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Chefkoch Auguste Didier hat beschlossen, endlich Urlaub zu machen - in Cannes, wo er zu Hause ist und wo nichts und niemand in zwingen kann, wieder Detektiv zu spielen. In London verfolgt Inspektor Rose unterdessen eine Serie aufsehenerregender Juwelendiebstähle: Jedes der sechs gestohlenen Schmuckstücke war in einem der sagenumwobenen Fabergé-Eier aufbewahrt, die der russische Großfürst Igor seinen Ex-Geliebten zu schenken pflegte. Ein einziges dieser unendlich kostbaren Kunstwerke ist noch übrig - das siebte Fabergé-Ei, und dessen Besitzerin hält sich zur Zeit ausgerechnet in Cannes auf ...
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Seitenzahl: 395
AMY MYERS wurde 1938 in Kent geboren. Sie studierte an der Reading University englische Literatur, arbeitete als Verlagslektorin und war bis 1988 Direktorin eines Londoner Verlages. Seit 1989 ist sie freischaffende Schriftstellerin. Sie ist mit einem Amerikaner verheiratet und wohnt in Kent. Amy Myers schreibt auch unter dem Namen Harriet Hudson und Laura Daniels.
In ihren ersten Ehejahren arbeitete ihr Mann in Paris, und sie pendelte zwischen London und der französischen Hauptstadt hin und her. Neben vielen anderen Dingen mußte sie nun lernen, sich auf französischen Märkten und den Speisekarten französischer Restaurants zurechtzufinden. Dabei kam ihr die Idee, einen französischen Meisterkoch zum Helden eines klassischen englischen Krimis zu machen: Auguste Didier war geboren. Alle Kriminalromane von Amy Myers erscheinen im Aufbau Taschenbuch Verlag.
Chefkoch Auguste Didier hat beschlossen, endlich Urlaub zu machen - in Cannes, wo er zu Hause ist und wo nichts und niemand in zwingen kann, wieder Detektiv zu spielen. In London verfolgt Inspektor Rose unterdessen eine Serie aufsehenerregender Juwelendiebstähle: Jedes der sechs gestohlenen Schmuckstücke war in einem der sagenumwobenen Fabergé-Eier aufbewahrt, die der russische Großfürst Igor seinen Ex-Geliebten zu schenken pflegte. Ein einziges dieser unendlich kostbaren Kunstwerke ist noch übrig - das siebte Fabergé-Ei, und dessen Besitzerin hält sich zur Zeit ausgerechnet in Cannes auf ...
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Amy Myers
Mord in Cannes
Aus dem Englischenvon Helga Schulz
Inhaltsübersicht
Über Amy Myers
Informationen zum Buch
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Vorbemerkung der Autorin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Impressum
In Liebe für Marian
Für die Handlung dieser Geschichte ist dem Zaren Alexander II. ein weiterer Sohn zugeschrieben worden, der Großfürst Igor. Dieser, seine Hofhaltung und die Villa Russe sind, wie auch alle anderen handelnden Personen, frei erfunden. Meine Informationen über den Kricketklub von Cannes verdanke ich Patrick Howarths fesselndem Buch »When the Riviera was Ours« (Routledge & Kegan Paul Ltd, 1977); der Pavillon ist jedoch meine Erfindung. »La Fabuleuse Histoire de Cannes« von Jean Bresson (Editions du Rocher, Monaco, 1981) hat mir in reichem Maße Auskunft über die Geschichte der prächtigen Villen der Stadt gegeben; »The Man Behind the Iron Mask« von John Noone (Alan Sutton, 1988) lieferte mir weitgehende Details über den geheimnisvollen Häftling, der auf der Ile Ste Marguérite gefangen gehalten wurde, und insbesondere ein Nachwort zu den Gerüchten über den Geist, der unlängst in Le Suquet nahe der Altstadt gesehen wurde. Es ist eine freie Erfindung meinerseits, diese Erscheinung beinahe ein Jahrhundert zurückzuversetzen, doch bei all den Geschichten über den Mann mit der eisernen Maske, die ständig in Umlauf sind, seit der Gefangene mit der Maske dort auftauchte, schien mir das nicht zu weit hergeholt.
Mein Dank gilt, wie immer, meiner Agentin Dorothy Lumley für ihre beständige Unterstützung, Jane Morpeth und all denen bei Headline, die mir den Weg zur Veröffentlichung so angenehm gemacht haben, wie auch Rodney Burton und der Bibliothèque Municipale in Cannes, die so passend in der früheren Villa Rothschild an der Route de Fréjus untergebracht ist.
Auguste Didier stieg aus dem Calais-Mittelmeer-Express und schnupperte. Er tat einen tiefen, zufriedenen Atemzug. Aah, wie das duftete! Der Wohlgeruch der Kiefern auf den Bergen des Esterel und der Blumen auf den Hängen erfüllten die Luft seines Heimatdorfes mit ihrem warmen Zauber. Es gab Leute, die meinten, Cannes gehöre allein den Engländern und es sei zu einem neuen europäischen Schlachtfeld geworden – mit den Romanows im Osten auf dem Hügel von La Californie und den Engländern im Westen an der Route de Fréjus. Doch für diejenigen, die es wirklich kannten, war Cannes noch immer Cannes, das kleine Fischerdorf, das über die Jahrhunderte viele Eindringlinge hatte kommen und gehen sehen – Römer, Griechen, Sarazenen, Italiener. Hier war er in einem kleinen Haus am Hang des Mont Chevalier geboren worden, war in die kleine Schule in der Rue du Barri gegangen. Hier war er bei Le Maître, dem berühmten Auguste Escoffier, in der Lehre gewesen. Cannes lag ihm im Blut – ein Dorf, das der Himmel gesegnet hatte.
