8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Es ist schon seltsam für Auguste Didier, nicht in seiner Eigenschaft als Koch, sondern als frischgebackener Ehemann der russischen Prinzessin Tatjana Manjowskaja auf Tabor Hall in Yorkshire zu einer Verlobungsfeier geladen zu sein, an der auch der vor kurzem gekrönte König Edward VII. teilnehmen wird. Lady Priscilla Tabor hat allerdings eine befremdliche Sitte in ihrem Haus eingeführt: Um ihre kostbaren Tapisserien nicht zu beschädigen, müssen sich die Gentlemen zum Rauchen in einen Pavillon im Park zurückziehen. Es geht das Gerücht unter den Damen, dass die Herren dort auch recht pikante Gemälde bewundern könnten. Spätnachts stolpern Tatjana und ihr Vetter auf den Stufen des geheimnisvollen Bauwerks beinahe über eine Leiche. Wer ist der Tote?
Ein neuer Fall für Meisterkoch und Detektiv Auguste Didier.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 442
Amy Myers wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.
In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.
Es ist schon seltsam für Auguste Didier, nicht in seiner Eigenschaft als Koch, sondern als frischgebackener Ehemann der russischen Prinzessin Tatjana Manjowskaja auf Tabor Hall in Yorkshire zu einer Verlobungsfeier geladen zu sein, an der auch der vor kurzem gekrönte König Edward VII. teilnehmen wird. Lady Priscilla Tabor hat allerdings eine befremdliche Sitte in ihrem Haus eingeführt: Um ihre kostbaren Tapisserien nicht zu beschädigen, müssen sich die Gentlemen zum Rauchen in einen Pavillon im Park zurückziehen. Es geht das Gerücht unter den Damen, dass die Herren dort auch recht pikante Gemälde bewundern könnten. Spätnachts stolpern Tatjana und ihr Vetter auf den Stufen des geheimnisvollen Bauwerks beinahe über eine Leiche. Wer ist der Tote?
Ein neuer Fall für Meisterkoch und Detektiv Auguste Didier.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlag.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Amy Myers
Mord im Pavillon
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Elga Abramowitz
Inhaltsübersicht
Über Amy Myers
Informationen zum Buch
Newsletter
Anmerkung der Autorin
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Anmerkungen
Impressum
Ich stehe tief in der Schuld bei meinen Freunden Ned und Marion Binks, durch die ich nicht nur Settle und Yorkshire kennen- und liebenlernte, sondern die auch ohne ein Wort der Klage auf der Suche nach einem passenden Ort für Tabor Hall mit mir durch Regen und Schnee trabten. Die Geographie von Malham wurde leicht verändert, um sie den Erfordernissen des Romans anzupassen.
Den Titel dieses Buches verdanke ich einem Besuch in Levens Hall in Lancashire, wo ich den reizenden Raucherpavillon für diejenigen sah, die dem Laster des Tabakgenusses frönen, und ich bedanke mich bei der Nachlaßverwaltung von Levens für die Erlaubnis, dieses Wort verwenden zu dürfen. Levens Hall hat keine Ähnlichkeit mit dem Tabor Hall dieses Romans, und Priscilla Tabors Raucherpavillon sieht dem von Levens Hall auch nicht ähnlich.
Dot Lumley, mein literarischer Agent, und Jane Morphy, meine Redakteurin, waren wie gewöhnlich die Felsen von Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit, auf die ich bauen konnte, und ich bin ihnen für ihre Unterstützung außerordentlich dankbar.
Die Farbe Schwarz ist ein großer Gleichmacher. Die Gäste unterschieden sich nur durch die sonderbaren Silhouetten, Produkte der gerade in Mode gekommenen, alle vorderen Körperrundungen wegdrückenden Korsetts. Bei genauerem Hinsehen hätte man vielleicht Unterschiede in der Paßform der tiefschwarzen, bei Hof vorgeschriebenen Samtanzüge und der nicht ganz so anspruchsvollen Traueranzüge aus feinem Tuch entdecken können, und zwischen den Crêpe-de-Chine-Kleidern und den etwas bescheideneren Seidenroben der Damen. Aber schließlich war nach dem erlesensten Vierzehn-Gänge-Festmahl, das Küche und Keller von Marlborough House zu bieten vermochten, niemand sehr an einer eingehenderen Prüfung interessiert. Dies hier war schließlich eine Hochzeit.
»Ah, Auguste.«
Wenn Auguste Didier eine Bestätigung dafür gebraucht hätte, daß die aufregende Zeremonie, die gerade hinter ihm lag, kein Traum, sondern Wirklichkeit war, wäre die etwas allzu herzliche Begrüßung Seiner Majestät König Edwards VII. eine gewesen. Es kam nicht jeden Tag vor, daß ein Bürgerlicher, und noch dazu ein Koch, eine wenn auch entfernte Anverwandte der königlichen Familie heiratete.
»Eure Majestät?« Auguste verbeugte sich.
Der König atmete insgeheim auf. Der Bursche wußte gottlob immer noch, wo er hingehörte. Mit einem unbehaglichen Gefühl erinnerte er sich nun, daß er bei ihrem ersten Konflikt einen Kompromiß hatte eingehen müssen. Nachdem er Tatjana großmütig erlaubt hatte, diesen Mann zu heiraten, hatte er natürlich erwartet, daß die beiden ein paar Jahre warten würden, bis die Hoftrauer für Mama vorüber war. Man hatte ihm sehr höflich klargemacht, daß Warten nicht auf der Speisekarte dieses Kochs stand. Auguste hatte sich mit einer Heirat im Juli einverstanden erklärt, kurz bevor die tiefe Trauer von der Halbtrauer abgelöst wurde, ob es Seiner Majestät nun gefiel oder nicht. Natürlich gefiel es ihm nicht. Eine Hochzeit in Schwarz bedeutete, daß nicht getanzt werden durfte, und da das Hochzeitsfrühstück im Marlborough House stattfinden mußte, würde keine Alice Keppel anwesend sein, und er konnte auch mit keiner anderen angenehmen Ablenkung rechnen.
Außerdem mußte sich der Bursche seine königlichen Sporen erst noch verdienen, wenngleich Seine Majestät sich darüber im klaren war, daß dieser Meisterkoch ihm in der Vergangenheit hervorragende Dienste erwiesen hatte, und nicht nur in Form von vorzüglich zubereiteten Hammelkoteletts. Er hatte nicht die Absicht, ihm jetzt schon seine Gnade zu bezeugen. Huldvoll lächelte er seinem neuen entfernten Verwandten zu. »Sehr gute Predigt, nicht wahr?«
Auguste konnte sich kaum mehr auf das besinnen, was im St. James Palace vor sich gegangen war; er wußte nur noch, daß ihm ein mitfühlender Diener, der sein kalkweißes Gesicht sah, im Audienzzimmer die Initialen von Henry VIII. und Anne Boleyn gezeigt hatte, in der Hoffnung, ihn dadurch etwas ablenken zu können. Doch Auguste hatte nur überlegt, ob Annes unglückseliges Geschick nach ihrer Einheirat in die königliche Familie vielleicht auch seins werden könnte, weil er so kühn gewesen war, in eben der Kapelle zu heiraten, in der die verstorbene Königin mit ihrem geliebten Albert getraut worden war. Der Rest war in Nebel untergegangen.
»Ich erinnere mich nicht, Sir«, bekannte er tapfer.
Der König lachte laut. »Sehr begreiflich«, sagte er strahlend, erleichtert darüber, daß Auguste offenbar nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch ein Mensch war.
Kühn geworden, beging Auguste eine Torheit. »Wie ich höre, werden wir uns im September auf Tabor Hall treffen, Sir.«
Seine Majestät runzelte die Stirn. Zu Augustes Pech beschwor Tabor Hall unangenehme Erinnerungen herauf.
»Eine ziemliche Veränderung, nicht wahr? Diesmal werden Sie nicht kochen, und sicher niemals wieder«, bellte er.
Auguste zuckte zusammen. Hatte er richtig gehört?
»Jedenfalls vorläufig nicht«, sagte der König, überrascht, daß er das betonen mußte. »Es wäre nicht gut.«
Auguste hielt dem Blick seines Monarchen tapfer stand. »Das kann ich nicht versprechen, Sir.«
Das Gesicht Seiner Majestät verfinsterte sich. Dann besann er sich, daß dies eine Hochzeit war und Jovialität angezeigt war. Er erblickte den Inspektor von Scotland Yard, den Auguste unbedingt hatte einladen wollen. Und das frischte sein Gedächtnis auf.
