Mord aus kühlem Grund - Achim Kaul - E-Book

Mord aus kühlem Grund E-Book

Achim Kaul

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Zweifel und Zick sind zurück … Die Therme in Bad Wörishofen. In den Saunalandschaften wird gepflegt geschwitzt. Gänsehaut-Schreie gellen durch die aufgeheizte Luft. Gasgranaten zünden. Die Fluchtwege sind plötzlich versperrt. Die Nackten packt die nackte Panik. Chaos! Zur selben Zeit ein anonymer Anruf: "In der Therme ein Toter — das ist doch was für Sie", hört Kommissar Zweifel eine verzerrte Stimme sagen. Der Fall verspricht besonders knifflig zu werden. Wer lügt? Wer heuchelt? Wer manipuliert wen? Und vor allem: Wer ist der Tote? Funkensprühende Dialoge, Scharfsinn und Wortwitz zeichnen Zweifel und Zick, das kongeniale Ermittlerduo aus. Sie werden den beiden gern begegnen — sofern Sie nichts ausgefressen haben

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Seitenzahl: 648

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Achim Kaul

Mord aus kühlem Grund

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

1. Kapitel

Mord aus kühlem Grund

»Ick lass’n schmoren! Wenn ick den verdammten Bengel erwische, lass ick’n schmoren, und zwar inner Finnischen!« Fred schwitzte. Das war normal. Er wog hundertdreißig Kilo und die waren nicht ausgewogen an seinem Körper verteilt. Die meiste Zeit ruhte er in seiner Mitte, denn da war am meisten Platz. Von Ruhe konnte allerdings gerade keine Rede sein. »Mindestens eine halbe Stunde lang, dit sarick dir, den lass ick vorher nüscht raus!«

»Nu lass mal gut sein«, sagte Johanna, seine Frau, hundertzehn Kilo schwer. In ihr schneeweißes Saunatuch gehüllt, die langen roten Haare in einem türkisblauen Turban verborgen, stand sie seelenruhig vor einem großen Spiegel und begutachtete sorgfältig die roten Äderchen auf ihren Wangen.

»Du hast leicht reden, Jo. Wie steh ick denn da, ohne Handtuch?«, zischte Fred. Johanna ließ einen Seitenblick über ihren Fred gleiten, der augenblicklich nicht so recht wusste, wie er seine Nacktheit, vor allem an den zentralen Stellen verbergen sollte. »Wenn ick nur wüsste, wo dieser Hundling dit verdammte Handtuch vasteckt hat!« Er zog an ihrem Unterarm. »Stell dir mal een bissken vor mir hin! Die jungen Dinger gucken schon so komisch.« Johanna seufzte.

»Jetzt setz dir halt eenfach uff die Liege da, die wird jrad frei.« Fred ließ sich schnaufend nieder und versuchte, den Blicken der anderen Badegäste auszuweichen. »Schnapsidee, blöde«, dachte er. »Warum kann man nich einfach nur Minigolf spielen? Dit is een Sport, der zu meim Körper passt. Dazu brauchtet Ruhe und Konzentration. Da muss man janz in seiner Mitte sein. Aber nee! ›Therme‹, hießet, ›dürfn wa nüscht versäumen‹, hießet, ›wenn wir schon mal hier sind‹, hießet!« Fred schwitzte und steigerte sich in seinen inneren Monolog hinein, an dessen Ende er »verdammter Bengel« zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorzischte. Johanna zuckte gleichmütig die fleischigen Schultern und ging dazu über, ihr Gesicht mit einer neuartigen Creme zu behandeln, die eine junge Mitarbeiterin ihr am Eingang gratis in die Hand gedrückt hatte. Fred wischte mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wenn et umsonst is, tauchtet Zeuch sowieso nüscht«, sagte er mit einem Blick auf Johannas fettglänzendes Gesicht. Sie hielt ihm zur Antwort die lavendelfarbene Tube vor die kurzsichtigen Augen, damit er den regulären Preis entziffern konnte. Kurzzeitig verschlug es ihm die Sprache. Gerade als er zu einem seiner Monologe ansetzen wollte, klatschte ihm jemand ein nasses Handtuch auf den breiten Rücken.

»Seit wann gehst du denn in die Sauna, Elvis?«, ertönte eine Bassstimme. Fred drehte sich wütend um. »Mensch, du bist ja gar nicht Elvis«, kam es seelenruhig von einem schwarzhaarigen Riesen im roten Bademantel. Fred funkelte ihn an.

»Der Elvis, den ick kenne, schwitzt schon seit een paar Jährchen in ’ner anderen Hölle. Noch nüscht mitbekommen?«, knurrte er, zog das Handtuch langsam von seinem Rücken und begann, es auszuwringen.

»Klar Mann, außerdem hast du auch die ganz falsche Frisur.« Der Riese schmunzelte gutmütig und streckte die Hand aus, um Fred das Handtuch wieder abzunehmen.

»Dit bleibt hier! Als Souvenir!«, zischte Fred und schlang es sich im Sitzen um die umfangreichen Hüften. Er verschränkte seine massigen Arme und schauten den roten Riesen herausfordernd an. »Kann ick sonst noch wat für Sie tun? Vielleicht een Ständchen?« Der Riese stutzte, schaute Johanna an, die das Ganze sprachlos verfolgt hatte, und zuckte dann mit den Schultern.

»Von mir aus. War sowieso nicht meins. Wenn’s komisch riecht, nicht wundern.« Damit entfernte er sich gelassen in Richtung der kleinen Bar, die am großen Vitalbecken eingerichtet war. Johanna schaute ihm hinterher.

»Na herzlichen Jlückwunsch«, sagte sie zu Fred, »da bist du ja jünstig an …« In diesem Moment gellte ein durchdringender, langanhaltender Schrei aus dem hinteren Saunabereich. Johanna bekam eine Gänsehaut trotz achtundzwanzig Grad Lufttemperatur. Gleich darauf rannten zwei kreischende Mädchen in rosa Bikinis, verfolgt von zwei Jungs in langen Badehosen, im halsbrecherischen Tempo zwischen den Ruheliegen und am schmalen Beckenrand entlang.

»Biester, verdammte!«, entfuhr es Fred, während Johanna erleichtert aufatmete.

»Ick dachte schon, da is wat …« In diesem Moment ertönte ein weiterer Schrei, wie aus einem Horrorfilm. Er schien überhaupt nicht enden zu wollen. Fred konnte es nicht fassen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte noch nie jemanden so markerschütternd schreien gehört. Er schaute Johanna in die schreckgeweiteten Augen und stand abrupt auf. Ein junger Bademeister in Shorts eilte mit genervtem Gesichtsausdruck an ihnen vorbei.

»Do isch was passiert, ha?«, fragte ein Schweizer, der sich aus seiner Ruheliege nebenan schwerfällig erhoben hatte. Er blinzelte Fred zu. »Bekommen wir do jetzt a äcktschn?«, fragte er erwartungsvoll in seinem gemütlichen Tonfall. Ringsum erhob sich teils aufgeregtes, teils ärgerliches Gemurmel. Johanna schaute sich um und begegnete überall fragenden, kritischen oder besorgten Blicken. Vereinzelt waren Leute aus ihren bequemen Liegen aufgestanden. Einige beschwerten sich leise bei ihren Nachbarn, schüttelten die Köpfe oder zuckten ratlos die Schultern. Fred wusste nicht recht, was er tun sollte. Ein zweiter Bademeister, deutlich älter, als der erste, ging eiligen Schrittes mit ernster Miene zwischen den herumstehenden Badegästen hindurch, während er sein Handy ans Ohr hielt. Ein eigenartiger Geruch machte sich bemerkbar und eine ungewöhnliche Stille breitete sich aus. Der permanente Geräuschpegel aus plätscherndem Wasser, Kindergeschrei, Hintergrundmusik und den Stimmen Hunderter von Badegästen war schlagartig auf nahe null gefallen. »Wie die Ruhe vor dem Sturm«, dachte Fred unwillkürlich, während Johanna fröstelnd die Arme verschränkte. Der Geruch wurde stärker. Eine allgemeine Unruhe machte sich allmählich bemerkbar. Der Schweizer und seine Frau begannen, ihre Sachen einzupacken. Niemand achtete auf die beiden jungen Männer in Jeansshorts, von denen einer von der Empore herab sein Smartphone auf das Geschehen gerichtet hatte. Dort oben, wo die komfortableren Ruheliegen verteilt waren, befand sich außer diesen beiden und einem Seniorenpaar, das eingeschlafen war, niemand mehr. Seitdem der zweite Schrei verhallt war, waren gerade mal ein paar Minuten vergangen, doch der Raum, in dem sich das große Vitalbecken befand, hatte sich in dieser kurzen Zeit enorm bevölkert. Die Leute standen dicht an dicht, wie bei einem Open-Air-Konzert. Nur gab es da üblicherweise nicht so viele nackte Besucher.

»Wir müssen nach dem Kleenen schauen, Fred«, sagte Johanna und hielt sich die Nase zu. Als hätte er nur auf dieses Kommando gewartet, bahnte sich Fred, ohne ein Wort zu verlieren, energisch einen Weg. »Ick schau in den Felsenduschen nach«, konnte sie ihm gerade noch hinterherrufen. Er winkte mit der rechten Hand, ohne sich umzudrehen. »Hier is wat faul«, dachte er, »und zwar janz jewaltich«. Ihm klang noch der erste Satz des Schweizers in den Ohren. »Zu viele Leute«, brummte er. Er musste an eine riesige Rinderherde denken, die friedlich grast, bevor eine Panik losbricht. »Die Ausjänge sin zu weit wech, und die Fluchtwege sin zu eng«, dachte er und versuchte, seine Schritte zu beschleunigen. Ein muskelbepackter Jüngling stellte sich ihm in den Weg. Er wich ihm aus. »Jetzt bloß keene Eskalation«, schoss es ihm durch den Kopf. Das Gemurmel der Umstehenden wurde lauter. Draußen, außerhalb der Halle, an der frischen Luft, konnte man einen Säugling schreien hören.

