerufen hatte.

Ed Zweifel ruckelte unbehaglich in seinem Bett hin und her. Er warf seinen beiden Besuchern fragende Blicke zu. »Was hättest du denn an meiner Stelle getan?«, fragte er seinen Sohn. »Oder Sie, Frau Müllerschön, was hätten Sie getan? Das wüsste ich jetzt aber gern.« Sie antwortete zuerst.

»Ich hätte mich eingemischt, keine Frage. So ein Verhalten darf unter keinen Umständen toleriert werden. Diese Herrschaften hätten Bekanntschaft mit meinem Schirm gemacht.«

»Ihrem Schirm?«, fragte Kommissar Zweifel. Sie reckte ihr kleines Kinn.

»Ich gehe nie unbewaffnet aus dem Haus.« Zweifel begegnete ihrem Blick.

»Ich will mir nicht vorstellen, wie eine solche Konfrontation ausgegangen wäre. Mit Ihnen als Speerspitze.«

»Es ist ein unschätzbarer Vorteil, unterschätzt zu werden, lieber Kommissar«, erwiderte sie. Zweifel nickte.

»Ein Vorteil, der um mich einen weiten Bogen macht.« Sie schnalzte leise mit der Zunge.

»Pech für Sie. Ein zwei Meter großer …«

»Eins neunzig bin ich nur, eins neunzig.«

»Ein gefühlt zwei Meter großer Kriminalkommissar gerät nicht so leicht in Gefahr, unterschätzt zu werden.«

»Sieht man mir den Kommissar so deutlich an?«

»Ich bin überzeugt, dass Sie, wenn es nötig ist, Ihre Umwelt nicht darüber im Zweifel lassen, wer und was Sie sind.«

Bevor Zweifel etwas darauf erwidern konnte, vibrierte sein Telefon.

»Hallo, mein Name ist Anna Mondrian«, meldete sich eine energiegeladene Stimme. »Kann ich bitte mit Herrn Zweifel sprechen?«

»Das tun Sie bereits«, sagte Zweifel und zwinkerte seinem Vater zu. Ein paar Sekunden herrschte Stille.

»Ähm, Sie sind jetzt aber nicht der aus der Straßenbahn? Linie sechs? Den man verprügelt hat?« Zweifel zog die Augenbrauen hoch.

»Nein, heute hat man mich noch nicht verprügelt. Sie meinen vermutlich meinen Vater. Einen Augenblick.«

Ed nahm das Telefon entgegen und räusperte sich. Nach ein paar Sätzen war klar, dass die junge Frau namens Anna Mondrian bereits im Klinikum war und in wenigen Minuten vorbeikommen würde.

»Für welche Zeitung arbeitet denn diese Frau Mondrian?«, wollte Zweifel wissen.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Steht das nicht auf ihrer Visitenkarte?«

Ed zog die Schublade des Nachtschränkchens auf und kramte mit der Linken ungeschickt darin herum. Schließlich hielt er seine Brieftasche hoch, ein dünnes, abgewetztes Exemplar.

»Hier, sieh selbst nach.«

Zweifel vermied es, allzu neugierig danach zu greifen und fischte nach kurzem Suchen ein kleines Stück maigrünen Kartons heraus.

»Da steht nur ihr Name und eine Mobilfunknummer drauf. Und auf der Rückseite … aha. Na, das hört sich doch vielversprechend an.«

»Das will ich auch hoffen«, brummte Ed.

»Obwohl — sehr originell ist das ja nicht: ›verborgene wahrheit‹ und dann noch alles klein geschrieben.«

»Die Wahrheit im Original ist mir lieber, als originelle Formulierungen. Und außerdem hab ich das dumpfe Gefühl, dass es besser ist, wenn ich allein mit Frau Mondrian rede.«

»Schon verstanden, wir gehen jetzt», sagte Zweifel. »Soll ich Schwester Karlotta etwas ausrichten? Hast du besondere Wünsche, was das Diner angeht?«

»Quatsch, ich esse, was auf den Tisch kommt.« Frau Müllerschön stand auf.

»Ich fahr Sie nach Hause«, sagte Zweifel. »Wir haben ohnehin denselben Weg.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Kommissar, »aber ich werde die Gelegenheit nutzen, hier noch jemanden zu besuchen.« Zweifel öffnete die Tür und drehte sich zu seinem Vater um.

»Du wirst sicher morgen schon entlassen, oder?«

»Ob die mich offiziell entlassen oder nicht, spielt keine Rolle. Ich gehe jedenfalls gleich nach dem Frühstück.«

»Nimm ein Taxi, die Straßenbahn scheint dir nicht zu liegen. Zum Mittagessen bist du bei mir. Bei der Gelegenheit kannst du berichten, wie dein Interview gelaufen ist.« Er wandte sich an Frau Müllerschön. »Sie sind übrigens auch eingeladen. Es ist quasi mein Einstand als Nachbar. Was halten Sie davon?«

»Ich komme gerne«, erwiderte sie, »aber ich muss Sie warnen. Ich esse nicht alles, was auf den Tisch kommt.«

»Dann lassen wir es doch mal drauf ankommen.« Sie verabschiedeten sich von Ed und traten in den Flur hinaus. Zweifel hatte gehofft, der Journalistin zu begegnen, aber außer Schwester Karlotta, die sich gerade mit einem weiteren Patienten unterhielt, war niemand zu sehen. Sie gingen zu den Aufzügen. Während sie warteten, musste Zweifel eine Frage loswerden. »Wie finden Sie es, dass mein Vater seine Marotte abgelegt hat?« Sie warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Was meinen Sie?«

»Ach kommen Sie. Es muss Ihnen doch aufgefallen sein, dass er nicht mehr von sich in der dritten Person redet. Er sagt jetzt ›ich‹ anstelle von: ›Ed hat dies getan, Ed hat das getan‹. Er hat sich angewöhnt, wie ein normaler Mensch zu reden.«

»Wissen Sie, Herr Kommissar, ich misstraue grundsätzlich allem, das als ›normal‹ bezeichnet wird. Deswegen finde ich es ein bisschen schade. Es hatte so etwas wunderbar Verschrobenes, wenn er so verdreht redete.« Zweifel musste lächeln. Ein leiser Gong ertönte. Er gab ihr die Hand.