»Das ist ja Mord! Hören Sie, Mord!«
Auguste fuhr herum bei dem schrillen Tön einer zweifellos englischen, vornehmen Stimme, die die südliche Ruhe störte. Er lächelte erleichtert, als er neugierig auf den Place de la Gare hinaussah und eine vertraute Szene erblickte. Röcke, die vor Empörung raschelten, eine Dame, eine Engländerin, schwenkte ihren spitzenbesetzten rosa Sonnenschirm drohend gegen einen nicht begreifenden Droschkenkutscher, der lediglich sein gelangweiltes Pferd mit altehrwürdigen Mitteln zu überzeugen suchte, noch eine weitere Fahrt zum Hôtel du Parc zu unternehmen. Oder vielleicht zum Hôtel Gonnet, wenngleich das letztere mit seiner zur See hinausgehenden Vorderfront nicht so beliebt war. Für diese fest geschnürte Zuchtmeisterin in ihrem modischen nachschleppenden Reisekleid wäre es wohl nicht gut genug.
Mord, wahrhaftig! Auguste lachte über sich selbst. Er hatte wohl nur noch Mord im Kopf.
»Urlaub«, hatte der Sekretär von Plum’s Club vorwurfsvoll zu dessen Chefkoch, ihrem maître, gesagt. »Sie brauchen Urlaub, Monsieur Didier. Es ist doch sonst nicht Ihre Art, die Trüffel zum Huhn Bayonnaise zu vergessen.«
Es hatte eine Beschwerde gegeben. Über seine Speisen. Und noch dazu eine berechtigte! Auguste war entsetzt gewesen. Wie konnte das passieren? Einen Augenblick hatte er an Selbstmord gedacht, hatte es sich dann aber anders überlegt. Seine Ehre konnte man auf anderem Wege wiederherstellen. Nach dem Urlaub würden sie ihn mit offenen Armen – oder besser gesagt, Mündern – erwarten – nach sechs Wochen von dem, was Monsieur Archibald Binks zustande brachte. Pah! Ausgebildet in der Marshall School! Die Schule bot zweifellos eine gute Ausbildung zum Kochen von Siruppudding. Aber die Herren von Plum’s Club brauchten la vrai cuisine. Auguste strahlte vor Genugtuung. Er würde zurückkehren und ihnen, inspiriert von den Düften und dem Geschmackssinn seines Heimatlandes, Leckerbissen bereiten, von denen sie keine Vorstellung hatten.
Der Kaffeeduft vom Restaurant am Bahnhof riss ihn aus seinen Überlegungen, wie er wohl aus Alexis Soyers Truthahn à la Nelson etwas Essbares machen könnte – ob es vielleicht an der Soße lag? fragte er sich. Vielleicht sollte man die Tomaten weglassen? Er fand sein bittet de baggage, tauschte die rituellen Verwünschungen mit einem Gepäckträger aus, der ihm mit der üblichen Ungeniertheit der Franzosen das Handgepäck abnehmen wollte, wich einer Menge englischer hiverneurs aus, veranlasste, dass seine bescheidenen Koffer zum Haus seiner Eltern geschickt wurden, ging hinaus auf den Place de la Gare – und war glücklich. Er war zu Hause.
»Fiacre, Monsieur?«
Eine Droschke? Nein. Er würde laufen. Den Duft des Südens in sich einsaugen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, dass die letzten Worte der Zarin Maria Alexandrowna von Russland, als sie 1879, vor neunzehn Jahren, Cannes nach ihrem Aufenthalt hier verließ, gewesen waren: »Lassen Sie mich noch einmal diese Luft mit ihrem Wohlgeruch einatmen.« Die Wärme drang ein in seine Nase und betörte seine Sinne; und dabei war es erst Anfang März, als er den Place zur Rue de la Gare überquerte und auf Le Suquet, das kleine Haus in der Rue du Barri, und die sechs Wochen reiner Seligkeit zuging.
Denn Cannes bot ihm noch eine andere Wohltat, an der es London, so wunderbar es auch war, zu mangeln schien, zumindest was ihn selbst betraf. Für Auguste war London untrennbar mit Morden verbunden, die ihn so unerbittlich zu verfolgen schienen wie Jack the Ripper seine Opfer.
Nicht lange, nachdem er ein wenig dazu beigetragen hatte (er versuchte das, auch sich selbst gegenüber, bescheiden zu formulieren), die Morde auf Stockbery Towers in Kent aufzuklären, war er Chefkoch im Restaurant des Galaxy Theaters in der Strand geworden – und wieder waren Morde geschehen. So angenehm Plum’s Club war, meinte er doch, dass er mit achtunddreißig Jahren seine Zukunft gründlich überdenken sollte. Sein Traum – der Traum jedes maître, sein eigenes Restaurant oder sogar Hotel zu besitzen – war bis jetzt ein Traum geblieben. Anscheinend ebenso unerreichbar wie sein anderer Traum, der von Tatjana, seiner schönen russischen Prinzessin in Paris. Seiner, dachte er wehmütig. Sie konnte doch niemals die Seine werden. Er war ein Koch, wenn auch ein maître, und sie war eine Prinzessin.
Aber er hatte sich mit Entschiedenheit gesagt, man kann kein Gericht für eine Grimod-Jury zubereiten, ohne auch Kartoffeln zu schälen. Und Plum’s Club am St. James’s Square war eine Kartoffel très sympathique. Ach, so unglaubhaft es auch war, selbst an diesen ruhigen, vornehmen Zufluchtsort verfolgten ihn all die traurigen Ereignisse. Sie hatten ihn zwar mit cher Egbert, Inspektor Egbert Rose von Scotland Yard, zusammengebracht, aber Mord ist Mord, er zerrte an den Nerven. Er brauchte Urlaub.
