Mord im Motorclub - Amy Myers - E-Book

Mord im Motorclub E-Book

Amy Myers

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Beschreibung

1904. Prinzessin Tatjana, seit kurzem Mrs Auguste Didier, liebt die gerade in Mode kommenden Automobile über alles. Vor etwa einem Jahr hat sie einen Automobil-Club für Damen der besseren Gesellschaft gegründet. Alles, was Rang und Namen hat, ist hier versammelt und frönt gemeinsam der Leidenschaft, mit bis zu 30 Stundenkilometern über die Landstraßen zu rasen. Doch die Harmonie des Clubs wird gestört durch Hester Hart, die Tochter eines Knopffabrikanten, die sich durch Reisen in den Orient einen Namen gemacht hat. Keine der adligen Damen mag sie leiden. Am Morgen des großen Automobilkorsos nach Canterbury wird Hester ermordet aufgefunden ... 

Ein neuer Fall für Chefkoch und Detektiv Auguste Didier.

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Über Amy Myers

Amy Myers wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.

In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.

Irmhild und Otto Brandstädter, Jahrgang 1933 bzw. 1927, haben Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, waren im Sprachunterricht bzw. im Verlagswesen und kulturpolitischen Bereich tätig. Sie übertrugen Werke von Sean O’Casey, Jack London, John Hersey, Masuji Ibuse, Louisa May Alcott, Charles M. Doughty, John Keane, Joseph Caldwell sowie Historio-Krimis von Amy Myers, Ingrid Parker und Peter Tremayne ins Deutsche.

Informationen zum Buch

1904. Prinzessin Tatjana, seit kurzem Mrs Auguste Didier, liebt die gerade in Mode kommenden Automobile über alles. Vor etwa einem Jahr hat sie einen Automobil-Club für Damen der besseren Gesellschaft gegründet. Alles, was Rang und Namen hat, ist hier versammelt und frönt gemeinsam der Leidenschaft, mit bis zu 30 Stundenkilometern über die Landstraßen zu rasen. Doch die Harmonie des Clubs wird gestört durch Hester Hart, die Tochter eines Knopffabrikanten, die sich durch Reisen in den Orient einen Namen gemacht hat. Keine der adligen Damen mag sie leiden. Am Morgen des großen Automobilkorsos nach Canterbury wird Hester ermordet aufgefunden.

Ein neuer Fall für Chefkoch und Detektiv Auguste Didier.

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Amy Myers

Mord im Motorclub

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Irmhild und Otto Brandstädter

Inhaltsübersicht

Über Amy Myers

Informationen zum Buch

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Vorbemerkung der Verfasserin

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Epilog

Impressum

Vorbemerkung der Verfasserin

Mord im Motorclub wäre ohne den Beistand meiner Verleger, besonders Jane Morpeth und Andi Blackwell vom Headline Verlag, und meiner Agentin Dorothy Lumley von der Dorian Literary Agency nie auf die Straße getuckert - ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank.

Zu Dank verpflichtet bin ich nicht minder Fred Ferrier und meinem Mann James Myers, beide ausgemachte Automobil-Enthusiasten, für ihre Hilfe und Empfehlungen, sowie Bernard Pfrunder.

Zum Schluß sehe ich mich veranlaßt, Seine verewigte Majestät König Edward VII. um Nachsicht zu bitten, daß ich ihn gezwungen habe, an einer Veranstaltung in Kent teilzunehmen, während er sich in Wirklichkeit auf eine Drei-Tages-Tour nach Liverpool, Swansea und Birmingham begab.

Prolog

Hester Hart stand auf dem Deck eines belgischen Postdampfers und grüßte die weißen Klippen von Dover im Überschwang ihrer Gefühle. Vermutlich war Wilhelm der Eroberer ähnlich begeistert, als er am Strand von Pevensey an Land sprang. Vor ihr lag ein neues Königreich, ihr Geburtsland. Die frisch gekürte Königin der Wüste, Tochter von Sir Herbert Hart, dem königlichen Knopflieferanten, schickte sich an, ihren nächsten und entscheidenden Feldzug zu unternehmen.

Das Schiff legte an, und tief unter ihr am Admiralty Pier hasteten Schauerleute und Matrosen emsig wie Ameisen umher, dazwischen hatten sich englische Polizisten postiert, die sich nicht von der Stelle rührten. Ameisen dieser Art gab es überall in der Welt, Dragomane, Maultiertreiber, Arbeiter aller Art; man warf ihnen ein paar Silberlinge zu, und sie waren glücklich. Doch die bessere Gesellschaft Englands gab sich mit so simplen Ansprüchen nicht zufrieden. Hester wäre sonst nicht außer Landes gegangen. Hier galt die Devise »Undank ist der Welt Lohn«, es sei denn, man gehörte zur Elite. Ihr Haß flammte wieder auf, als ihr Vorkommnisse aus früheren Zeiten in den Sinn kamen. Alte Rechnungen zu begleichen verlangte Überlegung und sorgsames Vorgehen. Sie hatte lange genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Vor fünfzehn Jahren, 1889 hatte sie sich auf den Weg gemacht, um in die Fußstapfen von Jane Digby und Hester Stanhope zu treten, die im Orient Furore gemacht hatten. Jetzt schrieb man das Jahr 1904, ein neues Jahrhundert hatte begonnen, und anders als ihre Vorgängerinnen kehrte sie zurück, gewillt, die Gesellschaft zu zwingen, sie an den eng geschnürten Busen zu drücken.

Die Gangway wurde herabgelassen, und Träger drängten auf die Decks. Sie bedeutete einem grobschlächtigen Einheimischen, ihre wenigen Gepäckstücke aufzunehmen, und verglich ihn unwillkürlich mit dem arabischen Dragoman, der sie auf ihren Reisen begleitet und unterhalten hatte. Ihre versiegelten Seekisten hatte sie schon vorausgeschickt; sie bargen kostbares Gut, auf das ihr ganzer Plan gegründet war. Der Habe, die sie jetzt noch bei sich hatte, konnte der Bursche nicht schaden.

»London«, wies sie ihn kurz und knapp an.

»Erster Klasse, Madam?«

Hester reagierte verärgert. Hatte der Kerl keine Augen im Kopf? Selbstverständlich reiste sie erster Klasse. Sie war in England, nicht in Syrien.

Der Mann aus Dover mochte mit einem orientalischen Dragoman nicht mithalten können, aber er wußte sehr wohl, wann sein Lohn von drei Pennys auf dem Spiel stand, und kaum waren sie am Zoll Seiner Majestät vorbei, strebte er geradewegs einem Waggon »Nur für Damen« zu.

Hester war es zufrieden und lohnte es ihm. Der frische Aprilwind zerrte an den Hutnadeln, mit denen sie ihren breitkrempigen, mit Pfauenfedern geschmückten Kopfputz festgesteckt hatte. »Nur für Damen«, o ja, jetzt endlich würde man ihr den rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft zugestehen. Man hatte sie lange genug gedemütigt und zurückgewiesen. Sie würde die Portale der High-Society stürmen. Das hübsche Gefieder derer, die ihr einst den Weg versperrten, würde sie zausen, mehr noch, sie würde eins dieser Hühnchen nach dem anderen rupfen.

Sie wußte auch schon, wo beginnen – beim Automobilclub für Damen, den so eine drittklassige russische Prinzessin vor kurzem gegründet hatte …

1. Kapitel

»Eher würd’ ich sterben, du Hundesohn!«

Der leidenschaftliche Aufschrei seines Küchenchefs ließ Auguste Didier, der mit seinen filets de sole à la Tatiana beschäftigt war, aufschrecken, und schon eilte er zu den Kampfhähnen hinüber. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, daß sein Koch Pierre Calille mit Luigi Peroni, Oberkellner im Clubrestaurant, nur mal wieder wie üblich aneinandergeraten war. Aber es galt, den Streit zu schlichten, andernfalls sah er das Dinner gefährdet. Finster blickend ging er dazwischen.

»Was gibt es so Wichtiges, daß man die Mayonnaise halbfertig stehen läßt?«

»Minze, Monsieur Didier.« Luigi weidete sich sichtlich daran, Pierres Herrn die schlechte Nachricht zu überbringen, zumal er der Gatte der Präsidentin des Motorclubs für Damen war. »Es hat Beschwerden gegeben.«

»Engländerinnen mögen doch aber Minze«, wunderte sich Auguste. »Es gibt nur wenige, die überhaupt noch andere Gewürze kennen.«

»Aber nicht in Rissole.« Luigi triefte vor Selbstgefälligkeit.