»Danke, dass Sie ihn besucht haben.« Sie nickte und dann stiegen sie in getrennte Aufzüge. »Bis morgen«, rief er in den Flur hinaus.

3. Kapitel

Eine halbe Stunde später war er in seiner Wohnung. Er ging ans Fenster und starrte gedankenverloren auf die Silhouette Augsburgs, die blass im Sommerabendlicht flimmerte. An diesem Samstagabend konnte er sich auf nichts so recht konzentrieren. Er probierte es mit einer Dokumentation über Einstein und Stephen Hawking auf ARTE, doch alles, was sein Geist aufnahm, war, dass der eine an einem vierzehnten März geboren und der andere an einem vierzehnten März gestorben war. Dann versuchte er es mit Musikvideos, konnte sich aber nicht entscheiden, worauf er Lust hatte. Nachdem er das vierte Video vorzeitig gestoppt hatte, gab er es auf.

Er ging in die Küche und wartete vor geöffnetem Kühlschrank auf eine Inspiration, die sich jedoch ins Gefrierfach zurückgezogen zu haben schien. Er schnappte sich die halbvolle Schale grüner Oliven. Während er sie leerte starrte er lustlos auf eine Handvoll Umzugskisten, die ebenfalls geleert werden wollten, jedoch auf seiner To-do- Liste zum wiederholten Mal auf den letzten Platz rutschten.

Er fühlte sich hundemüde. Der Olivengeschmack verursachte ihm plötzlich Übelkeit. Er ging ins Schlafzimmer, warf einen Blick aufs Bett und kurzentschlossen sich selbst hinterher. Endlich mal ausschlafen, war sein letzter Gedanke. Um halb vier klingelte sein Telefon. Melzick war dran.

»Guten Morgen, Chef.«

»Melzick«, stöhnte er.

»Sie hören sich müde an. Hab ich Sie etwa geweckt?«

»Melzick!«, stöhnte er lauter.

»Ich hab Neuigkeiten.«

»Was ist passiert?«, murmelte Zweifel im Halbschlaf.

»Kennen Sie sich mit Schäferhunden aus?«

»Melzick, ich reiße Ihnen den Kopf ab, wenn …«

»Das ist nicht nötig, Chef, wir haben schon eine Leiche. Im Merkurbrunnen.« Zweifel wälzte sich auf den Rücken und presste die Augen zusammen.

»Und was faseln Sie da von einem Schäferhund?«

»Der gehört zur Leiche. Zumindest dreht er schier durch. Wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie mal vorbeikämen.«

»Okay, okay, Melzick, gehen Sie schon mal Gassi mit dem Hund. Ich bin in zwanzig Minuten da.« Er legte auf, starrte in die Dunkelheit und atmete tief durch. Dann biss er ins Kopfkissen, warf es aus dem Bett und stand auf.

»Er heißt Danny Wilson. Zumindest hatte er einen Pass auf diesen Namen bei sich«, sagte Melzick eine knappe halbe Stunde später. Zweifel stand neben ihr und lutschte ein scharfes Hustenbonbon, um den bitteren Olivengeschmack loszuwerden. Er spuckte es auf den Boden und zertrat es knirschend unter seinem Absatz. »Wie wärs mit einem Kaugummi?«, fragte Melzick.

»Haben Sie einen?«

»Nö, aber Siebental bestimmt.« Zweifel drehte sich zu dem kleinen, rundlichen Kollegen um, der ein paar Meter entfernt vor einer Gruppe von Männern stand. Drei von ihnen saßen auf dem Pflaster, einer lag auf der Seite und schnarchte.

»Wer sind die vier?«, wollte Zweifel wissen.

»Artur, John Wayne, Spiderman und ein Murmeltier.«

»Hört sich nach einem schlechten Film an.«

»Mit mir in der Hauptrolle. So kam es mir vor, als ich vorhin die Maxstraße entlanglief und die Bierflaschen um meine Ohren flogen.« Sie schilderte ihm kurz und knapp, was passiert war. »Die Ambulanz muss jeden Moment hier sein. Der Doc, dessen Name mir gerade nicht einfällt, hat eine Panne mit seinem Wagen und wartet auf ein Taxi. Vorhin hat er angerufen.« Zweifel nahm diese Informationen kommentarlos zur Kenntnis.