Es war unmöglich, dass die kalte Hand des Mordes auch nach diesem wunderbaren Ort voll Sonne und Wärme griff.
Anfang März war in London keine Zeit der Wohlgerüche und dufterfüllten Lüfte. Der Himmel war grau, selbst dann, wenn man ihn durch den Rauch der Schornsteine hindurch noch wahrnehmen konnte, der sich nicht auflöste, sondern düster über den geschwärzten Gebäuden hing. Auf den schmutzigen Bürgersteigen drängten sich, während der Hansom seine Fahrt nach Wapping fortsetzte, ebenso düstere Londoner – zumindest in diesem Teil von London.
Als der Hansom am Ziel angekommen war, wickelte sich Inspektor Egbert Rose fest in seinen Mantel und bezahlte dem Kutscher seine zwei Schilling, nachdem er die Schlacht, ob die Fahrt noch innerhalb des Viermeilenradius lag oder nicht, durch seine Forderung gewonnen hatte, das Entfernungsbuch einzusehen. Er ignorierte dessen Blick des Missfallens wegen der kärglichen, von Scotland Yard bewilligten Trinkgelder und bahnte sich seinen Weg am Flussufer entlang. Da er von den Tagen seiner Streifengänge, die nun zum Glück zwanzig Jahre zurücklagen, mit dieser Straße wohlvertraut war, überraschten ihn der Schmutz und die Gerüche nicht; die Themse wirkte an diesem trüben Tag wie eine schlechte Fahrstraße. George Peabody, dieser Philanthrop, hätte hier wirklich einige seiner Millionen für neue Wohnhäuser verwenden können. Der Ort hatte sich seit mindestens hundert Jahren nicht verändert.
Hier wimmelt es nur so von Diebsgesindel, dachte Rose grimmig, als er die Tür zum Seamen’s Rest aufstieß und die versammelte Gesellschaft musterte. Ein Wirtshaus am Fluss war natürlich voll von Seeleuten, und es schien, als wäre der ganze Abschaum der Menschheit auf diese Räuberhöhle zugestrebt. All die Schurken aus dem Strafregister der Themse-Polizei und auch die Laskaren, Araber, Chinesen – alle hielten mitten im Gespräch inne, als er eintrat. Sie alle erkannten einen Bullen, sobald er auftauchte. Besonders wenn es ein Schnüffler war.
Lediglich der Wirt, ein Mann mittleren Alters mit einem eindrucksvollen gelockten Backenbart, schien nicht beunruhigt. Er prüfte sorgfältig ein Glas und pfiff dabei bedächtig »Der Mann, der die Bank in Monte Carlo sprengte«.
»Ah, Higgins«, sagte Rose verbindlich. »Ich komme wieder mal wegen dieser Fabergé-Ostereier.« Er hielt es mit der direkten Methode.
Der Wirt ließ das Glas fallen und fing es dann so geschickt wieder auf, als wäre er der berühmte Kricketspieler W. G. Grace selbst. »Na, Inspektor, ich muss an meinen Ruf denken«, sagte er nachsichtig. »Ich will schließlich nicht, dass meine Kunden denken, ich betreibe hier ein Pfandleihhaus für feine Pinkel…« Seine Stimme schwoll an in gerechtem Zorn. »Immer müssen Sie Ihre kleinen Witze machen, Inspektor. Wenn sich’s um die Lizenz handelt, kommen Sie am besten hier rein.« Nach einem Ruf mit Stentorstimme nach »Ma!« führte ihn eine kräftige Hand mit festem Griff hinter die Kulissen. Interessierte und wachsame Augen folgten ihnen.
»Jeden Polizisten würde ich nicht in meine Wohnung lassen«, erklärte Higgins.
Rose glaubte ihm, als er sich dort umsah. Das Zimmer war reichlich, wenngleich nicht auffällig mit den Gewinnen aus Higgins’ Handel, dem des größten Hehlers von London, geschmückt – »internationaler Handel willkommen«. (Die Lage des Wirtshauses bei den Docks war für Überseegeschäfte besonders geeignet).
»Muriel«, brüllte Higgins – diesmal nach seiner Frau.
Es wird also ernst, dachte Rose. Muriel wurde nur herbeigerufen, wenn es um etwas Wichtiges ging. Die Dame erschien, affektiert lächelnd, als wäre Rose ein Mitglied der königlichen Familie. Aber das war nur irreführende Fassade. Hätte Rose sie nicht einmal in voller Aktion gesehen, wie sie mit den hartgesottensten Einbrechern von London schacherte, hätte er sie für eine ziemlich ungeeignete Gefährtin für den geriebenen James Higgins gehalten. Seitdem hatte ihm aufmerksameres Beobachten offenbart, dass sie, wenn vielleicht nicht der eigentliche Kopf in dem Geschäft, so doch zumindest der Schatzmeister war.
»Irgendwelche Neuigkeiten für mich wegen dieser Eier?« fragte Rose, während er die geil emporgeschossenen Blätter einer Schildblume beiseite schob, um sich auf einen Stuhl zu setzen, der umgeben war von Fotografien all der kleinen Higginse, die interessanterweise in teuren Silberrahmen steckten. Es war ein gewagter Versuch gewesen, aber man wusste ja, dass Higgins mit Informationen herausrückte, wenn es in seinem Interesse lag. Und Roses gewöhnliche Kanäle hatten nichts erbracht.