»Aber auf jeden Fall keine Morde mehr. Einverstanden?«
In diesem Punkt war Auguste völlig einer Meinung mit ihm. Er nickte. »Aber gewiß, Sir.«
Besuche auf Landsitzen haben viele Schattenseiten, überlegte Auguste mißgestimmt, während er vor dem Bahnhof Settle nervös auf und ab ging. Eine dieser Schattenseiten war die Midland-Eisenbahn. Zweimaliges Umsteigen und die Notwendigkeit, auf dreißig Gepäckstücke aufpassen zu müssen, hatten diese ganze Yorkshire-Angelegenheit noch deprimierender gemacht. Es war trübe, kalt und regnerisch, und die grauen Steinwände ringsum trugen auch nicht gerade dazu bei, seine Stimmung zu heben.
Das tat nicht einmal der Anblick von Tatjanas strahlendem Gesicht, als sie, groß und schlank, in dunkelroter, von den Trauervorschriften gnädig gestatteter Zibeline, auf den Kofferberg zuschritt und wie durch ein Wunder Ordnung in das Chaos brachte.
»Alors, Auguste, du siehst aus wie der Bräutigam, dessen Wein sich in Wasser verwandelte.«
»Offenbar lebte der in Yorkshire«, erwiderte Auguste, während ein dicker Regentropfen, Hut und Mantelkragen geschickt ausweichend, triumphierend an seinem Hals hinunterlief.
»Du machst dir nichts aus Regen?« fragte Tatjana erstaunt. Interessiert betrachtete sie diese neue Umgebung, die keine Ähnlichkeit mit ihrem heimatlichen Paris hatte.
»Nein. Aber ich mache mir was aus Kochen. Der Status eines Gentleman verbietet mir offenbar, das zu tun, was ich gern tue, und zwingt mich, das zu tun, woran mir nichts liegt.«
»Es ist doch nur für vier Tage«, sagte Tatjana tröstend, als er ihr in die Kutsche der Tabors half. »Vier Tage hier.« Ihre Augen strahlten so begeistert wie die des Cortez, als er auf den Stillen Ozean blickte.
Eine Ewigkeit! fand Auguste. Vom Freitag, dem 27. September, bis zum Montag, dem 30. September, würden sie sich auf Tabor Hall aufhalten, das irgendwo in diesen wilden dunklen Bergen lag, die sich drohend gegen einen bewölkten Himmel abzeichneten, um die Verlobung der Ehrenwerten Miss Victoria Tabor mit Tatjanas Cousin Alexander Tully-Rich zu feiern. Tatjana war offenbar mit dem größten Teil des im Gotha aufgeführten Adels verwandt. Als sie ihm zuerst von der Einladung erzählt hatte, war ihm das Ganze völlig harmlos erschienen. Eine böse Vorahnung war ihm erst gekommen, als er erfuhr, daß auch der König anwesend sein würde, denn er war sich bewußt, daß dieser Besuch sehr wohl die Probe dafür sein könnte, ob er der Ehre würdig sei, als Gentleman bezeichnet zu werden. Einem Chefkoch, selbst wenn ihn Monsieur Escoffier in höchsteigener Person ausgebildet hatte, konnte natürlich nicht automatisch Zugang zu einem so gehobenen Status gewährt werden. Jedenfalls nicht in England.
Mit einiger Befriedigung dachte er an seinen Sieg in der Küchenschlacht mit Seiner Majestät zurück – oder, wenn er aufrichtig war, das Unentschieden. Ganz vorsichtig hatte er Seine Majestät an die in Armagnac geschmorten Ortolane erinnert, an die poularde Derby und die zahllosen anderen Gourmet-Gerichte, die er in der Vergangenheit für ihn zubereitet hatte. Der König hatte den springenden Punkt sehr scharfsinnig erfaßt. Auguste durfte zu wohltätigen Zwecken kochen, durfte Galadinners in den Häusern von Freunden überwachen, und er mußte kochen, wenn der König erscheinen würde. Im Ausland, außerhalb des Reichs Seiner Britischen Majestät, durfte er ohnehin tun, was er wollte. Das war nicht viel, aber es war immerhin etwas.
»Ich könnte sagen, ich will dich bei mir haben«, überlegte Tatjana hoffnungsvoll, »dann brauchst du nicht mit zur Jagd.«
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte Auguste mit dumpfer Stimme. »Kein englischer Gentleman würde lieber bei seiner Frau bleiben, als zur Jagd gehen.«
»Du bist nur zur Hälfte Engländer«, erinnerte ihn Tatjana. »Denk doch an die Wildpasteten, die du zubereiten wirst.«
Auguste zog es vor, nicht daran zu denken. Brillat-Savarin hatte zwar erklärt, der Fasan sei ein Rätsel, dessen Köstlichkeit nur ein wahrhaft geschulter Gaumen zu würdigen vermöge, doch er hatte zu viele Erinnerungen an Stockbery Towers, wo die Speisekammer von abgehangenen Wildvögeln, Fasan à la financière, Fasanenpastete, Fasanensuppe, Fasan à la Marena, Fasanensülze, Fasanenfilet und allen anderen Fasanengerichten überquoll, bis es in seinen Träumen von hämisch glotzenden Fasanen wimmelte, die in seiner geliebten Küche Amok liefen und sich in seiner Speisekammer vermehrten.
Seine Abneigung, an der unvermeidlichen Jagd auf Tabor Hall teilzunehmen, hatte jedoch andere, weniger edle Gründe. Seine bisherigen Jagderfahrungen beschränkten sich auf einen gelegentlichen Hasen in den Bergen seiner heimatlichen Provence, und das befähigte ihn wohl kaum, es mit den besten Schützen unter Lord Tabors Gästen aufzunehmen. Der plötzlichen glücklichen Erinnerung, daß die Saison für Fasanenjagden ja erst am 1. Oktober begann, folgte sogleich der weniger erfreuliche Gedanke, daß Rebhühner, Hasen, Kaninchen und Wasservögel den Gästen der Tabors als Jagdziele sicher durchaus annehmbar erscheinen würden, während alles dem großen Tag entgegensah.
»Ich könnte ja sagen, daß Mr. Marx etwas gegen die Jagd hatte«, schlug Tatjana vor, der plötzlich diese Erleuchtung kam.
Auguste war nicht so begeistert über ihren Vorschlag. Karl Marx stand für Tatjanas jüngste Exkursion in neue Welten, die ihr als russischer Prinzessin in Paris bisher versperrt geblieben waren.
»Stimmt das?«
»Nein, aber die Tabors wissen das ja nicht.«
Er zwang sich zu einem Lachen. »Ich werde sagen, daß mich die Vorbereitungen für die cuisine Seiner Majestät den ganzen Tag in Anspruch nehmen.«
»Und stimmt das?«
»Nein, aber die Tabors wissen das ja nicht.«
Wieder gutgelaunt, verzichtete er darauf, sich wie ein englischer Gentleman zu benehmen, und hielt die Hand seiner Frau in seiner, während die Kutsche schließlich losrollte.
»Das ist ein Abenteuer, nicht wahr, mon brave?« sagte Tatjana entzückt, als sie die zum Bahnhof führende Straße hinunterrumpelten und bald darauf die Hauptstraße der Stadt entlangfuhren, in der sich buntgekleidete Einwohner drängten. Auguste erspähte in der Ferne lebhaftes Jahrmarktstreiben, und plötzlich erschien ihm Settle als der reizvollste Ort auf Erden. Aber bald bogen die Pferde auf einen Weg ein, der zwischen den Kalksteinhäusern und Läden von Over Settle steil bergan führte. Er wurde immer schmaler, die Zivilisation blieb hinter ihnen zurück, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
»Es geht alles glatt, George. Wie könnte es anders sein?« versicherte Priscilla, Lady Tabor, im Brustton der Überzeugung. »Ich habe alles für den Besuch Seiner Majestät vorbereitet.« Sie gab damit zu verstehen, und das durchaus zu Recht, daß nur ein tollkühner, böswilliger Gott es wagen könnte, ihre Vorkehrungen zu vereiteln. Ihr dunkelrotes Seidenkleid umrauschte beifallspendend ihre junonische Gestalt.
»Bitte erinnere dich, Mutter, das Ganze war nicht meine Idee«, sagte Victoria lebhaft. Eine Verlobungsfeier, bei der verstaubte Hofetikette herrschte und, was noch schlimmer war, Schwarz getragen werden mußte aus Rücksicht auf die Trauer des Königs um seine Mutter und seine Schwester – übrigens war auch der amerikanische Präsident McKinley kürzlich ermordet worden –, war weit entfernt von dem idyllischen Rosenfest, das sie und Alexander sich erträumt hatten.
