Mord im Club - Amy Myers - E-Book
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Mord im Club E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

Auf dem jährlichen Fest von Plums Club wird Colonel Worthington ermordet. Aber wer sollte es ausgerechnet auf diesen alten Langweiler abgesehen haben? Der berühmte Schauspieler Gaylord Erskine, dem die Damenwelt zu Füßen liegt, würde eher als Ziel eines Mordanschlags in Frage kommen. Doch Inspektor Rose von Scotland Yard und der charmante französische Chefkoch und Amateurdetektiv Auguste Didier, der zur Zeit im Club arbeitet, entdecken, dass jeder der Gentlemen ein Motiv hätte, Worthington aus der Welt zu schaffen. Da geschieht ein zweiter Mord ...

Ein Krimi aus dem viktorianischen England - spannend und amüsant, wie immer bei Amy Myers.

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Über Amy Myers

Amy Myers wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.

In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.

Informationen zum Buch

Auf dem jährlichen Fest von Plums Club wird Colonel Worthington ermordet. Aber wer sollte es ausgerechnet auf den alten Langweiler abgesehen haben? Der berühmte Schauspieler Gaylord Erskine, dem die Damenwelt zu Füßen liegt, würde eher als Ziel eines Mordanschlags in Frage kommen. Doch Inspektor Rose von Scotland Yard und der charmante französische Chefkoch und Amateurdetektiv Auguste Didier, der zur Zeit im Club arbeitet, entdecken, dass jeder der Gentlemen ein Motiv hätte, Worthington aus der Welt zu schaffen. Da geschieht ein zweiter Mord.

Ein Krimi aus dem viktorianischen England – spannend und amüsant, wie immer bei Amy Myers.

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Amy Myers

Mord im Club

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Gerald Kirk

Inhaltsübersicht

Über Amy Myers

Informationen zum Buch

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Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Impressum

Prolog

»Gentlemen, ich fürchte, ich fürchte sehr, daß ein dunkler Schatten unsere Zukunft bedroht. Wirklich unsere ganze Existenz gefährdet.«

Er sprach ruhig, seine abgespannten Pickwickschen Züge bezeugten zur Genüge, wie ernst die Situation war. Sechs Stunden lang saßen die neun Gentlemen schon an dem ovalen Tisch unter dem Kronleuchter in dem elegant zugeschnittenen Zimmer, das auf den St. James’s Square hinausblickte. Von zehn Uhr vormittags an hatten sie sich in ernster, zuweilen heftiger Diskussion festgebissen.

Die Bedrohlichkeit wurde von den ganz und gar unberührten Tellern mit deutschen und Sardellentoasts samt Rotweinkartoffeln unterstrichen, die hastig in den Küchenräumen bereitet und vom Chef selbst, Monsieur Auguste Didier, heraufgebracht worden waren, der neugierig war zu erfahren, was denn der Grund für solch eine ungewöhnliche Zusammenkunft sei. In der Geschichte von Plums Club war der Lunch noch nie einer solchen Mißachtung anheimgefallen. Augustes scharfe Augen hatten die neun Gestalten rasch überblickt, die das Eintreffen all der Sachen für das leibliche Wohl kaum zur Kenntnis nahmen, geschweige denn seinen eigenen Auftritt. Ein Bankrott etwa? Ein plötzlicher Tod? Ein unglückliches Ereignis dieser Art? Das war klar, es ging nicht nur um einen Ausschluß aus dem Club.

»Ah, danke Didier.« Oliver Nollins’ normalerweise engelhaftes Gesicht war nahezu grau. Zu seinem Bedauern konnte Auguste seine Neugier nicht befriedigen und mußte abtreten.

Mit einem leichten Seufzer wandte sich Nollins von dem unerfreulichen Schauspiel des erbarmungslosen Regens draußen dem ebenso unerfreulichen Anblick drinnen zu, um mit der undankbaren Aufgabe fortzufahren, die entsetzlichen Folgen des soeben gefaßten Beschlusses darzulegen. Aus unterschiedlichen Gründen sträubten sich seine Vorstandskollegen, ihm in die Augen zu blicken. Schon zum hundertsten Male wünschte er, er hätte die Einladung seines Schwagers angenommen, mit ihm zusammen dessen Schweinefarm zu leiten. Plötzlich erschien ihm Northumberland in absolut wünschenswerter Entfernung vom St. James’s Square.

Wahrhaftig, in den fünf Jahren, die er nun Sekretär war, hatte es nie etwas Schlimmeres gegeben als einen Ausschluß aus dem Club, Beschwerden über die Kost – letzteres vor Didiers Zeit natürlich – und die Behandlung von Lord Bulstrodes Indiskretionen. Jetzt allerdings war alles anders. Er konnte nicht länger damit hinterm Berge halten, daß in Plums Club etwas verdammt Merkwürdiges im Gange war. Ausgerechnet bei Plums. Doch schien er der einzige zu sein, den das bewegte. Es war fast so, als gäbe es eine Verschwörung des Schweigens, um über diese Tatsache hinwegzusehen.

Am schlimmsten von allem sei, bemerkte Nollins, als er verzagt in die Runde schaute, daß seine Kollegen im Vorstand sich von allen guten Geistern verabschiedet zu haben schienen und überdies jegliche Andeutung absolut von sich schoben, daß in Plums Club möglicherweise irgend etwas faul sein könnte. Über der Zukunft des Clubs hing eine dunkle Wolke, die nichts mit den unerfreulichen Vorkommnissen der vergangenen Wochen zu tun hatte. Langsam kehrte er zu seinem Platz zurück, setzte sich und nahm das vor ihm liegende Protokollbuch in die Hand.

»Meine Herren, als Sekretär von Plums Club stelle ich hiermit gemäß dem Abstimmungsergebnis, das wir in diesem Raume erzielten, fest …«

Jedes Wort schlug eine tödliche Wunde in die Zivilisation, wie er sie verstand. 1896, und ein neues Jahrhundert zog herauf. Was würde es wohl bringen? Konnten sie nicht begreifen, daß Entscheidungen, die heute getroffen wurden, das Tor zum Verderben öffneten?

»… Dieser Beschluß soll in künftigen Jahren überprüft werden«, schloß er düster.

Er konnte nicht verstehen, wie es dazu gekommen war. Sieben Stimmen gegen zwei. Zwei stimmten gegen den Antrag, er und Worthington. Wer hätte je damit gerechnet, daß er und Worthington, der Langweiler des Clubs, einmal auf der gleichen Seite stehen würden? Wie war das alles nur gekommen? Alle waren sie gleichermaßen entsetzt an dem Tage, als das Buch für Vorschläge durchgesehen wurde; und heftig versicherten sie, Plums würde vor die Hunde gehen, falls man das akzeptierte. Aber irgendwie hatte sich das Undenkbare doch ereignet.

Für die Dauer des Banketts, bekannt unter dem Namen »Plums Dahinscheiden«, wird Damen auf Einladung der Zutritt zu den Räumlichkeiten von Plums Club gestattet.

Nachdenklich räusperte sich Colonel Worthington und erhob sich; ausnahmsweise faßte er sich gnädiglich kurz: »Gentlemen, zu dieser Stunde vermag keiner von uns die schwerwiegenden Folgen vorherzusehen, die sich aus den heute getroffenen Maßnahmen ergeben werden.«

Und damit, um die Wahrheit zu sagen, sollte er nur allzusehr recht behalten.