»Rissole?« kreischte Pierre. »Kroketten waren es – von Spitzenqualität. Monsieur Escoffier gehört zu den Leuten, die für Neues aufgeschlossen sind.«

»Das Pech ist nur, Pierre, daß Damen wie Lady Bullinger sich neuem gegenüber mitunter ablehnend verhalten«, gab Auguste vorsichtig zu bedenken.

»Und ich lehne es ab, mir von einem Kellner sagen zu lassen, wie man zu kochen hat«, wütete Pierre. »Soll ich mich etwa dem englischen Geschmack beugen, wenn ich eigens hergekommen bin, ihn zu kultivieren?«

Einer solchen Auffassung konnte Auguste nur zustimmen, aber er hatte die Interessen seiner Frau zu wahren, ging es doch um ihren Club. Er mußte einen Kompromiß finden. »Vielleicht wäre ein bißchen weniger Minze …«

»Schmeckt zu streng, wie alles, was er kocht«, fiel ihm Luigi ins Wort, der sah, daß sich das Blatt zu seinen Gunsten wendete. »Mit Basilikum ist das anders.«

»Basilikum und mild im Geschmack?« Pierres dunkle Augen funkelten. »Ich hab das Gedicht von Keats gelesen, ›Isabella oder der Basilikumtopf‹. Da vergraben Italiener abgeschlagene Köpfe von Toten in Basilikum.«

»Ich werde gleich deinen drin begraben, du Hund.« Dieser unfaire Hieb ging an seine Nationalehre, und er konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Ich bin verantwortlich für …«

»Und ich bin für das Dinner heute abend verantwortlich«, erklärte Auguste laut und deutlich. »Fahren wir also mit den Vorbereitungen fort.« Im stillen dankte er seinem Vater dafür, daß er sich eine Engländerin zur Frau genommen hatte; in kritischen Situationen dominierten meist ihre Gene, und das kam einem Mann aus der Provence wie ihm zugute, besonders wenn man zwischen diesen beiden steckte, dem Kellner aus Mailand und dem in Marseille geborenen Pierre. Er mochte beide, den robusten, philosophisch veranlagten Pierre vielleicht sogar etwas mehr. Rein vom Äußeren her waren sie sich nicht unähnlich; beide waren Anfang dreißig, etwa so groß wie er selbst, ein Meter achtzig, beide hatten dunkles Haar, eine kräftige Statur; die glänzenden dunklen Augen und die Hautfarbe verrieten ihre südländische Herkunft. Pierres Blick zeugte von der leidenschaftlichen Hingabe an seinen Beruf, Luigis wirkte mehr belustigt, distanzierter. Der eine, vermutete Auguste, hatte strenge Moralvorstellungen, der andere, fürchtete er, wußte gar nicht, was das war. Auguste konnte das aber nur insofern interessieren, als Streitigkeiten zwischen den beiden sich negativ auf den Club auswirken würden – wie jetzt, zum Beispiel.

»Was ist das?« Er wurde sich plötzlich bewußt, daß das Stimmengewirr im Hintergrund, dem er bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nicht nur lauter, sondern auch drohender wurde. Man hörte die Eisentore von Milton House im Londoner Westend schlagen, demnach konnte die Unruhe draußen nur etwas mit dem Automobilclub seiner Frau zu tun haben.

»Dolly Dobbs«, schrie Luigi aufgeregt los.

»Ein neues Mitglied, so wie Miss Hester Hart?« fragte Auguste. Er konnte sich nicht erinnern, daß Tatjana etwas in dieser Richtung erwähnt hatte.

»Nicht so wie Miss Hart.« Luigi lachte. »Es sei denn, Miss Hart hat sich in ein Automobil verwandelt.«

»Blödsinn«, gab Pierre heftig zurück. »Miss Hart ist eine großartige Frau, du Trottel.«

Davon hatte Auguste noch nichts gehört, und Luigis spöttischem Schniefen nach zu urteilen, war auch ihm diese Tatsache neu.

»Woher willst du Bauer das wissen?«

»Aus den Zeitungen; ich hab gelesen, daß sie tolle Dinge vollbracht hat. Es ist eine Ehre, für sie kochen zu dürfen.«

Der Lärm draußen wurde immer lauter, und Auguste entging nicht, daß das übrige Küchenpersonal zur Tür drängte.

»Aber was hat es nun mit diesem Dolly Dobbs auf sich?« fragte er. Dunkel erinnerte er sich, daß Tatjana beim Frühstück davon gesprochen hatte, daß sie ein Automobil, ein neues Testmodell erwartete, aber er hatte nicht so genau zugehört, weil er mit seinen Gedanken bei einem aufregenden neuen Rezept für eine Sauce zum Waldschnepfenbraten gewesen war. Schließlich war er für das Dinner verantwortlich, und Tatjana hatte darauf bestanden, daß es etwas ganz Besonderes sein sollte heute abend; fast war er ein wenig verletzt, daß niemand so recht Notiz davon nahm. Er warf einen besorgten und liebevollen Blick auf das Püree, auf dem die Seezunge zu servieren war. Doch dann packte auch ihn die Neugierde, was die Ursache für den Tumult draußen war, und er folgte Luigi und Pierre, die den Streit um die Minze begraben hatten, auf die Stufen hinaus. Nach einer »freudigen« Begrüßung klang der Radau nicht.

Mit dieser Vermutung hatte er recht. Als er auf den Hof hinaustrat, war alles, was Beine hatte, aus diesem stillen Viertel zusammengeströmt; die Menge kam ihm vor wie das johlende Volk in der Französischen Revolution, das mit ein paar hundert gefangengesetzten Aristokraten auf dem Weg zur Guillotine war. In diesem Falle schien sich die Wut gegen ein riesiges Etwas zu richten, das, in Segeltuch gehüllt, auf einem Plattenwagen thronte, den zwei kräftige Pferde zogen. Im Augenblick bewegte sich nichts, denn das Gefährt war im Torweg von Milton House zwischen den aufgebrachten Demonstranten, Männern und Frauen, eingekeilt.

»Nieder mit den Automobilen!« Mit schriller Stimme heizte ein hageres Weibsbild in mittleren Jahren wild entschlossen die wogende Masse an, die sich auf den Innenhof zwängte. Die Anführerin schwenkte ein Riesenplakat, auf dem die Losung stand: »Das Auto ist das Tier des Jüngsten Gerichts.« Sie peitschte die Stimmung auf und schrie grell in die Heerschar: »Verteidigt die Rechte der Pferde!«

Leicht amüsiert stellte Auguste fest, daß die lauthals zitierten Rechte den Tieren keineswegs freien Durchlaß garantierten, denn ein ganzer Wald von behandschuhten Händen hatte in die Zügel der vierbeinigen Freunde gegriffen. Mit dem Siegesschrei »CAPPS« riß die Anführerin die Zeltplanumhüllung herunter.

Die Menge drängte nach vorn, doch unvermutet ebbte der Lärm ab; vielmehr vernahm man ein Gemurmel, das man als Verblüffung oder Enttäuschung deuten konnte, vielleicht war es auch nur die Ruhe vor dem Sturm.

Was man da enthüllt hatte, war, zumindest wie es Auguste sah, nichts weiter als ein Automobil, lediglich die Farbe war auffällig, ein schreiendes Rot. Es war ein Landaulet mit offenem Verdeck, Rücksitz für weitere Passagiere, vier Rädern und einer Lenksäule. Vorne vor der Lenksäule gab es nichts, was einen Motor hätte halten können, aber soviel wußte selbst Auguste, daß das nichts Außergewöhnliches war.

Was war denn aber so aufregend an diesem Dolly Dobbs? Dem Fachmann mit Kennerblick mochten die Trittbretter auffallen, die in die ungewöhnlich breiten und oben abgeflachten Kotflügel übergingen, aber in Augustes Augen (und vermutlich ging es den Leuten da nicht anders, denn etliche sahen so aus, als seien sie um ihre Beute gebracht worden) war und blieb es ein ziemlich normales Automobil.

Für einen Moment war sein Berufsinteresse aufgeflackert bei dem Ausruf »CAPPS«, aber auch das erlosch, als sich seine Frau durch das Gewühl zu ihm kämpfte, ohne Hut, ohne Handschuhe, und ihn dringlichst um Hilfe bat. »Aux armes, mon ami, das sind die von der ›Contra Auto pro Pferd Gesellschaft‹. Das ist der Dolly Dobbs, und das dort ist Mrs. Hortensia Millward.«

Auguste fand, daß ein Automobil sehr wohl in der Lage sein müßte, sich mit eigener Kraft fortzubewegen, aber er sagte es nicht laut und bezähmte sich; dabei hätte er am liebsten – wie ein kleiner Junge, der einen liegengebliebenen Motorwagen sieht – gerufen: »Holt doch ein Pferd!«

Tatjanas sonst so ruhiges Gesicht glühte vor Erregung, und ungeachtet ihres cremefarbenen Sommergewands stürzte sie sich in die Menge. Die allgemeine Unruhe nahm erneut zu und steigerte sich noch, als Hortensia Millward versuchte, den robusten Fahrer des Wagens von seinem Sitz zu zerren. Auguste erkannte ihn als Frederick Gale, den Mechaniker vom Club. Während Mrs. Millward sich im Interesse der CAPPS zu schaffen machte, zwischen Rad und Trittbrett hin und her hüpfte, dabei ihren braunen Rock bis an die Knie hochzog, sprang Fred auf und hielt das Lenkrad des Dolly Dobbs leidenschaftlich umklammert.