Sie standen am Rand des Merkurbrunnens und betrachteten schweigend die große dunkle Gestalt, die auf dem Grund lag. Die Augen des Mannes waren unter Wasser weit geöffnet, als blickten sie in der Hoffnung auf Sternschnuppen in den Nachthimmel. Zweifel schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. »Es ist schrecklich, wenn ich das sage«, meinte Melzick, »aber es sieht so friedlich aus, wie er da im Wasser liegt. Ihm kann nichts mehr passieren.«

»Sie haben Recht, Melzick, es ist schrecklich. Höchstwahrscheinlich hat er seinen jetzigen Zustand nicht auf friedlichem Weg erreicht. Oder sieht das für Sie nach Selbstmord aus?« Melzick schüttelte den Kopf. »Woher haben Sie seinen Pass? Haben Sie ihn durchsucht?«

»Ich hab ihn nicht angerührt. Der Pass schwamm am Rand des Brunnens auf dem Wasser.«

»Merkwürdig.« Sie nickte. Zweifel wollte für einen Augenblick mit dem Opfer allein sein. »Fragen Sie Sid doch mal, ob er einen Kaugummi für mich hat.« Melzick lief hinüber zu Siebental. Der Kommissar tauchte seine Hand ins Wasser. Es war höchstens vierzig Zentimeter tief. Er sah nachdenklich auf das schwarze Gesicht, das trotz der weit offenen Augen so entspannt wirkte. Was hast du getan, dachte er im Stillen, dass du am Ende hier liegst? Melzick kam zurück.

»Er hat nur Gummibärchen.«

»Auch gut, danke.« Zweifel riss die Tüte auf und steckte sich eine Handvoll in den Mund. »Sie auch?«

»Die sind nicht vegan.«

»Wieso?«

»Da ist Gelatine drin.« Zweifel schmatzte, schüttelte den Kopf und steckte die Tüte in seine Hosentasche.

»Sie müssen mir mal eine Liste machen.«

»Worüber?«

»Was vegan ist und was nicht.«

»Warum, hab ich Sie etwa angesteckt?«

»Kann schon sein.«

»Da müssen Sie die Liste schon selbst machen.«

»Warum?«

»Es mogelt sich dann nicht so leicht.«

»Verstehe. Wo ist eigentlich der Hund?« Melzick kratzte sich an der Nase.

»Ich hab versucht, mit ihm zu reden. Ihn zu beruhigen. Ihm klarzumachen, dass sein Herrchen schläft. Für sehr lange Zeit schläft. Falls es überhaupt sein Herrchen war.«

»Wie hat er es aufgenommen?«

»Er ist auf und davon.«

»Soll heißen?«

»Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Ich weiß nur, er ist in Richtung Königsplatz abgehauen.«

Zweifel drehte sich um und spähte die Bürgermeister-Fischer-Straße entlang, als hoffte er, den Hund zu entdecken. »Er hätte uns sowieso nicht viel sagen können«, meinte Melzick.

»Da wäre ich mal nicht so sicher«, erwiderte Zweifel und schaute auf die Uhr. »Was ist eigentlich heute Nacht los in dieser Stadt? Haben die Sanitäter auch eine Panne? Streiken die Taxifahrer? Der Doc müsste doch jetzt langsam mal auftauchen, finden Sie nicht? Und was ist mit der Spurensicherung? Sie haben Grünfeld doch benachrichtigt?«

»Ähm, nö, hab ich nicht. Was für Spuren soll er denn sichern? Im Wasser?«

Zweifel atmete tief durch und massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Okay, Chef, habs kapiert. Wir sollten es ihm überlassen, ob er was findet, richtig?« Zweifel sah sie nur an.

Sie hob eine Hand, nickte und zog mit der anderen ihr Handy raus. »Sie übernehmen es dann aber auch, ihn zu beruhigen.«

»Er ist ein ruhiger Kollege.«

»Sie haben ihn noch nicht erlebt, wenn er mitten in der Nacht aus dem Bett geschmissen wird.«

»Sie hatten doch auch keine Bedenken, mich aus dem Bett zu werfen, oder?«

»Weil ich weiß, dass Sie die Ruhe in Person sind und ihre latenten Aggressionen immer schön latent sein lassen«, erwiderte Melzick mit ihrem Smartphone am Ohr.

Zweifel wollte ihr eine passende Antwort geben, aber sie hob die Hand zum Zeichen, dass sie Grünfelds Stimme hörte. Gleichzeitig kam ein Ambulanzwagen mit Blaulicht angebraust, gefolgt von dem Taxi, das den Polizeiarzt brachte. »Eine Leiche im Merkurbrunnen«, hörte Zweifel Melzick sagen und erriet aus ihren weiteren Äußerungen Adrian Grünfelds Kommentare. »Kein Scherz. Genau. Es ist 03:52 Uhr. Wir haben Samstagnacht. Sie liegen da vollkommen richtig. Nein, kein Zweifel. Das heißt, Kommissar Zweifel ist natürlich schon da. Ja, ich habe versucht, niemanden auf den Spuren herumtrampeln zu lassen, soweit das in einem Brunnen möglich ist. Der ist gerade eingetroffen. Er wird wohl fertig sein, bis Sie kommen. Ich werds mir merken. Nein, da seh ich schwarz. Am Bahnhof vielleicht. Nein. Ja. Vielleicht. Das besprechen Sie besser mit dem Kommissar.« Sie legte auf.

»Und?«, fragte Zweifel.

»Oh, er freut sich schon riesig. Hat quasi auf meinen Anruf gewartet. Ist ja eine laue Nacht. Konnte sowieso nicht schlafen. Hat sich gelangweilt. Will einen großen Cappuccino. Mit Vanille. Und zwei ofenwarme Brezeln.« Zweifel grunzte.

»Aha. Und was, bitteschön, von all diesen Aussagen stimmt?« Melzick schloss kurz die Augen, als müsste sie nachdenken.