1. Kapitel

Das Blut schoß heraus, und zweihundert Menschen sahen mit einem einzigen Aufschrei, wie der blutverschmierte Kopf eines Bauern in den Korb fiel.

»Jautsch«, schluckte Emma Pryde und klammerte sich gegen ihre Gewohnheit am Arm Auguste Didiers fest, dem es in Wahrheit schwerfiel, die Ruhe zu bewahren, die sein männlicher Stolz ihm abverlangte.

Gleichmut und Ruhe waren wiederhergestellt, als der Kopf auf den Tisch plaziert wurde und man mit dem schwarzgekleideten Herrn, der die Enthauptung durchgeführt hatte, zu einer lebhaften Erörterung über das Für und Wider einer solchen Aktion überging. Emmas weißer Glacéhandschuh kehrte an seine frühere Stelle zurück, und die Laute des Schreckens wechselten in solche des Erstaunens. Auguste versetzten die Herrlichkeiten von Messrs Maskelyne, Devant and Cooke im ersten Stock der Egyptian Hall in Piccadilly diesmal weit weg in andere Gefilde als die der Pflichten eines Küchenchefs von Plums Herrenclub. Doch als das Schaustück vom Bauern aus Gloucestershire sanfteren Anblicken wich, machte sich das lästige Gefühl in seinem Hinterkopf wieder bemerkbar. Sein Verstand zweifelte nicht daran, daß die phantastischen Bilder, die er an diesem Abend gesehen hatte, sich auf die gleiche Weise erklären ließen wie das Wunder eines soufflé aux violettes, und das sollte deshalb auch für die merkwürdigen Vorkommnisse in Plums Club gelten. Aber das Unbehagen hielt an; ein Unbehagen, das er seit seiner vorherigen Anstellung am Galaxy Theatre nicht mehr gespürt hatte. Dort hatten seltsame Ereignisse zu der gleichen Brutalität geführt wie in dem Schauspiel, das ihnen heute dargeboten wurde. Mord.

Und die Zeichen waren sichtbar – für jene, die Augen hatten zu sehen. Dann lächelte er über sich. In Plums Club? Er ließ seinen französichen Gefühlen den Vorrang vor seinem englischen gesunden Menschenverstand. Mord in Plums Herrenclub? Unmöglich!

»Treffer.«

Der Rest des Satzes erstarb auf Osrics Lippen, als er zu seiner Verwirrung beobachtete, daß das alles andere als ein Treffer war, denn Hamlets Degen verfehlte Laertes um gute sechs Zoll. Dann lenkte ihn der Donner der Kanone ab, die Jenks zur falschen Zeit hinter der Bühne abfeuerte, und zu dem Zeitpunkt, als er sich wieder ganz auf den Prinzen von Dänemark konzentrierte, rief Hamlet triumphierend: »Noch ein Treffer!«

Der Degen hätte fast eher eine Säule in der Nähe durchbohrt als Laertes’ Arm, wie es William Shakepeare verlangte. Laertes, ein junger Schauspieler voller Begeisterung, der seine erste große Rolle bekommen hatte, vermochte jedoch den Hinweis nicht zu begreifen, daß etwas faul war im Staate Dänemark, und stürmte mit Gusto weiter.

»Jetzt auf dich!«

Er war demzufolge sehr erstaunt, als er keineswegs vorwärtsdrängte, um seinen Degen in Hamlets Körper zu stechen, sondern sich von einem tapfer parierenden und stoßenden Gaylord Erskine unerbittlich zurückgetrieben fand, quer über die weite Bühne des Sheridan Theatre und in die Kulissen.

»Trennt sie; sie sind erhitzt«, murmelte der König leise; er starrte in die Kulissen den verschwindenden Kollegen nach und fragte sich, ob er irrtümlicherweise in einer Hamlet-Version mit einem Happy-end mitspiele.

»Die Degen«, zischte Erskine dem Maulaffen feilhaltenden Inspizienten zu und nahm Laertes das anstößige Werkzeug aus der Hand. »Schaut euch das an – ungestumpft!« Mehrere Augenpaare starrten auf die tödlichen Spitzen, die keine Schutzkappen trugen. Ein Höfling, der stumpfsinnig auf der Bühne herumstand, praktisch daneben, wurde von einem aufgeweckten Requisiteur fast zu Boden gerissen, als er ihn am Wams zog, und seines Schwertes beraubt. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem anderen Höfling, der neben ihm postiert war. Unterdessen war im Publikum Unruhe entstanden, die sich erst wieder legte, als es sah, wie die beiden sich duellierenden Gegner kämpfend aus den Kulissen quer über die Bühne stolperten, wobei Laertes sich der Situation auf edle Weise gewachsen zeigte und im Namen William Shakespeares mehrere Zeilen erfand.

»Auf dich«, gab er zum besten, die eine Hälfte seines schauspielerischen Bewußtseins schon von seinem Handeln gelöst und auf die Schlagzeilen der Zeitungen gerichtet. »Du Hund«, fügte er im Überschwang seiner Begeisterung hinzu.

Zu seiner Erleichterung ließ sich Hamlet herab, verwundet zu werden, und ging würdevoll zu Boden, wie das nur Gaylord Erskine konnte; nach erfüllter Pflicht brach Laertes auf der Bühne dankbar zusammen, tot, und dachte im Liegen verwirrt über die Ereignisse der letzten zehn Minuten nach.

»Es war nicht meine Schuld, Mr Erskine«, stotterte Laertes danach bei der gerichtlichen Untersuchung herum. »Wenn Sie sich erinnern …«

Aber Gaylord Erskines sprechende Augen waren nicht auf ihn gerichtet, sondern auf den Chefrequisiteur.

Der Requisiteur war jedoch aus härterem Holz geschnitzt.

»Ich trage keine Verantwortung, Mr Erskine«, sagte er mit fester Stimme. »Sie haben diese Degen heute selbst mitgebracht, wollten Sie bei einer privaten Vorstellung benutzen, sagten Sie. Ich habe keine Schuld, wenn …«

Von Erskine kam ein Ausruf. »Das ist wahr, Mr Jenks, ich hatte das vergessen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.«

»Es muß ein Unfall gewesen sein«, lenkte der Requisiteur freundlich ein.

»Vielleicht«, sagte Erskine zurückhaltend, und damit war die Sache abgeschlossen.

Aber Gaylord Erskines Garderobier fand ihn in schweigsamer Verfassung. Gestern hatte er eine Privatvorstellung des »Hamlet« auf Maltbury Towers gegeben, dem Sitz von Lord und Lady Maltbury, mit einer Truppe, die aus – ihm schauderte es bei dem Gedanken daran – den Teilnehmern der Jagd von Maltbury bestand. Heute hatte er sein Kostüm und die beiden Degen nach London zurückgebracht, und während er den Lunch im Club einnahm, sie unbewacht in der Garderobe gelassen. Und da es kaum vorstellbar war, daß die Jagdteilnehmer von Maltbury den absonderlichen Wunsch verspürt haben sollten, die Degen zu manipulieren, konnte man nur annehmen, daß die Missetat im Club geschehen war. Nur einer von mehreren Zwischenfällen! Die Verunstaltung des Bandes seiner Memoiren, den er der Bibliothek gewidmet hatte, unter manch anderem. Sein Portät unkenntlich gemacht. Der anonyme Brief mit der Morddrohung, der auf ihn in Peeps’ Schubfach wartete. Die letzteren Vorkommnisse waren nichts weiter als eine unangenehme Belästigung. Die konnte man jemandem zuschreiben, der gegen seine Aufnahme in den Club opponierte. Aber heute abend, das war der Fingerzeig einer gefährlichen Absicht, sogar eines möglichen vorsätzlichen Mordes.