Higgins schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein. Hätten Sie mich nach Lady Beckers Rubinanhängern oder den Manschettenknöpfen vom alten Herzog mit den grässlichen Kameen gefragt, hätte ich Ihnen gefällig sein können. Aber Eier? Nein. Nicht meine Sache.«
»Nein, Higgins? Nichts ist zu heiß, um es anzufassen – das ist doch Ihre Devise.«
Muriel vermittelte für ihren Mann.
»Inspektor, wer will denn schon solche Eier, die jeder erkennt?« Sie hatte die Hände auf dem Schoss liegen – so hätte sie einem Empfang Vorsitzen können.
»Vielleicht jemand im Ausland?«
»Auf ’m Kontinent? Nich doch. Hör’n Sie, unter Brüdern …«, Higgins hielt inne, und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, das fast bis zu seinem Backenbart reichte.
»Ich bin nicht Ihr Bruder, Higgins«, erinnerte ihn Rose höflich.
»Denn eben unter Kollegen. Nein, Ihr Fassadenkletterer is es nich – is jemand aus der High Society, scheint mir. Das is keiner, der auf der Radcliffe Highway der alten Ma Thomas die Teebüchse klaut. Und wo treibt sich die High Society zu dieser Jahreszeit rum?«
Rose sah ihn verständnislos an. »Bei der Jagd vielleicht?«
»Nich doch.« Higgins klopfte nachdrücklich mit seiner Pfeife auf den Tisch. »Nach Cannes gehn sie, runter an die gute alte Riviera.« Ein kräftiges Augenzwinkern machte Rose klar, dass ihm etwas Wichtiges mitgeteilt worden war.
Die halbe Londoner Gesellschaft scheint so ein Fabergé-Ei zu besitzen, dachte Rose finster, als er wieder ging, was gewiss entschieden zu pessimistisch war. Irgend jemand war entschlossen, den ganzen Laden auszuräumen. Aber warum?
Jetzt war er schon seit Wochen mit dem Fall beschäftigt, und noch immer konnte er dem Chef keine Lösung vorlegen. Unterdessen gingen die Diebstähle weiter. Sechs waren es nun schon. Er fühlte sich ganz so wie damals in Hampton Court Maze, als er und Mrs Rose die beiden Jüngsten seiner Schwester Ethel betreut hatten. Alles sehr interessant, aber wie konnte man zum Kern der Sache vordringen? Der lag bei diesem Fall – wenn die Befragungen, die er bisher durchgeführt hatte, wirklich etwas enthielten, das ihn weiterbringen konnte – sehr tief verborgen …
Rose, von dem man meinte, dass er nach seiner erfolgreichen Lösung der Fälle auf Stockbery Towers und in Plum’s Club die seltsamen Gewohnheiten der Aristokratie kannte, war, mit einiger Erleichterung auf Seiten seiner Vorgesetzten, die Aufgabe übertragen worden, den Täter einer Serie von empörenden Juwelendiebstählen ausfindig zu machen. Die Ehemänner der bestohlenen Damen hatten alle ausgesprochen angesehene Stellungen in der Gesellschaft inne. Besonders Lord Westbourne hatte seinen Standpunkt deutlich klargemacht. Die Edelsteine mussten gefunden werden, und zwar rasch. So schwer ist das nicht, hatte Rose gedacht – bis er mit den üblichen Nachforschungen begann. Nichts. Nicht der geringste Hinweis auf das Verbindungsnetz dieser Schufte.
»Und Sie wissen, was das bedeutet, Stitch.«
Sein Untergebener, privat als Twitch bekannt, war begierig zu glänzen.
»Sie hängen vielleicht alle zusammen mit drin«, meinte er eifrig.
Rose betrachtete ihn verdrießlich, und Stitchs längst fällige Beförderung wurde wieder einmal um einige Monate verschoben. »Ist Ihnen schon mal ein Fall begegnet, bei dem die Burschen wirklich alle zusammengehalten hätten? Alle? Denken sie an den großen Juwelenraub von vierundneunzig. Prinzessin Soltykow war in Slough zu der Zeit. Da gab’s sehr wohl Gerüchte.«
Stitch schwieg beleidigt.
»Nein«, überlegte Rose, »da ist ein Amateur am Werke. Oder ein Neuling.«
»Jedenfalls muss er das Zeug immer noch loszuwerden versuchen«, erklärte Stitch mit neuerwachtem Interesse.
»Wie wahr, Stitch, wie wahr. Ich denke, unser Freund Higgins könnte der Mann sein …«
Bei Roses erstem Besuch in Wapping hatte James Higgins ihm das Gesicht eines Mannes präsentiert, der nichts weiter im Sinn zu haben schien, als das nächste Glas Porter zu füllen. Es hatte Roses ganze Überzeugungskraft, gefolgt von ein paar Drohungen, gekostet, ehe Higgins endlich anbot, wegen der verschwundenen Rubine »die Ohren offen zu halten«. Ein zweiter, eiliger Besuch in Wapping war erforderlich, aber nach Roses Gespräch mit dem letzten, dem sechsten, Opfer …
Natalia Kallinkowa, ehemals Primaballerina des kaiserlichen Balletts von St. Petersburg, die den Ertrag der Benefizvorstellung zu ihrem zehnjährigen Bühnenjubiläum dazu verwendet hatte, eine Wohnung in London zu mieten, nahm den Juwelenraub mit mehr Gleichmut hin als ihre Leidensgefährtinnen. Die schmächtige junge Frau von Ende zwanzig hatte das ganze Zimmer mit Glanz erfüllt. Sie tanzte durch den Raum und wies auf die Unordnung, die der Eindringling hinterlassen hatte. Rose, vom Yard nunmehr auf vertrautes Terrain geschickt, beugte sich aus dem Fenster im dritten Stock, das weit unten auf einen Garten hinausging, und bemerkte das Abflussrohr und die kleinen Balkons, über die der Einbrecher in die Wohnung geklettert war. Ihm wurde schwindlig, und er war heilfroh, als er den Kopf wieder zurückziehen konnte. Dieser Herr musste schwindelfrei gewesen sein.