»Sie sehen doch, dass hier kein Platz ist«, zischte ihm eine junge Frau mit kahlgeschorenem Schädel und Spinnentattoo im Gesicht ins Gesicht. Fred versuchte ein Lächeln und drängelte sich rigoros an ihr vorbei. Ihm war schlagartig klar geworden, dass er den Bengel, wie er ihn nannte, schon seit mehr als einer Stunde nicht mehr gesehen hatte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber so langsam machte er sich Sorgen. Ein alter Mann rempelte ihn an. Von hinten bekam er einen Stoß in die Rippen. Jemand tippte ihm energisch auf die Schulter. Er ignorierte dies alles. Niemand konnte ihn jetzt aufhalten. Sein Blutdruck machte ihm zu schaffen. Er blieb stehen, um tief durchzuatmen. Das hätte er besser nicht getan. Der hintere Saunabereich, den er jetzt erreicht hatte, war von einem undefinierbaren Gestank erfüllt. Hier irgendwo musste die Ursache zu finden sein. Das Gedränge hatte plötzlich nachgelassen. Da waren keine Nackten oder Halbnackten mehr, die ihm den Weg versperrten.

»Elias! Elias! Bist du da? Komm jetzt endlich her!«, rief Fred, einer Eingebung folgend. Er suchte die leeren Duschen ab. In einer der Kabinen hörte er es tropfen. Dort lag sein vermisstes Handtuch auf dem Boden. Er schluckte. Von seinem Neffen keine Spur. Er drehte den Duschhahn zu. Vom großen Vitalbecken her drangen jetzt immer lautere Stimmen. Wieso gingen die Leute nicht einfach durch die Glastüren ins Freie? Oder benutzten die Schleuse zum Außenbecken. Wohin waren die Bademeister verschwunden? Warum gab es keine Durchsage? Wer hatte da so durchdringend geschrien? Warum stank es hier so? War das Gas? Und wo war Elias? Die Fragen rasten durch Freds Kopf wie auf einer Autobahn. Er bog um die Ecke und war jetzt bei der Kräutersauna angelangt. Gleich nebenan lag die Kelosauna mit Panoramafenster und die Stollensauna, in der es wie immer höhlenartig dunkel war. Zwei gedämpfte Männerstimmen waren zu hören. Eine der beiden wurde plötzlich lauter. Es war der ältere Bademeister, der mit rotem Kopf aus der Kelosauna herauskam.

»Kannst du mir mal sagen, was heute mit der Technik los ist? Die ist doch gestern erst kontrolliert worden. Klappt denn gar nichts in dem Laden?« Der jüngere Bademeister murmelte etwas Unverständliches. »Ist mir ganz egal, was Schilling sagt!«, polterte der Ältere. Er warf einen ärgerlichen Blick auf Fred.

»Was machen Sie hier?«, blaffte der junge Bademeister Fred an. Er hatte sich an seinem Chef vorbeigedrängt und stand mit weit ausgebreiteten Armen vor Fred.

»Ick suche Elias«, brachte dieser etwas verdattert hervor und starrte ratlos in zwei rote Gesichter.

»Wer soll das sein?«

»Dit is mein Neffe, er …«

»Der ist nicht hier. Gehen Sie bitte sofort zurück!«, sagte der Chefbademeister im Befehlston, während der andere sich immer noch wie ein Handballtorwart vor Fred postierte.

»Aber dit Jeschrei …«, sagte Fred störrisch.

»Hören Sie, wir gehen jetzt zurück zum Vitalbecken und Sie halten bitte den Mund. Ich will keine Aufregung provozieren. Und du scheuchst die restlichen Gäste raus. Hier hinten darf keiner bleiben!« Der ältere Bademeister hatte Fred an der Schulter gepackt und drängte ihn zurück.

»Wat riecht hier so? Is dit Gas? Und warum jehen die Leute nüscht einfach int Freie?«, fragte Fred. Der Andere blieb abrupt stehen und legte beschwörend die Hand auf Freds Unterarm. Dabei schaute er ihn aus geröteten Augen an.

»Die verdammten Glastüren sind verriegelt. Elektronisch. Alle.«

»Wat? Aber wie …?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Ich will hier drin keine Panik erleben. Das gibt Tote.« In diesem Moment war aus den Lautsprechern ein scharfes Knacken zu hören und eine mühsam beherrschte Frauenstimme setzte zu einer stockenden Durchsage an:

»Liebe Badegäste. Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, den kompletten Saunabereich rasch zu verlassen. Gehen Sie bitte nicht …« Hier stoppte die Durchsage, als ob ihr jemand das Mikrofon aus der Hand gerissen hätte. Der Geräuschpegel nahm augenblicklich stark zu.

»Himmelherrgott, ist die wahnsinnig geworden?«, fluchte Fischli, der ältere Chefbademeister. Sie waren im Restaurantbereich, von wo eine Treppe auf die Empore mit den Exklusiv-Suiten führte. Einige Kinder kreischten vor Angst. Empörte Männerstimmen wurden laut, Frauen keiften. Es war ein wildes Durcheinander. Alle waren jetzt auf den Beinen, es mochten an die zweihundert bis dreihundert Menschen sein. Die im Wasser waren, versuchten, herauszukommen. Keinem gelang es. Die Leute drängten mit ungezügelter Macht zu den Glastüren an der Schmalseite des Beckens. Etliche stolperten oder wurden ins Wasser gestoßen. Fred schaute zur Schleuse hinüber, durch die man normalerweise ganz einfach ins Freie schwimmen konnte. Sie war von Menschenleibern verstopft und wirkte wie ein Flaschenhals. Die Leute schlugen wie wild auf das Wasser, drückten einander auf die Seite. Manche gerieten dabei unter Wasser. Scharfe Fingernägel kratzten über haarige Rücken, krallten sich an Badeanzügen fest. Fred schluckte, sein Mund war ganz trocken. Von Johanna war keine Spur zu entdecken. Fischli stürmte die Treppe hoch, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Er versuchte, in dem Lärm zu telefonieren.

»Halt einfach die Klappe und mach die Musik an!«, fauchte er wütend in sein Handy. »Egal welche, Herrgott nochmal!«, brüllte er jetzt und sah zu, wie die Leute anfingen, an die Glastür zu trommeln und zu hämmern. Von hinten drängten immer mehr nach. Die Unglücklichen, die ganz vorne standen, wurden erbarmungslos an die Glaswand gequetscht. Draußen auf der anderen Seite standen ein paar Saunagäste, die lachten und winkten. Sie hielten das Ganze für ein inszeniertes Spektakel. Vielleicht konnten sie auch einfach nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Fred stand jetzt auf der Treppe und versuchte, irgendwo in dem Getümmel Johanna ausfindig zu machen. Doch das war unmöglich.

»Liebe Badegäste, die Glastüren sind verriegelt. Bitte nutzen Sie …« Wieder brach die Lautsprecherstimme mitten im Satz ab. Fischli ballte die Fäuste, während er mit den Augen das Chaos absuchte.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein, verdammt«, zischte er. Die brodelnde Panik war nun nicht mehr aufzuhalten. Auch der Weg zu den Umkleidekabinen, von wo es nach draußen ging, war versperrt. Von dort schob sich plötzlich eine dichte Menschenmenge, zum großen Teil noch in Straßenkleidung, herein. Männer, Frauen, Jugendliche, kleine Kinder – alle husteten sich mit roten Köpfen die Lunge aus dem Leib. Fast alle hatten ihre Fäuste vor die Augen gepresst. Das Geschrei nahm zu. Vereinzelt wurden grobe Schläge ausgetauscht. Männer rangelten miteinander, prügelten aufeinander ein. Einige ältere Personen waren ihn Ohnmacht gefallen. Ein kleiner Junge, vielleicht drei Jahre alt, trieb bewusstlos im großen Vitalbecken. Fred starrte auf seine Badehose. Elias konnte es nicht sein. Er war ja viel größer. Die Leute im Becken hatten keine Augen für den kleinen, hilflosen Körper. Fischli hatte ihn ebenfalls entdeckt. Bevor sie etwas unternehmen konnten, war ein junger Mann in Jeansshorts über mehrere Köpfe hinweg ins Wasser gesprungen, drehte den Jungen um, zog ihn auf den Beckenrand und begann, ihn ins Leben zurückzuholen.

»Wir müssen die Leute von den Glastüren wegbringen«, rief Fred dem Bademeister zu. Dieser schüttelte heftig den Kopf.

»Das funktioniert nicht«, schrie er, während er eine andere Nummer wählte. »Was ist da draußen los, verdammt? Haltet doch die Leute auf! Hier drin ist Chaos! Und macht endlich die Türen auf! Wie …?« Fred sah, wie es dem Bademeister die Sprache verschlug. Fischli blickte ihm fassungslos ins Gesicht. »Giftgas. Draußen hat jemand mit Giftgas geworfen! Das ist ein Anschlag …« Er war kreidebleich geworden. Fred schluckte. Dann griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Fischli war überfordert. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Fred kämpfte mit Macht gegen den Fluchtreflex an und drehte sich gegen die Wand. So konnte er sich abschotten. »Wie kriegen wir die Menschenmassen hier raus?« Fischli stand mit herabhängenden Armen verzweifelt neben ihm. »Der Bagger«, schoss es Fred in den Sinn. Draußen war ein Bagger gewesen. Er hatte sich noch über ihn aufgeregt, als sie ankamen und er ihnen den Weg versperrt hatte. Der musste hier irgendwo auf dem Gelände sein. Irgendeine Erweiterung war im Bau. Er drehte sich zu Fischli um.