Lady Tabor wandte sich an ihre Tochter. »Die meisten jungen Damen wären außer sich vor Glück, wenn Seine Majestät bei ihrer Verlobungsfeier anwesend wäre, Victoria.«
»Wenn Alexander bei mir ist, kümmert mich doch das alles nicht.«
»Deine Mutter hat recht, Victoria«, warf Lord Tabor mit einem Seitenblick auf seine Frau nervös ein.
»Aber George, sei doch nicht so altmodisch.« Georges Mutter Miriam legte es wie gewöhnlich darauf an, ihre Schwiegertochter zu ärgern. »Victoria hat ganz recht. Liebe bedeutet mehr als Kronen.«
Priscilla Tabor erstarrte. Ihr war klar, daß sie sich auf gefährlich glattem Parkett bewegte. Sie war eine der vielen reichen amerikanischen Erbinnen gewesen, die nach England gekommen waren, um dort Liebe zu finden, vorausgesetzt, daß diese Liebe mit einem Titel und, wenn möglich, auch mit Brillanten einherging. Der große Festsaal von Tabor Hall konnte zwar nicht mit der Kuppeldecke und den Wandgemälden von Marlborough House konkurrieren, doch Priscilla Tabor hatte ihr Bestes getan, die fünfhundertjährige Geschichte der Tabors in Wandteppichen, altersdunklen Ölgemälden und Aquarellen solchen Gästen vorzuführen, die ihre belehrenden Ausführungen zu diesem Thema bei Gesprächen bisher überhört hatten.
»Ich habe sehr, sehr schwer gearbeitet, Victoria«, sagte sie vorwurfsvoll zu ihrer Tochter, »um deine gesellschaftliche Stellung mit diesem Triumph zu krönen.«
»Und deine, Mutter.« Alfred, der sich auf einem Chesterfield-Sofa rekelte, war stets geneigt, auf den Wagen der siegreichen Partei aufzuspringen, vorausgesetzt, er konnte einigermaßen sicher sein, daß dieser nicht plötzlich umstürzte und ihn unter sich begrub.
»Mutter, es hat drei Monate gedauert, den ganzen Westflügel für den Besuch des Königs zu renovieren und neu einzurichten. Und das alles für zwei Nächte«, sagte ihre Tochter ein wenig gereizt. »Was wäre denn gewesen, wenn sich die Königin entschlossen hätte, ebenfalls zu kommen?«
»Dann hätte ich ein blasseres Rosa gewählt«, erwiderte ihre Mutter ernst. Niemand getraute sich zu lachen. Man lachte nicht über Priscilla.
»Schließlich«, bohrte Victoria weiter, »kann der König auch nur in einem Bett schlafen.«
»Das stimmt nicht ganz, meine Liebe«, sagte ihre Großmutter unschuldig. »Auf Bitten Seiner Majestät hat Priscilla Mrs. Janes eingeladen.«
»Wir müssen seine Kammerdiener, seine Lakaien, seine Sekretäre unterbringen«, sagte Priscilla laut, um die Kontrolle zurückzugewinnen. »Und außerdem noch zwei Leibwächter, die hier natürlich überflüssig sind.«
»Aber gottlob nicht sein Küchenpersonal«, warf Victoria ein, die mit Fleiß auf die seidenbestrumpfte Achillesferse ihrer Mutter zielte. »Dafür kommt ja Mr. Didier.«
Auguste war Priscillas gesellschaftliches Hauptproblem. England war schließlich nicht Amerika. Wie benahm man sich einem Verwandten der königlichen Familie gegenüber, der strenggenommen zur dienenden Klasse gehörte? Und der diese Tatsache nicht etwa herunterspielte, sondern sie stolz vor allen herausstellte, indem er, offensichtlich mit dem Segen Seiner Majestät, für den König zu kochen begehrte? »Wir können von Glück sagen, daß Breckles es freundlich aufgenommen hat.«
»Breckles hat nur deshalb gute Miene zum bösen Spiel gemacht, weil er glaubt, er kann mit jedem Koch aus diesem verdammten London fertig werden, wenn es sein muß. Er freut sich schon darauf«, rief Victoria fröhlich.
»Unsinn.« Priscilla weigerte sich entschieden, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, es könnte in den unteren Regionen von Tabor Hall Ärger geben, wo doch alle Beteiligten sich für das Wohlergehen der Tabors einzusetzen hatten. »Kein Grund zur Sorge. Meinst du nicht auch, Laura?« Sie erwartete Unterstützung von ihrer Schwägerin, die während des Wortgeplänkels ruhig einen Brief gelesen hatte.
»Sie ist ganz versunken in diesen Schrieb von Rauhbein Robert. Er kommt herbeigeeilt, jetzt, da er in aller Munde ist, um sie um ihre Hand zu bitten. Armer alter Olly, nicht wahr?« sagte Alfred spöttisch.
Hastig legte Laura den Brief beiseite. »Zufällig irrst du dich, Alfred. Der Brief ist nicht von Mr. Mariot. Er ist von Mr. Carstairs, der mir schreibt, daß er nicht erst morgen, sondern schon heute mit Alexander hier eintreffen wird.«
»Aber wirklich, Laura.« Priscilla war empört. »Du könntest etwas Rücksicht auf die Stubenmädchen nehmen.«
»Oliver würde nie wagen, sie unter deinem Dach zu verführen, Priscilla«, versicherte ihr Miriam.
»Mutter!« sagte Laura warnend, als sie sah, wie Priscillas mächtiger Busen schwoll.
»Um die Mädchen brauchst du dir doch keine Sorgen zu machen, wenn Tante Gertie anwesend ist«, warf Alfred provozierend ein.
»Ruhe.« Der Ton seiner Mutter brachte ihn sofort zum Schweigen. Man durfte es mit ihr nicht zu weit treiben, denn sie hatte die Hand auf dem Portemonnaie, und in letzter Zeit brauchte er immer häufiger einen Zuschuß daraus.
»Sie ist verdammt attraktiv«, lautete Georges unvorsichtiges Urteil über die neue Frau seines Bruders.
»Als Revuetänzerin mußte sie das sicherlich auch sein«, sagte Priscilla. »Aber nun, da es ihr gelungen ist, Cyril zu heiraten, sind andere Eigenschaften gefragt.«
»Welche?« erkundigte sich Victoria.
»Sie hat keine Ahnung von Petit-Point-Stickerei.«
»Bedauerlich«, stimmte Laura ihrer Schwägerin zu.
Priscilla sah sie argwöhnisch an, entdeckte jedoch nichts in Lauras Gesichtsausdruck, worüber sie sich hätte beklagen können. Also fuhr sie ihr schwerstes Geschütz auf. »Außerdem höre ich, daß ihr Cyril das Rauchen erlaubt hat.«
Betretenes Schweigen. Victoria brach es mit der Verwegenheit eines jungen Mädchens, das in Kürze dem elterlichen Nest entflieht. »Dann wird’s ja eine Menge Spaß im Raucherpavillon geben. Oder lockerst du etwa die Vorschriften für Seine Majestät, Mama?«
Bevor Priscilla antworten konnte, gab es draußen einen lauten Knall.
»Was, zum Teufel, ist das?« fragte George wütend. »Eine Höllenmaschine?«
Victoria lief zum Fenster und blickte zur Auffahrt hinunter. »Nichts Höllisches, Papa. Es ist das Automobil meines goldigen Alexander. Und der liebe Mr. Carstairs ist bei ihm, Tante Laura.«
Sie stürzte aus dem Zimmer, raste die Treppe hinunter, stieß an der Eingangstür mit dem Butler Richey zusammen, lief vor ihm die Freitreppe hinunter und warf sich ihrem Verlobten in die Arme, der soeben aus dem Wagen gestiegen war.
»Ah, nun geht’s los mit dem Spaß«, rief sie.
Zu ihrer großen Überraschung machte sich Alexander sanft von ihr frei. »Liebling, ich muß deine Mutter sprechen. Jetzt gleich.«
Victoria betrachtete ihn schreckerfüllt. Warum jetzt gleich? Was stimmte denn nicht? Er sah viel besorgter aus, als es eine sofortige Unterredung mit ihrer Mutter gerechtfertigt hätte. Offensichtlich mußte der Spaß noch ein bißchen warten.