Ihm blieb keine Wahl, das wurde ihm klar. Er würde es Nollins erzählen und es ihm überlassen müssen zu entscheiden, ob man die Polizei einschalten solle. Aber wer konnte eine solche Abneigung gegen ihn hegen, ihn so sehr hassen? Das, um seine Worte von früher an dem Abend zu wiederholen, das war die Frage.

So in Gedanken versunken war Erskine, als er das Theater verließ, daß er die Gestalt, die sich im Schatten des Bühneneingangs des Sheridan Theatre verborgen hielt, überhaupt nicht bemerkte – den Hut heruntergezogen und den Schal vor dem Gesicht, in bester »Strand-Magazine«-Manier. Es war ein durchaus respektabler Mann, kein Verbrecher, kein heruntergekommener Vagabund, und er fiel nicht auf, als er still dastand und beobachtete, wie Gaylord Erskine die Strand entlangschlenderte auf seinem Gang zu Plums Club.

Zuvor an diesem Abend hatte Colonel M. Worthington (irgendwie dachte man immer in dieser Form an ihn) sich aus der Tiefe seines Ledersessels in seiner Junggesellenwohnung in der South Audley Street erhoben, um sich auf den üblichen Weg zu seinem anderen Ledersessel in Plums Club zu begeben. Aus fester Gewohnheit blieb ihm der Sessel vorbehalten, und wehe dem verwegenen Neuankömmling, der sich ihm wissentlich oder unwissentlich widerrechtlich näherte. Er legte seine Ankunft bei Plums genau auf sieben Uhr fest, wie er es seit seinem Abschied von den Vierundzwanzigsten Grenadieren vor fünfzehn Jahren immer getan hatte.

»So haben wir das immer in Chillianwallah gehalten«, wußte der Colonel jedem zu erklären, der so unklug war, ihm zuzuhören. Auf die Siebzig gehend, führte er ein geruhsames Leben. Eine Ehefrau erwähnte er nie. Tatsächlich erwähnte er kaum etwas anderes außer den ruhmreichen Taten der Vierundzwanzigsten Grenadiere und den Gefahren von Chillianwallah. Über seine spätere Laufbahn breitete er den Mantel des Schweigens. Indien, das Indien seines Gefährten Kipling, war sein Schlachtfeld als Leutnant im Sikh-Krieg. Wenn jemand auf Indien zu sprechen kam – aber niemand tat das, aus Angst vor einem halbstündigen Vortrag über Taktik –, dann trat Glanz in seine Augen, und ein verträumter Ausdruck von Befriedigung zeigte sich auf seinem Gesicht, während die Kohlen in dem Adam-Kamin von Plums Club brannten, von dem es hieß, der Eiserne Herzog habe ihn selbst gestiftet, der gute alte Wellington.

»Grazie, signor.«

Der italienische Dudelsackpfeifer, der in Piccadilly seine Runde machte, hatte den Gentleman falsch eingeschätzt, dem er seine bambinos schickte, ihn anzubetteln.

»Die gehören ins Kinderzimmer, Mann.« Worthington funkelte ihn an. »Dort ist der Platz für Kinder. Zu Hause.«

Der Dudelsackpfeifer schaute ihn mit ausdrucksloser Miene an. Kinderzimmer? Zu Hause? Zu Hause, das war das laute und geschäftige Treiben von Clerkenwell, die Ferkelfleischereien, die Barbiere, das Restaurant »Italiano Milard«, wo er, da morgen Freitag war, der faule Tag der Italiener, die Einnahmen seiner heutigen Arbeit ausgeben würde.

»So haben wir das immer in Chillianwallah gehalten«, grunzte Colonel Worthington im Gefühl des Sieges über den Gegner. Über die Ehe und das Familienleben urteilte er wie der Papst mit der ganzen Autorität eines kinderlosen Mannes. Es ging das Gerücht, daß er einst in jungen Jahren verheiratet gewesen sei, doch in einem übermäßigem Anflug von Ritterlichkeit seine junge Frau erst einmal in England zurückgelassen habe, als er auszog, dem heißen Klima in Indien mutig entgegenzutreten. Anstatt sich an Bord des Dampfers nach dem Osten zu begeben, sei sie in Begleitung eines Künstlers der Music Hall auf Nimmerwiedersehen in einen Zug nach Wigan gestiegen.

Zum Glück für den Dudelsackpfeifer fing es an zu nieseln, und Worthington brach seine Predigt ab, weil ihm daran gelegen war, nunmehr schleunigst in den sicheren Hafen von Plums zu gelangen. Das war doch ein sicherer Hafen? Einen Augenblick zweifelte er daran. Verdammt unheimliche Dinge gingen da vor sich. Man konnte nicht einmal gewiß sein, ob es noch die »Times« dort zu lesen geben würde. Letzte Woche war sie in Fetzen gerissen worden. Und dann – da war das Problem mit den Damen. Nein, in Plums Club ging es nicht mehr mit rechten Dingen zu.

An jenem Abend dinierte Sir Rafael Jones zu Hause. Im Atelier traf er die letzten Vorkehrungen für die Sitzung am folgenden Tag. Er war Junggeselle – sein Haus in St. John’s Wood war ein Kunsttempel, und wie bei alten Tempeln war Illusion alles. »Badende Nymphen.« Was das für ein Bild werden konnte – würde. Die Kränze und Lorbeerzweige genau so drapiert. Das Ölbild für die Ausstellung – und die Skizzen (die wirklichen Entwürfe, bevor die Drapierung hinzugefügt wurde) für die eigene Privatsammlung. Ein affektiertes Lächeln bezeugte seine Zufriedenheit.

Er sah dem Lunch in Plums Club am folgenden Tag erwartungsvoll entgegen. Das gab ihm das Gefühl, ein Mann unter Männern zu sein, der rauhe, aber herzliche, erfolgreiche Künstler, für den ihn die Welt hielt, ein Mann, der nichts zu verbergen hatte. Als er an Erskine dachte, zogen Wolken über sein Gesicht. Irgendwie hatte Gaylord Erskine entdeckt, daß er nicht unbedingt der Mann war, der nichts zu verbergen hatte, und er brachte ihn demzufolge dazu, Erskine zur Aufnahme in den Club vorzuschlagen. Verdammt schwierig war das gewesen. Und Gaylord würde am folgenden Tag dort sein.