»Welche Glasscheibe lässt sich am ehesten sprengen?« Fischli starrte ihn verständnislos an. »Die Baustelle, Mensch. Da draußen muss doch een Bagger sin!« Fischli begriff. »Der Frühlingsjarten, wat meenen Sie?«, rief Fred und deutete heftig hinüber auf die andere Seite der Saunahalle zu dem Bereich mit den Infrarotliegen und den Liegestühlen unter Palmen. Hier hielt sich fast niemand mehr auf. Halb verborgen hinter künstlichen Palmwedeln boten deckenhohe, riesige Scheiben einen Blick ins Freie. Fischli reagierte sofort und griff zum Handy. »Hoffentlich hat Johanna den Kleenen jefunden«, dachte Fred zehn Minuten später, als mit einem ohrenbetäubenden Lärm der Frühlingsgarten in eine Wüste verwandelt wurde.

2. Kapitel

»Es reicht, Frau Lucy«, sagte Klopfer, »ich warte jetzt seit einer halben Stunde darauf, dass Sie mit Ihrem Privatgespräch zu einem Ende kommen. Genau dort ist meine Geduld: Zu Ende!« Polizeichef Alois Klopfer hatte, wie stets, wenn er sich aufregen durfte, sehr leise und eindringlich zur Büroperle gesprochen, während Lucys Augen immer größer und runder wurden.

»Das war meine Mutter, Chef. Die hat das Gegenteil von Alzheimer. Die merkt sich alles und vergisst nichts«, bemerkte Lucy, als sie das Telefonat hastig beendet hatte.

»Wenn das eine Drohung sein soll, dann würde ich Ihre Mutter gerne einmal kennenlernen.« Lucy schüttelte den Kopf und öffnete eine Schublade.

»Ich fürchte, das würde zu einem unvergesslichen Erlebnis ausarten.« Klopfer nahm sie ins Visier.

»Fürchten Sie eher für Ihre Mutter oder für mich?«

»Weder noch«, sagte Lucy ungerührt und nahm einen Schokoriegel in Augenschein, »ich fürchte, ich wäre die Leidtragende. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist schlecht fürs Rückgrat, hab ich irgendwo gelesen.«

»Apropos irgendwo – müssen wir heute eine Suchmeldung für Zweifel rausjagen oder darf ich darauf hoffen, ihn bald zu Gesicht zu bekommen?« Lucy hatte sich die Inhaltsstoffe des Schokoriegels genau durchgelesen und beschlossen, ihn vorerst zu verschonen.

»Friseur«, sagte sie und schloss die Schublade wieder.

»Was soll das heißen? Will er sich eine Perücke machen lassen?« Sie schüttelte den Kopf.

»Kann ich mir nicht vorstellen, wo ihm doch seine Glatze so glänzend steht.« In diesem Moment meldete sich ihr Telefon und Klopfer verdrehte genervt die Augen. »Oh, hallo Mel, ich dachte du bist im Urlaub. Wie – abgesagt? Aber warum …? Was? Nein, bei uns hat niemand angerufen. Was für ein Anschlag denn? Wo denn? Ist ja nicht zu fassen. Nein, den kannst du nicht sprechen, der ist noch nicht da. Versuch’s auf seinem Handy. Ja – ich geb’s weiter.«

»Was ist passiert?«, fragte Klopfer, als sie aufgelegt hatte.

»Die Therme. Da soll’s einen Anschlag gegeben haben, sagt Kollegin Zick. Mit Gas, wenn ich’s richtig verstanden habe.« Klopfer reagierte sofort und stürmte in sein Büro. »Aber wieso rufen die denn nicht bei uns an?«, konnte sie ihm noch hinterherrufen. »Ist doch nicht zu glauben. Wenn ich daran denke, wegen was sonst hier …« In diesem Moment klingelte es erneut. »Ah, Kommissar Zweifel, schön dass Sie anrufen.« Klopfer kam aus seinem Büro und fuchtelte wild mit seinem Arm. »Moment, ich geb’ Sie mal weiter an den Chef.«

»Zweifel! Wo zum Teufel sind Sie? Ach, Sie sind schon dort? Was genau ist passiert?« Klopfer lauschte einige Minuten hochkonzentriert, dann traf er seine Anweisungen. »Gut, ich schicke die ganze Mannschaft raus, alle verfügbaren Krankenwagen und Notärzte, und ich informiere das BKA für alle Fälle. Sind Sie sicher, dass es kein Giftgas war? Also müssen wir keine Warnung herausgeben? Gut, ich verlass mich auf Sie. Übrigens ist Kollegin Zick wohl schon auf dem Weg. Sie melden sich bitte in fünfzehn Minuten wieder und geben mir den neuesten Status durch.« Klopfer reichte Lucy den Hörer zurück. »Finden Sie raus, wer bei der Therme das Sagen hat und wem die ganze Chose gehört. Und dann verbinden Sie mich bitte mit beiden, in dieser Reihenfolge. Aber erst in fünf Minuten. Vorher rede ich mit dem Polizeipräsidenten.« Lucy konnte sehr schnell sein, wenn es um solche Dinge ging. Klopfer war schon in seinem Büro verschwunden, als er nochmal den Kopf herausstreckte. »Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, Zweifel sei beim Friseur. Fürs Köpfe waschen bin immer noch ich zuständig.«

Melinda Zick war nicht wütend. Das beunruhigte sie selbst am meisten. Da gefällt es dem Universum, ihr ausgerechnet an ihrem ersten Urlaubstag seit einer halben Ewigkeit einen Strich durch die Rechnung zu machen, und sie nimmt es hin, ohne mit Schuhen zu schmeißen oder ihr Rad zu malträtieren. »Was geht da schief?«, dachte sie, als sie sich auf ihr Rad schwang, nachdem sie mit Lucy telefoniert hatte. »Hat mir Zack da gestern mit seinem neuen Nachtisch was untergejubelt?« Zacharias war ihr Bruder, der ein veganes Bistro eröffnet hatte und eine Vorliebe für originelle Zutaten hegte, die durchaus besänftigend wirken konnten. Als sie die Stadtgrenze Richtung Norden erreichte, versperrten ihr zwei Senioren mit unhandlichen E-Bikes den Weg. Wenig später blickten sie ihr empört und fassungslos nach. Melzick hatte sich den Weg wütend freigeklingelt. »Bingo«, dachte sie erleichtert und atmete tief durch, »doch keine Drogen im Dessert.«

Kommissar Adam Zweifel rieb sich mit beiden Händen den kahlen Schädel trocken. Fischli, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand, reichte ihm ein weißes Handtuch.

»Wo ist der Tote jetzt?«, fragte Zweifel und wischte sich mit dem Handtuch über sein Gesicht. »Verdammt warm hier drin.« Sie waren in Fischlis Büro. Es war ein kleiner Raum mit Metallspinden an den Wänden und einer Reihe von Monitoren auf einem weißen Metalltisch. Fischlis Erleichterung darüber, dass die Massenpanik glimpflich abgegangen war, wich purem Entsetzen, als ihm schlagartig die Stollensauna wieder einfiel.

»Das ist ein Katastrophentag«, stöhnte er. »Die ganze blödsinnige Elektronik spielt verrückt. Die Klimaanlage streikt, die Türen lassen sich nicht entriegeln, die Entlüftung stinkt zum Himmel und in der Stollensauna liegt … aber woher wissen Sie von dem Toten, wenn doch angeblich niemand die Polizei gerufen hat?« Zweifel warf das Handtuch auf einen Stuhl.

»Jemand hat mich auf meiner privaten Handynummer angerufen, anonym. Es hörte sich nicht nach einem Scherz an, auch wenn es sich nach einer Kinderstimme anhörte.« Fischli starrte ihn an.

»Und was sagte die Stimme?« Zweifel zuckte mit den Schultern.

»›Sie werden gebraucht. In der Therme gab es einen Toten.‹ Die Stimme war sicher elektronisch verzerrt, warum auch immer. Wer kam denn auf die Idee mit dem Bagger?« Fischli machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Nicht der Rede wert. Die Panik war in vollem Gange. Die Leute kannten nur eins: Raus hier. Da ist mir gottseidank der Bagger eingefallen.« Er machte eine Pause um nachzudenken. »Ob so etwas von der Versicherung abgedeckt ist?« Zweifel schüttelte den Kopf.

»Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Also, wo ist er?«

»Ja, äh, er liegt immer noch in der Stollensauna. Ich hab einen Kollegen davor postiert, damit niemand auf die Idee kommt …«

»Sind Sie denn sicher, dass keiner der Badegäste etwas bemerkt hat?«, unterbrach ihn Zweifel. Fischli verschränkte seine muskulösen Arme.

»Wenn ich Badegast bin und entdecke neben mir in der Sauna eine Leiche, was tue ich dann? Ich schreie um Hilfe, ich informiere das Personal, ich beschwere mich. Sehen Sie und all das ist nicht passiert.«

»Aber erwähnten Sie selbst vorhin nicht einen Schrei?« Fischli winkte ab.