»Die laue Nacht. Und, äh, die Sache mit dem Cappuccino.« »Und sonst?«

»Machen Sie sich auf einen Leiter der Spurensicherung gefasst, der Ihnen mit dem Hintern ins Gesicht springen wird, wenn Sie nur ein falsches Wort sagen.«

»Welches Wort wäre das?«

»Das überlasse ich Ihrer Fantasie, Ihrem Takt, Ihrem Feingefühl, Ihrer Empathie und so weiter und so fort.«

»Melzick, Sie kommen mir heute Nacht leicht überdreht vor.«

»Liegt wohl am Bier, mit dem die Jungs nach mir geworfen haben.«

»Um diese Herren werde ich mich gleich mal kümmern.« Der Arzt war aus dem Taxi gesprungen und kam im Laufschritt auf die beiden zu. Seinen Arztkoffer hatte er unter den Arm geklemmt.

»Wo ist Patient?«, fragte er leicht außer Atem. Zweifel streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor.

»Das ist meine Assistentin Melzick. Und Sie sind?«

»Ah, ja, wir kennen uns noch nicht. Dr. Susilawati, Sulaiman. Sie sagen einfach Dr. Susi«, war die Antwort. Zweifel nickte ihm zu.

»Der Patient liegt im Brunnen.« Dr. Susilawati verlor keine Zeit mit Fragen. Er zog seine Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und ging daran, den Toten zu untersuchen.

»Jetzt wissen Sie wenigstens, warum ich mir seinen Namen nicht merken konnte«, murmelte Melzick.

»Wie lange er liegt schon so im Wasser?«, fragte der Arzt.

»Mindestens eine Stunde«, sagte Melzick.

»Dann ist er tot«, stellte Dr. Susilawati fest.

»Nicht schon wieder ein Komiker als Pathologe«, brummte Zweifel leise. »Dann würde ich auch nicht von einem Patienten sprechen«, sagte er laut.

»Oh doch, ist Patient. Sie wissen, das Wort kommt aus dem Lateinischen: Patientia. Heißt Geduld. Dieser Mann hat viel Geduld jetzt.«

»Möglicherweise mehr als ich«, murmelte Zweifel und sah zu, wie der Doc sich tief über Danny Wilson beugte.

»Wer hat Patient gebissen?« fragte Dr. Susilawati. Seine Hosenbeine waren heruntergerutscht und saugten sich mit Wasser voll. Das schien ihn nicht zu stören.

»Keiner von uns«, sagte Zweifel, ohne eine Miene zu verziehen.

»Sie sind sicher?«

»Ja, ich bin sicher. Es war ein junger Schäferhund, psychisch angeschlagen und seitdem auf der Flucht.« Dr. Susilawati hatte die Hand des Opfers in beide Hände genommen und studierte die Wunde, während er Unverständliches in seinen buschigen, schwarzen Schnurrbart murmelte und mit dem Kopf wackelte.

»War nicht Ursache für Tod«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Er geht immerhin systematisch vor«, meinte Melzick leise.

»Mir kommt es eher so vor, als ob das hier sein erster Tatort ist«, erwiderte Zweifel.

»Wollten Sie sich nicht mit den vier Herren unterhalten?«

Sie überließen den Arzt seiner feuchten Arbeit und gingen ein paar Schritte hinüber zu der Hauswand. »Der Alte, der gerade versucht aufzustehen, heißt Artur«, raunte Melzick ihrem Chef zu.

»Der, dem Sie auf die Finger geklopft haben?«

»Nicht geklopft. Nur ein wenig zurechtgerückt.«

»Richtig. Mal sehen, was Siebental bisher herausgebracht hat.« Sid Siebental teilte seit kurzem ein Büro mit Melzick. Zweifel hatte ihnen seines überlassen und mit einem nur halb so großen vorliebgenommen.

Er gehörte nicht zu den Zeitgenossen, die ihren beruflichen Rang mittels der Größe ihres Türschildes, ihres Schreibtisches oder der Quadratmeterzahl ihres Teppichbodens zur Schau stellten.

Diese Einstellung hatte sein neuer Vorgesetzter, Polizeidirektor Bossner, stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen. Für ihn stand Hierarchie an erster Stelle und zwar nicht erst, seit er an erster Stelle der Hierarchie bei der Augsburger Polizei stand. Zweifel hatte den neuen Posten als Leiter des Kommissariats 1 mit fliegenden Fahnen übernommen, hatte er doch seinen ersten Fall in Augsburg schon zu lösen, bevor er auch nur eine seiner Umzugskisten auspacken konnte. Sein Auftritt während dieser denkwürdigen Klima-Demo Ende Juli, bei der ein vermeintlicher Amokschütze mitten in die Menge gefeuert hatte, bot immer noch regen Gesprächsstoff unter den Kollegen. Denn er war mit seinem phänomenalen Cadillac Eldorado Cabrio, Baujahr 1959, mitten in die Fußgängerzone gerollt. Nicht aus Eitelkeit, ganz im Gegenteil, sondern weil sein Alltags-Toyota es vorgezogen hatte, an jenem Tag keinen Muckser zu tun.

Polizeichef Bossner hatte ihn nach seiner Rückkehr von einem Kongress unverzüglich in sein Büro zitiert. An dieses erste Gespräch mit seinem neuen Chef erinnerte Zweifel sich nicht gern. Die gegenseitige Antipathie waberte von der ersten Minute an wie ein übler Gestank im Raum.

Manchmal dachte Zweifel an seinen alten Chef Alois Klopfer in Bad Wörishofen zurück. Der hatte zwar auch seine Macken und war ein Choleriker, aber er respektierte die Arbeit seiner Leute.