Peregrine Salt bewohnte kein Junggesellenquartier, obgleich er sich das häufig wünschte. Seine Juanita war eine schlanke, verführerische, rehäugige Achtzehnjährige gewesen, als er sie nach seiner Südamerikaexpedition vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hatte. Doch leider hatte sie sich in ihren mittleren Jahren in eine recht üppige Dame verwandelt, die nun wie ein Wunder mehrere Zoll größer als er zu sein schien. Mit ihr verband ihn nichts als der beiderseitige Wunsch, in der Gesellschaft aufzusteigen. Als entfernte Nachfahrin des liebenswürdigen und schönen spanischen Mädchens, die nach ihrer Heirat mit einem englischen Offizier einer südafrikanischen Stadt ihren Namen »Ladysmith« verliehen hatte, wollte Juanita das gleiche. Durch ihre Heirat mit einem Forschungsreisenden durfte sie mit Recht erwarten, daß sich ihr bis dahin noch unbefriedigter Ehrgeiz erfüllte. Und Peregrine Salt trieb ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl – denn er war von kleinerer Statur – gegenüber allen anderen Kollegen Naturforschern zu immer größeren Leistungen an. Als er an seinen Rubikon gelangte, den er nicht überqueren konnte – in diesem Falle hieß der Fluß Wampopo –, und die Entdeckung seinem Erzrivalen Prendergast überließ, wandte er seine Aufmerksamkeit prompt der Archäologie zu, in der Hoffnung, dort bei geringerer Konkurrenz Lorbeeren zu ernten. Er war nun in den Fünfzigern, und seine Arroganz und seine Art, die anderen Londoner von oben herab zu behandeln, als seien sie kaum besser als afrikanische Träger, sorgten dafür, daß ihn alle herzlich wenig leiden konnten; dabei wäre er verblüfft gewesen, wäre ihm das klargeworden. Bei der Royal Geographic Society genoß er auf Grund seiner Arbeit im Lande der Zulus vor dem unglücklichen Krieg hohes Ansehen und bei der breiten Öffentlichkeit ein ebensolches für seine Anwesenheit bei Schliemanns späteren Ausgrabungen in Troja. Er besaß eine Nase für öffentliche Wirkung.

»Pewegwine.«

Ihre schrille Stimme hallte durch das riesige Haus in Mayfair. »Ich möchte …« Peregrine Salt floh. Gott sei Dank gab es Clubs, und sie ließen keine Frauen zu, und Gott sei Dank gab es Plums. Es war an der Zeit, daß er den Club wieder einmal in den Genuß einer Vorführung mit der Laterna magica über die spektakulären Ruhmestaten seiner Person kommen ließ. Dann erinnerte er sich. Über Plums Club hingen die düsteren Wolken beunruhigender kleiner Vorfälle. Zum Beispiel war das Bibliotheksexemplar von Burtons interessanter Ausgabe der »Märchen aus Tausendundeiner Nacht« besudelt worden. Für Burton hatte er nichts übrig, aber einige der Fußnoten warfen ein höchst faszinierendes Licht auf das Verhalten der dritten Frau des Anführers. Seine Stirn legte sich in Falten, und ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Maulwurfshügel können sich durchaus in Berge verwandeln. Lord Bulstrode stampfte in seinem Arbeitszimmer umher.

»Verdammt, Daphne, wo zum Teufel steckt denn meine Ohrenklappenmütze?«

Lady Bulstrode blickte verwundert. »Gewiß doch nicht etwa für den Club, mein Lieber?«

»Hast sie doch nicht dem Tiger aufgesetzt, oder?« brummte er, ohne ihren Einwurf zu beachten. Das bezog sich auf ein im Gedächtnis haftendes, durchaus nicht ungewöhnliches Ereignis, bei dem Lady Bulstrode, einer seltsamen Eingebung folgend, eins der Gewehre Seiner Lordschaft gedankenlos hinter ein Hirschgeweih an der Wand gesteckt hatte, und da die Bediensteten keineswegs so ordentlich waren, wie man es unter einer umsichtigen Herrin erwarten würde, kam es erst wieder zum Vorschein, als man es zum großen Entsetzen von Lady Bulstrodes Großnichten beim Anbringen des Weihnachtsschmucks zufällig wiederfand.

Lord Bulstrode war nicht gerade für sein besonders liebreizendes Wesen bekannt; doch seine Frau hatte mit ihrer unbestimmten Art im Laufe der Zeit eine gewisse Immunität seinem Gemüt gegenüber entwickelt. Bei einer Gelegenheit hatte er einen Clubangestellten mit einer verbrannten, ungeteilten Rindslende zu Boden gestreckt, und als man ihn darauf aufmerksam machte, daß man den armen Kerl ins Krankenhaus bringen mußte, hatte er nur gebrummt: »Setz ihn auf die Rechnung!« Damals war er in der Mitte seines Lebens gewesen. Das Alter hatte seine Gewalttätigkeit zwar gemildert, seine Überspanntheit hingegen nur noch verschärft.

»Horace?«

»Ja?« Ein wütender Blick.

»Sagtest du, du gehst in deinen Club?«

»Das habe ich gesagt, verdammt. Du hast mir doch mitgeteilt, daß Betty Barnstaple zum Dinner kommt.«

»Plums Club gefällt mir nicht«, bemerkte Daphne Bulstrode.

Sie mußte an die unglückselige Episode im Club denken. Geistesabwesend war sie einmal einfach am Empfangsdiener Peeps vorbeimarschiert, die Treppe hinauf Richtung Rauchsalon auf der Suche nach ihrem Gatten. Ein Mann geringeren Formats wäre ausgetreten. Nicht so Horace Bulstrode.

»In jüngster Zeit bist du immer so anders, wenn du von dort zurückkommst. Ist bei Plums alles in Ordnung?«

»Du bist einfach ein rückständiger Mensch.« Gertrudes Gesicht zog sich zusammen, und der Ehrenwerte Charles Briton konnte zu seiner Bestürzung sehen, daß sie gleich weinen würde. Er nahm allen Mut zusammen.

»Verdammt noch mal, Gertie, du hast ein Verhältnis mit einem Mann, der so alt ist, daß er dein Vater sein könnte, machst mich zu – zum – zum Gespött der Leute und gibst mir die Schuld.« Frauen würde er nie begreifen. Wie konnte sie es nur wagen!

»Ich habe kein Verhältnis«, wimmerte sie. »Er ruft mich einfach an. So macht man das in der vornehmen Gesellschaft. Du bist ja sowieso nie da.«

»Ich muß meinen Dienst tun«, erklärte Charles Briton geduldig. »Dazu sind Soldaten da. Besonders die Kavallerie. Warte, bis wir in Indien sind, dann werde ich oft genug dasein.«

Gertrude schmollte. Indien konnte ihr gestohlen bleiben. Ihr gefiel London mit solchen faszinierenden Männern wie Gaylord Erskine, der ihr den Hof machte.

»Ich habe es nur deinetwegen getan«, schleuderte sie ihm ins Gesicht, »und überhaupt mache ich gar nichts«, fügte sie noch hinzu. »Aber du mit dieser Emma Pryde. Ich weiß, weshalb du zu Gwynnes gehst. Dort triffst du Damen einer gewissen Sorte. Ich weiß, daß du das tust.«

Charles Briton war empört. Das stimmte überhaupt nicht. Wie kam sie (die sie acht Jahre jünger war) dazu, sein Benehmen als das eines Mannes von Welt in Frage zu stellen? Sein Kätzchen. Seine Gertie. Je eher sie ein Kind bekäme, desto besser. Sie schien einen unberechenbaren Eigensinn zu entwickeln. Er seufzte. Als er sich in sein kleines Kätzchen verliebte, war sie ganz anders gewesen. Er wußte, daß zwischen Erskine und Gertie nichts war, aber dennoch – die Leute redeten.