»Der hat damit nichts zu tun. Irgendein blöder Scherz von ein paar Halbwüchsigen. Als Bademeister lernen Sie im Laufe der Jahre zwischen echten Schreien und hysterischem Getue zu unterscheiden. Wobei die lebensgefährlichen Situationen oft genug lautlos ablaufen.« Zweifel ließ sich das durch den Kopf gehen. Ein paar Minuten zuvor war er angekommen. Vor dem Haupteingang, auf den Parkplätzen und auf der Grünfläche rings um den Thermenkomplex wimmelte es von Menschen in höchst unterschiedlicher körperlicher und emotionaler Verfassung. Abgesehen von Schnittwunden und Kreislaufzusammenbrüchen, Prellungen, Quetschungen und zerkratzten Gesichtern, Augenreizungen und Atembeschwerden, war niemand ernstlich verletzt. Fassungslos und entsetzt, empört und verschreckt, versuchten die Menschen, das Erlebte zu verarbeiten. So unterschiedlich die Leute auch damit umgingen, alle einte das Gefühl, nochmal davongekommen zu sein. Als Zweifel sich einen Weg durch die Menge bahnte, hörte er mehrfach, wie über einen Schrei debattiert wurde, der offensichtlich von niemandem als so harmlos empfunden worden war, wie Fischli ihn glauben machen wollte. Doch vorerst beließ er es dabei. Sie hatten Fischlis Büro verlassen und gingen durch die menschenleere Saunawelt. Mehrere große Badetücher trieben im Vitalbecken. Die zerborstene Scheibe hinter dem als Frühlingsgarten bezeichneten Bereich, durch die alle endlich ins Freie gelangt waren, machte einen abenteuerlichen Eindruck. Der Bagger stand führerlos davor. Im Restaurant wurden sie von einem Mann aufgehalten. Er trug einen erstklassigen, hellen Leinenanzug, eine randlose Brille, hinter der schwarze Augen funkelten und eine kleine, halbvolle Flasche eisgekühlten Wassers. Ohne Zweifel eines Blickes zu würdigen, deutete er mit dem Zeigefinger auf Fischli.

»Das wird ein Nachspiel haben, John, das kann ich Ihnen garantieren. Ein sehr teures Nachspiel.« Damit leerte er die Flasche auf einen Zug und stellte sie auf dem Tresen ab. Dann erst wandte er sich Zweifel zu, dem er nicht mal bis zur Schulter reichte. Er blickte ihn von unten her abschätzig an. »Und Sie sind?«, fragte er mit einem Lächeln, das viele Zähne freilegte.

»Jemand, der gerne ein Wasser hätte«, konterte Zweifel trocken. Das Lächeln verdunstete im Nu.

»Mein Name ist Schilling. Ich bin hier der Geschäftsleiter«, sagte er und machte keine Anstalten, Zweifels Bitte zu erfüllen.

»Adam Zweifel, Kriminalhauptkommissar. Herr Fischli wollte mir gerade Ihren toten Badegast zeigen.« Schilling warf dem Bademeister einen missbilligenden Blick zu, der ihn ungerührt erwiderte. Zweifel blieb dies nicht verborgen. »Hier scheint heute ja einiges schief gegangen zu sein, wie ich höre, vor allem auch, was Ihre Haustechnik betrifft. Mit Ausnahme Ihres Kühlschranks, wie mir scheint«, ergänzte Zweifel mit einem Blick auf die leere Wasserflasche, an der einige Wassertropfen herabperlten. Schilling richtete seine schwarzen Augen auf den Kommissar und versuchte, die Situation abzuschätzen. Wie gewöhnlich überschätzte er dabei seine eigene Position. Fischli kannte seinen Chef zur Genüge und war daher auch nicht sonderlich von Schillings Antwort überrascht.

»Ich fürchte, das war die letzte Flasche«, sagte dieser mit einem Achselzucken. Zweifel wollte gerade etwas erwidern, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich jemand mit roten Dreadlocks durch die Trümmer im Frühlingsgarten kämpfte.

»Schon wieder eine Gafferin. Jagen Sie die weg«, herrschte Schilling seinen Bademeister an.

»Ich würde nur ungern auf meine Assistentin verzichten«, sagte Zweifel seelenruhig, bevor Fischli reagieren konnte.

»Ihre was?«, fragte Schilling und nahm seine Brille ab. Melzick war jetzt bei ihnen angekommen. Etwas außer Atem nickte sie Zweifel zu.

»Schöner Schlamassel, was Chef? Das Südseeparadies stell ich mir eigentlich anders vor.« Schilling hustete und rümpfte die Nase. Fischli zog die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf.

»Sie haben Urlaub, Melzick. Was tun Sie hier?«

»Ich suche Erholung und Entspannung«, sagte sie und streifte die beiden teils ärgerlichen, teils verblüfften Männer mit einem raschen Blick. Fischli fasste sich als erster.

»Dafür haben Sie sich den falschen Tag ausgesucht, junge Frau«, knurrte er.

»Ach, wenn ich schon mal da bin, da …«

»Ich dachte bei der Polizei gibt es auch so etwas wie einen Dresscode oder besser gesagt: Haircode«, unterbrach sie Schilling süffisant. Melzick schaute ihn ruhig an.

»Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte sie. »Allerdings sollte man eine gewisse Körpergröße haben.« Die Gesichtsfarbe des Geschäftsleiters wurde einen Hauch dunkler. Fischli konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Na schön«, meinte Zweifel, »nachdem wir jetzt alle vollzählig sind, wäre es wohl an der Zeit für einen Besuch bei dem Toten.« Schilling holte tief Luft und stürmte wortlos voran, gefolgt von Fischli.

»Wer ist das eigentlich?«, raunte Melzick ihrem Chef unauffällig zu, während sie den beiden nachliefen.

»Oh, nur der Geschäftsleiter«, raunte der zurück. »Schilling heißt er und der andere ist sowas wie der oberste Bademeister hier, Fischli.«

»Wie bitte?«

»Das ist sein Name. Fischli, John Fischli. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet heute ins Paradies zu wollen?«

»Wollt’ ich ja gar nicht. Erzähl ich später.« Der junge Bademeister hielt immer noch Wache vor der Stollensauna. Zweifel konnte beobachten, wie er Schilling etwas ins Ohr flüsterte und dann die Glastür freigab.

»Stopp!«, rief Zweifel, als Schilling sie betreten wollte. »Ich will keinen Ärger mit der Spurensicherung. Niemand betritt die Sauna!« Schilling hob reflexhaft beide Hände, als würde er mit einer Waffe bedroht. »Sie waren hoffentlich auch nicht drin«, sagte Zweifel zu dem Jungen, der ihn mit großen Augen verwundert ansah.

»Natürlich war ich drin.«

»Er hat ihn ja entdeckt«, mischte sich Fischli ein.

»Ich hab aber sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.«

»Fußspuren haben wir jedenfalls keine hinterlassen«, meinte Fischli.

»Da wär’ ich mal nicht so sicher«, warf Melzick ein. Zweifel hatte inzwischen einen der dünnen Handschuhe angezogen, die er immer bei sich trug, und öffnete die Glastür, indem er sie ganz oben anfasste. Ein eigenartiger Geruch stieg ihnen in die Nase, eine Mischung aus nassem Laub, Moder und trockenem Holz. Melzick schaute ihm über die Schulter.

»Oh fuck«, stieß sie hervor, »der ist ja kaum so alt wie ich!«

»Nie wieder, dit sarick dir!« Fred schwitzte. Er saß hinter dem Steuer seines Wohnmobils. Johanna wartete stumm auf dem Beifahrersitz ab, bis sich das Unwetter gelegt hatte. Abgesehen davon war sie unglücklich, weil sie sich von ihrer alten Freundin nicht mehr hatte verabschieden können. Nicht einmal telefonisch. Fred war so Hals über Kopf losgefahren, nachdem Elias aufgetaucht war, dass sie gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Erst auf der Autobahn fiel ihr Katharina wieder ein, die sie am Tag zuvor so großzügig mit Kuchen bewirtet hatte, dass sogar Fred beim dritten Nachschlag abwinken musste. Als Johanna sie anrufen wollte, um ihr das Ganze zu erklären, merkte sie, dass ihr Handy weg war. In dem riesigen Durcheinander und in der überstürzten Eile musste sie es verloren haben. Fred wollte von einem eigenen Handy nichts wissen und Elias sollte nach ihrer Meinung von einem eigenen Handy noch nichts wissen. So blieb ihr also nichts Anderes übrig, als bis zur nächsten Raststätte zu warten, in der Hoffnung, dass Fred sich bis dahin beruhigt haben würde. Elias war in sein Buch vertieft. Es lag auf dem rückwärtigen Tisch zwischen seinen Ellenbogen. Sein blasses Gesicht hatte er in seine Fäuste gebettet. Fred saß der Schrecken in den Gliedern. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in einem Rutsch nach Berlin zu fahren, wo er sich für den Rest des Urlaubs auf seinem Balkon erholen wollte. Doch jetzt beschloss er kurzerhand, auf dem nächsten Parkplatz eine Pause einzulegen. Das Zittern in seinen Händen war zu stark geworden. Was er genau mit seinem in regelmäßigen Abständen wiederholten »nie wieder« meinte, ließ er offen. Johanna war es ohnehin klar: Nie wieder Bayern, nie wieder Bad Wörishofen, nie wieder Therme, nie wieder Sauna. Der Junge hielt sich die Ohren zu. Er hatte etwas Anderes herausgehört: Nie wieder Elias.