Etwas, das man von Bossner nicht erwarten durfte. Mit keinem Wort war er auf den ersten Augsburger Fall Zweifels eingegangen, den dieser in Rekordzeit gelöst hatte, wenn auch mit einem spektakulären Finale. Nun gut, damit wird zu leben sein, dachte Zweifel. Woran kein Zweifel bestand, war, dass der Kommissar sich von nichts und niemandem, und sei es der Innenminister persönlich, einschüchtern oder gar in seine Arbeit reinreden lassen würde. Diese Erfahrung stand auch Bossner bevor.

Der Kommissar musste lächeln, als er Siebental beim Näherkommen beobachtete. Dieser war ganz in seine Notizen vertieft und bemerkte sie nicht.

»Kommt da etwa der Chef von dem ganzen Zinnober hier?«, krächzte Artur rau. Er stand auf und klopfte sich die Hosenbeine ab. Die beiden anderen Männer blieben auf dem Pflaster sitzen und warfen neugierige Blicke auf Zweifel.

Siebental erschrak und fuhr herum.

»Oh, das ist …, jetzt haben Sie mich aber …, guten Morgen Herr äh …, ich bin gerade dabei …«, begrüßte Siebental den Kommissar in seiner bekannten Art. Zweifel nickte ihm zu.

»Siebental, wie kommt es, dass Sie vor mir am Tatort sind?« Er warf Melzick einen Blick zu. »Haben Sie ihn zuerst angerufen?«

»Nix da, ich habe die Reihenfolge eingehalten, streng nach Dienstvorschrift«, behauptete Melzick.

»Da gibt es eine Dienstvorschrift?«, fragte Zweifel und sah Siebental an. Der stand nun vor der Herausforderung, gleich zwei Fragen auf einmal beantworten zu müssen.

»Sicher, ich könnte Ihnen …, wenn Sie es gleich nachlesen wollen …, eine Kopie kann ich …, wissen Sie, ich hab es ja nicht …, vielleicht dreihundert Meter …, und ich war ja schon …, deshalb ist es kein Wunder, dass …«

Zweifel kratzte sich an der Stirn.

»Ich versuche mich mal an der Übersetzung. Erstens: Es gibt eine einschlägige Dienstvorschrift und Sie können mir eine Kopie davon besorgen, was übrigens nicht notwendig ist. Zweitens: Sie wohnen nicht weit von hier und waren schon wach, als Melzick Sie anrief.«

»Äh — ja, wenn Sie das so …, so kann man das auch …«

»Ich verstehe. Sie haben die Herren schon befragt, wie ich sehe. Das heißt, diejenigen, die wach sind. Was ist mit dem da? Liegt der im Koma?«

»Der ist nicht wachzukriegen«, mischte sich Melzick ein.

»Lou verträgt nicht soviel«, meldete sich John Wayne zu Wort. »Wäre nicht das erste Mal, dass wir ihn nach Hause tragen müssen.«

»Um es mal ganz klar zu sagen, Chef«, krächzte Artur dazwischen, »wir haben lange genug hier herumgesessen, blöde Fragen beantwortet und zugesehen, wie der da«, er deutete auf Sid, »unsere Antworten in Schönschrift und in Zeitlupe aufgeschrieben hat. Mir reicht es jetzt. Ich geh nach Hause. Ach ja — vielleicht kann sich ja einer der Sanitäter, die da so untätig um die Leiche herumstehen, mal meine Hand ansehen«, fügte er mit einem bösen Blick auf Melzick hinzu. Zweifel überlegte kurz, dann sagte er:

»Gehen Sie mit ihm, Melzick.«

»Ich brauche niemanden, der Händchen hält, und schon gar nicht die da.« Zweifel fasste ihn ins Auge.

»Das kann ich verstehen, aber ich hab das nun mal so entschieden.« Artur erwiderte seinen Blick und grunzte verächtlich, aber er gab klein bei. Melzick zwinkerte ihrem Chef zu und folgte Artur mit zwei, drei Schritten Abstand. »Wie weit sind Sie? Steht alles drin?«, fragte Zweifel und deutete auf das Notizbuch in Siebentals Händen. Er nickte und reichte es dem Kommissar. Artur Jablonski, zweiundsechzig, Rentner, Jakoberstraße acht, las Zweifel und danach Namen, Alter und Adressen der anderen. Was Siebental außerdem notiert hatte, deckte sich weitgehend mit Melzicks Bericht. Keiner von ihnen kannte das Opfer. Was den Schläfer anging, so konnten sie das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten.

»Mein Neffe kennt keine Schwarzen«, war Arturs lakonischer Kommentar gewesen. Zweifel gab Siebental das Notizbuch zurück.

»Von mir aus können Sie sich auf den Heimweg machen«, sagte er zu John Wayne und Spiderman. »Kommen Sie mit dem da klar?«

John Wayne nickte nur und stand schwerfällig auf. Artur kam mit einem Verband um seine Hand zurück. Er warf Zweifel einen zornigen Blick zu.

»Arnikasalbe soll ich draufschmieren, hat er gesagt. Dann ist die Hand in ein paar Tagen wieder in Ordnung, hat er gesagt. Aber für mich ist die Sache noch lange nicht in Ordnung.« Er deutete mit der verbundenen Hand auf Melzick. »Mach dich auf was gefasst, Mädchen, ich hab drei Zeugen.« Melzick hob hilflos beide Hände und ließ sie wieder fallen. Sie wollte etwas erwidern, doch Zweifel kam ihr zuvor.

»So wie meine Kollegin mir das geschildert hat, wurde sie von vier betrunkenen Männern mitten in der Nacht auf der ansonsten menschenleeren Maximilianstraße verfolgt. Es flogen Bierflaschen, die sie nur knapp verfehlten. Dann fiel ohne Vorwarnung eine klebrige Hand auf ihre nackte Schulter. Es war offensichtlich Ihre Hand. Und soeben haben Sie eine massive Drohung ausgestoßen. In meiner Gegenwart.