Das also war Yorkshire. Steile steinige Berge, sanft gewellte Hügelkämme, die unmerklich ineinander übergingen, und überall Gras und Schafe. Der Regen hörte gottlob auf, und die Sonne schien schwach, während die Kutsche der Tabors über das Moorland rumpelte. Schafe wichen unwillig vom Weg zurück, ärgerlich darüber, daß man sie bei ihrer Betrachtung der Ewigkeit störte. Ein Schafhirt blickte lebhaft interessiert auf die Kutsche, bevor er sich dem zuwandte, was im Leben wirklich wichtig war: den Schafen. Auf dem Moorland wuchs Farnkraut in wechselnden Farben, doch als die Kutsche durch die einsame Gegend holperte, überlief Auguste ein Schauder, weil er sich erinnerte, daß sie nicht weit von der Heimat der Brontës entfernt waren. Wie leicht fiel es einem hier, an die elementare Leidenschaft von Catherine und Heathcliff zu glauben. Dies hier war unvorstellbar weit entfernt von der Provence oder von London, eine fremdartige Landschaft, in der Menschen einer anderen Rasse zu leben schienen. Er klammerte sich an den Gedanken, daß er und Tatjana am Montagabend wieder in ihrem neuen Heim in Queen Anne’s Gate zurück sein würden, umgeben von der tröstlichen geräuschvollen Geschäftigkeit Londons. Und in Sicherheit.
Sicherheit? Auguste mußte über sich selber lachen. Er würde im Luxus leben in einem Herrenhaus, in dem Seine Majestät der König ebenfalls zu Gast war. Wo konnte man sicherer sein als dort?
Nachdem sie ein kleines Dorf und einen einladenden Gasthof hinter sich gelassen hatten, bogen die Pferde auf einen holperigen Feldweg ein, der ein schmales Flüßchen überquerte. Berge erhoben sich schroff zu beiden Seiten. Vor ihnen, eingezwängt zwischen steilen Hängen, konnte Auguste den grauen Umriß eines großen Hauses erkennen. War es ein Omen, daß die funkelnden Bäche links und rechts von ihnen in die andere Richtung flossen, schnell fort von Tabor Hall?
»Alors, mon amour«, rief Tatjana aufgeregt, »die Würfel sind gefallen.«
Ein unglücklich gewählter Ausruf, wie sich später zeigen sollte.
Seine Majestät Edward VII. starrte mißgestimmt aus dem Fenster des königlichen Sonderzugs und versuchte, nicht an die schwere Prüfung Priscilla Tabor zu denken. Es war wirklich schrecklich. Wochen mit Alexandras Eltern in Dänemark, und jetzt, da er frei war für Balmoral, mußte er auf dem Weg dorthin in Yorkshire Halt machen.
Wenn ihn nicht in der Zeit, als er noch Prince of Wales war, der verstorbene Baron Tabor aus einer Liaison befreit hätte, die für die junge Dame interessanter gewesen war als für ihn, ihm also einen wichtigen Dienst erwiesen hätte, wären die Tabors wohl kaum in den letzten fünfundzwanzig Jahren zu der gesellschaftlichen Bedeutung aufgestiegen, deren sie sich jetzt rühmen konnten. Als Kronprinz hatte er sich gut gestanden mit Tabors fünf Jahre älterem Sohn George, dem jetzigen Baron Tabor, und hauptsächlich deshalb, weil der ein ausgezeichneter Schütze war, doch Georges Frau hatte trotz ihres fabelhaften Aussehens nie ähnlich freundschaftliche Gefühle in ihm wachrufen können. Als dem Paar eine Tochter geboren wurde, hatte er sich um der alten Zeiten willen bereit erklärt, Pate des kleinen Mädchens zu werden, ohne vorauszusehen, daß dieses Versprechen seine gelegentliche Teilnahme an Familienfeiern erforderlich machte.
Diesmal würde er vom Freitag bis zum Sonntag bleiben. Alexandra hatte sich rundweg geweigert, mitzukommen, und es vorgezogen, direkt nach Balmoral zu fahren. Nur die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Beatrice Janes, die ebenfalls eingeladen war und ihn in Tabor Hall erwartete, heiterte ihn etwas auf. Aber selbst die damit verbundenen Annehmlichkeiten erschienen ihm jetzt nicht mehr so verlockend wie früher. Im ganzen hatte ihm eine poularde Derby mehr zu bieten. Ihm fiel ein, daß Auguste Didier auf Tabor Hall für ihn kochen würde, und seine Laune besserte sich erheblich. Schließlich hatte tiefe Trauer keine Auswirkungen auf die Speisenkarte.
»Hätten wir ihn bloß nie eingeladen«, stöhnte Priscilla, die Unannehmlichkeiten voraussah.
»Er ist mit meiner Cousine verheiratet«, sagte Alexander ein wenig vorwurfsvoll, »und da meine Eltern nicht kommen können, wollte ich wenigstens Tatjana dabei haben.«
Priscilla merkte, daß sie einen Fauxpas begangen hatte, doch sie war nicht geneigt, ihn wiedergutzumachen. »Ich möchte keinen Mord auf Tabor Hall.« Sie sah jedes einzelne Familienmitglied scharf an, als seien sie alle mitverantwortlich für diese Schlange in ihrem mit solcher Mühe geschaffenen Arkadien.
»Wir könnten den beiden mitteilen, die ganze Sache sei abgeblasen«, schlug George vor.
»Zu spät! Die Kutschen sind bereits da.« Die Stimme seiner Mutter klang eindeutig erfreut. Mit neunundsiebzig mußte sie zusehen, wie sie zu ihrem Vergnügen kam.
War dies eine von Mr. Wagners Walküren, die sie erwartete, fragte sich Auguste erschreckt, als er Tatjana aus der Kutsche half und sich darauf gefaßt machte, in die Arena getrieben und dort von Salonlöwen in Stücke gerissen zu werden. Vorsichtig ging er neben seiner leichtfüßig dahinschreitenden Frau auf das riesige dreistöckige Herrenhaus mit seiner gewaltigen, von Säulen getragenen Vorhalle zu.
Er hatte recht. Es war tatsächlich eine Walküre, nach dem breitrandigen grauen Hut mit den beiden spiralförmig gedrehten weißen Hörnern zu schließen – er korrigierte sich: es waren natürlich Federn. Den Busen weit vorgestreckt, die Sitzfläche demonstrativ nach hinten ausladend, wie es die neue Mode vorschrieb, so stand Brünnhilde vor ihm, wenngleich in einer etwas reiferen Ausgabe.
Auguste widerstand der Versuchung, in edler Haltung vorzutreten, sich an die Brust zu schlagen und zu singen: Hier bin ich, Siegfried. Statt dessen verbeugte er sich vor seiner Gastgeberin.
»Willkommen auf Tabor Hall, Eure Hoheit, Mr. Didier. Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen.« Priscillas huldvolle Liebenswürdigkeit vermochte ihn nicht zu beruhigen.
»Ach bitte, nennen Sie mich nicht Hoheit, ich bin Madame Didier«, sagte Tatjana. »Ich mache mir nichts aus Titeln – jedenfalls nicht aus meinem Titel«, setzte sie hastig hinzu.
Priscilla beschloß, das als russische Exzentrizität zu ignorieren.
»Du bist doch nicht etwa Anarchistin geworden, liebe Cousine?« erkundigte sich Alexander interessiert.
»Nein, Marxistin«, erwiderte Tatjana freundlich.
Sie wurden mit einer verwirrenden Anzahl von Tabors bekannt gemacht, eine Prüfung, die Auguste in guter Haltung dadurch überstand, daß er sich vorstellte, es seien Gäste, die in seinem Restaurant zu speisen wünschten: Der unauffällige Mann mit den blaßblauen Augen und dem schütteren blonden Haar war Lord Tabor, ihr Gastgeber (Senfsauce und gebratene Nierchen); eine Frau in mittleren Jahren in Taubengrau mit einem ruhigen Gesicht und intelligenten Augen war seine unverheiratete Schwester (die allgemein unterschätzte gekochte Seezunge). Der sommersprossige junge Mann mit den Eulenaugen, in einer auffälligen Weste, die gerade noch den Vorschriften der Halbtrauer entsprach, war Alfred, der Sohn und Erbe der Tabors (Kaviar und Waldhuhn), und ein jüngeres und etwas korpulenteres Ebenbild Lord Tabors war sein Bruder Cyril (Fasan und Hase). Gertie, seine viel jüngere Frau (Champagner und Austern), sah sehr attraktiv aus und war offenbar ebenso nervös wie er, Auguste. Alexander gefiel ihm; er hatte entschiedene Ähnlichkeit mit Tatjana, Familienähnlichkeit. Er und die blonde Victoria, deren heitere Lebhaftigkeit das leblose Lila ihres Kleides wettmachte, einer Farbe, die bei Halbtrauer gerade noch zugelassen war, bildeten ein auffallend schönes Paar (Erdbeeren und Orangen).
»Möchten Sie gern einen Spaziergang nach Willy’s Brow machen?« fragte ihn Victoria strahlend. »Wir können gleich losgehen.«
Sein Gastgeber rettete ihn. »Nein! Ich zeige Didier das Waffenzimmer.«
Waffenzimmer? Willy’s Brow? Augustes Stimmung sank auf den Nullpunkt. Er hatte immer angenommen, daß Gäste zuerst in ihr Zimmer hinaufgingen, badeten, sich umzogen und dann nach einer Weile unten erschienen und sich dem gesellschaftlichen Leben widmeten.