»Und was vermissen sie, Miss – hm – Mrs …«
»Ich werde nur mit Kallinkowa angeredet, Inspektor.« Sie lächelte. Ihr Akzent war entzückend, und sie hatte lebhafte Augen. »Das ist ein Zeichen der Hochachtung, wissen Sie.«
Rose wusste es nicht, aber er akzeptierte es. Bei Russen war er immer vorsichtig. Man konnte nie wissen, ob sie nicht vielleicht in Tränen ausbrachen.
»Den Mann würde ich gern kennen lernen«, sagte die Kallinkowa ein wenig nachdenklich.
»Ich auch, Miss – Kallinkowa.«
Sie lachte – es war ein klangvolles leises Lachen. »Ach, mon cher Inspecteur, es war mein Ei, das dieser Einbrecher wirklich wollte.«
»Ihr Ei, Miss? Sagten Sie Ihr Ei?« Sein verdutzter Blick zeigte, dass ihm Bilder von gestohlenen Frühstücksgedecken vorschwebten.
Die Kallinkowa lachte. »Mein Fabergé-Ei. Ein Geschenk von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten Igor. Verstehen Sie?«
Inspektor Rose verstand augenblicklich. Der Fall auf Stockbery Towers hatte ihm Einblick in die Gewohnheiten der englischen Aristokratie verschafft; er hegte kaum Zweifel, dass die russischen von ganz ähnlicher Art waren. Außerdem hatte er bei vielen Gelegenheiten schon mit dem Großfürsten Igor zu tun gehabt, wenn er mit erbarmungsloser Häufigkeit zu dessen Wohnsitz in Mayfair gerufen wurde.
»Er schenkte es mir, als wir uns vor einem Jahr trennten. Er weiß, dass ich verschwiegen bin. Natürlich wollte er sich nicht von mir trennen – Sie verstehen –, aber der Zar bestand darauf. Und auch die Großfürstin Anna«, fügte sie wahrheitsgetreu hinzu.
Rose bemühte sich, keine Miene zu verziehen, als sie ihm zuzwinkerte und ihn so aufforderte, auf ihren Scherz einzugehen. Doch das gelang ihm nicht, und er brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Jedes Ei, Inspektor, enthüllt, wenn man es öffnet, einen kostbaren Gegenstand. Äußerlich ist es die Handwerkskunst, die ihm seinen Wert verleiht, innen aber enthalten die kaiserlichen Eier Edelsteine oder Gold, zu einem Gegenstand geformt, zum Beispiel der kaiserlichen Kutsche. Aber in meinem Ei, Inspektor, und« – sie zögerte ein wenig –, »in all den Eiern der anderen – hm – Freundinnen des Großfürsten befindet sich ein Rubin.«
»Die Liebe einer verehrten Frau, wie?« sagte Rose unbedacht, ganz gebannt von dieser Geschichte.
»Sehr richtig, mon cher Inspecteur.« Sie lachte glucksend und fuhr dann nachdenklich fort: »Und ich glaube, lieber Inspektor, auch all jenen anderen Damen wurde ihr Ei gestohlen. Sie erzählten mir doch, dass es mehrere Fälle von Juwelenraub gegeben hat, nicht wahr? Waren es vielleicht Rubine? Wenn Sie die Damen fragen würden – taktvoll natürlich, sie haben Ehemänner …« Sie zuckte die Schultern.
Auf dem Rückweg ging Rose mit gerunzelter Stirn im Geiste seine Liste durch. Es folgten taktvolle Nachforschungen, die ans Licht brachten, dass weiteren früheren Geliebten des Großfürsten aus bedeutenden Häusern Britanniens nach und nach fünf weitere Fabergé-Eier gestohlen worden waren – und alle Eier enthielten Rubine. In jedem der Fälle hatte sich der Dieb über ein Abflussrohr, über Balkone und einmal über einen Baum in der Nähe Zugang zum Haus verschafft. Fünf erneute Befragungen folgten. Rose schauderte es in der Erinnerung an zwei davon. Diesen tragödienhaften Ausbruch von Rachel Gray (Mrs Cyril Tucker) würde er nicht noch einmal über sich ergehen lassen wollen. Er hatte das Gefühl gehabt, als säße er in einer Vorstellung von Mr Pineros Theaterstücken. Wie es Mrs Tuckers Stellung als einer der führenden Tragödienköniginnnen Londons zukam, war sie mit geschlossenen Augen durch das Zimmer gewankt – die jedoch nicht so weit geschlossen waren, dass sie nicht die Chaiselongue gefunden hätte, um graziös darauf zusammenzubrechen – und hatte von Zeit zu Zeit »mein Mann darf es nicht wissen« gestöhnt. Oder Lady Westbourne – eine völlig andere Natur. Kalt und abweisend wie sie war, musste er die Informationen aus ihr herauspressen wie aus einer Zitrone. In allen fünf Fällen musste verhindert werden, dass die Ehemänner die ganze Wahrheit erfuhren.