»Ich hab euch gleich gesagt, dass es ganz großer Mist ist, was ihr da vorhabt!« Carla ließ Zornesfunken aus ihren dunklen Augen sprühen. »Wie kann man so naiv sein, so gotteserbärmlich naiv? Genauso gut könnt ihr eine Lawine lostreten und hoffen, dass Schneebälle unten ankommen!« Sie warf ihre schwarze Haarmähne mit der Hand wild zurück. Ihr Zorn war echt. Er war echt und mit Angst unterfüttert. Angst davor, was ihnen jetzt bevorstehen könnte.

»Jetzt mach mal halblang, Carla«, brummte Melchior, »es ist doch gut ausgegangen, außer den paar leichten Verletzungen. Dafür sind die Aufnahmen erstklassig.« Carla schnaubte vor Empörung und klatschte die Hände zusammen.

»Halt einfach die Klappe, Melchior«, fuhr ihn Lukas, der dritte im Bund, an. »Carla hat Recht. Wir haben einen Wahnsinnsdusel gehabt. Ich hätt’ mich nie darauf einlassen sollen.« Melchior schaute ihn spöttisch von der Seite an. Er saß auf der roten Mauer, die sein elterliches Anwesen großzügig einfasste. Lukas saß neben ihm, Carla tigerte vor den beiden auf und ab. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen.

»Gib mal her«, sagte sie zu Melchior. Er reichte ihr wortlos und mit einem Schulterzucken sein Smartphone. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Gehweg und startete noch einmal das Video, das sie sich an diesem Tag bestimmt schon fünfmal angesehen hatte. Aus dem winzigen Lautsprecher kamen verzerrte Geräusche, eine Kakophonie aus Schreien, Rufen, Protesten, Schlägen aufs Wasser, Schlägen auf Glas und, darüber liegend, in größeren Abständen gemurmelten Kommentaren von Melchior: » … jetzt kommt gleich die erste Durchsage …; einige haben es gemerkt …; Vorsicht, die Treppe, der Bademeister …«; an dieser Stelle wackelte kurz das Bild, was daran lag, dass Melchior den Standort gewechselt hatte, um nicht in Fischlis Blickfeld zu kommen. Auf dem kleinen Display waren sehr deutlich die Gesichter konfuser Menschen zu erkennen, die in der Schleuse zum Außenbecken feststeckten. Carla starrte auf das Gedränge an den Glasscheiben und auf die Menschenmenge, die von der gegenüberliegenden Seite her ins Innere drängte, auf der Flucht vor dem vermeintlichen Giftgas. Lukas’ Stimme war ganz kurz zu hören, dann konnte man sehen, wie er am Bademeister vorbei die Treppe hinuntereilte und mit einem riesigen Satz ins Becken sprang, wo er einen kleinen Jungen, mit dem Gesicht nach unten treibend, entdeckt hatte. Carla stoppte das Video, sprang auf und funkelte erneut ihre beiden Kommilitonen an.

»Drei Fragen«, sagte sie betont langsam und deutlich, »erstens: Was ist mit dem kleinen Jungen passiert? Wieso wusstest du, Melchior, dass gleich eine Durchsage kommt? Und vor allem: Wo habt ihr die Gasgranaten her? Und wer hat die gezündet? Ihr beide wart ja wohl die ganze Zeit im Saunabereich, oder?«

»Das sind jetzt aber vier Fragen«, meinte Lukas.

»Es sind immer noch viel zu wenige Fragen«, fauchte sie ihn wütend an.

»Schon gut, schon gut, jetzt beruhig dich mal. Also: Dem Jungen geht’s gut«, erwiderte Lukas, »der ist gleich wieder zu sich gekommen. Ich hab sogar seine Mutter gefunden. Die hatte in dem Tumult noch gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn ›toter Mann‹ spielen wollte.« Er lächelte gequält und schaute Melchior von der Seite an, doch der schwieg. Er hatte sich einen Kaugummi in den Mund gesteckt und wich Carlas Blick aus. Melchior wusste, sie würde keine Ruhe geben, auch wenn sie jetzt ebenfalls schwieg. Ihr Schweigen konnte sehr herausfordernd sein. Das hatte er in den letzten beiden Jahren, seit sie gemeinsam in München Psychologie studierten, oft genug erlebt. Schließlich nahm er den Kaugummi raus und klebte ihn demonstrativ an die Mauer.

»Ach weißt du, Carla,« sagte er obenhin, »das mit der Durchsage und so, glaub’ mir, es ist besser, wenn du nicht alles weißt.«

»Besser für dich oder für mich?« Er schaute ihr in die Augen.

»Für dich«, und damit sprang er von der Mauer. »Übrigens war das kein Giftgas, nur ein paar harmlose Nebelgranaten.«

»Weißt du was«, giftete Carla ihn an, »sag das doch mal den Leuten ins Gesicht, die sich hier quälen.« Sie hielt ihm das Display vor die Augen. Das Standbild zeigte deutlich die verzerrten und verstörten Gesichter der Menschen aus dem Eingangsbereich. »Aber dazu fehlt dir einfach die Courage, Melchior.« Sie warf ihm das Smartphone voller Verachtung entgegen. Melchior fing es lässig auf. Lukas schaute angestrengt in eine andere Richtung. Carla hatte einen Entschluss gefasst. Sie hängte sich ihre Büchertasche um und holte tief Luft.

»Mit euch bin ich fertig«, sagte sie leise und ging. Lukas schaute ihr erschrocken nach. Melchior hielt ihn am Arm fest.

»Komm mit rein«, sagte er zu ihm, »wir müssen uns was überlegen.«

3. Kapitel

»Bedienen Sie sich«, sagte Lars Schilling mit seinem Handy am Ohr unwirsch zu seinen Gästen. Sie hatten sich in sein Büro im ersten Stock begeben. Dr. Kälberer, der Polizeiarzt, ließ ausnahmsweise einmal nicht auf sich warten, und war bereits dabei, die Leiche des jungen Mannes in der Stollensauna zu untersuchen. Penny Stock, die Spezialistin der Spurensicherung war mit ihren beiden Assistenten ebenfalls eingetroffen und wartete darauf, den Fundort unter die Lupe nehmen zu können. Schilling hatte kurzzeitig den Überblick verloren und beschlossen, der ganzen Sache zumindest räumlich aus dem Weg zu gehen. Während er noch telefonierte, setzten Zweifel und Melzick sich an den runden Glastisch, auf dem einige Mineralwasserflaschen bereitstanden. Fischli war auf ausdrücklichen Wunsch des Kommissars mitgekommen und beobachtete am Fenster stehend, wie sich das Gelände rund um die Therme allmählich leerte, die Sanitätswagen einer nach dem anderen abfuhren und zumindest nach außen hin wieder etwas Normalität einkehrte. Schilling sprach gedämpft. Er hatte sich auf seinem Schreibtischstuhl zur Wand gedreht und machte auffallend wenig Worte. Hauptsächlich war er mit Zuhören beschäftigt. Schließlich legte er auf und gesellte sich zu ihnen.

»Das war Herr Kronberger, der Eigentümer der Therme.« Zweifel öffnete gerade seine zweite Wasserflasche. »Er befindet sich momentan im Ausland. Offenbar hat Ihr Chef,« er nickte unwillig zu Zweifel hinüber, »ihn schon informiert. Herr Kronberger kommt höchstpersönlich hierher. Wahrscheinlich schon morgen«, fügte er mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck hinzu. Zweifel leerte die Flasche zur Hälfte und stellte sie dann behutsam auf den Glastisch. Melzick behielt ihre in der Hand.

»Wir haben ein großes Problem, Herr Schilling«, sagte er

»Ach ja, nur eines?«, gab dieser zurück und verschränkte die Arme. »Mein lieber Herr Kommissar, ich bin von Problemen umzingelt!«

»Gut, dann wollen wir mal festhalten: Eine ganze Menge Zeugen, die uns vielleicht weitergeholfen hätten, sind weg. Das ist zwar verständlich, aber auch gleichzeitig der Grund, weshalb wir diejenigen, die noch da sind, hierbehalten müssen, damit wir sie so rasch wie möglich befragen können.«

»Haben Sie deswegen Ihre freundlichen Wachhunde überall postiert?« Zweifel legte seine Stirn in Falten. Allmählich verlor er die Geduld für das Verhalten Schillings.

»Die Betonung liegt auf ›freundlich‹, Herr Schilling, weniger auf ›Wachhund‹. Und ich will Ihnen etwas verraten, Herr Schilling: In den mehr als zwanzig Jahren, die ich damit verbracht habe, Morde aufzuklären, durfte ich die Erfahrung machen, dass die Toten das freundlichste Verhalten von allen Beteiligten an den Tag legten.« Fischli, der immer noch am Fenster stand, drehte sich um. Diese Töne kannte er nicht. Der Geschäftsleiter, der gerade dabei war, eine Flasche Bitter Lemon zu öffnen, rutschte am Verschluss ab und verschüttete etwas auf dem makellosen Glastisch. Zweifel fuhr fort. »Die Opfer haben ausnahmslos mit mir kooperiert und früher oder später geholfen, das Geheimnis um ihren Abgang zu lüften. Vor allem, und das weiß ich am meisten zu schätzen, haben sie sich mit abfälligen Bemerkungen zurückgehalten.« Melzick schmunzelte in sich hinein. Zweifel richtete seine großen schwarzen Augen mit einem gewinnenden Lächeln auf Schilling. »Bei allem Respekt für Ihre Verantwortung und angesichts der Probleme, die sich um Sie herum versammelt haben, schlage ich vor, wir versuchen es alle einmal mit dieser Verhaltensweise.« Fischli war zu ihnen getreten und setzte sich nun ebenfalls an den Tisch. Dieser Ton sagte ihm zu. Schilling stand abrupt auf und wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Im letzten Moment überlegte er es sich anders, da ihn alle drei ansahen. Er räusperte sich. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich wieder. Melzick holte ein Taschentuch hervor und wischte den Limonadenfleck auf. Schilling nickte ihr kurz zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Also, was ist am dringendsten?«, fragte Zweifel und legte einen Finger an die Nase.