»Jetzt!«

Eine kleine Gruppe Besessener, im taktischen Vorgehen durch den Umgang mit Aufständischen im Khaiberpaß offensichtlich erfahren, stürmte auf Geheiß der Anführerin vor, um sich über Fred und dessen Beifahrer, einen sanftmütig aussehenden jungen Mann mit Brille, herzumachen, der verängstigt und wie hypnotisiert dasaß.

Erschrocken hielt Auguste Tatjana zurück, die drauf und dran war, sich auf Mrs. Millward zu stürzen, in der Absicht, Fred zu Hilfe zu kommen, und drängte sich selbst zwischen Fred, ein halbes Dutzend in Korsetts gezwängte und nicht gerade bewegliche Frauenleiber, die mit massiven hölzernen Plakatstützen bewaffnet waren, und einen Mann in mittleren Jahren, der den Eindruck machte, als sei er aus Versehen in eine Rauferei von Schülern geraten.

»Wehe, Sie vergreifen sich an ihm, Mrs. Millward!« schrie Tatjana.

Hortensia ließ einen Moment in ihrem Eifer nach; ihr lila Seidenhut saß nur noch halb auf dem Kopf, die Hutnadeln hatten der Heftigkeit ihres Angriffs nicht standhalten können.

»Wieso?«

»Er ist ein Lebewesen, genau so gut wie ein Pferd.«

»Dann sollte er sich nicht mit Erfindungen des Teufels einlassen!«

Auguste spürte eines der Plakate im Nacken, drei Paar Frauenarme umklammerten ihn; er hielt es für besser, sich aus der Debatte herauszuhalten. Außerdem haßte er Autos.

»Automobile sind die Zukunft.« Tatjana bahnte sich einen Weg zu Hortensia und sah sie, die Arme verschränkt, herausfordernd an.

»Pferde sind des Menschen Freund, sind Reichen und Armen gleichermaßen nützlich.«

»Und sind die Armen nicht ebenfalls Nutznießer der Erfindung des Rades?«

»Wie viele dieser ergebenen Freunde sollen denn noch verschreckt oder als unerwünscht beiseitegeschoben werden? Wie viele zarte Frauen sollen noch aus Angst vor euren Monstern mit ihren Fahrrädern stürzen? Nie hätte man das Gesetz, das jedem Automobil die öffentlichen Straßen sperrte, außer Kraft setzen dürfen!« Hortensia war des Argumentierens überdrüssig und langte erneut nach Fred, der im Begriff war, seinem Partner zu folgen. Letzterer war aus seiner Erstarrung erwacht, von seinem Sitz gesprungen und in Verteidigungsposition für den Dolly Dobbs gegangen. Mit ausgebreiteten Armen hatte er sich schützend vor ihn gestellt und demonstrierte so leidenschaftlich, wie sehr er ihm am Herzen lag; eine Zukunft von unvorstellbarer Größe galt es zu verteidigen.

»Meine Erfindung wird ihrer aller Leben revolutionieren, meine Damen«, beschwor er sie inbrünstig. »Im vergangenen Jahr haben die Brüder Wright den Himmel erobert. In diesem Jahr bin ich es, Harold Dobbs aus Upper Norwood, der die Erde erobert.«

»Was kann denn diese verrückte Mißgeburt schon? Aus seinem Stall fliegen und gen Himmel stürmen?«

Nur der Tatsache, daß die Gesetzesgewalt in Person von zwei Polizeibeamten auf dem Schauplatz erschien, konnte es Harold Dobbs verdanken, daß die Menge ihn nicht in der Luft zerriß. Die beiden Uniformierten brachten es zuwege, daß sich die Massen aus dem Hof auf die Straße zurückzogen, wenn auch die Köpfe unverwandt auf das Grundstücksinnere gerichtet blieben, wo die Pferde mit der offensichtlich kostbaren Ladung jetzt in Richtung Kutschenremise trotteten.

»Was meinst du, kann Hortensia diese Runde als Sieg verbuchen?« fragte Tatjana niedergeschlagen. Die Spitze oben an ihrem Kleid hatte unter dem übereifrigen Gebaren der CAPPS gelitten, auch war ihr die grüne Schärpe abhanden gekommen.

Auguste wäre fast mit den eigenen Schürzenbändern erdrosselt worden. Die weiße Mütze hing schief und war über ein Auge gedrückt, und es war abzusehen, daß das andere Auge sich bald blau verfärben würde. Aber es hatte einen Tag gegeben, da er gelobt hatte, für diese seine Frau Sorge zu tragen und ihr beizustehen bis ans Lebensende. »Selbst wenn, das heißt noch lange nicht, daß sie den Krieg gewinnt, chérie.« Zu seinem Bedauern, wie er sich innerlich eingestand.

»Hortensia hat Einfluß. Ihr Mann ist ein bekannter Archäologe. Er war heute hier. Es heißt, ihm wird bald ein Adelstitel verliehen.«

»Du gibst doch sonst nichts auf solche Dinge.«

»Es spielt aber für viele eine Rolle, und in London erst recht. Ich kann nur hoffen, daß sie nicht Unheil stiftet unter den Damen und die eine oder andere davon abhält, meinem Club beizutreten. Mein Pferdeprogramm zielt einzig und allein darauf ab zu beweisen, daß Pferd und Automobil sehr wohl miteinander auskommen können.« Tatjana war aufgewühlt. Auguste entsann sich vage, daß sie ihm vor kurzem erst erzählt hatte, daß sie Clubmitglieder mit ihren Autos zu Dressurstunden auf Gehöfte von Pferdebesitzern schickte, um die Pferde an Motorwagen zu gewöhnen. Wie die meisten Pferdebesitzer war auch Auguste der ketzerischen Auffassung, daß es viel mehr die Automobile nötig hätten, sich an Pferde zu gewöhnen als umgekehrt.

»Wie kann man nur das Prachtstück nicht bewundern?« Liebevoll betrachtete Tatjana mit ihren dunklen Augen den Dolly Dobbs, als sie dem Gefährt zur Wagenhalle hinten auf dem Clubgelände folgten. »Einfach schrecklich, daß Hortensia von der Ankunft Wind bekommen hat – das Automobil sollte doch ein Geheimnis bleiben.«

»Was ist denn so Geheimnisvolles daran? Bei der grellroten Farbe, die es hat!«

»Es ist kein Rebhuhn, chéri, und braucht keine Tarnfarbe, um sich vor Feinden zu schützen. Aber ein Geheimnis ist es durchaus. Die offiziellen Ausscheidungsrennen des Automobilclubs von Großbritannien sind nächsten Donnerstag, am einundzwanzigsten Juli; und vor Sonnabend, wenn es zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gezeigt wird, darf es niemand sehen.«

»Das ist nun aber geschehen.«

»Aha!« gab Tatjana vielsagend von sich – Fred hatte das Gefährt in eine Box des Autoschuppens manövriert, und sein Erfinder drapierte mit Hingabe die ins Rutschen geratene Umhüllung um seine Schöpfung.

Man hatte die alte Kutschenremise in eine Kraftwagenhalle umfunktioniert, die zehn Fahrzeugen, einer Reparaturwerkstatt und einer Waschanlage Platz bot, und nicht weit davon einen Benzinschuppen errichtet. An diesem heißen Dienstagnachmittag standen alle Türen offen, so daß die eingestellten Automobile mit den Nasen nach vorn zu sehen waren und den Betrachter unpassenderweise an Pferde erinnern konnten. Vielleicht sollte er ihnen Mohrrüben hinhalten, dachte Auguste gutmütig. Der Dolly Dobbs hatte seinen Platz direkt neben der Reparaturabteilung gefunden, und da kamen nur solche Automobile hin, die besonderer Aufmerksamkeit bedurften.