Dafür gab es, wie Rose widerwillig zugestand, gute Gründe. Ein Fabergé-Ei konnte man, wenn nicht vom Zaren selbst, nur von einem der Großfürsten des russischen Reiches geschenkt bekommen. Und Großfürsten waren nicht dafür bekannt, so wertvolle Geschenke zu machen, wenn ihr Verhältnis zu der Empfängerin nicht ein sehr enges war. Da aber selbst die Anfertigung dieser Eier – die nur Gaben eines Großfürsten an frühere Geliebte und daher etwas weniger kunstvoll gearbeitet waren als die Fabergé-Eier des Zaren für die Zarin – mindestens ein Jahr dauerte, folgte daraus, dass die Freundschaft mit der Dame keineswegs eine vorübergehende Laune gewesen war. Deshalb übersahen Mrs Rachel Tucker, Lady Westbourne und drei weitere Damen von gleichermaßen untadeligem gesellschaftlichem Rang, wenngleich nicht untadeliger Moral, geflissentlich den Diebstahl des Eies selbst, als sie, wenn auch widerstrebend, den Diebstahl des Rubins meldeten. Den Ehemännern, die von den in ihren Wohnungen verborgenen Fabergé-Eiern nichts ahnten, wäre aber das Verschwinden eines Rubins nicht entgangen. Denn natürlich hatten die Damen nicht widerstehen können, diese zu tragen. Es waren außerordentlich schöne Rubine.
Die Kallinkowa, die keinen Ehemann hatte, der sich wundern konnte, warum seine Frau ein Fabergé-Ei geschenkt bekam, war in Jagdlaune geraten und berichtete Rose, was während der Empfangsstunden der Londoner Damen über die fünf anderen Bestohlenen geklatscht wurde.
»Den Mann würde ich gern kennen lernen«, wiederholte die Kallinkowa, als Rose Ende Februar wieder mit ihr sprach und ihren Verdacht hinsichtlich ihrer Mitopfer bestätigte. »Was für ein Künstler! Wie ich selbst.« Sie drehte ihre Pirouetten, obwohl sie in einen schweren engen Seidenrock gezwängt war. »Aus einer Sammlung nur das edelste Stück zu stehlen! Mein Rubin ist wunderschön, aber er ist nichts im Vergleich zu dem Ei selbst. Er will nur das Schöne, das Werk des Meisters. O ja, er ist selbst ein Künstler, nicht wahr, Inspektor?«
»Er ist ein Dieb, Miss Kallinkowa«, sagte Rose verdrießlich; »und es ist meine Aufgabe, ihn zu fassen.« Eine Aufgabe, die mit jeder Minute schwieriger wurde. Ein Juwelendieb war eine Sache, aber ein Dieb von Fabergé-Eiern roch nach etwas anderem: Nach internationalen Kunstsammlern zum Beispiel. Und das hieß, der Commissioner würde ihm ständig im Nacken sitzen, und der Chief Constable ebenfalls.
Er seufzte, und die Kallinkowa lachte über seine kummervolle Miene. Er sieht aus wie ein Spürhund, entschied sie, während sie ihn abschätzend musterte. Ein zuverlässiger Freund – und ein schonungsloser Jäger, mit seinen wachsamen grauen Augen.
»Beschreiben Sie mir lieber die Fabergé-Eier ganz genau, Miss«, sagte Rose.
Die Kallinkowa legte bescheiden die Hände auf den Schoss.
»Die Eier, die Seine Kaiserliche Hoheit der Zarin und der Zarinwitwe schenkt, sind natürlich größer und kunstvoller gearbeitet, und die Geschenke im Innern sind kleine Kunstwerke für sich. Solche Eier konnte Igor natürlich nicht vergeben. Es wäre nicht comme il faut. Trotzdem sind sie wunderschön. Auf der Außenseite«, sagte sie lächelnd, »ist ein Porträt von Igor selbst, umgeben von winzigen Diamanten. Das Ei – mein Ei ist blassgrün emailliert und mit goldenen, sich kreuzenden Linien überzogen. Und im Innern all dieser Eier, sagt Igor, befinden sich die Rubine. Aber eine Frau ist schließlich weitaus wertvoller, nicht wahr, Inspektor?« Ihre Augen blitzten. »Das sollte Igor wissen, bevor er sich eine andere Geliebte nimmt«, fügte sie vieldeutig hinzu.
»Hatte der Großfürst außer denen, die wir kennen, noch weitere – hm…?«
»Geliebte? Ach, Inspektor«, sie lächelte anmutig, »wie kann ich das wissen? Igor ist ein sehr« – sie hielt inne und neigte den Kopf zur Seite – »schwärmerischer Mann«.
Rose erblasste bei dem Gedanken, einen Fassadenkletterer auf der Fährte eines schwärmerischen Mannes zur Strecke bringen zu müssen. Warum mussten diese Großfürsten auch in London leben? Warum blieben sie nicht in Russland? Irgendwo außerhalb seines Verantwortungsbereiches.
»Da ist noch etwas, Inspektor«, fügte sie hilfsbereit hinzu. »Mir scheint, es gibt da noch ein weiteres Ei – Sie verstehen, ich bin eine femme du monde, und Igor sprach anders mit mir als mit den übrigen –, ein Ei, das größer war und prächtiger als die anderen – nicht weil er die Dame höher schätzte, sondern weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdient, wissen Sie. Natürlich benötigte sie mehr Geld. Aber sie wollte gar kein Geld, sondern ein Ei, das besser sein musste als die übrigen, so sagte sie. Igor war nicht glücklich darüber, aber er gestand es ihr zu, um ihre Gunst zu erlangen. Diese Dame lebt nicht in England, deshalb denke ich, ihr Ei ist entweder noch nicht gestohlen worden oder Sie haben nur noch nicht davon gehört.«
»Wenn es nicht um jemand in England geht, ist es nicht meine Sache«, erwiderte Rose rasch. »Die anderen Länder sollen sich selbst um ihre Diebe kümmern«.