Die Frage ist also, wer sich hier auf etwas gefasst machen muss, Herr Jablonski. Vielleicht sollten Sie das in Ihre Überlegungen mit einbeziehen.«

Im Hintergrund waren John Wayne und Spiderman ächzend damit beschäftigt, Arturs Neffen in die Senkrechte zu bekommen. Artur schnaubte durch die Nase. Zweifel trat einen Schritt zurück. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Möglicherweise gibt es eine Variante, mit der Sache umzugehen, an die Sie noch nicht gedacht haben.« Zweifel warf Melzick einen kurzen Blick zu. Artur kniff misstrauisch die Augen zusammen.

»Und was für eine Variante soll das sein?«

»Die friedliche. Nicht nach einem Richter schreien. Nicht drohen. Nicht verfluchen. Den Zorn aus den Augen wischen. Tief Luft holen. Die Sache von außen betrachten. Stellen Sie sich vor, Sie hätten das Geschehen von einem der Fenster da oben beobachtet, gänzlich unbeteiligt und mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Was würden Sie als Zuschauer dann meiner Kollegin hier wohl sagen?«

Artur schwieg verdutzt und kratzte sich am Hinterkopf. Er drehte sich zu John Wayne und Spiderman um, die es tatsächlich geschafft hatten, seinen Neffen wiederzubeleben. Dieser stand mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt da und stierte dumpf in seine Richtung.

»Okay, Jungs, nehmt ihn in die Mitte, wir ziehen jetzt ab«, rief Artur ihnen krächzend zu. Den Kommissar bedachte er mit einem letzten Blick über die Schulter und gesellte sich, ohne ein Wort zu verlieren zu seinen Saufkumpanen. Zweifel legte Melzick vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

»Machen Sie sich keine Gedanken, das wird …«

»Er kommt zurück«, unterbrach ihn Melzick. Sie verschränkte die Arme und sah dem alten Mann entgegen.

Die ganze Angelegenheit hatte ihn stocknüchtern gemacht. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Er fixierte sie und nickte kurz in Richtung Zweifel.

»Hast ’n cleveren Chef, Mädchen. Was er da so gesagt hat, also, diese Variante … In meinem Alter ist jeder Ärger pure Zeitverschwendung, denk ich. Meine Hand geb ich dir nicht. Aber von mir aus — vergessen wir die Sache.« Melzick lächelte ihm zu.

»Den Anfang vergessen wir und den Schluss behalten wir in guter Erinnerung. Das wär so meine Variante.«

Artur legte den Kopf schräg und sah sie an. Er nickte kurz und zwinkerte ihr zu. Als er die anderen wieder eingeholt hatte, meinte Melzick:

»Danke Chef, ich schlag Sie für den Friedenspreis vor.«

»Das haben Sie mir schon mal versprochen. Ein Essen beim Italiener wäre mir lieber.«

4. Kapitel

»Allright«, sagte sie. »Dahinten kommt Kollege Grünfeld.« Zweifel drehte sich um.

»Der Doc sollte jetzt langsam fertig sein«, meinte er. Sie kehrten zu dem Arzt zurück, der gerade aus dem Brunnen stieg. Siebental hielt sein Notizbuch bereit.

»Ich kann Ihnen sagen ein paar Dinge über diesen Mann, wenn Sie können behalten. Natürlich später ich schreibe alles auf für Sie, gut?« Zweifel nickte und warf Melzick einen Blick zu, der besagte: Ich liege richtig, das ist sein erster Tatort. Sie legte einen Zeigefinger auf ihren Mund.

Dr. Susilawati schloss die Augen und bewegte lautlos die Lippen, als memorierte er anatomische Einzelheiten für das mündliche Examen.

Schließlich klappte er seine Hände zusammen wie ein Gebetbuch, wobei er erst jetzt zu registrieren schien, dass seine Hosenbeine bis zum Knie klatschnass waren. Er legte kurz eine Hand auf seinen Mund und stellte stirnrunzelnd mehrere Überlegungen pro Sekunde darüber an, inwieweit der Zustand seiner Hose sich in den Augen seiner Zuhörer kompetenzmildernd auswirken dürfte. Mit der Weisheit des Fernen Ostens kam er zu dem Schluss, seine feuchten Beinkleider zu ignorieren. Während er sprach blickte er unentwegt auf einen Punkt direkt vor Kommissar Zweifels trockenen Schuhen. Seine eigenen warteten am Rand des Brunnens auf ihren Einsatz.

»Mann ist nicht gestorben an Biss von Hund, ich sagte schon. Mann ist nicht ertrunken. Jemand hat umgedreht sein Genick.«

»Genickbruch?«, fragte Zweifel verdutzt. Dr. Susilawati ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Keine weiteren Verletzungen am Kopf. Nirgendwo irgendeine weitere Verletzung. Daraus ich schließe: kein Unfall.

Natürlich ich weiß noch nicht, wie er innen aussieht, also, ich meine …«

»Ich weiß, ich weiß, sie schneiden ihn auf und machen die Feinarbeit.« Dr. Susilawati richtete seine großen schwarzen Augen auf Zweifel.

»Das hat so noch keiner gesagt.«

»Wie lange arbeiten Sie denn schon in dieser Branche?«

»Branche? Äh — Sie wollen Lebenslauf?« Zweifel winkte ungeduldig ab.