»Der Betrieb muss sich ganz schnell wieder normalisieren«, sagte Schilling mit Nachdruck.

»Wir müssen herausfinden, wer der Tote ist«, sagte Melzick.

»Die Glaswand muss erneuert werden«, sagte Fischli. Zweifel nickte. Der alte Bademeister beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien. »Glauben Sie, dass das wirklich ein Anschlag war, Herr Kommissar? Ich hab sowas noch nie erlebt. Dieses Chaos, diese Panik, die vielen verzweifelten Menschen, ich …« Er brach ab und senkte den Kopf.

»Im ersten Moment hat es wohl danach ausgesehen«, antwortete Zweifel. »Ich habe vorhin kurz mit meinen Leuten gesprochen und auch mit einem der Ärzte. Sie sind sicher, dass es kein Giftgas war. Wir haben zwei kleine Gasbehälter entdeckt, die in der Eingangshalle unter den Sitzbänken versteckt waren. Es dürfte sich um einigermaßen harmlose Rauchgasgranaten mit Fernzünder handeln. Das sieht mir nicht nach einem Terroranschlag aus.«

»Was ist mit den Türen, die nicht aufgingen? Und die merkwürdigen Durchsagen? Die Stimme kam mir jedenfalls unbekannt vor und ich arbeite hier schon sehr lange«, beharrte Fischli. Zweifel schaute ihn fragend an.

»Dann muss ich aber nochmal auf den Schrei zurückkommen. Waren es nicht zwei Schreie? Ich hatte den Eindruck, dass die Badegäste die nicht als harmlos empfunden haben.« Fischli erwiderte seinen Blick.

»Wenn man alles im Zusammenhang betrachtet, dann waren sie das vielleicht auch nicht.«

»Genau das ist die Frage«, ergänzte Melzick, »Hat dieses ganze Theater mit Schreien, verschlossenen Türen und Rauchgas irgendetwas mit dem Toten zu tun?« Zweifel stand auf und nickte Melzick zu.

»Wir kümmern uns jetzt erstmal um die Zeugen, die Kollegen haben ja schon angefangen.« Er warf Schilling einen Blick zu. »Sie könnten mir später die Innereien der Therme erläutern, also wer wann wofür zuständig ist, und Sie, Herr Fischli, zeigen mir dann sozusagen den Maschinenraum und die Geheimgänge und öffnen mir alle Türen, auf denen ›Zutritt streng verboten‹ steht.« Schilling verzog genervt das Gesicht, Fischli nickte. »Kommen Sie, Melzick, sorgen wir dafür, dass die Menschen das Paradies verlassen dürfen.«

»Wenn der Knebel nur nicht diesen entsetzlich süßen Geschmack hätte«, dachte Moritz Kronberger. Eine Mischung aus Süßholz, Saccharin und Anis. Es würgte ihn in der Kehle. Seine Hände waren auf seinem Rücken mit Klebeband fixiert, das ihm keinen Millimeter Bewegungsspielraum gab. Seine Beine waren oberhalb der Knie und an den Knöcheln auf die gleiche Weise gefesselt. Er lag auf der Seite auf einer alten Matratze. Die Augen hatten sie ihm nicht verbunden. Dennoch hielt er sie die meiste Zeit geschlossen. Er war 14 Jahre alt und er war vorbereitet. Das half ihm, nicht die Nerven zu verlieren. Seit Stunden kämpfte er mit seiner Atmung, zwang sich, den dicken Stoffballen, der in seinem Mund festsaß, zu ignorieren, den Schluckreflex zu kontrollieren. Ihm war sofort klar gewesen, was mit ihm passieren würde, als der rote Wagen neben ihm an der Ampel mit quietschenden Reifen bremste. Als die beiden Männer raussprangen und ihn von seinem Mountainbike rissen. »Also gut«, hatte er bei sich gedacht, »jetzt werde ich also gekidnappt.« Bemerkenswerterweise blieb er äußerst ruhig und gelassen. Seine Kidnapper waren sehr routiniert. Alles lief ab, wie hundert Mal geprobt. Keine Bewegung, kein Wort zu viel. Sein Vater hatte ihn und seinen Bruder seit sie zwölf waren, immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie entführt werden konnten. Er hatte immer von der »Möglichkeit« gesprochen, nie von der »Gefahr«. Systematisch hatte er ihre Verhaltensweisen in einer solchen Situation eingeübt, sie regelrecht gebrieft. Moritz war auf seine Entführung also mindestens so gut vorbereitet, wie seine Entführer.

»Vorbereitet sein ist das Allerwichtigste«, hatte ihr Vater ihnen in seiner kühlen Art eingeschärft. Für Moritz hatte es sich immer so angehört, als würde er zu seinen Angestellten sprechen. »Egal was man zu euch sagt, lasst euch nicht verunsichern. Geht davon aus, dass das zu dem Plan gehört. Deshalb: Wer vorbereitet ist, kann die Ruhe bewahren. Wer die Ruhe bewahrt, kann überlegen. Wer überlegt, kann überleben.« Wie ein Mantra kamen ihm diese Sätze immer und immer wieder in den Sinn, während er gefesselt und geknebelt auf einer modrigen Matratze in irgendeinem alten Obstkeller auf die nächsten Schritte seiner Entführer wartete.

»Keine Sorge, Dad«, dachte er, »ich bin genauso ruhig wie du.« Sein Vater würde jede Lösegeldforderung erfüllen. Und dann würden alle Beteiligten zufrieden auseinandergehen und die Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen. Soweit die Theorie. Sein Bruder und er hatten früh gelernt, wie man Theorien in die Praxis umsetzt. Ihr Vater war ein harter Lehrmeister gewesen. Nur eines würde Moritz Kronberger nie wieder vergessen, dessen war er sicher. Diesen widerlich süßen Geschmack in seinem Mund.

Elias war zwölf Jahre alt. Er wohnte jetzt seit zwei Jahren bei seiner Tante Johanna und seinem Onkel Fred, aber so böse hatte er seinen Onkel noch nicht erlebt.

»Am besten wird es sein, wenn er gar nicht merkt, dass ich da bin«, dachte er und vergrub sich in sein Buch. Ab und zu blätterte er eine Seite um, ohne überhaupt ein Wort gelesen zu haben. Zu sehr war er in Gedanken noch in diesem riesigen Spaßbad. Sein Onkel bremste abrupt ab. Sie steckten in einem Stau fest. Jetzt würde er erst recht wütend sein. Aber zu seiner Überraschung verlor Onkel Fred kein Wort darüber. Vielleicht war sein Vorrat an Ärger aufgebraucht.

»Willst du wat zu futtern, Elias?«, fragte ihn seine Tante und drehte sich zu ihm um. Er schüttelte den Kopf. Sie seufzte.

»Mir fragst du nüscht?«, sagte sein Onkel.

»Dir brauch ick nüscht zu fragen«, gab sie zur Antwort und reichte ihm ein Sandwich, das er brummend entgegennahm.

»Dit scheint wat Größeret zu sin«, sagte er kauend, als sie die Sirenen von mehreren Notarzt- und Krankenwagen näherkommen hörten. Elias schaute gerade aus dem Seitenfenster, als ein Sanitätswagen sich vorsichtig an ihnen vorbeischob. Schlagartig fiel ihm ein, was er am Morgen in der Therme beobachtet hatte. Etwas Sonderbares war dort geschehen. Erst hatte er einen unheimlichen Schrei gehört und kurz darauf noch einen. Irgendwo drinnen in der Therme musste etwas Schlimmes passiert sein. Bald danach hatten zwei Männer in Sanitätswesten auf einer Trage einen Menschen transportiert. Der lag unter einer dunklen Decke. Sie waren vorher mit ihrem Auto ohne Sirene bis an die Stelle gefahren, wo dichte Büsche auf einem grasbewachsenen Erdwall die Sicht auf das Gelände um die Therme versperrten. Elias hatte sich dort auf der Flucht vor seinem Onkel versteckt. Hierher verirrten sich keine Erwachsenen. Er hatte von seinem Versteck aus zugesehen, wie die Männer mit ihren leuchtend orangefarbenen Westen ausgestiegen waren, die hintere Tür geöffnet und die Trage mit dem Mann herausgerollt hatten. Er hatte den Kopf des Mannes erkennen können. Er war blond und er lag bewusstlos unter seiner Decke. So war es Elias wenigstens vorgekommen. Die Männer waren groß und stark gewesen und sie waren rasch gelaufen. Dann hatte er sie kurz aus den Augen verloren, weil er in der anderen Richtung Ausschau nach seinem Onkel gehalten hatte. Dann hatte er sie um eine Ecke des Gebäudes kommen sehen. Sie mussten irgendwie den Zaun überwunden haben, der auf der äußeren Seite des Graswalls das Gelände begrenzte. Sie hatten geschwitzt und ihre Köpfe waren rot gewesen. Der Mann, den sie trugen, war dagegen so komisch weiß im Gesicht gewesen. Das hatte Elias erschreckt. Sie waren dicht an der Gebäudewand entlanggelaufen, ohne sich umzusehen. Dann waren sie in einer schmalen Mauernische verschwunden und Elias hatte sie für ein paar Minuten aus den Augen verloren. Wenig später, gerade als er sein Versteck hatte verlassen wollen, waren die zwei Männer wiederaufgetaucht, aber ohne den Bewusstlosen. Sie hatten es sehr eilig gehabt. Elias hatte sich gerade noch rechtzeitig ducken können. Sie waren mit der Trage, auf der die Decke lag, zu ihrem Auto gerannt. Elias hatte die Sekunden gezählt. Bei zweiundzwanzig war das Auto mit den beiden Männern davongefahren.