»Was du bisher zu sehen gekriegt hast, war ja nur die Außenhaut«, flüsterte Tatjana. »Er ist bloß so zeitig hierher gebracht worden, um ihm eine ganz besondere Ausstattung zu verpassen. Selbst die ganze Batterie der Akkumulatoren wurde für den Transport ausgebaut.«

Auguste bekundete Interesse und Wißbegier. »Willst du damit sagen, es sei ein Elektroauto? So was hat man doch aber schon längst erfunden!« Der offene Landaulet wies keine Ähnlichkeit mit den hochgebauten Elektromobilen auf, die er von den Straßen Londons her kannte.

Gleich darauf bereute er seine Unbesonnenheit. Tatjanas Augen leuchteten auf, als sie zu einer ausführlichen Erklärung ausholte. »Das stimmt zwar, aber sie sind in ihrem Aktionsradius sehr begrenzt. Sie schaffen nicht mehr als achtzig Kilometer, dann müssen schon die Batterien aufgeladen oder ausgetauscht werden. Damit taugen sie nur für den Stadtverkehr oder für Landsitze mit eigener Stromerzeugung. Selbst wenn wir immer mehr Werkstätten auf dem Lande haben und Batterien leicht ausgewechselt werden können, so hilft das noch lange nicht, wenn einen die Batterie unterwegs im Stich läßt.« Tatjana hatte sich in eine Begeisterung hineingesteigert, die Auguste von sich kannte, wenn er zum Beispiel mit einem bavarois beschäftigt war.

»Dann ist also der Dolly Dobbs mit einer Erssatzbatterie ausgerüstet?« nahm Auguste erneut Anlauf und versuchte, den heftig pochenden Schmerz am Auge zu ignorieren.

»Ersatzbatterie?« So große Unwissenheit konnte Tatjana kaum fassen. »Gewicht beeinträchtigt die Leistungskraft. Was hilft da eine zweite Batterie? Man würde nur noch weniger Kilometer schaffen. Nein, aber wenn die Batterie, die Edison entwickelt hat, und von der noch keiner was ahnt, die Erwartungen erfüllt …«

Augustes Gedanken begaben sich auf Wanderschaft. Autofahren hatte mit Kochen viel gemein. Zu viele Verfeinerungen, und das Gericht war verdorben; zu wenig davon, und es war auch nicht besser. Erinnerungen an seine écrevisses à la Maisie nahmen ihn gefangen, und er mußte sich einen Ruck geben, um sich davon loszureißen. »Was ist denn nun das Besondere an dem Dolly Dobbs?« fragte er dann.

»Stell dir den Unterschied zwischen einem soufflé à la Mrs. Marshall und einem Meisterwerk von Auguste Didier vor, und du hast das Besondere.«

Argwöhnisch blickte er Tatjana an. Hatte sie es ironisch gemeint? »Na ja, mein soufflé des violettes ist schon Klasse, wenn auch Vanille vielleicht nicht unbedingt …«

»Harold Dobbs hat das Problem gelöst, zumindest behauptet er das.«

»Was? Ob Vanille entscheidend ist, um den Geschmack richtig zur Geltung zu bringen?«

»Das doch nicht, Auguste.« Tatjana schüttelte den Kopf. »Das Problem des Leistungsvermögens beim Elektroauto.«

»Wie?« fragte ihr Mann zerknirscht.

»Würdest du das Geheimnis eines neuen Rezepts verraten, ehe du das Gericht gekostet hast?« kam es schnippisch zurück. Im Grunde genommen hätte sie die Frage auch gar nicht beantworten können, sehr zu ihrem Ärger. »Aber du wirst es beim Rennen ja selbst sehen.«

»So?« Argwöhnisch horchte Auguste auf.

»Es ist eine Rallye und ein gesellschaftliches Ereignis und gleichzeitig das offizielle Ausscheidungsrennen des Automobil-Clubs von Großbritannien. Der gesamte Club wird als geschlossene Gruppe von Hyde Park Corner starten. Wir werden mit unseren Automobilen die Dover Road entlangfahren, uns bis Martyr House auf den Barham Downs jenseits von Canterbury entlangbewegen, wo uns dann Seine Majestät empfängt. Er ist zu Gast beim Earl of Tunstall.«

»Und seiner Gattin?« Auguste konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, denn es war allgemein bekannt, daß Isabell, Lady Tunstall, es mit ihren Ehegelöbnissen nicht allzu ernst nahm.

»Ganz recht, zu Gast beim Earl of Tunstall und seiner Gattin.« Seine Majestät mochte früher genug Kapriolen geschlagen haben, doch in seinem gesellschaftlichen Umgang wußte er nun sehr wohl, sich kleine Vergnügungen mit Anstand und Würde zu leisten.

Auguste sah in Tatjanas Ankündigung ein böses Omen. Nach seiner bisherigen Erfahrung hatten offizielle Anlässe, bei denen Seine Majestät und er zugegen waren, stets einen unguten Ausgang genommen, und der Angeschmierte war meist er. Er mußte Tatjanas Bitten, sie in dem Léon Bollée zu begleiten, widerstehen, koste es, was es wolle. »Der Gedanke, Bertie wiederzusehen, ist ungemein verlockend, doch ich fürchte, ich bin schon verabredet, chérie; ich habe mit meinem Herausgeber vereinbart, daß wir ›Dinieren mit Didier‹ durchgehen.« Von seinem geplanten zehnbändigen Opus war zwar bisher mehr im Kopf als auf dem Papier, aber es ließ sich gut als Grund vorschieben, um unliebsamen anderen Verpflichtungen aus dem Wege zu gehen.

»Dann wirst du ihm eben absagen.«

»Je m’excuse?«

»Es geht um das Bankett.«

»Um welches Bankett?«

»Um das Bankett am kommenden Donnerstag, das du in den Gärten von Martyr House ausrichten wirst.«

Kurzes Schweigen.

»Ich hab’s dir noch nicht sagen können, Auguste«, setzte Tatjana beschwichtigend hinzu. »Bertie ist es eben erst eingefallen.«

Alle möglichen Verwünschungen, die gut zu Bertie gepaßt hätten, lagen Auguste auf der Zunge, aber er hütete sich, sie auszusprechen, es hätte nichts genützt.

In die britische königliche Familie einzuheiraten, und mochte es in noch so entfernter Linie sein, brachte entschiedene Nachteile mit sich; von allen am schwerwiegendsten war, daß man ihm in der Ausübung der Kochkunst Beschränkungen auferlegte. Ein Künstler sollte frei sein, man sollte ihm nicht vorschreiben dürfen, wo er seine Kunst ausübt und wo nicht. Hatte etwa der Papst von Michelangelo verlangt, nur für ihn zu malen? Nein. Doch Seine Majestät König Edward VII. hatte an Augustes Eheschließung mit Tatjana, die eine entfernte Romanow und damit seine Cousine war, die Bedingung geknüpft, daß er das Kochen als einträgliche Beschäftigung aufzugeben hatte. Aus Wohltätigkeitsgründen ja (wie Alexis Soyer, wütete Auguste im stillen), auch privat würde er kochen dürfen, und natürlich würde er für den König kochen müssen, wann immer es dem beliebte.

Als Tatjana vor ein paar Monaten ihren Automobilclub für Damen gründete und ihn bat, bei wichtigen Essen und Banketts ehrenamtlich als Koch zu fungieren, hatte er mit Freuden zugestimmt. Und das heute abend war so ein Dinner. Aber Banketts für den König auszurichten war eine andere Sache; nicht, daß er Bedenken gehabt hätte, es nicht mit anderen Küchenchefs im Lande aufnehmen zu können (ausgenommen mit Escoffier vielleicht, seinem alten Lehrmeister), sondern weil er und sein Freund, Hauptinspektor Egbert Rose von Scotland Yard, die Erfahrung gemacht hatten, daß ihre Gegenwart in der Nähe des Königs eine unglückliche Konstellation war, daß sie jedes Mal Katastrophen heraufbeschwor. Bei wiederholten Anlässen war es zu einem Mord gekommen, und Auguste war in die Rolle des Detektivs gedrängt worden. Er mochte das nicht; er war Koch und kein Sherlock Holmes. Doch jetzt sah er den ängstlich besorgten Blick seiner Frau und erwiderte edelmütig: »Ich bin entzückt.«

Tatjana lachte erleichtert. »Ich fahre dich hin.«

»Fährst du nicht den Dolly Dobbs?« Wenigstens dieses Martyrium wollte er sich ersparen.

»Nein. Agatha, die Herzogin von Dewbury, wird ihn fahren, sie ist die Patronin des Erfinders.«

Auguste fügte sich ins Unvermeidbare. Das Bankett mußte peinlichst genau vorbereitet und von London aus transportiert werden; eventuell konnte er im letzten Moment noch darauf dringen, früher abreisen zu müssen. Und selbst, wenn das nicht gelang, es würde schon eine äußerst aufregende Reise werden, denn man konnte annehmen, daß Hortensia Millward von dem Rennausscheid wußte. Berittene Straßenräuber in Blackheath waren das mindeste, womit zu rechnen war. Augustes gute Laune kam wieder. Einen schönen Julitag konnte das Unternehmen zwar kosten, wenn es galt, im kleinen Garten von Queen Anne’s Gate Rezepte mit Mrs. Jolly, ihrer Köchin, durchzugehen.