»Ich gehe in meinen Club«, antwortete er mit Würde, »und – und wenn ich wiederkomme, erwarte ich, daß du dich entschuldigst.« Er eilte fort, bevor sie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern.

»Der blöde Club«, rief sie der sich schließenden Haustür zu.

General Sir Arthur Fredericks lief die St. James’s Street in Richtung St. James’s Square entlang. Diesen frühabendlichen Spaziergang genoß er immer. Manchmal lief er weiter und schlenderte durch den Park. Das war erholsam. Er hing an seiner Frau, doch manchmal, an so einem Frühlingsabend wie diesem, bekam sie ein trauriges Gesicht, und er wußte, daß auch sie der Vergangenheit nachhing. Sorgfältig vermieden sie es, die Porträtphotographie auf dem Klavier anzuschauen, das Bild eines jungen Mannes in Uniform, voller Erwartung auf das vor ihm liegende Leben. Ein Leben ausgelöscht bei Isandhlwana. Ausgelöscht in unverdienter Schande. Und das alles auf Grund zweifelhafter Führung, altmodischer Prozeduren, Kurzsichtigkeit und ungeheuerlicher Inkompetenz. Und zwar besonders eines Mannes.

Und jetzt hatte er herausgefunden, wer dieser Mann war …

Entschlossen wandte er seine Aufmerksamkeit dem Trödler Ecke King Street zu, der für Sixpence ein Taschenmesser anbot mit zwei Schneiden, einer Schere, einem Korkenzieher und einem Glasschneidediamanten. Die Pariser Neuheit nannte er es. Der Händler trug einen Zylinderhut, denn worauf es bei ihm ankam, war ein respektables Aussehen.

»’ier hab isch einen kleinen Artikel – nur noch wenige davon auf Lager! Der kostet Sie nur Sixpence. In Paris ischt das die Sensation. Also ’ier sind meine letzten sechs – wer greift als erster zu? Das Papier, in das sie eingewickelt sind, ist für den ersten gratis. Sie, Sir? Ich wußte, Sie sind ein Gentleman.«

General Fredericks, klein, adrett, zielbewußt und mit ruhiger Stimme, reichte ihm das Sixpencestück hinüber, dankbar für die Ablenkung von seinen trüben Gedanken.

Und die »Pariser Neuheit« könnte eines Tages vielleicht noch gelegen kommen, dachte er, und er lief weiter zur Nordseite des Platzes und zu Plums Club. Plums war für sein Leben von großer Bedeutung. Im Rag Club – niemand nannte ihn den Armee- und Marine-Club – befand er sich gänzlich unter Diensttuenden; Plums Club bot mehr. Eine Chance zu entfliehen. Jedenfalls war das so bislang.

Samuel Preston hatte in Plums Club gespeist. Er wäre lieber zu Hause geblieben. Er mochte seine Frau, und noch mehr mochte er seine Tochter Sylvia. Es gab nur einen Grund, weshalb er die häusliche Tafel verlassen hatte: die Pflicht. Er war Politiker, trotz seiner legeren, rundlichen Erscheinung ein ehrgeiziger. Jetzt in den Fünfzigern, so stellte er fest, war es jedes ehrgeizigen Mannes Sache, der Liberalen Partei unter die Arme zu greifen. Falls Premierminister Salisbury jemals aus dem Sattel gehoben werden könnte, wollte er Mitglied der nächsten liberalen Regierung werden. Er besaß genug Mittel, dank – nein, daran wollte er nicht denken. Das gehörte alles der Vergangenheit an. Jetzt steuerte er ohne Umschweife die höchste politische Ebene an. Man mußte Freunde gewinnen, und Plums Club war der richtige Ort dafür. Im Reform Club sprach man zu den Bekehrten; er benötigte einen breiter angelegten Werbefeldzug.

Nur eins stand der vollen Ausnutzung von Plums Club im Wege – Gaylord Erskine. Gebe Gott, daß er ihm heute abend nicht begegnen würde.

Gaylord Erskine war sich einen Augenblick lang unsicher, was die Zukunft bringen würde. Die Strand glitzerte vor gelbblitzenden Lichtern, gedrängt voll von Wagen, Omnibussen und zweirädrigen Kutschen mit Leuten, die nach dem Theater zum Dinner fuhren. Von Romanos und Gattis Etablissements klang der Lärm von Festlichkeiten in die Frühlingsnacht. Das elegante London gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, sich nach dem Theater zu vergnügen. Gaylord Erskine spazierte Richtung Plums. Dessen entspannte Atmosphäre würde ihm die Muße lassen, die Ereignisse des Abends noch einmal zu überdenken; immer noch war das ein Ruhehafen, trotz der unglücklichen Vorkommnisse der letzten wenigen Wochen.

»Und Sie werden keine Sorgen mehr haben …«

Die durchdringende Stimme eines Quacksalbers, der noch zu später Stunde seine Wunderpillen und Fläschchen feilbot, riß ihn aus seinen Gedanken. Nicht an die eleganten Theaterbesucher richtete er sein Marktgeschrei, sondern an die anonymen Gestalten der Nacht, Männer, die für sich waren, solide Leute, halbsolide oder ganz im Gegenteil, welche häufig die Schatten der Strand aufsuchten.

Als der Quacksalber sah, daß er Gaylords Aufmerksamkeit erregt hatte, unterbreitete er rasch sein Angebot. »Jawohl, Sir, mein Patent – Bitterhopfentropfen, nur einen Penny die Packung. Nirgendwo günstiger als hier bei mir! Dr. Soules besitzt die unbeschreibliche Unverschämtheit, meine Herren, einen Shilling dafür zu verlangen, einen Shilling und einen halben Pence pro Flasche. Aber mir liegt daran, die Kranken zu heilen, meine Herren, und nicht daran, mir die Taschen zu füllen. Erst kürzlich bin ich von der Nordwestfront zurückgekehrt, wo meine Bitterhopfentropfen bei den Afghanen Wunder wirkten. Na, die beteten mich an. Und jetzt biete ich sie Ihnen an. Einen Penny die Packung, keinen Shilling, keinen Shilling und einen halben Penny, keine zwei Shilling, keine sieben und einen halben Penny, sondern einen Penny die Packung! Meine Herren, einen Penny für absolute Gesundheit. Sie werden keine Sorgen mehr haben.« Sein schmächtiger Schnurrbart zitterte vor innerer Erregung.

Lächelnd händigte ihm Gaylord Erskine sechs Pennies aus und erhielt sechs kleine Packungen; dann setzte er seinen Weg fort. Die Tropfen wollte er wegwerfen; allein der Gedanke – »Sie werden keine Sorgen mehr haben« – war für ihn so faszinierend gewesen , daß es sich gelohnt hatte!