»Willst du wenigstens een Stück Kuchen?«, fragte ihn seine Tante und hielt ihm einen Pappteller mit einem Apfelkuchen hin.

»Lass ihn doch, wenn er nüscht will«, brummte sein Onkel, der das Stück schon für sich einkalkuliert hatte. Er hörte sich etwas freundlicher an. Daher riskierte es Elias, den Kuchen anzunehmen. Während er in den süßen, hellen Teig biss, versuchte er, nicht mehr an das weiße Gesicht des Mannes auf der Trage zu denken.

Melchior saß auf der Fensterbank in seinem Studierzimmer, wie er es nannte. Er saß immer irgendwie erhöht, wie Katzen es gerne tun. Von hier oben unter dem Dach konnte er über die Dächer der Nachbarvillen bis zu den Alpen blicken. Er hatte die Arme über dem Kopf verschränkt und beugte sich seitwärts nach beiden Seiten, um die Schultern zu dehnen.

»Lass dich nicht verrückt machen, Lu«, sagte Melchior, »Carla sieht doch immer alles kohlrabenschwarz. Im Kritisieren und Besserwissen ist sie die Queen of the Universe, das weißt du doch.« Lukas antwortete nicht. Er saß an Melchiors Schreibtisch und starrte angestrengt in dessen Laptop. »Die wird sich schon wieder einkriegen, mach dir keinen Stress deswegen. Spätestens …«

»Menschenskind, mir ist egal, ob sie sich einkriegt«, unterbrach ihn Lukas, »wenn sie nur die Klappe hält. Die kann uns in Teufels Küche bringen.«

»So, so, in Teufels Küche. Was ist denn das für eine Ausdrucksweise? Du redest ja wie die Geschäftsfreunde von meinem Dad.«

»Von mir aus. Die kann uns megamäßig Trouble machen, wenn das für dein Sprachzentrum kompatibler ist.«

»Okay, okay, Freund Lukas«, seufzte Melchior, »dann lass uns doch ein Palaver halten und überlegen, wie wir das Weib in Acht und Bann schlagen.« Lukas riss sich vom Bildschirm los.

»Du hast wirklich noch nicht geschnallt, wie kurz wir vorm Rauswurf stehen, was? Carla muss nur unseren ehrenwerten Professor Jung abpassen und ihm ein paar Sachen flüstern. Der wartet doch nur auf sowas. Glaub’s mir: Zwei, drei Worte von ihr und eine Woche später hat jeder von uns einen freundlichen Brief auf seinem Schreibtisch: ›Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, blablabla …‹ und raus bist du. Vier Jahre Plackerei für nix und wieder nix. Wie soll ich das meinem Vater beibringen? Für das Geld, das ihn mein Studium gekostet hat, hätte er schon längst seine Werkstatt modernisieren können. Seit Jahren wartet er darauf.«

»Ach komm jetzt, Lu …« Lukas klappte den Laptop zu. Sein Ton wurde merklich kühler.

»Nicht jeder hat so viel Kohle wie dein Dad, Melchior, schon vergessen? Es gibt tatsächlich Leute, die müssen jeden Tag arbeiten.« Melchior sprang von der Fensterbank und baute sich vor seinem Freund auf.

»Wenn ich eines satthabe, dann, dass mir ständig das Scheißgeld meines Vaters vorgeworfen wird.« Lukas wich zurück.

»Ich dachte, es wird dir nachgeworfen«, sagte er und versuchte zu grinsen. Melchior holte zum Schlag aus, zögerte kurz und grinste dann ebenfalls. Er gab Lukas einen eher symbolischen Kinnhaken.

»Jedenfalls werden wir nicht so schnell exmatrikuliert, Lu. Ganz so einfach geht das nicht.«

»Aber du vergisst den Schaden, der entstanden ist. Soweit ich gerade rausgefunden habe, ist der Besitzer der Therme ein harter Hund. So einer versteht keinen Spaß, mit dem kannst du nicht verhandeln.« Melchior zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Viel wichtiger ist doch die Frage: Was machen wir mit dem Video?«

»Wir mieten ein Schließfach bei Gringotts in London und lassen es von Harry Potter bewachen.«

»Wer ist Harry Potter?«

»Irgendein Kobold, glaub’ ich.«

»Zum Glück hört uns keiner zu«, meinte Melchior, »sonst könnte man noch auf den Gedanken kommen, wir wären nicht erwachsen.«

4. Kapitel

»Ein Spitzer, ein Küchenschwamm, ein Kieselstein, ein Ehering, der Größe nach zu urteilen vom Ehemann, vier Kinokarten, gültig für heute Abend für den Film ›Flammendes Inferno‹, das ist ein ziemlich alter Schinken, eine Packung Räuchertofu, ungeöffnet, was mich nicht wundert, ein Apothekerfläschchen mit Tabletten, zwei Herrenbadehosen mit zweifelhaftem Muster, eine Taschenlampe, sechs große Badetücher oder Saunatücher, eine Packung Zigaretten, Marke Gauloises, wusste gar nicht, dass es die noch gibt, eine Kondolenzkarte, mit Tinte geschrieben und daher komplett unleserlich, ein Einkaufszettel, mit Bleistift geschrieben, teilweise leserlich, ein Studentenausweis der psychologischen Fakultät an der LMU München, lautend auf Lukas Freun, eine Lupe, drei Sonnenbrillen, alle kaputt, sieben, nein acht Handys, unheimlich hinüber, ja – ich glaube, das wäre alles. Fehlt nur noch eine Angelrute und ein Eimer Holzkohlen.« Penny Stock holte tief Luft, nahm die Lupe und wog sie in der Hand. »Schon teilweise krass, was die Leute so alles mitnehmen, wenn sie in die Sauna gehen.« Sie befanden sich in Fischlis Büro. Vor ihr lag auf dem Metalltisch ausgebreitet das Sammelsurium an Gegenständen, die sie und ihre Assistenten aus dem Vitalbecken, dem Außenbecken und den Whirlpools gefischt hatten. Sie reichte Zweifel die akkurate Liste. Der junge Bademeister stand daneben und nickte.

»Sie würden sich wundern, was wir da schon alles gefunden haben.« Melzick und der Kommissar waren kurz vorbeigekommen, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie mit den übriggebliebenen Badegästen sprachen. Melzick nahm zielsicher einen Gegenstand vom Tisch und hielt ihn in die Höhe.

»Das fehlt auf deiner Liste, Penny, was ist das?«, fragte sie und betrachtete neugierig von allen Seiten einen kleinen schwarzen Kasten. Penny Stock räusperte sich verlegen.

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich das Ding bezeichnen soll. Ist wohl irgendwas Technisches, aber ich will da ganz genau sein und erstmal im Internet recherchieren. Die Kollegen konnten mir auch nicht weiterhelfen.« Zweifel nahm den Kasten prüfend in die Hand.

»Ähm, vielleicht …«, meldete sich der junge Bademeister zu Wort, »vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.« Sie drehten sich alle drei zu ihm um. »Ich glaube, das ist ein Gerät, mit dem man alle möglichen Produkte erkennen kann, in Supermärkten, Geschäften, Kaufhäusern und so. Blinde benutzen sowas.«

»Warum hab ich Sie nicht schon eher gefragt«, seufzte Penny Stock. »Jetzt müssen wir nur noch den blinden Besitzer ausfindig machen«, sagte Zweifel.« Außer dem Studentenausweis lässt sich ja sonst nichts von dem Zeug eindeutig zuordnen. Sie haben alles genau inspiziert, Penny?

Irgendwelche Anhaltspunkte?« Sie schüttelte den Kopf. »Alles fotografiert?« Sie nickte. »Gut, die Sachen bleiben erstmal hier, bis diese Angelegenheit aufgeklärt ist. Wenn die Eigentümer sich melden sollten«, damit wandte er sich wieder an den jungen Bademeister, »dann notieren Sie bitte Namen, Adresse und Telefonnummer und sagen den Leuten, dass wir uns bei ihnen melden.« Es klopfte. Der Dienstälteste der sechs Beamten, die sich in der Zwischenzeit mit etwa fünfzig mehr oder weniger aufgeregten Badegästen unterhalten und die Personalien aufgenommen hatten, stand vor der Tür. Da Fischlis Büro mit vier Personen fast schon überfüllt war, ging Zweifel zu ihm hinaus auf den Flur des kleinen Verwaltungsbereiches.

»Wir sind fertig mit den Befragungen, Herr Kommissar.« Er überreichte Zweifel einen Stapel DIN-A4-Blätter. »Das sind die Aussagen der Leute. Mehr oder weniger ähnliche Schilderungen. Wir haben alle befragt, die noch da waren.« Zweifel nickte anerkennend.

»Also haben Sie mir keinen mehr übriggelassen?«, fragte er. Der Mann riskierte ein millimetergroßes Schmunzeln.