»Vergessen Sie bitte, was ich gesagt habe. Ich bin noch neu in der Stadt. Ich wollte Sie nicht ablenken, sorry. Möchten Sie noch etwas loswerden, was Danny Wilson betrifft?«

»Danny Wilson? Loswerden? Wer ist …? Das ist sein Name? Das ist Danny Wilson?« Der Arzt starrte Zweifel an und dann Melzick.

»Ich habe einen Reisepass auf diesen Namen mit einem Foto von ihm gefunden, im Brunnen.«

»Danny Wilson«, flüsterte der Doc.

»Sie kannten ihn?«, fragte Zweifel. Der Arzt schloss die Augen, bewegte lautlos die Lippen und antwortete nicht. »Doktor!«, rief Zweifel. »Was ist? Sind Sie dem Toten schon mal begegnet?« Dr. Susilawati sah Zweifel an.

»Nein. Ich — äh. Nein. Nie bin ich ihm begegnet.«

»Aber sein Name sagt Ihnen offensichtlich etwas.«

»Name sagt mir was. Ja. Ja, ja, aber ist kein seltener Name. Vielleicht ich irre. Sicher ich denke falsch. Ist anderer Mann. Muss anderer Mann sein.« Er nickte mehrmals. Dann machte er eine tiefe Verbeugung vor dem Kommissar und ging seine Schuhe holen. »Ich schreibe auf alles andere. Sie haben morgen, äh, heute den Bericht«, rief er den beiden über die Schulter zu. Mit seinen Schuhen in einer Hand, seinem Arztkoffer in der anderen, verschwand er in Richtung Rathausplatz.

»Warum hat er es denn so eilig?«, fragte Melzick. »Warum läuft er nicht zum Königsplatz? Da findet er doch eher ein Taxi.« Zweifel hob seinen Arm, um den Chef der Spurensicherung, Adrian Grünfeld von Weitem zu begrüßen.

»Wichtiger ist: Wie ist Grünfelds Stimmungslage?«, sagte er und seufzte. Siebental meldete sich aus dem Hintergrund zu Wort.

»Vielleicht ist es gut, wenn ich …, ich meine, so oft wird es den Namen Wilson in Augsburg …, ist mir jedenfalls noch nicht …, und ich bin ja schon lange …«, verkündete er.

»In Ordnung, kümmern Sie sich darum«, erwiderte Zweifel. »Wir treffen uns um neun in meinem Büro.«

»Dürfte ich vielleicht …, ich meine …, andererseits, wenn Sie sie noch brauchen …, sind überhaupt noch welche …?« Für drei Sekunden wusste Zweifel nicht, wovon Siebental redete, dann griff er in seine Hosentasche und warf ihm die angebrochene Tüte Gummibärchen zu.

»Vielen Dank übrigens.« Siebental fing sie geschickt auf und ging, ohne ein weiteres Wort zu stammeln. »Ich dachte, er hätte das abgelegt, diese halben Sätze«, raunte Zweifel Melzick zu.

»Hat er auch«, sagte sie, »aber nur im Büro. Und nur, wenn dort nicht mehr als zwei Personen anwesend sind.« Zweifel sah Grünfeld entgegen.

»Sie haben Glück, Herr Kommissar, dass ich gerade Krach mit meiner Frau habe und im Keller schlafen darf«, sagte Grünfeld anstelle einer Begrüßung. »Sonst hätten Sie mich um diese Zeit nicht hierhergekriegt.«

»Ist Ihr Keller so schrecklich?«

»Sie können ihn gerne bei Gelegenheit besichtigen. Aber bringen Sie Arbeitsklamotten mit.«

»Ich fürchte, die Gelegenheit kommt nicht so bald.«

Zweifel warf einen Blick über Grünfelds Schulter. »Was schleppen Ihre Leute denn da an?«

»Scheinwerfer«, erwiderte Grünfeld, ohne sich umzudrehen. »Und wenn Sie jetzt irgendeinen dämlichen Wortwitz loswerden, verlasse ich auf der Stelle das Geschehen.«

»Wortwitz liegt mir überhaupt nicht«, sagte Zweifel. »Wie ist es mit Ihnen, Melzick?«

»Keine Ahnung. Ich komm ja praktisch nie zu Wort.« Grünfeld schenkte beiden einen kritischen Blick und brummte etwas Unverständliches in sein unrasiertes Kinn. Dann machte er sich an die Arbeit, indem er ungeachtet der frühen Morgenstunde seinen Assistenten lauthals Vorschläge machte, ihre Arbeit betreffend.

»Dr. Susilawati hat das Opfer bereits untersucht«, sagte Zweifel. Grünfeld nickte nur und kramte in seinem Arbeitskoffer. »Sie kennen ihn?«, fragte Zweifel.

»Wen, den Doc oder das Opfer?«

»Dr. Susilawati.«

»Macht seinen Job ordentlich«, war alles, was Grünfeld sich entlocken ließ. »Sie wissen, wer der Tote ist?«

»Danny Wilson.«

»Nie gehört. Und jetzt wäre ich nicht abgeneigt, wenn ich Sie beide nur noch aus der Ferne sehe, solange ich hier zu tun habe.« Zweifel und Melzick zogen gehorsam ab. »Halt!«, rief Grünfeld ihnen hinterher. »Was ist mit meinem Cappuccino?«

»Ach so, ja«, sagte Zweifel.

Er fischte einen Parkschein aus seiner Hosentasche und streckte ihn Grünfeld hin.

»Was soll das sein?«

»Tun wir einfach so, als wäre es ein Gutschein für ein Heißgetränk mit Vanille. Mehr gibt’s nicht.« Grünfeld schnappte sich den kleinen Zettel und kontrollierte ihn.