»Ich komme mit«, erklärte Tatjana rasch.
»Ausgezeichnete Idee, George«, rief Lady Tabor begeistert. Sie ignorierte Tatjanas Angebot. »Danach kann Alfred Mr. Didier die Küche zeigen.«
Auguste war bestürzt. So sehr ihn die Küche interessierte, ein paar Minuten Erholung, sei es auch nur, um den Forderungen der Natur nachzukommen, wäre ihm willkommen gewesen. Jetzt wurde ihm die letzte Rückzugsmöglichkeit abgeschnitten.
»Ich kümmere mich um Prinzes – um Madame Didier.« Lady Tabor betrachtete Tatjana etwa so, wie ein Vampir sein auserwähltes Opfer gemustert hätte.
»Ich würde mir auch gern die Küche ansehen.« Tatjana konnte es vielleicht mit Vampiren aufnehmen, aber nicht mit ihrer Gastgeberin.
»Sie trinken jetzt Tee, denke ich«, verkündete Priscilla mit einem ruhigen Lächeln. »Liebe Mrs. Didier.«
»Nach dem Diner können Sie uns dann von Ihren Morden erzählen«, wandte sich Victoria heiter an Auguste.
»Nun mal stop, Vicky«, sagte Alfred gedehnt.
Bildete er es sich nur ein, fragte sich Auguste, oder wurde Priscilla tatsächlich ganz bleich? Vielleicht war Mord in Anwesenheit des Königs und in Anbetracht des jüngst erfolgten Attentats auf Präsident McKinley für seine Gastgeberin ein ebenso unangenehmes Thema wie für ihn.
Victoria ignorierte die Warnung ihres Bruders. »Aber Sie sind doch berühmt für Mord, Mr. Didier, nicht wahr? Sie müssen uns alles darüber erzählen, oder vielleicht warten Sie lieber bis morgen damit, da Seine Majestät heute abend nicht mit uns diniert? Ich bin sicher, das Thema würde auch ihn sehr interessieren.«
Auguste wußte nur zu gut, daß Seine Majestät höchstwahrscheinlich kein Interesse dafür aufbringen würde, doch er kam gegen Victoria nicht an. »Enchanté«, erwiderte er herzlich. Wie konnte er ihr begreiflich machen, daß es, auch wenn er vielleicht über ganz beachtliche detektivische Fähigkeiten verfügte, in Wahrheit seine kulinarische Begabung war, die ihn mit echtem Stolz erfüllte? Er plante bereits ein zehnbändiges Werk, eine Sammlung seiner besten Rezepte. Speisen à la Didier. Das würde sein Vermächtnis an die Welt sein.
»Vielleicht wäre es doch heute abend besser«, sagte Laura leichthin. »Heute abend würden sich alle sehr gut dabei unterhalten.«
Ihre Angehörigen nickten lebhaft. War hier nicht irgend etwas ein bißchen sonderbar? Auguste war nicht übermäßig bescheiden, aber wieso war er für die Tabors derart interessant? Oder glaubten sie, er würde mit dem Familiensilber davonlaufen, wenn sie ihn einen Augenblick allein ließen?
»Unsinn«, sagte er sich und spürte die vertraute Wärme von Tatjanas Arm. Er sah Gespenster, wo es keine gab. Das Problem war, daß er sich zum ersten Mal bei einer Gesellschaft auf dem Lande auf der anderen Seite der mit grünem Boi bespannten Tür befand.
»Natürlich ist es Unsinn«, zischte Tatjana ungehalten, denn er hatte laut gesprochen. »Ich mag keinen Tee. Ich habe Tee satt, sei es nun russischer, chinesischer, Zitronentee oder Lord Greys Heilkräutertee …«
»Kamille ist gut, auch Minze …«, sagte Auguste. Doch er sprach ins Leere. Lady Tabor hatte ihre Beute bereits weggeschleppt.
Geduldig ließ er sich das Waffenzimmer vorführen, da er dort das versteckte Kabinett entdeckt hatte, das er so dringend benötigte. Dann geleitete ihn Alfred zur Küche, die eine unwiderstehliche Verlockung für ihn darstellte. Da der König diesen Abend im Zug dinierte, würde er erst morgen für ihn kochen, doch die Küchendüfte einzuatmen, ein neues Königreich zu betreten – seine Lebensgeister erwachten aufs neue, als er nach seinem freiwilligen Exil wieder den ersten Schimmer des Paradieses erblickte.
Er und Alfred wurden, wie es nur recht und billig war, von Mr. Richey, dem Butler, hinuntergeführt, der diese Verletzung der Regeln, die oben von unten trennten, im höchsten Grade mißbilligte. Die Tür zur Küche stand offen. Richey trat zur Seite und ließ Alfred den Vortritt, und Alfred blieb so plötzlich auf der Schwelle stehen, daß Auguste in ihn hineinlief. Er erblickte eine riesige weißgekleidete Gestalt mit Armen wie Hammelknochen, Beinen wie Baumstämmen und einem Gesicht wie Blitz und Donner.
»Nein.« Ihnen wurde der Eintritt verwehrt.
»Aber Breckles«, stieß Alfred hervor.
»Ich sage nein. Morgen.«
Der König der Küche hatte gesprochen, und sie war sein Königreich. Auguste begriff sofort, daß er sich fügen mußte.
»Gewiß, Mr. Breckles«, sagte er rasch, »ich verstehe.«
Mr. Breckles musterte ihn eingehend. Er griente, während er seinen Gegner taxierte. »Morgen«, wiederholte er beinahe liebevoll und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu.
Das war ein schlechter Anfang. Oben nicht zum Tee eingeladen, unten als Koch nicht erwünscht. Kein Trost in Reichweite, denn als er schließlich hinter dem gleichgültigen breiten Rücken des Butlers an seinem Zimmer anlangte, war Tatjana nicht da. Es gab keinen Balsam in Gilead.
Seine Frau erschien erst wieder eine halbe Stunde vor dem Diner. Inzwischen sah sich Auguste zwischen Ärger und nervöser Erwartung hin und her gerissen, und er hatte vergessen, ob die Ankunft Seiner Majestät bedeutete, daß man volle Trauer oder Halbtrauer tragen mußte und was bei einem Mann überhaupt der Unterschied zwischen beidem war.
»Wo bist du gewesen?« Er erschrak, als er seine Stimme hörte. Sie klang ziemlich zänkisch.
Zu seinem Erstaunen fegte Tatjana stumm an ihm vorbei. Wo blieben die Küsse, die Erklärungen, die Liebesworte? »Wo ist Katja?« war alles, was aus ihrem Munde kam.
»Du sagtest, Mr. Marx mißbillige Kammerzofen. Du hast sie nicht mitgebracht«, erwiderte Auguste nicht ohne Schadenfreude.
»Vielleicht hat Mr. Marx nie versucht, sich allein das Korsett zu schnüren oder sich selber das Haar zu machen.« Durch die Tür zum Ankleidezimmer sah Auguste fasziniert zu, wie Tatjanas Kleidungsstücke in alle Richtungen flogen, und gehorchte dann dem Befehl, die abwesende Katja zu ersetzen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er diese Aufgabe nur zu gern übernommen, doch jetzt wollte er Antwort auf einige Fragen.
»Wo bist du gewesen?«
»Ich habe Tee getrunken«, erwiderte sie, während er sich mit Haken und Ösen abplagte.
»Du sagtest, du machst dir nichts aus Tee.«
»Wir haben über Haarpolster gesprochen.«
»Pardon, chérie?« Seine Finger hielten inne.
Tatjana klopfte zufrieden auf ihr langes, dunkles, lockiges Haar. »Ich brauche so was nicht. Mein Haar ist auch ohne das dick genug. Vielleicht hat Mr. Marx …«
»Mr. Marx interessiert mich nicht.«
»Wir können viel von ihm lernen«, sagte sie voll ehrlicher Überzeugung. »Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten.«
»Ich habe keine Ketten, und ich …«
»Liebesketten, mon amour.«
Der letzte Haken ging auf. Sie drehte sich um und schlang die Arme um seinen Nacken, und er vergaß völlig, sie weiter nach dem Grund für ihre lange Abwesenheit zu befragen.