»Doch, es gibt noch jemanden. Der will nur mit dem ›großen Boss‹ reden, wie er sagt.« Zweifel zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich nehme an, damit hat er Sie gemeint«, ergänzte der Mann, ohne eine Miene zu verziehen. Zweifel überflog die Blätter, während der Beamte neben ihm wartete. Die Aussagen waren allesamt wörtlich protokolliert worden:

»So etwas hab ich noch nie gehört. Als wenn ein Tier abgeschlachtet wird.«

»Markerschütternd. Ich hab Gänsehaut gekriegt.«

»Wir konnten unseren Jungen gar nicht mehr beruhigen, so eine Angst hat er bekommen.«

»Eine Schweinerei ist das, ich werde mich beschweren.«

»Ein Albtraum, ein richtiger Albtraum. Ein Wunder, dass wir da heil rausgekommen sind.«

»Die Schreie werd’ ich nie vergessen. Die krieg’ ich nie mehr aus meinem Kopf raus.«

»Wir wollten einfach nur raus, nichts wie raus, aber da war kein Durchkommen, die Leute waren wie durchgedreht.«

»Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man an so eine Glasscheibe gequetscht wird? Ich war absolut machtlos. Die haben mir die Luft aus den Lungen gequetscht.«

»Mein Mann ist ohnmächtig geworden, und ich bin ja nur ’ne alte Frau. Ich konnt’ ihm nicht helfen. Ich dachte, es ist vorbei. Jetzt ist es vorbei.« Zweifel hob seinen Blick und schaute den Beamten an. Der nickte ernst.

»Es ist unglaublich, dass niemand ernsthaft verletzt wurde.«

»Was ist das für einer, der nur mit mir reden will?«

»Ich führ sie zu ihm.« Melzick stand bereits hinter Zweifel. Sie nahm ihm die Blätter ab.

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie Sie von der Sache hier Wind bekommen haben«, sagte Zweifel, während sie dem Beamten folgten.

»Erzähl ich später«, antwortete sie.

»Das hab ich heute schon mal gehört.«

»Versprochen!«

»Hier entlang, Herr Kommissar.« Sie waren in der Massageabteilung angekommen. Hier gab es eine Reihe von kleinen, abgeteilten Räumen, die sich sehr gut für die Befragungen geeignet hatten. Einige Angestellte standen, mit Plastikbechern in der Hand in der Nähe herum, nervös und ratlos und auf irgendwas wartend. Zweifel ignorierte sie. Der Beamte führte ihn und Melzick hinter die Empfangstheke und einen schmalen Gang entlang. Links und rechts die Kabinen waren alle leer. Schließlich blieb er stehen und nickte dem Kommissar zu.

»So, Herr Mayrhubr, ohne ›e‹, hier kommt der ›große Boss‹.« Auf einer Massagebank lag ein Zweizentnerkoloss um die sechzig auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er richtete sich rasch auf und streckte Zweifel eine schwer beringte Pranke entgegen. Bei seinem Anblick blieb Melzick die Spucke weg. Silbergraue Haarmähne bis auf die Schultern, schwarze Sonnenbrille mit runden Gläsern, beidseitig silberne Ohrringe, breites, schwarzes Stirnband, grobkariertes, bis zu den Ellbogen hochgekrempeltes Holzfällerhemd, verblasste Tattoos auf den muskulösen Unterarmen. Auch der Rest der schwarzen Kleidung – Weste mit silbernen Knöpfen und langen Fransen, breiter Gürtel mit großer Silberschnalle, klobige Motorradstiefel – war stilecht. Mit einem Wort: Ein lupenreiner Altrocker.

»Ich habe Sie schon erwartet, Kommissar. Sie sind doch Kommissar?«, ließ er eine angenehme Bassstimme ertönen. Zweifel ergriff seine Hand, die irgendwo zwischen ihnen schwebte.

»Ja, das bin ich. Adam Zweifel.«

»Von A bis Z ein Polizist, das hört man sofort.«

»Das ist meine Assistentin, Melzick.« Der Mann ließ die Hand einfach in der Luft hängen, wo Zweifel sie losgelassen hatte. Sein Gesicht mit den schwarzen Augengläsern blieb unbewegt, bis Melzick zögernd seine Hand ergriff.

»Ah, junge Verstärkung, bin begeistert«, sagte er in seinem ruhigen Ton und hielt ihre Hand für Melzicks Geschmack ein paar Sekunden zu lange fest. »Wie Ihr Kollege schon sagte, ich bin der Mayrhubr und zwar ganz ohne ›e‹. Ist wohl irgendwann im Lauf der Jahrhunderte verlorengegangen. Als Ausgleich hat mein alter Herr meinem Vornamen ein ganz großes ›E‹ verpasst. Von der Stimme her haben Sie das passende Alter, um von selbst darauf zu kommen, Kommissar.« Zweifel tauschte mit Melzick einen amüsierten Blick. Dann räusperte er sich.

»Na ja, ich vermute mal, zu Ihrem Nachnamen passt Elvis wohl am besten.«

»Ha!«, ließ Mayrhubr einen Schrei los und klatschte in die Hände. »Ich sehe schon, wenn Sie mir die Behauptung gestatten, Herr Kommissar, ich habe es mit Intelligenz zu tun.«

»Dann sind wir ja sozusagen auf Augenhöhe«, entgegnete Zweifel und nickte Melzick zu. Die verstand und verschwand. Elvis grinste und nickte langsam.

»Falls es hier drinnen einen Stuhl gibt, dann setzen Sie sich doch, Herr Kommissar. Ist mir lieber so.« Zweifel schnappte sich einen kleinen Hocker.

»Sie machen einen ziemlich entspannten Eindruck, Herr Mayrhubr.«

»Sagen’s Elvis zu mir. Bei Mayrhubr macht meine Prostata Klimmzüge.«

»Gut, dann also Elvis. Sie hat das Ganze ziemlich kalt gelassen?« Elvis fing an, mit den Fingern der rechten Hand einen langsamen Rhythmus auf seinem Oberschenkel zu trommeln. Er nahm sich Zeit für seine Antwort.

»Hab ich Ihre Assistentin in die Flucht gejagt, Herr Kommissar?«

»Ach wissen Sie, die lässt sich nicht so leicht verscheuchen. Ich denke, sie ist gerade dabei, eine Überraschung für Sie zu organisieren.«

»Ist das so?« Zweifel nickte. »Ich nehme an, Sie haben gerade genickt. Elvis hat gute Antennen, Herr Kommissar und die Signale werden komplett hier oben eingescannt.« Er tippte mit einem enorm dicken Zeigefinger an seine Stirn.

»Was ist passiert und wo waren Sie, als es passierte?«, fragte Zweifel und beugte sich vor. Elvis hörte auf zu trommeln.

»Die Infrarotliegen sind mein Stammplatz. Von dort krieg ich alles am besten mit. Außerdem ist die Bar in Rufweite.«

»Wie ging es los?« Elvis lächelte.

»Mit Pink Floyd fing alles an.«

»Mit Pink Floyd?«

»Ach kommen Sie, Herr Kommissar, Sie werden sich doch an Pink Floyd erinnern.«

»Das schon, aber …«

»Sie haben bei mir einen anderen Musikgeschmack erwartet. Sie gehen nach Äußerlichkeiten. Das ist ein Fehler. Das habe ich mir schon sehr lange abgewöhnt, Herr Kommissar.« Er ließ ein heiseres Lachen hören. »Okay, ist für mich auch ganz easy, seitdem ich auf die visual effects verzichte. Man soll mit Geständnissen sparsam sein, vor allem gegenüber dem Staat, aber Ihnen trau’ ich, daher geb’ ich offen zu, dass Led Zeppelin, Black Sabbath und Deep Purple meine Heroes sind. Aber eben auch Beethoven. Irgendwann dazwischen hatte ich eine Phase, in der ich voll auf Pink Floyd abgefahren bin.« Zweifel war verwirrt. Wie sollte er mit diesen Informationen umgehen? Wollte Elvis jetzt seine Playlist runterbeten?

»Sie wollen mir damit was sagen?«

»Klar Mann!« Zweifel kratzte sich am Kopf.

»Es könnte sein, dass meine Musikintelligenz dazu aber nicht ausreicht. Geben Sie mir einen Tipp.«

»Ich erzähl’s lieber am Stück«, brummte Elvis und drehte seinen Kopf nach allen Seiten, als wolle er sichergehen, dass niemand mithört. »Den ganzen Vormittag wurde ich zugekleistert mit den Geräuschen die hier so üblich sind: Halblautes Blablabla, Wassergeplätscher, nasse Plattfüße auf nassen Kacheln, das Quietschen der Glastüren, die nach draußen führen, gedämpfter Quark aus den Lautsprechern, ab und zu ein kreischendes Pubertier und dann ein Flash.« Er hatte zwei Finger erhoben, wie zum Schwur. »Gleich darauf ein zweiter.«

»Sie meinen die Schreie? Konnten Sie erkennen, von wo sie kamen?«

»Klar Mann, vom Band.«

»Vom Band? Sie meinen …«

»Muss ’ne ganz spezielle Aufnahme gewesen sein, war aber hundertpro Pink Floyd pur.« Zweifel ließ den Kopf sinken, schloss die Hände um seinen kahlen Schädel und kramte in seinem Musikgedächtnis. Elvis ließ ihm ein paar Minuten Zeit und verschränkte die Holzfällerarme. Dann begann er, ganz leise ein Thema zu brummen. Zweifel hob den Kopf.

»Natürlich! Pink Floyd, 1970 oder so, ›UmmaGumma‹hieß die Platte, da gab es einen Song, in dem es um eine Axt ging.«

»Yes Sir. ›Careful with that axe, Eugene‹.