»Also gut. Ich werde ein Bankett ausrichten, das alle vorangegangenen übertrifft. Und das Dinner heute abend wird auch vom feinsten sein. Jeden Bissen, jede Krume wirst du dir genüßlich auf der Zunge zergehen lassen.«

»Hoffentlich.«

»Hegst du etwa Zweifel?« forschte Auguste leicht entrüstet.

»Ich hab erst noch meine Sitzung mit dem Komitee.«

»Und was ist da so Beunruhigendes dran?«

»Die Tagesordnung.«

»Nämlich?«

»Hüte und Hester Hart.«

Lady Bullinger, Schatzmeisterin im Automobilclub der Damen, drückte sich die Mütze auf das frisch frisierte Haar – sie tat es mit solcher Kraft, als hätte sie Hester Hart, diese ungeliebte Karrieristin, unter die Finger gekriegt. Männermütze, Schutzbrille, große derbe Fahrerhandschuhe ohne Finger und eng sitzender, zugeknöpfter Regenmantel standen im Widerspruch zu ihrem blauen Abendkleid, aber Maud war eine praktisch veranlagte Frau; es war ein naßkalter Abend.

»Was hältst du von Schlangen, Snelgrove?« Etwas überraschend konfrontierte sie mit dieser Frage die Kammerzofe, die ihr gerade eine Hutschachtel reichte mit einer für das Abendessen passsenden Kopfbedeckung.

Schlangen waren Snelgrove bisher nur im Reptilienhaus in Zoologischen Gärten begegnet, und sie brachte sie nicht mit Damen in Verbindung, die in Rennmobilen durch Europa kurvten, aber sie war nicht um eine Antwort verlegen.

»Man muß sich vor ihnen in acht nehmen, Mylady.«

Lady Bullinger schniefte zustimmend. »Richtig bemerkt, Snelgrove.«

Genauso würde sie sich gegenüber Hester Hart verhalten. Man konnte machen, was man wollte, ständig begegnete man diesem Weib – ihre Visage grinste einen aus den Seiten der »Illustrated London News« entgegen, sie posierte als Fotomodell in Palmyra, trieb ihr Unwesen in Damaskus, machte Jericho unsicher und spielte sich jetzt auch noch als große Dame in London auf. Jedes Mal, wenn Maud nicht umhinkonnte, sie zu grüßen, ob im Automobilclub oder anderswo, nahm sich Hester die Frechheit heraus, sie daran zu erinnern, daß man sich von früher her kannte. Natürlich hatte Maud die Vergangenheit ebenfalls nicht vergessen. Und was sie getan hatte, tat ihr nicht einmal leid. Im Gegenteil, sie war stolz darauf. Ob nun geadelt oder nicht, eine Familie von Knopffabrikanten blieb, was sie war. Wie auch immer, Maud war eine praktische Frau. Es war wohl klüger, sich nicht mit Miss Hart anzulegen, denn die Gesellschaft schien entschlossen, sie zu feiern. Nächstes Jahr um diese Zeit würde sie in Vergessenheit geraten sein, aber fürs erste tolerierte man sie wohl lieber.

Wie ein Schlachtschiff unter Volldampf rauschte Lady Bullinger die Treppen ihres Hauses in der Wimpole Street hinunter, wedelte gebieterisch den Automobilkutscher vom Fahrersitz, verwies ihn nach hinten und ergriff selbst das Steuer ihres neuen Sechszylinder-Napier-Tourenwagens.

Dröhnend bog das Fahrzeug in die Oxford Street, und schon dachte Maud nicht mehr daran, daß sie jetzt nicht in ihrem Napier-Rennflitzer saß, und peitschte den Motor auf die vor kurzem zugelassene Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern hoch. Rasch umklammerte sie kräftig den Knüppel der Gangschaltung, um die Beschleunigung zurückzunehmen, und stellte sich wollüstig vor, es sei Hester Harts Hals, den sie da würgte. Dann wendete sie sich fröhlicheren Vorstellungen zu. Bald würde sie so schnell fahren können, wie sie wollte, denn im Oktober würde sie sich allen Ernstes auf das Internationale Damenrennen in Frankreich vorbereiten. Für sie stand fest, daß sie für England an den Start gehen würde. Wer käme denn sonst in Frage? Niemand.

Siegessicher drückte sie die Hupe; zwei ältere Herren am Piccadilly sprangen erschrocken zur Seite. Nach der Sitzung würde sie heute abend mit Phyllis und Roderick speisen; sie freute sich darauf. Klar, ihr Patensohn hätte eine bessere Wahl treffen können, sich nicht mit so einer Operettensängerin verloben müssen; aber das Mädel war immerhin salonfähig. Und nicht so eine wie Hester Hart.

Ein, zwei Kilometer weiter, in Mayfair, saß Mauds Schwägerin, die Herzogin von Dewbury und Sekretärin des Automobilclubs für Damen, vorm Spiegel und betrachtete sich kritisch. Sie war mit sich, ihrem Aussehen und ihren vierzig Jahren beschäftigt und hatte keine Zeit, Gedanken an Miss Hester Hart zu verschwenden. Die Geschichte lag Jahre zurück. Agatha befand sich auf dem Höhepunkt ihrer reifen Schönheit, und das konnte man von Hester Hart – bei allen Ansprüchen, die sie geltend machen konnte – ja nun gerade nicht sagen. An Sonne hatte ihre Haut zu viel des Guten bekommen, an Cold Cream zu wenig; das Haar hatte die wohltuende Wirkung von regelmäßigen Rosmarinspülungen nie erfahren, und ihr Gesicht war so lang wie das von Kamelen, auf denen sie sicher zur Genüge durch die Wüsten gezogen war. Kamele, fand die Herzogin, hatten eigentlich sogar sanftere Gesichtszüge als Hester Hart. Fast vierzig war Hester jetzt und hatte nie geheiratet. Sie hatte nie verstanden, etwas aus sich zu machen; nicht, daß das so leicht gewesen wäre bei dem Vater, den sie hatte. Der war genauso rund und dick wie die Knöpfe, die er herstellte, und seine jovialen Umgangsformen kamen sicher in seiner Fabrikantenbruderschaft gut an, stießen aber in den gehobenen Kreisen Londons nicht auf Gegenliebe. Trotzdem, man könnte ja der armen Frau mit Freundlichkeit begegnen, zumal sie nun auch zu den Mitgliedern des Motorclubs gehörte. Insgeheim fragte sie sich, warum Hester wohl eingetreten war und was für ein Automobil sie fuhr. Ob sie ein Raser war wie sie und Maud, die in diesem neu aufkommenden Sport Aufregung und Abenteuer suchten, oder mehr ein Hasenfuß wie Isabel Tunstall und Phyllis Lockwood, die das Auto mehr als modisches Beiwerk betrachteten?

Sie vermutete das erstere, und das würde bedeuten, daß Maud auf ihre Lorbeeren achten mußte. Die arme Maud. Gott sei Dank war ihre eigene Position als Patronin vom Dolly Dobbs sicher. Welchen Wagen sollte sie heute abend nehmen? Ihr kleiner Horbick Zweisitzer wäre natürlich toll, aber es würde bedeuten, ihre Zofe zum Club vorzuschicken, damit sie bei ihrer Ankunft schon da wäre und ihr gleich bei Frisur und Make-up zur Hand gehen könnte. Also doch lieber Harrys Mercedes.

Phyllis Lockwood, Vorstandsmitglied, wohnte in Belgravia, einem der wohlsituierten Stadtteile Londons. Sie stand bei sich zu Hause im Schlafzimmer, drehte eine Pirouette und kam befriedigt zu dem Schluß, daß sie eine Schönheit sei. Die Operette, in der sie mitspielte, hatte gerade die letzte Vorstellung gehabt; damit stand sie erst wieder im Herbst im Rampenlicht, wenn die nächste Theatersaison begann. Ihre einzige Verpflichtung war noch, sich im Atelier der berühmten Firma Ellis & Walery photographieren zu lassen, Postkarten für ihr Publikum. Insgesamt bedeutete das unendlich viel Zeit mit Roderick, und sie würden zu Beginn der Saison heiraten können. Welches Glück, daß ihre Ururgroßmutter die siebente Tochter eines Barons gewesen war und daß dank ihres Berufs als Schauspielerin einer Heirat in die bessere Gesellschaft Londons nichts im Wege stand. Die Trauung sollte in der St. George’s Kirche am Hanover Square stattfinden, wie es sich gehörte. Sie vergötterte Roderick. Mit seinem schwarzen Haar und seinem romantischen Blick hätte er selbst der Bühne und einer Operette entsprungen sein können. Dabei war er Rennfahrer und kein Schauspieler. Ihm zu Gefallen war sie Mitglied des Automobilclubs für Damen geworden. Zugegeben, Motorsport war ungemein spannend – solange man nicht selbst am Rennen teilnahm. Aber zum Glück hatte Tatjana deutlich zu verstehen gegeben, daß der Club jedwedes Interesse an Autosport fördern wollte, nicht nur Autorennen.