Die Tabors waren in Yorkshire ebenso fest verankert wie die grauen Mauern ihres Landsitzes. Im Mittelalter, als die großen Adeligen des Nordens ihre Feindschaften und Fehden in den Rosenkriegen austrugen, waren die Tabors der Führung ihrer Nachbarn, der berühmten Cliffords von Skipton Castle, gefolgt und so töricht gewesen, einen Verlierer zu unterstützen, Henry VI. aus dem Hause Lancaster. Mit Clifford dem Schlächter war der damalige Lord Tabor nach Towton Field marschiert, doch im Gegensatz zu Clifford war er am Leben geblieben. Die eindringenden Anhänger der Yorks hatten das nicht als großes Unglück angesehen, da er nur der Herr eines vergleichsweise kleinen Lehens war. Während alle Nachbarn sehr schnell den Kopf oder ihren Besitz oder beides verloren, gelang es den Tabors, ihr bescheidenes Lehen zu behalten, doch sie waren auch klug genug, die Anhänger der Yorks nicht so auffällig zu bevorzugen, daß sie die argwöhnischen Blicke Henrys VII. auf sich gezogen hätten, als er den Thron bestieg und die Weiße und die Rote Rose vereinigte. Sie vermieden es auch weiterhin, sich zu sehr in die Politik oder in religiöse Streitigkeiten einzumischen; statt dessen sorgten sie unauffällig für die Ausdehnung und Wertsteigerung ihres Besitzes. Nach angemessener Zeit wurden sie in den untersten Peersrang erhoben, was ihnen durchaus zupaß kam. Das Leben wäre für sie bis ins 20. Jahrhundert ruhig weitergegangen wie bisher, wäre ihre gesellschaftliche Stellung nicht so unerwartet erhöht worden.
Am Samstagmorgen aber entdeckte Auguste, daß die Küche unglücklicherweise diese Aufwärtsentwicklung nicht mitgemacht hatte. Seinem entsetzten Blick schien es, als habe sie sich seit den Tagen des alten mittelalterlichen Gutshauses mit seinem offenen Feuer und seinem Rauchfang im Dach kaum verändert: eiserne Herde, Räucherkammer über dem Feuer, ein mechanischer Spieß … Doch es gab auch ein paar relativ moderne Errungenschaften: zwei neuzeitliche Küchenherde, einen eisernen Dampfkochtopf, ein Rührgerät – und sogar, er strahlte, einen Kühlschrank.
Aber trotz all ihrer Unzulänglichkeiten war diese Küche ein wundervoller Zufluchtsort, erstens von der Jagd und zweitens vom mondänen Leben der oberen Welt. Der Freitagabend war nicht ganz die Nervenprobe gewesen, die Auguste befürchtet hatte, denn der König war erst sehr spät eingetroffen. Seine Majestät hatte nicht über das Moorland holpern müssen, der königliche Sonderzug hatte extra am Dorf Bell Busk gehalten, das nur wenige Meilen entfernt lag. Der Samstag hatte sehr gut begonnen. Tatjana war besonders aufmerksam zu ihrem Gatten gewesen und hatte ihn nicht allein gelassen, bis er Mr. Richeys Obhut anvertraut wurde, der ihn wieder in die Küche geleitete.
Seine Stimmung hob sich ob der vor ihm liegenden Aussichten. Er war ein zum Olymp zurückgekehrter Jupiter, ein seiner Unterwelt wiedergeschenkter Pluto. Unglücklicherweise wurde diese von einem wenig anziehenden Zerberus in Gestalt des bulligen Küchenchefs der Tabors, William Breckles, bewacht.
»Guten Tag«, begrüßte Auguste ihn höflich.
»Wawawawa«, war das einzige, was Auguste deutlich verstehen konnte, und er wußte nicht, was es bedeutete.
»Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, sagte er mit, wie er hoffte, gewinnender Freundlichkeit. Doch er gewann nichts, als er einen Inspektionsgang durch die Küche machte, um die bereits getroffenen Vorkehrungen in Augenschein zu nehmen – eine schwierige Aufgabe, weil die Kochtöpfe von dem Pastetenkoch, dem Fleischkoch, dem Gemüsekoch, dem Saucier und seinen Kollegen so wütend verteidigt wurden wie einst Skipton Castle gegen seine Belagerer.
»Das Hammelkotelett Seiner Majestät?« Augustes geübtes Auge entdeckte, daß es auf dem Tisch fehlte, den man für die Gerichte des Königs beiseite gerückt hatte.
Ein abweisendes Knurren.
Auguste riß die Geduld. »Messieurs«, sagte er und nahm Kampfstellung ein, »in Frankreich sind wir höflich zu Besuchern.«
Mr. Breckles’ Mannschaft wechselte erstaunte Blicke untereinander, dann hellte sich Mr. Breckles’ breites Gesicht auf. Ein zustimmendes Bellen. »Sie kommen aus Frankreich?« sagte er in völlig verständlichem Englisch, wenn auch mit starkem Yorkshire-Akzent. »Wir dachten, Sie wären so ein verdammter arroganter Londoner.«
Breckles führte ihn dann freiwillig durch die Speisekammern, die verschiedene, Auguste bisher unbekannt gewesene Yorkshire-Rituale offenbarten. Hier hingen Hasen, die den Braten für das Essen des Personals lieferten. Für die Tafel der Tabors wurden nur junge einjährige Hasen als gut genug erachtet. Den oberen Klassen entgeht eine ganze Menge durch ihre sturen Vorurteile, dachte Auguste. Richtig zubereitet, waren ausgewachsene Hasen ein Leckerbissen. Das Blut der Schweinehälften wurde aufgefangen und zu Blutwurst verarbeitet. Das war ein Gericht, das er untersuchen mußte. Die Beute erfolgreicher Jagdausflüge, die zu Beginn der Woche stattgefunden hatten, füllte mehrere Speisekammern. Zwischen ihm und Breckles entwickelte sich eine Arbeitsgemeinschaft, und in der Küche herrschte jetzt Eintracht.
»Die Beilage für das Hammelkotelett? Epinards au fleuron?«
Breckles sah ihn unsicher an. »Der Gärtner ist schon wieder weg.«
Auguste bewahrte Fassung. Da war nichts zu machen; wenn er den Gärtner, der täglich vorbeikam, verpaßt hatte, mußte eben der Berg zum Propheten oder vielmehr in dessen Garten gehen, denn Spinat mußte er haben.
Er verließ die Küche und ging in die Richtung, die Breckles ihm gewiesen hatte. Er war noch nicht weit gelangt, da sah er zu seinem Erstaunen Lady Tabor auf sich zulaufen. Hatte sie entdeckt, daß er sich vor dem Schießen gedrückt hatte, und war sie gekommen, um ihn mitzunehmen? überlegte er nervös. »Das Kotelett Seiner Majestät«, stammelte er und lächelte angestrengt.
»Wie bitte?« Priscilla starrte ihn verständnislos an, dann besann sie sich auf ihre besten Gastgeberinnenumgangsformen. »Es tut mir sehr leid, Mr. Didier, daß Sie zum Schießen zu spät kommen. Wenn ich gewußt hätte …«
»Die Küche«, stieß er kraftlos hervor.
»Aber natürlich, Mr. Didier. Ich zeige Ihnen, wo es ist.« Brünnhilde packte ihren Siegfried mit festem Griff und wollte ihn mit sich ziehen.
»Lady Tabor, ich muß zum Gemüsegarten«, sagte Auguste energisch.
»Ich liebe den Gemüsegarten«, erwiderte sie ebenso energisch. »Ich begleite Sie.«
»Aber …« Entgeistert blickte er auf die zierlichen Glacéleder-Spangenschuhe, die ganz offenkundig nicht beabsichtigt hatten, die mit Teppichen bedeckten Fußböden von Tabor Hall an diesem Morgen zu verlassen. War das hier ein Beweis für seine Attraktivität als Mann? Er hatte natürlich von solchen Frauen gehört, doch er vermochte sich einfach nicht vorzustellen, daß Lady Tabor ihn zwischen den Rosenkohlpflanzen leidenschaftlich umarmen könnte. »Der Boden ist morastig, Lady Tabor.«
Ihr Blick folgte seinem, dann lächelte sie huldvoll. »In diesem Fall, Mr. Didier, dürfen Sie mich zum Frühstückszimmer zurückbegleiten.«
Verwirrt lauschte er einem langen Monolog über den vierten und fünften Baron Tabor, während er neben seiner Gastgeberin zum Gartentor des Herrenhauses schritt. Er kam sich vor wie Alice im Wunderland mit dem Bleigewicht der Herzogin am Arm und war erleichtert, als sie am Haus anlangten. Gleich würde er frei sein. So glaubte er jedenfalls.
In der großen Halle kam Laura gerade die Treppe herunter.