»Da steht kein Betrag drauf. Pech für Sie. Das kann teuer werden.«

»Ich kanns mir leisten, ich hab keine Frau, in deren Besänftigung ich investieren muss.«

»Über das Thema reden wir noch. Es gibt da ein schönes Kaffeehaus am Rathausplatz. Den Termin erfahren Sie rechtzeitig«, sagte Grünfeld, um gleich darauf zu brüllen: »Den zweiten Scheinwerfer da drüben hin, los beeilt euch!« Grünfeld und seine Leute stürzten sich in die Arbeit.

Zweifel und Melzick gingen ein paar Schritte die Maximilianstraße entlang auf den Herkulesbrunnen zu.

»Sie haben doch hier in der Nähe Ihr neues Domizil«, sagte Zweifel.

»Domizil nun nicht gerade. Eher eine hoffnungslos aufgeheizte Bude direkt unterm Dach.«

»Gut, dann schlage ich vor, Sie schlafen diese Nacht etwas schneller als sonst. Nehmen Sie meinetwegen ein paar Eiswürfel mit ins Bett. Ich brauche Sie hellwach um neun in meinem Büro. Auf uns wartet harte Arbeit. Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Fall.«

Melzick blieb stehen und warf einen Blick zurück zum Merkurbrunnen.

»Fragen Sie mich mal. Immerhin, die Eiswürfel im Bett sind keine schlechte Idee.«

»Wickeln Sie ein Handtuch drumherum.«

»Wär ich beinahe selbst draufgekommen.«

»Ab jetzt!« Melzick salutierte lässig und schlenderte gemächlich zu ihrer Hausnummer. Zweifel sah ihr nach. Dann hörte er, wie Grünfeld nach ihm rief.

Sonntagmorgen um zehn nach neun. Zweifels Büro war höchstens vier mal vier Meter groß. Es hatte zwei Fenster zur Straße hin, die weit geöffnet waren. Der Schreibtisch stand genau dazwischen und war penibel aufgeräumt. Zweifel hasste den Anblick eines unordentlichen, mit Papieren und Büroutensilien übersäten Arbeitsplatzes. Ein Telefon. Eine schwarzweiße Box aus Plexiglas mit genau zwei Schreibgeräten: einem altmodischen schwarzen Füller und einem silbernen Kugelschreiber von einer teuren Sorte. Ein Notizblock.

Sollten irgendwelche Anweisungen, Rundschreiben, Memos und ähnliche Eindringlinge die Unverschämtheit haben, diese heilige Ordnung zu stören, landeten sie unverzüglich in einer der geräumigen Schubladen, wo sie ihre vorläufig letzte Ruhe fanden.

In einer Ecke hatten sich vier unbequeme Holzstühle um einen winzigen Tisch versammelt.

An der Wand hingen Schwarz-Weiß-Fotos mit Motiven aus dem Paris der Zwanziger Jahre — der Jardin du Luxembourg im Schnee, die Tuilerien im Nebel, die Seine im Regen und einige andere. Es war das Revier von Kommissar Maigret. Bewusst oder unbewusst hatte Zweifel diese Drucke ausgewählt. Seine Frau hatte ihm, kurz vor ihrem gewaltsamen Tod die Krimis von Georges Simenon ans Herz gelegt.

»Du musst schließlich wissen, wie Kommissare anderswo arbeiten«, waren ihre Worte gewesen. Bis heute hatte er es nicht übers Herz gebracht, auch nur eine Seite über Kommissar Maigret zu lesen. Die Bände warteten wohlverpackt in einer der Umzugskisten in seiner neuen Wohnung in Friedberg.

Siebental saß, in seine Aufzeichnungen vertieft, bereits auf seinem angestammten Platz. Zweifel stand schweigend an einem der Fenster, sah zu, wie eine Straßenbahn nach der anderen vor dem Polizeigebäude vorbeifuhr und dachte dabei an Danny Wilson, dessen Körper in diesen Minuten auf einem der Stahltische in der Gerichtsmedizin lag und so gründlich untersucht wurde, wie nie zu seinen Lebzeiten.

Es klopfte lebhaft an der Tür und herein kam Melzick, im Mund eine Brezel.

»Morgen Chef, hi Sid.« Siebental sprang auf und nahm ihr zwei Bäckertüten ab. Zweifel sah sie stirnrunzelnd an. »Was ist? Bin doch fast pünktlich — für meine Verhältnisse.«

»Welche Verhältnisse?«, erkundigte sich der Kommissar.

»Mein Biorhythmus, Chef. Der hält 09:00 Uhr für gesundheitsschädlich, vor allem nach so einer Nacht.« Siebental platzierte die beiden Tüten auf den Tisch und nickte.

»Sie geben ihr also Recht, Siebental?«, fragte Zweifel.

»Äh, ja, also …, im Allgemeinen …, da gibt es Studien …, das ist unterschiedlich …, bei mir zum Beispiel …, da muss man sich nur…, da kann man nicht …, also meistens …« Zweifel seufzte und setzte sich zu den beiden an den Tisch.

»Gut, ich verstehe, wie meistens. Wie wäre es, wenn wir uns mit Danny Wilson beschäftigen. Sein Biorhythmus hat ein abruptes Ende gefunden. Dr. Susilawatis endgültiger Befund liegt zwar noch nicht vor, aber es deutet alles auf Mord hin.«

Melzick fischte eine zweite Brezel aus der Tüte und Siebental machte eine Notiz.

Zweifel sah ihn an. »Was haben Sie da jetzt notiert? Dass es Mord ist?«