Tatjana mußte man einfach gern haben. Nur ihr zuliebe hatte sie sich einverstanden erklärt, im Vorstand mitzuwirken. Sie war es der Öffentlichkeit schuldig, redete sie sich ein. Als Hasenfuß eingruppiert zu werden machte sie nicht gerade glücklich. Wiederum, was war schon dabei? Im Grunde genommen ging es doch nur darum, daß Frauen ein Auto hatten, um damit durch die Gegend zu kurven, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und obendrein noch beim Fahren attraktiv auszusehen. Das gerade, fand sie, hatte seine Tücken, besonders wenn der Wind blies, Staubwolken ihr die Sicht nahmen, aufgewirbelter Schmutz sich an Kinn und Wangen festsetzte, ihr trotz vorgebundenem Seidentuch in Mund und Nase ging. Und Schutzbrillen waren etwas Gräßliches. Eigentlich blieb einem nur, sich das ganze Gesicht zu verschleiern, aber dann war ja gar nichts mehr von einem zu sehen. Ganz schön schwierig alles. Warum konnten die blöden Automobilhersteller nicht irgend etwas vorne vor dem Fahrer montieren, was Abhilfe schaffte? Aber die dachten ja nicht an Frauen und ihren Teint.

Heute abend würden sie über Hüte reden, fiel ihr ein, als sie in ihren neuen Fiat stieg. Das versprach interessant zu werden. Und stand nicht auch dieses fürchterliche Weibsbild Hester Hart zur Debatte?

Erleichtert sah Isabel, Gräfin von Tunstall und Vorstandsmitglied, wie ihr Gatte mit dem Lanchester nach Martyr House, ihrem Landsitz in Kent, abfuhr. Sie hatte schon befürchtet, er hätte zum Dinner bleiben wollen, und das hätte ihr gar nicht gepaßt. Ihr Cousin Hugh war nämlich in der Stadt, und mit ihm als einem Familienangehörigen (und sehr engem Freund) gemeinsam zu speisen, wäre schicklich und obendrein wünschenswert. Er wohnte auf dem Lande in Richmond, und als sie noch nicht ihren Royce hatte, waren die Gelegenheiten zu zählen gewesen, da sie ihn hatte sehen können. Automobile erwiesen sich ohne Zweifel als ausgesprochen nützlich. Niemand würde heute etwas dabei finden, wenn eine Frau ohne Begleitung am Steuer saß. Autofahren galt als Sport, und welcher Art der Sport war, lag im Ermessen des Fahrers. Der Motorclub für Damen war in seiner Satzung sogar soweit gegangen, daß die körperliche Beanspruchung des Autofahrers es rechtfertigte, Motorwagenfahren ausdrücklich und gesellschaftlich tragbar als Sport zu betrachten, so daß man sich folglich des Korsetts entledigen durfte und es erst wieder am Zielort anlegen mußte (es sei denn, man wurde dort von einem intimen Freund erwartet). Isabel gluckste vergnügt vor sich hin, besann sich dann aber, daß so ein Vorkommnis lilienweiße und madonnenhafte Gesichter, die Ruhe und Gelassenheit zur Schau trugen, aus der Fassung bringen würde.

Heute abend war Vorstandssitzung, und Hester Hart, dieses exzentrische Frauenzimmer, stand auf der Tagesordnung. Einen Augenblick fühlte sich Isabel unwohl bei dem Gedanken. Im Club war sie ihr noch nicht begegnet, aber etliche Jahre zuvor hatte man sie Hester vorgestellt – hatte man sie ihr wirklich in aller Form vorgestellt? Sie konnte sich nicht mehr recht erinnern. Was sie noch wußte, war, daß irgend etwas Unangenehmes geschehen war, das etwas mit Seiner Majestät – damals noch Prince of Wales – zu tun hatte. War ja auch egal, von Bedeutung konnte es jetzt wohl nicht mehr sein.

Auguste, schon fertig für den Abend in Frack und mit weißer Binde, sah Tatjana und ihrer Zofe zu, wie sie miteinander rangen, um seine Frau mit großer Abendtoilette herauszuputzen. Es war ein Kampf zwischen Eloise und Tatjana. Die eine wollte die Schönheit ihrer Herrin, aber auch ihr eigenes Können voll zur Geltung bringen, und die andere die Prozedur so rasch wie möglich beenden, um sich wieder interessanteren Seiten des Lebens zuwenden zu können, wie zum Beispiel Automobilen. Er war sich dessen bewußt, daß es den meisten Ehemännern nicht vergönnt war, bei derart intimen Szenen zugegen zu sein, aber es war für ihn eine seltene Gelegenheit, sich mit Tatjana zu unterhalten und gab ihm auch einen faszinierenden Einblick in die tieferen Geheimnisse gesellschaftlichen Rituals. Heute abend war Tatjanas Krönung ein elfenbeinfarbenes Seidenkleid mit breiter Schärpe und farbig bestickten Einsätzen, das Unterkleid aus Satin. Gegen Juwelen, Blüten, Fächer wehrte sich Tatjana, aber er hatte sie eines Besseren belehrt.

»Warum bist du dagegen, daß Hester Hart mit in den Vorstand kommt?« Auguste konnte sich nicht losreißen von dem Anblick. Tatjana war voller Ungeduld und hielt nicht still, während Eloise mit dem Verschluß einer Diamantenkette kämpfte, die angeblich, wie ihm Tatjana einmal beiläufig erzählt hatte, Katharina der Großen gehört haben sollte.

»Du weißt doch auch immer, ob Fleisch oder Fisch schlecht sind, auch wenn Soßen und Gewürze sie noch so verlockend erscheinen lassen. Wie machst du das?«

»Ich habe ein Gespür dafür. Bloßes Gespür ist es natürlich nicht, es hat auch etwas mit Erfahrung zu tun, man kennt schließlich tausend ähnliche Gerichte.«

»Mir geht es nicht anders. Ich kenne viele Engländerinnen. Viele mag ich, viele nicht, entweder rein persönlich oder als Typ. Aber mit Hester Hart ist das anders. Wann immer ich ihr begegne, habe ich ein ungutes Gefühl, Auguste. Sie ist reizend zu mir, man kann ihr zuhören, ohne müde zu werden, sie ist gut anzuschauen, wird überall in London bejubelt, und doch, ich weiß nicht …«

»Ich mag Sie nicht, Dr. Schrumm, ich weiß nur nicht, warum«, half Auguste mit einem Zitat nach.

»Um bei deinen Vergleichen zu bleiben, Auguste, als Gericht ist sie nicht abgerundet genug. Viele Länder hat sie erforscht, Syrien, Irak, Nordafrika und noch mehr, immer allein. Sie hat einen Ruf als unerschrockene Weltreisende. Und jetzt beschließt sie plötzlich, sich in England niederzulassen.«

»London und England haben etliches zu bieten.«

»Aber das Verlangen, sich Gefahren auszusetzen, stirbt nicht so einfach, Auguste. So ein Trieb hält sich und will befriedigt werden.«

»Genau deshalb ist sie zu dir in den Club gekommen«, gab er zu bedenken. »Sie will mit schnellen Automobilen umherreisen, nicht in langen Trecks dahinziehen oder auf Kamelen und Pferden reiten. Sie will ein Raser sein, kein Hasenfuß.«

»Manchmal denke ich, ich habe mehr mit Hortensia Millward gemein als mit meinem Vorstand«, erklärte die Vorsitzende des Clubs. »Warum haben wir zwei Raser auserwählt, die nur Steigungen und Gefälle im Munde führen oder Schmierbuchsen und Godron-Bennett-Pokale, und zwei Hasenfüße, die von Technik keine Ahnung haben, ein Schneckengetriebe nicht von einem Schwanenhals unterscheiden können?«

»Und was für einen Schaden könnte Miss Hart anrichten, wenn sie im Vorstand wäre?«

»Ich weiß nicht. Das ist es ja eben.«

Lustlos legte sich Tatjana das letzte schmückende Beiwerk an. Schon jetzt sehnte Auguste den Moment herbei, da der Abend überstanden und sie wieder daheim sein würden und Tatjana den ganzen Aufputz abbauen konnte.