Erskine machte eine beeindruckende Figur, seine klassischen Züge eingerahmt von einer Fülle Byronscher Locken, die im Alter von dreiundfünfzig ein vornehmes Grau angenommen hatten, obgleich sie immer noch mit großem Effekt über die Stirn geworfen werden konnten. Natürlich nicht im »Hamlet«. Aber der Hamlet war schließlich nicht seine Leib-und-Magen-Rolle. Phantasievolle Romanzen, prahlerische historische Abenteuer, die lagen ihm mehr. Seit einiger Zeit war das Getuschel, daß er zur Erhebung in den Ritterstand fällig sei, nicht mehr zu überhören, und Shakepeare mußte da notgedrungen als I-Tüpfelchen seiner Karriere ins Spiel kommen, um der Angelegenheit eine gewisse Respektabilität zu verleihen. Jawohl, eine Shakespeare-Saison (eine kurze natürlich), das war es, dessen das Sheridan Theatre und vor allem dessen Schauspieler-Manager bedurfte. Aus wessem Munde stammte es, daß Shakespeare den Ruhm bedeutete und Byron den Bankrott? Nun, das Sheridan Theatre war weit entfernt vom Ruhm. Schon wahr, daß die Kritiken gemischt waren, aber von seinem seltsamen jugendlichen Charme ging eine Faszination aus – Gott sei Dank hatte er die Figur behalten –, die ein volles Haus garantierte, selbst wenn die Kritiken lauwarm waren. »Hamlet springt in Ophelias Grab mit dem Behagen D’Artagnans, aber mit geringerer Wirkung« – »Mehr Gähnen als Dänen« – darüber ärgerte er sich immer noch. Für das Adelsprädikat lohnte es sich jedoch. Jetzt, da sein Kollege Henry Irving zum Ritter geschlagen worden war, war die Reihe an ihm. Und Amelia, was würde das für sie bedeuten – Lady Erskine. Sie hätte es verdient. Sie war eine gute Gefährtin gewesen, besonders in den ersten Jahren seines Ringens um Erfolg. Er würde Gertrude aus dem Weg gehen müssen, aber es war ohnehin höchste Zeit dazu. Schade, sie war ein hübsches kleines Ding. Fast so hübsch wie die kleine Preston. Seltsam, daß er so lange nicht an sie gedacht hatte. Jetzt beschäftigte sie ihn eine Zeitlang, als er an den hellen Lichtern in der Strand vorüberging und dann durch die graue Pracht von Pall Mall, vorbei am Fuße des Haymarket mit seinen einladenden Damen und weiter in die vornehme Ruhe der Clubgegend.

Er schritt die Vordertreppe zur Tür von Plums Club an der Nordseite des St. James’s Square hinauf, und ihn durchflutete das übliche Wohlbefinden, als er an das nach außen hin abgeschottete, einladende, warme Nest drinnen dachte. Dann stieg in ihm die Erinnerung hoch. Nun barg Plums Club plötzlich eine vage angedeutete Drohung, eine Ungewißheit, als wären die Wurzeln menschlicher Geborgenheit angegriffen. In den Augen der Öffentlichkeit waren Schauspieler wie er es durchaus gewöhnt, Zielscheibe des Eifers von Exzentrikern zu sein, sowohl des beifälligen als auch des schmähenden, aber in den heiligen Hallen von Plums das Opfer zu spielen schien wirklich unsinnig. Wenn man schon in seinem Club nicht sicher sein konnte, wohin sollte man sich dann wenden? Plums Club stellte den Gipfel der Achtbarkeit dar. Er war froh, daß er Sir Rafael so hart bedrängt hatte, ihn als Mitglied vorzuschlagen. Es erwies sich als nicht leicht, zumal der Vorstand und die meisten Mitglieder noch bezweifelten, ob Schauspieler die Bezeichnung »Gentleman« beanspruchen dürften, doch nach dem Ausschluß eines Mitglieds war er einige Wochen früher als erwartet durch Abstimmung aufgenommen worden.

Maler wurden etwas besser beurteilt, dachte er bitter. Wie sein Gewährsmann, Sir Rafael Jones. Doch wie er mit äußerster Genugtuung zu hören bekam, besaß Sir Rafael in privaten Dingen einen seltsamen Geschmack, während sich Gaylord schmeichelte, der Inbegriff eines glücklich verheirateten Mannes zu sein. Die Geschichten, die über ihn selbst zirkulierten, fielen – dafür sorgte er schon – in die Kategorie von Kavaliersdelikten, die man einem Manne in seiner Position zubilligte.

»Guten Abend, Sir.«

»Ah, Peeps, guten Abend.«

Alfred Peeps, der strenge und ehrwürdige Empfangsdiener, nahm ihm Mantel und Hut mit derselben ernsten Feierlichkeit ab, die er Tag für Tag seiner fünfzig Jahre bei Plums gezeigt hatte. Als eifriger, rundgesichtiger Bursche hatte er einst die korrekte Attitüde der Feierlichkeit lernen müssen; nun war sie zu seiner Natur geworden. Gaylord Erskine entspannte sich. Nun, wo Peeps gesprochen hatte, war die Welt wieder in Ordnung. Überdies konnte er sich auf ein Dinner von Auguste Didier freuen.

Leider mußte er erneut eine Enttäuschung hinnehmen. Es war Didiers freier Tag, der diesem alle vierzehn Tage zustand.

»Also, da freß ich doch glatt meinen Hut«, rief Emma Pryde und atmete die Luft mit einem tiefen Seufzer der Genugtuung aus.

Als Auguste Didier sich dessen überreiche Ausstaffierung mit Spitzen, Federn und Blumen beschaute, bezweifelte er die Durchführbarkeit dieser Erklärung, doch teilte er gern seiner Begleiterin Gefühl, daß dies ein sehr vergnüglicher Abend gewesen sei. Sie standen auf der Schwelle der Egyptian Hall, unter den riesigen Terrakottastatuen von Isis und Osiris, und die steinernen Sphinxe blickten so rätselhaft drein und steigerten das Gefühl des Geheimnisvollen noch, was ihnen drinnen geboten worden war.

»Dieser Gorilla!« fuhr sie fort. »Der ist einfach spurlos verschwunden!«

»Alles vollkommen erklärbar«, sagte Auguste erhaben, für diesmal die eigene Erregung verbergend, um vor Emma die Pose der Überlegenheit aufrechtzuerhalten.

»Wie denn?« forderte Emma einfältig.

»Also …«

»Du hast keine Ahnung, nicht wahr? Ich werde dir was sagen, Auguste, ich glaube fest daran, daß die da böse Kräfte besitzen.«

»Oh, ma mie, non. Das sind Zauberkünstler. Das ist ihr Beruf. Wie die Küchenkunst unser Beruf ist.«

»Dann erklär mir mal, wie sie das gemacht haben. Das Stück, was sie da geboten haben, ›Will, die Hexe und die Hüterin‹, die Sache mit dem Gorilla. Erst steckten sie in der Zelle, dann waren sie nicht mehr drin. Dann steckten sie in dem Kasten, dann waren sie nicht mehr drin. Und dann schlug er ihm den Kopf ab … und das blutige Haupt redete! Na, ich hab schon einige Zauberkunststücke gesehen, aber so was noch nicht!«