»Vielleicht weiß Ihr Dieb noch nichts von dem Ei. Vielleicht kommt er aus London und hört einfach nur, was man so redet. So wie ich.« Sie lachte.
»Wer ist die Dame?« Rose war unwillkürlich neugierig.
Sie breitete bedauernd die Hände aus. »Ich weiß es nicht, Inspektor.« Als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie und gab nach. »Doch, Inspektor, ich weiß es. Ihr Name ist La Belle Mimosa.«
»Wie?«
»Die schöne Mimosa.«
»Mimosa was?«
»Nichts weiter. La Belle Mimosa. So kennt man sie, und so wird sie stets genannt. So wie ich die Kallinkowa bin. Das sagt etwas über unsere Berufe aus. Ich bin die erste Ballerina der Welt, sie ist die berühmteste Kurtisane. Den Sommer über hält sie sich in Paris und Biarritz auf, im Herbst ist sie in Mentone und im Winter in Cannes.«
»Cannes?« Rose spitzte die Ohren.
»Aber ja. Im Februar und März ist doch jedermann in Cannes. Ich auch. Ich reise morgen ab. Letztes Jahr habe ich in Petersburg in Zarskoje Selo für den Zaren getanzt. In diesem Jahr bin ich in London und Paris aufgetreten und werde jetzt in Monte Carlo tanzen. Sie kommen doch, mich zu sehen? Ich werde meine Odette nur für Sie tanzen, lieber Inspektor.«
Cannes? Dahin wollte doch Auguste. Rose verbannte die wenig ehrerbietigen Gedanken, die ihm in den Sinn kamen, als er das Haus der Kallinkowa verließ, und trat hinaus in die beißende Kälte von Londons Mayfair.
Das war vor sechs Wochen gewesen. Seitdem hatte es keine weiteren Diebstähle von Fabergé-Eiern oder deren Inhalt gegeben – und reichlich wenig Fortschritte bei der Aufklärung der sechs bereits begangenen. Zu Higgins zu gehen war noch das Beste gewesen, was er tun konnte. Missfallen zeigte sich kurz auf Roses Gesicht, als er draußen vor Seaman’s Rest in den Hansom kletterte, um zum Yard zurückzufahren. Irgend etwas an der Sache war merkwürdig. Higgins wusste etwas, das war klar. Und warum war immer wieder die Rede von Südfrankreich?
Dies versprach, ein wunderbarer Urlaub zu werden. Auguste blickte zum Fenster hinaus aufs blaue Meer. Der Geruch des Mittelmeeres wehte herein oder vielmehr der Fischgeruch von dem geschäftigen Treiben im Hafen unterhalb des Hauses. Und über allem lag der Duft, der aus der winzigen altmodischen Küche aufstieg, wo seine Mutter kochte, der Duft des Mittagessens, das sie nun einnehmen würden. Hier war er lediglich der Sohn, nicht der maître. Es hatte seine Mutter sogar gekränkt, als er ihr bei der Zubereitung des Essens helfen wollte. Es war ein faux pas ersten Ranges gewesen.
»Nein, mein Sohn«, hatte sie mit Entschiedenheit gesagt, »erinnere dich, du bringst nicht einmal eine brandade fertig. Der Himmel weiß, wie du in London für dich sorgst.« Es war nutzlos darauf hinzuweisen, dass die unglückliche Sache mit der brandade vor dreiundzwanzig Jahren passierte, als er fünfzehn war. Also hatte er sich dankbar in seine Rolle als inkompetenter Sohn geschickt. Ebenso nutzlos wäre es gewesen, seine Mutter darauf hinzuweisen, dass brandade wohl kaum ihre eigene Spezialität gewesen sein konnte, bevor sie Papa geheiratet hatte und in die Provence gezogen war. Brandade hatte in Lewisham, wo sie geboren war, sicher keiner gekannt, und auch nicht auf Climpton Castle, wo sie in Diensten stand, als sie Papa kennenlernte.
Er war entsetzt gewesen, wenn auch im stillen ganz froh, als er feststellte, dass seine Eltern in dieses kleine Haus zurückgekehrt waren, nachdem er ihnen eine schöne und geräumigere Villa an der vornehmen Route de Fréjus gekauft hatte.
Sie hatten sich verteidigt. »Mon fils, wir kannten da doch niemanden.« Sein Vater, noch immer von ebenso hoher aufrechter Statur wie Auguste selbst, hatte entschuldigend die Schultern gezuckt. »Das waren doch alles englische Lords und Ladies.«
»Und keine von ihnen konnte eine sauce d’ail zubereiten«, schaltete sich seine Mutter verächtlich ein. »Ganz zu schweigen von Albert-Pudding. Stellt euch das vor! Und als ich unsere Nachbarin fragte, wie sie die Soße für die gigot macht, wusste sie es nicht.« Leidenschaftlich von der Überlegenheit der englischen Küche überzeugt, als sie Papa heiratete, schwankte sie nun, je nach Laune, zwischen der englischen und französischen hin und her. Während ihrer sporadischen Ausbrüche von Patriotismus hatte sie Auguste die Liebe zur wahren englischen Kochkunst vermittelt.