»Und die Hüte, meine Liebe, die können doch kein Problem sein.«

»Du würdest staunen«, erwiderte seine Frau vielsagend.

Wie konnten sich Frauen nur an solchen Belanglosigkeiten hochziehen, fragte er sich. Aber dann mußte er an Plum’s denken, den Herrenclub, bei dem er mehrere Jahre als Koch tätig gewesen war, und an die leidenschaftlichen Debatten, die es über das alljährliche Ritual der Prozession im Club gegeben hatte. Wenn Männer sich darüber in die Haare geraten konnten, wie eine Schaumgebäcknachbildung von Napoleon zu zertrümmern war, konnte man auch nicht von Frauen erwarten, daß sie sich anders verhielten, wenn es um Hüte ging. Und doch hoffte er nichts sehnlicher als das, denn bei Plum’s hatte es mit einem Mord geendet.

Vorsichtig wagte sich Auguste in die Küche des Clubs vor. Natürlich hatte er alles in sicheren Händen gelassen, aber absolut sicher konnte man ja nie sein, und man tat gut daran, noch mal selbst ein Auge darauf zu werfen. War alles fertig? Die Sauce für die filets de sole, die chiffonade für die consommé, der Hummer à la Mornay, die poularde à la Nantua, poularde Alexandra, die crème Anglaise – ah ja, Pierres Zuckerzange lag noch auf dem Tisch; daraus schloß Auguste, daß auch die Süßspeise bereitet war. Selbst solche Nebensächlichkeiten entgingen ihm nicht. Routine war genauso wichtig wie der schöpferische Akt des Kochens. Oder doch nicht? Pierre war ein hervorragender Koch mit einem feinen Gespür, das nichts mit der üblichen Ausbildung zu tun hatte. Er hatte Auguste erzählt, er hätte im Hôtel Grande in Marseille gelernt, aber Auguste hatte den Verdacht, daß er dort nur kurz gewesen war und daß Pierres phantastisches Gespür für Fisch und Geflügel mehr von den Nebenstraßen der Stadt herrührte als von den Hotels, die im Baedeker aufgeführt waren. Wäre Napoleon irgendwo in der Nähe von Pierre Calille erschöpft am Straßenrand abgestiegen, hätte er ihm ein Gericht serviert, das es mit jedem Hähnchen Marengo hätte aufnehmen können.

»Stimmt was nicht mit der Zunge?« Pierre war neben ihm aufgetaucht und sah Auguste, der in den Eisschrank lugte, mit angespanntem und besorgtem Gesicht an.

»Alles in bester Ordnung, Pierre«, erwiderte Auguste rasch. Pierre tat sich schwer mit Kritik. Und wer sollte auch an der herrlich roten Zunge mit der großartigen Komposition pikanter Gewürze etwas aussetzen wollen? »Ich dachte nur gerade an Napoleon.«

»Ach so!« Pierres Gesichtszüge entspannten sich. »Ein großer Mann aus dem Volk.«

Im Interesse des Dinners verkniff es sich Auguste zu fragen, ob die Völker Italiens, Ägyptens, Deutschlands, Polens, Rußlands und so weiter mit einer solchen Bewertung auch einverstanden wären.

»Man sagt, Sie seien in Fragen Mord sehr erfahren, Monsieur«, fuhr Pierre fort. »Glauben Sie, die Briten haben ihn wirklich vergiftet, wie es heißt?«

Seltsam, kaum hatte sich einem ein unliebsamer Gedanke im Kopf eingenistet, hakte sich jeder und alles immer wieder daran fest. »Nein. Den Engländern hätte seine Ermordung nichts gebracht; sie sind eine erbarmungslose, aber praktisch denkende Nation. Es sei denn«, fügte Auguste fairerweise hinzu, »ihre Leidenschaft wird durch ein banales Vorkommnis entfacht.«

So etwas Triviales wie Vorstandssitzungen und Hüte, und dabei meldete sich wieder der unliebsame Gedanke an Mord. Oder eine Hester Hart.»Gibt es sonst noch etwas?« Tatjana hatte von vornherein nur eine minimale Denkpause einkalkuliert und wollte möglichst rasch zu den Sicherheitsfragen für den Dolly Dobbs übergehen. Das war ihr nicht vergönnt.

»Was ist mit dem Hut?« schoß Lady Bullinger prompt los. »Die beste Lösung ist eine Männermütze, so eine wie ich trage. Man kann auch mühelos unser Abzeichen daran feststecken.«

Tatjana schwammen die Felle weg. Sie mochte Maud gut leiden, aber sie hatte ein gewaltiges Temperament und war schwierig im Umgang. Zum Glück war sie zu vielen Rennen unterwegs, so daß sie den Club nicht so oft mit ihrer Anwesenheit beglücken konnte, wie sie gern gewollt hätte. Ihr Mann, Sir Algernon, sah das offensichtlich mit Wohlgefallen, vermutlich aus ähnlichen Gründen.

»Aber an einer Mütze kann man schlecht einen Schleier befestigen, Maud«, warf Agatha ein.

»Wer braucht denn einen?«

Tatjana gab sich alle Mühe, nicht zu auffällig Lady Bullingers von Wind und Wetter gezeichneten Teint anzuschauen.

»Warum nicht etwas wirklich Großes, das auch den Regen abhält, mit breitem Rand, Blumen und vielleicht auch Federn in Form von kleinen Autos«, schlug Phyllis strahlend vor.

»Wir würden wie Drachen im Wind abheben, Phyllis«, gab Agatha freundlich zu bedenken.

Schon stellte sich Tatjana das erheiternde Bild vor, wie ihr Vorstand in die Lüfte entschwand und für immer oben auf einer Wolke blieb. Jedes Mitglied einzeln genommen konnte ganz vernünftig sein, aber mit allen zusammen waren kaum Entscheidungen zu treffen, das war ähnlich schwierig wie bei Auguste, wenn der über einem neuen Rezept brütete.

»Nicht, wenn der Hut oben spitz zugeht.« Isabel ging allen Ernstes auf den Vorschlag ihrer Hasenfußgefährtin ein.

»Wie soll denn da noch das Abzeichen dranpassen!« Maud hämmerte auf den Tisch. »Wir brauchen eine Mütze. Ich kann meine sogar über die Ohren ziehen.«

»Ich brauche meine Ohren nicht zu verstecken«, verkündete Isabel und berührte leicht eins ihrer Ohren, um die anderen darauf aufmerksam zu machen, wie klein und niedlich sie waren.

»Willst du damit sagen, ich hätte große Ohren?« donnerte Maud aufgebracht los.

»Wie wäre es mit einem Dreispitz?« schlug Agatha vor. »So was ist modern, und ein Schleier ließe sich auch drumbinden.«

»Wie umgedrehte Weihnachtspäckchen würden wir aussehen«, gluckste Phyllis vergnügt.

Die Herzogin strafte sie mit einem verächtlichen Blick. »Dann bin ich für Mauds Mütze.«

»Aber du hast doch schöne Ohren«, sagte Isabel unschuldig.

»Und was haltet ihr von einer Schottenmütze?« fragte Tatjana rasch, die sah, daß Maud am Explodieren war.

»Sehr sportlich«, stimmte Agatha ihr zu.

»Ich will nicht sportlich, sondern hübsch aussehen«, erklärte Phyllis.

Wenn gar nichts hilft, muß man das Thema wechseln, fuhr es Tatjana durch den Kopf. Die Stimmung wurde immer gespannter; es war schlimmer, als sie befürchtet hatte, das konnte nicht nur an den Hüten liegen. »Da ist noch der Vorschlag eingebracht worden, daß man Miss Hester Hart, einer Frau von internationalem Ruf, antragen sollte, Mitglied des Vorstands zu werden.«

Sofort herrschte Stille. Vier Vorstandsmitglieder betrachteten angelegentlich Tintenlöscher und Papier vor sich auf dem Tisch.