»Ah, Laura«, flötete Lady Tabor, »ich glaube, Mr. Didier hat die Bibliothek noch nicht gesehen.« Lady Tabors Arm wurde durch Lauras ersetzt, und Auguste sah sich gezwungen, die Bibliotheksfeuerprobe zu bestehen; erst dann konnte er erfolgreich vorbringen, daß seine Gegenwart woanders benötigt wurde. Als er wieder mit seinem Arbeitstisch in der Küche vereint war, stieß er einen dankbaren Seufzer aus und beschloß, auf den Spinat zu verzichten. Der König würde auch so nicht darben. Capon à la Régence, in Armagnac geschmorte Ortolanen, Kalbbries à la financière, Schwarzes Rebhuhn à la royale, poussin à la Richelieu, gigot de chevreuil, soufflé de cailles, Kalbsnieren au Xérès, gratin d’homard, gebratene Wachteln – und natürlich das Hammelkotelett. Ja, das sollte genügen. Dann die pikanten Beilagen, die Seine Majestät so sehr liebte. Und die Austern für sein privates Souper.
Er legte gerade einen Trüffel an die richtige Stelle, als ein lauter Schrei ertönte. Der Schrei kam von draußen, doch gleich darauf stürzte ein Küchenmädchen durch die Tür herein. Er vergaß den Trüffel und versuchte sie zu beruhigen, wobei sein Arm sich unwillkürlich um sie legte. Dann fiel ihm ein, daß er ein verheirateter Mann war, doch sein Arm blieb dort, wo er war.
»Was ist denn, chérie?« fragte er. Das Küchenpersonal scharte sich um sie, während ein Sturzbach von Worten aus ihr hervorsprudelte, die er alle nicht verstand.
»Das ist eine krähende Henne«, erklärte Breckles. Was immer es war, sagte sich Auguste, es war eine Sache, die nur die Leute aus Yorkshire anging und keine Fremden. Er wollte taktvoll verschwinden, aber Breckles packte ihn beim Arm.
»Eine krähende Henne bedeutet Unglück für das Haus.«
Das war natürlich alles Aberglauben, sagte sich Auguste. Dennoch erinnerte er sich, wie oft Mère Bouchiers Prophezeiungen unheilvoller Ereignisse in seiner Heimatstadt Cannes in Erfüllung gegangen waren, und hütete sich, über eine Yorkshire-Henne zu spotten. Er schritt durch die mit grünem Boi bespannte Tür, die »sie« von »uns« trennte (was immer er im Augenblick war, »uns« oder »sie«). In diesem Augenblick trat Victoria Tabor forsch aus dem Waffenzimmer und bot ihm an, ihn zu begleiten, wo immer er hingehen wolle. Vielleicht gehörte es zu den Regeln der Gastfreundschaft im Norden, die er noch nicht begriffen hatte, einen Gast nie allein zu lassen, überlegte er, und dieses heftige Interesse an seiner Gesellschaft begann ihm jetzt spürbar auf die Nerven zu gehen. Er lehnte Victorias Angebot dankend ab, verabschiedete sich von ihr und öffnete erleichtert die Tür zu seinem Zimmer. Er hatte erwartet, Tatjana dort vorzufinden, doch er hatte sich geirrt.
Selbst ihr Erscheinen ein paar Minuten später vermochte seine gute Laune nicht wiederherzustellen. Er war überzeugt, daß etwas vorging, an dem er nicht beteiligt war. »Wo bist du gewesen, ma mie?« erkundigte er sich und versuchte den Eindruck zu erwecken, als sei die Antwort nicht besonders interessant für ihn.
»Ich habe Tee getrunken«, erwiderte Tatjana rasch. »Jetzt verstehe ich übrigens, warum englische Damen, sogar solche aus Amerika wie Lady Tabor, Tee trinken. Sie tun es deshalb, weil sie da ihre Panzer ablegen und Teekleider tragen können.«
Auguste musterte sie argwöhnisch. Es war Teezeit, das stimmte, aber ganz bestimmt ging es hier um mehr als um Tee und Fischbein. Ein Liebhaber? Bei diesem absurden Gedanken mußte er über sich selber lachen. Er war ein Narr.
»Natürlich sind sie nicht mit mir einverstanden.«
»Wieso denn nicht?« fragte Auguste ernst. »Sie sind die frühere Miss Gertie Gum, die Zierde der Girlparade vom Galaxy-Theater.« Diese Entdeckung hatte er dank Alfred am vergangenen Abend gemacht.
Gertie kicherte. »Sie waren der Chef des Restaurants, nicht wahr? Aber das war vor meiner Zeit.«
Auguste mußte an das Jahr 1894 denken, das nur sieben Jahre zurücklag, aber einem anderen Leben anzugehören schien. Dann sah er Tatjana an und bedauerte keine einzige Veränderung (oder doch nur sehr wenige). Gerties Triumphzeit als Galaxy-Girl war nur kurz gewesen, hatte ihm Alfred erzählt, denn sehr rasch hatte sie den Schmeicheleien des Ehrenwerten Cyril nachgegeben, der es angesichts von Miss Gums schönem und unschuldigem Gesicht nicht fertiggebracht hatte, ihr etwas anderes als die Heirat anzubieten. Ihre Ehe hatte beide Beteiligten bisher übrigens voll zufriedengestellt, wenn auch nicht Priscilla Tabor.
Auguste, den ein Gefühl der Solidarität mit Gertie verband, stand neben ihr unter den funkelnden Kronleuchtern des Salons, während die Gästeschar in Trauerkleidung das Erscheinen Seiner Majestät zum Diner erwartete. Das Diner sollte pünktlich um sieben Uhr beginnen, ungewöhnlich früh für den König, der es liebte, erst um neun zu dinieren, doch in seiner gutmütigen Art Priscilla ihren Willen ließ. Das taten für gewöhnlich alle. Priscilla hatte strenge Ansichten, was den Sonntag betraf, und fand es wünschenswert, daß sich die Gäste abends früh zurückzogen. Das tat selbst Seine Majestät, wenn Mrs. Beatrice Janes nicht in Begleitung ihres Gatten war, aber unglücklicherweise war Harold diesmal mitgekommen. Der König mochte Harold, doch er erwartete von ihm, daß er anständig war und zu Hause blieb. Harold jedoch, das hatte Tatjana Auguste letzte Nacht im Bett anvertraut, lag sehr daran, Seine Majestät im Hinblick auf die nächsten Ordensverleihungen am 1. November an seine Existenz zu erinnern, und verdrängte oder ignorierte andere Faktoren.
»Lady Tabor hat ihnen nebeneinanderliegende Zimmer gegeben«, flüsterte sie, »und hat dafür gesorgt, daß Harold eine Menge zu trinken vorfindet, sonst würde sich der König nicht wohl fühlen.«
Tatjanas Teeparties hatten doch etwas für sich, überlegte Auguste belustigt. Dort erfuhr man den interessantesten Klatsch. Lady Tabor, so vernahm er, hielt ihren Schwager Cyril für allzu empfänglich für weibliche Reize. Nach dem Tod seiner ersten Frau hatte er mehrere Jahre eifrig nach Ersatz für sie gesucht, doch alle seine Liaisons hatten nur kurze Zeit gedauert. Eine dieser Damen hatte Alice geheißen und einen jähzornigen Vater in der indischen Armee gehabt. Es war stets George Tabors Aufgabe gewesen, seinen leicht hereinzulegenden Bruder aus gefährlichen Situationen zu befreien, doch im Fall Gertie hatte er es versäumt, rechtzeitig einzugreifen. Priscilla hatte ihm das nie verziehen.
»In diesem Haus hat nur ein Mensch Zeit für mich, und das ist Ihre Ladyschaft«, vertraute Gertie Auguste an, der es zu schätzen wußte, daß sich ihr reizender, mit schwarzer Spitze bedeckter Busen gegen ihn preßte. Sie hatte kühn die Trauervorschriften durchbrochen und sich eine weiße Rose angesteckt, wo doch nur Perlen erlaubt waren. Alle Achtung, Gertie hatte Mut! Seine Majestät hatte gewiß nichts gegen die Rose, aber Priscilla …
»Unsere Gastgeberin?« fragte er überrascht, denn er fand, die Walküre habe so gut wie nichts mit Gertie gemein. Er blickte sich nach Tatjana um, für den Fall, daß sie ihn beobachtete, doch sie unterhielt sich gerade mit einem Lakaien, dessen rosiger Teint ihm auffiel. So sehr er das demokratische Benehmen seiner Frau billigte, zweifelte er doch, ob Priscilla Tabor es zu schätzen wußte.