So voller Leben Piccadilly auch war, mit Kutschen, Droschken und Fußgängern im Abendanzug auf dem Heimweg vom späten Dinner, die Straße war langweilig und prosaisch, verglichen mit der Welt, in der Auguste Didier und Emma während der letzten Stunden geschwebt hatten, und es war nicht leicht, sich nach dem Fest von Zauberei und Schaustellung wieder der Umgebung draußen anzupassen. Schon seit Jahrzehnten war die Egyptian Hall von Zauberkünstlern genutzt worden, aber seit 1873 hatte das imponierende Unternehmen Messrs Maskelyne and Cooke den Saal im Obergeschoß endgültig zu Englands Sitz der Zauberei verwandelt. Bei einem früheren Besuch, der Didier aus der heimatlichen Provence nach England zur Familie seiner Mutter, die Engländerin war, geführt hatte, hatte er das Vorrecht genossen, Psycho zu sehen, den von Maskelyne konstruierten Automaten, der mit dem Publikum Whist spielte und immer zu gewinnen pflegte. In seiner Schwärmerei für Wunder hatte er sich auch Stodares Sphinx angeschaut, den Kopf, der auf dem Tisch stand und mit sich selbst sprach, genau wie das abgeschlagene Haupt heute abend. Aber Psycho blieb seine Lieblingsvorstellung. Er hatte gehofft, daß der Automat heute abend wieder zu bestaunen sein würde, wurde aber enttäuscht. Psycho erfreute sich einer so großen Popularität, daß er wegen zu großer Beanspruchung zurückgezogen werden mußte. Zum Ausgleich hatten sie dafür etwas anderes gesehen, geisterhafte Phantasmagorien schwebend über den Köpfen der Zuschauer, verschwindende Kanarienvögel, verschwindende Gorillas, Enthauptungen …

»Ich weiß nicht, wie sie es hingekriegt haben. Aber hingekriegt haben sie es«, erwiderte er mit Würde, in einem leicht verwirrten Englisch. »Aber, ma mie; heute abend haben wir etwas Bedeutenderes gesehen als abgeschlagene Köpfe und verschwundene Gorillas. Heute abend, Emma, haben wir die Zukunft erblickt! Die lebenden Photographien!« rief er eindrucksvoll, mit einem Schuß gallischer Pomphaftigkeit.

»Ach das«, sagte Emma unbeeindruckt. »Mir hat das Köpfen mehr Spaß gemacht. Das ganze Blut.«

»Du hast kein Vorstellungsvermögen.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der für den Rest des Abends nichts Gutes verhieß. »Natürlich, du bist ja abgeschlagene Häupter gewöhnt von dort, wo du herstammst«, gab sie ihm bissig zurück.

»Diese Photographien«, redete Auguste in seiner Begeisterung weiter, wobei er die Beleidigung von la belle France überging; »erkennst du nicht die Möglichkeiten dieser wunderbaren Erfindung?«

»Nein«, sagte Emma kurz angebunden. »Jedenfalls hab ich welche vor ein paar Wochen im Empire gesehen. Dort waren sie noch dazu besser. Die Leute werden sie bald satt haben. Das ist keine richtige Zauberei.«

»Es ist natürlich eine französische Erfindung«, fuhr Auguste fort, ohne ihren miesmacherischen Ton zu beachten. »Diese lebenden Photographien von Monsieur Devant sind nur eine Imitation, aber immer noch gut auf ihre Art. Und man wird sie immer mehr verbessern. Wie das Telephon. Die Elektrizität.« Begeistert fuchtelte er mit den Armen herum, wobei er eine Feder von Emmas Hut erwischte und knickte. Er bemerkte es nicht, wohl aber Emma.

»Jetzt sind es nur lebende Bilder, aber stell dir mal vor, sie werden besser und folgen rascher aufeinander und erzählen Geschichten. Ah, es ist wirklich von Bedeutung, was wir heute abend gesehen haben.«

»Das einzige, was im Augenblick von Bedeutung ist, ist mein Abendessen«, erklärte Emma unverblümt. »Kommst du mit rein, oder willst du die ganze Nacht vor der Tür Selbstgespräche führen? Denn ich hör dir nicht weiter zu.«

»Wenn mir solche Wonnen winken, komme ich natürlich mit hinein«, entgegnete Auguste ernst, und als sie den Mund öffnete, um in ihrer üblichen, alles andere als feinfühligen Art einen Kommentar dazu abzugeben, fuhr er gelassen fort, »ich darf annehmen, daß ›Brieschen Emma‹ noch auf der Speisekarte steht?«

Wieder öffnete sie den Mund, um etwas zu erwidern, jedoch erblickte sie etwas, das ihr Mißfallen erregte.

»Perkins, wie oft hab ich Ihnen schon verboten, Disraeli hier nach unten zu lassen?« schrie sie den Portier an. »Für was zum Teufel halten Sie sich denn? Sie kommen mir vor wie der einbeinige Schurke Long John Silver!«

Offensichtlich war der Portier Derartiges gewöhnt, denn er öffnete einfach die Tür zur Pförtnerloge, damit der hellgrüne Papagei seiner Herrin auf die Schulter fliegen konnte, wo er hocken blieb, ärgerlich vor sich hin krächzend, bis sie zu ihren Privatgemächern gelangten.

»Der will gern sehen, was so passiert«, sagte Emma mürrisch. »Aber das geht nicht. Die Stammkunden haben sich zwar an ihn gewöhnt, aber die neuen haben kein Verständnis für Disraelis kleine Eigenheiten. Der ist einfach vernarrt in Blumen, das ist alles. Besonders auf einem Hut.«

Disraeli blickte blasiert drein. »Koch deinen Kuckuck, alter Kumpel«, krächzte er. »Guck hinter dich, Darling.«

»Der gehörte mal einem Mann vom Kasperletheater«, sagte Emma liebevoll. »Ist er nicht süß?«

Süß war nicht gerade die Bezeichnung, an die Auguste gedacht hätte, da er insgeheim auf Seiten der neuen Gäste von Gwynnes Hotel stand. Er und Disraeli waren sich nicht sonderlich grün. Er hielt sich an die Regeln des Anstands, Disraeli nicht, wie Augustes bester Mantel bezeugen konnte.

Gwynnes Hotel galt ebenso als eine vertraute Einrichtung wie Plums Club. Im voraufgegangenen Jahrhundert hatte es eine etwas liederliche Existenz unter dem Namen »Nell Gwynne« begonnen, zu Ehren der einst nebenan wohnenden unwiderstehlichen Schauspielerin und Mätresse, die sich in Pall Mall auf ihre Gartenmauer zu lehnen pflegte und ihrem König Charlie, der im St. James’s Park spazierenging, lustige Dinge zurief. Um die Mitte des jetzigen Jahrhunderts war die romantische Atmosphäre verflogen, und danach führte das Hotel ein dem Tode geweihtes Dasein als billige Absteige für Reisende und Vertreter. Vor zehn Jahren änderte sich das schlagartig mit der Ankunft von Emma Pryde. Nunmehr verband sich die Liederlichkeit mit der Wohlanständigkeit. Von den standesbewußten Damen betraten nur wenige die Räume, doch viele Aristokraten strömten dorthin, angezogen sowohl vom Hauch der Bohème wie auch von der vorzüglichen Küche Emma Prydes. Frauen wurden öfter, als man denkt, dorthin ausgeführt, und zwar von den Ehemännern anderer Frauen. Und dennoch behielt Gwynnes Hotel seinen ehrbaren Ruf. Wie das zustande kam, konnte sich Auguste nicht zusammenreimen. Vielleicht hatte es etwas mit der Person Emma Prydes selbst zu tun.