Sie würde also mit ihrer Meinung vorpreschen müssen. Tatjana gab sich einen Ruck. »Rein vom Prinzip her halte ich es nicht für sinnvoll, ein neues Mitglied gewinnen zu wollen, solange wir uns selbst noch nicht als wirksamer Vorstand erwiesen haben.«

»Eine Frau, die so im Licht der Öffentlichkeit steht wie sie, kann dem Club nur dienlich sein.« Phyllis hatte von allen die geringsten Skrupel, als erste zu sprechen. »Es heißt, Ellis & Walery würden eine Postkarte von ihr in arabischer Nationaltracht herausgeben, und mein lieber Roderick sagt, sie sei eine bemerkenswerte Frau.«

»Du mußt sie nicht gerade für bemerkenswert gehalten haben, als du vergangenes Jahr für ›The Ladies’ Companion‹ einen Artikel beigesteuert hast, in dem es um die Rolle der Frau ging; die wahre Aufgabe der Frau, hieß es da, bestünde darin, den Männern Beistand zu gewähren und ihnen zu gefallen, und daß Frauen, die auf Kamelen und Pferden durch die Wüste galoppierten, nichts Frauliches an sich hätten.« Isabel konnte penetrant sein.

»So was habe ich nie gesagt«, jammerte Phyllis. »Jemand anders hat das für mich zusammengeschrieben.«

»Dem Club tun ein paar wirklich gute Chauffeure not, solche wie Miss Hart«, trompetete Lady Bullinger, »und nicht solche, die sich nicht in ihr Automobil wagen, wenn sich diesseits des Äquators eine Wolke am Himmel zeigt.«

»Ich muß an meinen Teint denken«, wehrte sich Phyllis weinerlich, die sich von der Patentante ihres geliebten Roderick schwer attackiert sah.

»Muß an der vielen Bühnenbeleuchtung liegen«, murmelte Agatha. »Ein bißchen unrein ist er ja.«

Phyllis starrte wütend vor sich hin. »Ich stimme für den Vorschlag.«

»Ich nicht«, sagte Isabel. Ihr war gerade eingefallen, wie Miss Harts Pläne für das diamantene Regierungsjubiläum von Queen Victoria 1897 ihre eigenen durchkreuzt hatten, und ausgerechnet dieser Dame jetzt zu einer Machtposition zu verhelfen, war das letzte, was sie wollte.

»Ich stimme dafür«, verkündete Lady Bullinger edelmütig. »Man sollte der Frau eine Chance geben.«

»Kennst du sie?« fragte Tatjana neugierig. Sie hatte den Eindruck, daß bei den wenigen Anlässen, zu denen Hester in den Club gekommen war, Maud geradezu mit Vorsatz versucht hatte, sie zu meiden.

Trotzig saß Lady Bullinger da. »Jedenfalls gut genug.« Sie räusperte sich, wie um zu verstehen zu geben, daß für sie die Debatte abgeschlossen war.

»Ich stimme dagegen«, erklärte Agatha. »Ich fürchte, das Interesse der Öffentlichkeit würde sich mehr auf sie konzentrieren und weniger auf die Automobile.« Dabei dachte sie in erster Linie an den Dolly Dobbs. »Damit bleibt die entscheidende Stimme bei Ihnen, Eure Hoheit.«

Tatjana ließ sich nicht gern mit »Eure Hoheit« anreden, hatte lieber das »Mrs. Didier«; nur zögernd beugte sie sich den allgemeinen Regeln und ließ es wenigstens bei offiziellen Anlässen wie im Club geschehen. Auch wurde sie ungern in solch eine Entscheidungssituation gedrängt. »Ich stimme mit ›nein‹.«

»Ich glaube nicht, daß Hester das gutheißen wird.« Phyllis wirkte plötzlich nervös.

»Sie wird es nicht erfahren, wenn es ihr nicht jemand zuträgt«, meinte Isabel beruhigend.

»Es wird doch wohl niemand interne Vorstandsangelegenheiten ausplaudern«, warnte Tatjana bestimmt.

»So was hat’s schon gegeben«, murmelte Agatha.

»Wem die Jacke paßt«, grollte Maud, und Agatha geriet in Wut.

»Das erinnert mich an etwas, kommen wir noch mal auf die Sache mit dem Hut zurück«, ergriff Tatjana rasch das Wort. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber Auguste hatte einmal gesagt, man könne es förmlich riechen, wenn sich etwas Ungutes zusammenbraut; er hatte es mit dem Geruch von Knoblauch und anderen Gewürzen verglichen, der sich beim Braten in der Küche verbreitet.

Der Speisesaal im Motorclub für Damen war luxuriös, licht und luftig, keineswegs so, wie Auguste es von vielen Herrenclubs her kannte. Er hatte ihm auf den ersten Blick gefallen. Mit den blaßgrünen Wänden, klassizistischen Robert-Adam-Kaminen und eleganten Säulen war es das rechte Ambiente für Menüs à la Didier.

Vor der Eröffnung des Clubs im März hatte es um das Arrangement der Stühle lange Diskussionen gegeben. Sollte man eine große Tafel stellen oder lieber einzelne Sitzgruppen? Schließlich hatte man sich auf einen Kompromiß geeinigt, eine gemeinsame große Tafel zum Lunch und Einzeltische abends, so daß Damen, die keine Herrengesellschaft wünschten, auch ungestört unter sich sein konnten. Das Prinzip, von Männern unbehelligt zu bleiben, war leicht durchbrochen worden, denn als ständigen Oberkellner des Hauses hatte man einen Mann akzeptiert, wohingegen all seine Untertanen weiblichen Geschlechts waren. Ein Restaurant war in erster Linie ein gesellschaftlicher Treffpunkt, kein Tagungsort für Diskussionen um Auto und technisches Detail; in diesem Punkt war man sich einig gewesen, und etwaiger Widerstand schwand dahin, als Luigi sich als Bewerber für das Amt vorstellte. Augen mit einem Schmelz so sanft wie Butter in einer sauce hollandaise hatte Tatjana ihn Auguste beschrieben, den aber beeindruckte weit mehr Luigis Geschick für Diplomatie. Inzwischen war er eine ebenso unentbehrliche Stütze wie die kannelierte Säule in der Mitte des Saales.

Doch dieses Schmuckstück hatte auch seine Schattenseiten, und die blieben Auguste nicht verborgen. Luigi brauchte nur Pierre zu sehen, und die feuchten Augen wurden hart wie Stein, alle Diplomatie war vergessen. Pierre war bloß bäuerlicher Herkunft, während Luigi Peroni offensichtlich einer Familie entstammte, die eng mit den früheren Herzögen Mailands liiert war. Ob dieses Verhältnis den kirchlichen Segen hatte und welche Gründe den Sproß eines adligen Hauses zwangen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wußte niemand. Luigi verlor nie ein Wort darüber. Beredt waren nur die feuchten Augen. Tatjana verglich sein Schicksal Auguste gegenüber mit der Maus in Lewis Carrolls bekanntem Kinderbuch und meinte, Luigi hätte wie das arme Geschöpf eine lange und traurige Lebensgeschichte.

Die Fehde zwischen Küche und Restaurant war der Grund dafür, daß Auguste darauf bestand, in Reichweite der Küche zu sitzen. Wenn neuen Mitgliedern des Clubs zum ersten Mal aufging, daß der Koch zusammen mit ihrer Präsidentin speiste, sahen sie ihn scheel von der Seite an, und wenn sie später hinter die Beziehungen zwischen den beiden kamen, trafen Tatjana mitleidsvolle Blicke. Allmählich lernte man, die Situation zu akzeptieren. Da Seine Majestät die Einheirat eines Kochs in die königliche Familie gutgeheißen hatte, mußten sie wohl auch ein Dinner in seiner Gesellschaft ertragen können.

»Die Sauerampfersauce hätte ich selbst zubereiten sollen«, stellte Auguste plötzlich fest.

»Auguste, sie ist perfekt. Ich weiß es.« Tatjana seufzte.

»Wie willst du es wissen, ohne sie gekostet zu haben?« Auguste war schon halb aufgestanden, aber mit sich uneins. Sollte er doch lieber sitzen bleiben?

»Weil alles, was du kochst, perfekt ist, und wenn du sie deinem Meisterkoch zutraust, muß sie einfach gut sein.«

Er überdachte ihr Argument. »Aber hast du das eine Mal vergessen, als ich ihm die Rhabarbersauce überließ, und wie sie dann nur wie abgestandenes Wasser schmeckte?«

»Das war ein unglückliches Zusammentreffen von Ereignissen. Niemand konnte ahnen, daß dein Küchenas gerade im kritischen Moment dahinterkommen würde, daß seine Frau sich den Fleischer zum Liebhaber auserkoren hatte.«

»Ich kann mir nicht helfen, ich fürchte trotzdem, da geht etwas schief.« Unruhig setzte er sich wieder hin.

»Wenn, dann nicht mit deiner Kocherei. Eher passiert etwas wegen der Hüte. Phyllis plädierte für einen hohen Romney-Hut, der auf ihren goldenen Locken thronen sollte, und Isabel und Agatha zogen mit. Wenn wir darum noch die Schleier binden, werden wir wie in Weiß gehüllte Schornsteinkappen aussehen. Maud ist außer sich.«