Gertie kicherte. »Nein, Miriam, die Witwe. Sind Sie ihr noch nicht begegnet? Ich stelle Sie ihr vor! Die Mutter von Cyril, Laura und dem braven alten George. Die Geißel in Priscillas Leben! Sie wohnt hier im Nordflügel.«
Die alte Baronin Tabor war winzig klein, doch das erste, was Auguste an ihr auffiel, waren ihre Augen: klar, blau und bemerkenswert munter für ihre Jahre. Bemerkenswert war auch ihr rosiges, von weißem Haar eingerahmtes Gesicht, und sie hatte anmutige schnelle Bewegungen. Priscilla wirkte neben ihr wie ein Kriegsschiff neben einer schlanken Korvette.
»Ah, Mr. Didier, wie reizend, daß wir nun einen Meisterkoch in der Familie haben. Denn wenn Alexander Victoria heiratet, gehören Sie doch zur Familie, nicht wahr? Sie müssen mir von Paris erzählen! Wie klug, sich eine Pariserin zur Frau zu nehmen!«
»Die nur mit einer englischen Rose wie Ihnen verglichen werden kann, Madame.« Auguste verbeugte sich, und seine Befangenheit verflog angesichts ihrer freundlichen Ungezwungenheit.
»Mutter!« Von schwarzem Krepp umhüllt, kam Priscilla mit vollen Segeln auf die alte Dame zugerauscht. »Seine Majestät erscheint.«
Die alte Lady Tabor zwinkerte Auguste zu und folgte ihrer majestätisch davonziehenden Schwiegertochter.
Die Unterhaltung stockte, als König Edward VII., offensichtlich nicht besonders gut gelaunt, an der Tafel erschien. Er war zu dem Schluß gelangt, daß selbst Beatrices Anwesenheit keinen Ausgleich für Priscilla Tabor bildete. Marmorweiße Schenkel und üppige Busen waren ja ganz in Ordnung, doch sie verloren ihren Reiz, wenn die betreffende Dame sich wie ein allzu wachsamer Schäferhund aufführte.
Auguste war der Platz neben Gertie zugewiesen worden, was ihm sehr recht war, wenngleich sie am unteren Ende der Tafel saßen. Er beglückwünschte sich, daß er, der Proletarier, bisher keinen ernsthaften Fauxpas begangen hatte, wenn man die kleine Ungeschicklichkeit nicht rechnete, daß er gestern abend, als er Mrs. Janes zum Diner die Treppe hinuntergeleitete, dieser redseligen Dame den falschen Arm gereicht hatte und von ihrem ausladenden korsettierten Hinterteil an die Wand gedrückt worden war.
Tatjana saß zu weit entfernt vom König, als daß sie ihn mit provozierenden Bemerkungen über Mr. Karl Marx hätte ärgern können, aber doch noch nahe genug, weil man eine Romanowa, denn das war sie, nicht beleidigen durfte. Seine Majestät thronte am Kopf der Tafel, Beatrice links und Priscilla rechts von ihm. Er sah nicht besonders heiter aus. Nur Victoria und Alexander, die nebeneinander sitzen durften, schwebten selig in ihrem Traum vom Glück.
»Madame wünscht von der Consommé«, wies Auguste den servierenden Diener an und erntete einen dankbaren Blick von Gertie. Im »Romano« hatte sie nie selber etwas auszusuchen brauchen, da alle ihre hingerissenen Verehrer stets nur das Beste für sie bestellt hatten. Schnelles Auf- und Abtragen der Speisen war wichtig an diesem Ende der Tafel, denn sonst bestand die Gefahr, daß Seine Majestät mit einem Gang fertig war, bevor die hier sitzenden Gäste zu essen begonnen hatten. Die Etikette schrieb vor, daß die ganze Gesellschaft die Bestecke sofort niederzulegen habe, wenn es der König tat. Wenn er guter Laune war, aß er langsam. Heute jedoch war es klar, daß man schnell essen mußte, vor allem, da zum Abend zehn weitere Gäste eingeladen waren.
War das Menü zufriedenstellend? fragte sich Auguste noch einmal besorgt. Er hatte darauf verzichten müssen, die côtelettes de bécassines à la Souvaroff, die Schnepfenfilets und die Gänseleberpastete mit Madeirasauce auf ihren Silberplatten mit Trüffeln zu garnieren. Das war ihm sehr, sehr schwer gefallen.
Die Consommé à la princesse war ein Erfolg, befand er vorsichtig, obwohl man hätte einwenden können, daß weniger Estragon besser gewesen wäre. Er sah zu, wie die Bediensteten des Hauses Tabor die Gerichte feierlich den Lakaien des Königs reichten, die ihm servierten und dann die Schüsseln und Platten zurückgaben. Fast wie mittelalterliche Vorkoster, dachte Auguste, und überlegte, ob es möglich wäre, das Essen des Königs zu vergiften. Er erinnerte sich lebhaft an eine Gelegenheit in der Vergangenheit, wo das ganz leicht gewesen wäre. Schnell wandte er seine Aufmerksamkeit Oliver Carstairs zu, einem hochgewachsenen Mann in den Vierzigern mit lässigem Charme und einem interessanten Gesicht. Er hatte gestern abend nicht mit ihm gesprochen und war sich nicht sicher, welche Rolle Oliver hier spielte. Er beschloß, es herauszufinden.
Zur selben Zeit wandte sich Seine Majestät dankbar von Priscilla ab und Beatrice zu. Die Etikette schrieb vor, daß er mit der Konversation beginnen mußte. »Man sollte den Kerl an den Daumen aufhängen«, sagte er zu ihr. »Er hat einen der Goldfasane in Sandringham abgeschossen.«
Der Ehrenwerte Cyril besann sich auf seine gesellschaftlichen Verpflichtungen und hörte auf, sein hübsches kleines Kätzchen über den Tisch hinweg anzusehen; ein wenig zu spät griff er das Wort »Gold« auf und beschloß, etwas zur Unterhaltung beizutragen.
»Es heißt, der Markt wird allmählich schwierig, Sir.«
»Welcher Markt?« fragte der König verständnislos.
»Der Goldmarkt.«
»Gold verliert nie seinen Wert«, erklärte Harold Janes feierlich. Er war, und das wünschte er allen zur Kenntnis zu bringen, eine Autorität auf diesem Gebiet.
»Aber der Krieg in Südafrika …« Cyrils Stimme erstarb kläglich.
»Wie ich höre, lassen die Gewerkschaften auch in Colorado ihre Muskeln spielen«, kam ihm Carstairs zu Hilfe.
»Hatte nicht dein Bruder irgendwas mit Gold in Colorado zu tun, Priscilla?« erkundigte sich Miriam unschuldig.
Priscilla warf ihr einen wütenden Blick zu. Oskar war kein Thema, das sie zu erörtern wünschte, und ihre liebe Schwiegermutter wußte das nur zu genau.
»Fasane«, betonte der König laut, verärgert über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. »Fasane.«
»War die Ausbeute heute morgen gut, Sir?« fragte Auguste, tapfer bemüht, die Situation zu retten.
»Ausgezeichnet«, sagte der König herzlich mit dröhnender Stimme, erfreut darüber, daß Didier das Leben ernst nahm – doch ohne daß seine Kochkünste darunter litten, vermerkte er beifällig für sich. Das Kotelett hatte ihm hervorragend gemundet, ebenso das soufflé de cailles, ganz zu schweigen von verschiedenen anderen Gerichten. »Ein paar Dutzend Enten und Rebhühner.«
In diesem Geist des Wohlwollens allen, selbst Priscilla gegenüber, ging das Diner friedlich zu Ende.
»Wollen wir uns vertagen, meine Herren?« George räusperte sich, während sich die letzten schwarzen Taft- und Seidenkleider kurz vor acht Uhr raschelnd in den Salon zurückzogen. Seltsamerweise, so stellte Auguste fest, vermied George eindeutig den Blick seines Monarchen.
Auguste hatte sich auf den Augenblick gefreut, in dem er sich bequem in einem alten Armsessel niederlassen und anderen Gästen beim Billardspiel zusehen, dabei eine Zigarre rauchen und einen Brandy trinken konnte – gewiß die wesentlichen Freuden eines Gentleman, wenn er auch nicht damit gerechnet hatte, sie so früh am Abend genießen zu können. Zu seiner großen Überraschung wurde er hinter dem König beinahe fortgeschleift, nicht ins Billardzimmer, sondern hinaus in die dunkle kalte Nacht. Lord Tabor und der König stiegen in einen offenen Zweisitzer und ließen ihn, Cyril, Alfred, Alexander, Harold Janes und Oliver Carstairs auf der Freitreppe zurück.
»Monsieur«, erkundigte sich Auguste verblüfft bei Oliver Carstairs, als sie schnellen Schrittes in die Finsternis vorstießen, »wohin gehen wir denn?«
»In den Raucherpavillon«, sagte Oliver fröhlich.
»Aber ist das Rauchzimmer denn nicht da, wo die Billardtische stehen?«