Wie Auguste Didier war sie halb französischer, halb englischer Herkunft. Der Vater hatte als Soldat und Abenteurer ihre französische Mutter verlassen, als Emma noch klein war. Marie Pryde kämpfte sich durch mit ihrer Stellung in den Küchen am Hofe von Kaiser Napoleon und Eugénie in Paris, bis sie starb; sie ließ Emma im Alter von dreizehn Jahren als Waise zurück. Das dürre blonde Mädchen entfaltete ein Geschick im Backen von Patisserien, das die Aufmerksamkeit der Kaiserin erregte, und ihre Schlagfertigkeit brachte ihr obendrein allerlei Gunst ein. Als Eugénie 1870 nach England floh, folgte ihr Emma, und unter ihrer Gönnerschaft machte sie sich rasch einen Namen als bemerkenswerte Köchin. Durch Eugénies Vermittlung lernte sie Albert Edward kennen, den Prinzen von Wales, und damit, daß sie dem Prinzen von Wales vorgestellt wurde, war der Erfolg ihrer Bemühungen besiegelt. Ob er sie beim Kauf von Gwynnes Hotel unterstützt hatte, bleibt ein Geheimnis, aber er war häufig Gast in ihren privaten Speiseräumen.

Groß und absolut dünn überragte sie Augustes eins fünfundsiebzig. Ihre königliche Haltung und ihre aristokratischen Züge waren nicht ihrer Geburt zu verdanken, doch viel der Einbildung, und trugen jedenfalls zu ihrem Erfolg bei. Doch ihre Persönlichkeit hatte mehr dazu getan. Ob sie es sich so vorgenommen hatte oder nicht, sie hat sich nie veranlaßt gesehen, ihre bescheidene Herkunft und ihre grobe Ausdrucksweise zu verbergen, womit sie diese in einen gewinnenden Vorzug verwandelte. Ihre Zunge konnte ebenso vernichtend wie witzig oder freundlich sein. Von Emma Pryde angeblafft zu werden brachte einen größeren Prestigegewinn, als von einer Herzogin geküßt zu werden. Von Emma auf Französisch beschimpft zu werden galt als Zeichen ihrer Gunst. Von ihr verunglimpft zu werden bedeutete intime Freundschaft. Von ihr geküßt zu werden … Aber nur wenige wußten, was das bedeuten mochte, denn sie behielt ihre Privatangelegenheiten für sich. Nun in den Vierzigern gab es allerhand Gerüchte – von einem Grafen, der verheiratet war, von einer früheren Ehe, die in einer Katastrophe endete, von einer Serie von Liebhabern, von denen viele jünger waren als sie. Doch keiner wußte Genaues, und keiner kümmerte sich wirklich darum. Denn Emma war eben Emma.

Abwechselnd machte sie Auguste wütend und nahm ihn dann gefangen. Emma besaß alles, was er an englischen Frauen, die nichts Französisches an sich hatten, am allerwenigsten ausstehen konnte: Sie war mager bis zur Dürrheit, sie zeigte keinen Geschmack für Kleidung und keine Grazie in ihren Bewegungen, sie hatte kein schönes Gesicht, keinen Busen, und doch, wenn sie ihn anlächelte, gingen seltsame Dinge in seinem Herzen vor, Dinge, auf die der Körper augenblicklich reagierte … Dinge, die das leiseste Anzeichen von Gunst zum Begehrenswertesten auf der Welt machten. Ein Begehren, das, wenn sie bei außergewöhnlich guter Laune war, gestillt werden konnte. Doch es war ein Begehren, das so unberechenbar schien, daß gerade seine Widersprüchlichkeit ihn davon überzeugte, in sie verliebt zu sein. Zuweilen. Aber es war nicht die Liebe, sagte er sich, die er für seine Tatjana, die dunkelhaarige russische Prinzessin, in Paris empfunden hatte. Der bloße Gedanke an Tatjana machte ihn traurig, wegen der Unerfüllbarkeit ihrer Liebe oder auch nur der Möglichkeit eines Wiedersehens mit ihr … Aber mit Emma, das war ein Rausch – ein Rausch, der so selten zu genießen war, daß er in der überhöhten Erwartung um so größere Ausmaße annahm.

»Ich glaube nicht mal, daß du überhaupt in mich verliebt bist, Auguste«, sagte Emma beiläufig, als sie ihre Privatgemächer im obersten Geschoß des Gebäudes erreichten. Sie warf ihren seidenen Abendumhang über einen Stuhl und ließ den Spitzenfächer und die plüschene Abendtasche folgen; dann streifte sie die weißen Glacéhandschuhe und die Seidenschuhe ab und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf das Sofa sinken. Danach warf sie ihm einen schrägen Blick zu. »Du bist in meine Kochkunst verliebt«, murmelte sie vor sich hin.

Schuldig schreckte Auguste aus der glücklichen Vorstellung der Tafel auf, die ihn erwartete: die Austern, Gänsekeule aus Lincolnshire, der – könnte es wahr werden? – Rollbraten vom Rind, den er so sehr schätzte …

»Aber«, antwortete er mit Würde, »deine Kochkunst ist ein Teil von dir und wie du himmlisch.«

»Mach nur weiter«, sagte sie unwirsch. »Die Franzosen sind alle gleich. Romantik mit Worten, aber die Augen aufs Essen gerichtet.«

»Liebste«, begann Auguste …

»Papperlapapp«, schnitt ihm Emma grausam das Wort ab.

Auguste beäugte mißbilligend ihre weißbestrümpften Füße, die sie über die Lehne des tiefen Chesterfield-Sofas geworfen hatte. Die Austern verspeiste er ohne ein Wort. Offensichtlich würde das kein Abend werden, der nach Herzenswunsch verlief.

»Macht dir etwas Sorgen?« wagte er ohne Hoffnung zu fragen, doch zu seinem Erstaunen erhielt er eine Antwort darauf.

»Es ist einer von meinen jungen Herren,« sprach sie bedächtig.

»Oh.« Auguste verlor das Interesse daran und wandte seine Aufmerksamkeit der Gänsekeule zu. Ah. Nur die Engländer beherrschten die Kunst des Einlegens und Einpökelns.

»Captain Briton. Charlie. Der hat hier gewohnt, wenn er in der Stadt auf Urlaub war. Bevor er geheiratet hat natürlich.«

Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß das kein besonders beneidenswertes Schicksal war.

»Jedenfalls, jetzt kommt er her, um sich ein bißchen …«, sie änderte, was sie ursprünglich sagen wollte – »um sich zu entspannen und gut zu essen. Jedenfalls ist er deinem Club beigetreten, Plums. Ich sehe ihn kaum noch.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Auguste wohlgefällig. »Bei Plums koche ich ja!«

Sie warf ihm einen um so unangenehmeren Blick zu, weil sie sich selbst diese Falle gestellt hatte.

»Das«, sagte sie steif, »ist nicht der Grund, mein alter Truthahn. Jedenfalls, vielleicht kannst du mal herausbekommen, wieso er nicht mehr auftaucht.«

Auguste wurde böse. »Du kannst doch von mir nicht erwarten, in deinem Liebesleben mit dem Gentleman den Kuppler zu spielen.«