»Maman, weiß denn die Großfürstin Anna, wie eine sauce d’ail zubereitet wird?« fragte Auguste liebevoll erzürnt. Das war für ihn ein weiterer Grund zur Sorge. Die Eltern weigerten sich, mit dem Arbeiten aufzuhören. Sie gingen ja nicht jeden Tag hin, erklärte der Vater, aber wenn man sie während der Monate, in denen Großfürst Igor anwesend war, darum bat, machte Maman sich auf den Weg zur Küche und Papa zum Park der Villa Russe.
»Sie ist eine Großfürstin, mein Sohn«, sagte der Vater vorwurfsvoll. Das war nicht zu bestreiten. »Und außerdem eine Russin. Unsere Nachbarn sind Engländer.«
»Aber warum begreifen sie nicht, wie aufregend es ist, eine Hollandaise zu rühren oder eine echte brandade zustande zu bringen«, fragte die Mutter gebieterisch und kehrte damit zum Kern der Sache zurück – den Speisen. Die Gewohnheiten der vornehmen Gesellschaft waren ihr schon immer ein Rätsel gewesen, selbst nachdem sie den größten Teil ihres Lebens für sie gearbeitet hatte.
Seine Eltern waren also in das Haus zurückgekehrt, das im Schatten der Festung Mont Chevalier unterhalb der Kirche Notre Dame d’Espérance auf den Hafen hinausging. August war froh darüber, auch wenn das egoistisch war, denn er liebte dieses Haus voller Erinnerungen, das geschmückt war mit in leuchtenden Farben bemalten Tellern und Töpfen und die Provence selbst atmete. Er war in diesem Haus geboren worden, und so lange er sich erinnern konnte, hatte diese alte chocolatière auf der Anrichte gestanden, hatten die kleinen Krippenfiguren, bereit für Weihnachten, in der Kommode gelegen, und der angeschlagene Krug mit der Inschrift »Ein Geschenk aus Margate«, Papas erstes Geschenk für Maman, auf dem Kaminsims gestanden.
Die Villa hätten sie vermietet, erklärte ihm sein Vater voller Stolz über sein Geschick in Geldgeschäften. Um Einnahmen zu haben, damit sie nicht arbeiten mussten.
»Aber ihr brauchtet doch nicht zu arbeiten«, rief Auguste.
Als sie sahen, dass sie ihn verstimmt hatten, überschlugen sie sich mit Erklärungen. Es war so anregend in der Villa Russe, und sie wollten das nicht missen. Und die kleine Villa in der Route de Fréjus war an une grande dame vermietet worden. Eine Russin. Madame Kallinkowa.
»Kai…« Auguste war wie gebannt. Plötzlich versprach dies nicht nur ein schöner Urlaub zu werden, sondern der Urlaub seiner Träume.
»Sie tanzt im Ballett in Monte Carlo«, erklärte die Mutter stolz. »Im Theater des Kasinos. Aber es kostet fünfzehn Francs Eintritt, da gehn wir nicht hin.«
»Maman.« Auguste umarmte seine Mutter, wie sie da stand, groß und steif, als fürchtete sie, sie könnte verraten, wie sehr sie ihn liebte. Er küsste sie voll Begeisterung. »Ihr sollt jeden Abend hingehen. Ist sie jetzt hier?«
»Sie ist vor zwei Wochen angekommen, mon fils.«
»Übrigens«, sagte Auguste beiläufig, als er mit der Fischsuppe begann, »es wird heute Abend spät werden.« Ein winziges Stirnrunzeln. Irgend etwas war anders – da war doch früher nicht so viel Fenchel dran gewesen? »Maman …« Er überlegte es sich anders. Kein Wort der Kritik sollte diesen vollkommenen Tag stören.
Er war Natalia Kallinkowa im Gwynne, dem Hotel in der Jermyn Street, begegnet, das für seine Speisen und seine zwanglose Atmosphäre berühmt war und von der gestrengen Emma Pryde geleitet wurde. Er bewunderte die Kallinkowa, liebte die Art, wie sie die Hände bewegte, die Lust, mit der sie sich über ihren Lachs hermachte, liebte das Funkeln ihrer Augen, ihre Art zu gehen – und am allermeisten liebte er sie selbst. Sie hatte mit einem berühmten Politiker diniert, aber er schien keine wichtige Rolle in ihrem Leben zu spielen. Sie lud Auguste ein, sie zu besuchen, und er fand warme Aufnahme. Er lächelte in seeliger Erinnerung. Es folgten viele glückliche Tage (und Nächte); er sah sie die Odette tanzen, weinte über ihre Giselle, lachte über ihre Coppelia – und liebte sie in der Nacht. Aber sie wich ihm aus. Wann würde er sie Wiedersehen? Oh, das wüsste sie nicht. Immer hatte sie Engagements, in diesem oder jenem Land, und wenn sie nicht tanzte, dann dinierte sie hier und dort – überall. Und jetzt war sie in Cannes.
Voller Erwartung meldete er sich in der kleinen eleganten Villa an der Route de Fréjus an. Etwas später erbaut als die ersten hastigen Äußerungen früher viktorianischer Größe bei den Briten, hatte man sich bei der Villa Lavendre für klassische griechische Säulen und Portiken, weiße Steine und große Fenster entschieden. Durch eines der letzteren sah ihn die Kallinkowa kommen.
»Bonjour, Auguste.« Sie begrüßte ihn so enthusiastisch, als wären sie erst gestern zusammen gewesen, und nicht vor drei Monaten.
»Du bist nicht überrascht, mich zu sehen?«
Sie setzte sich anmutig, dann erhob sie sich wieder, als könnte sie es nicht ertragen, stillzusitzen. »Ich freue mich, dich zu sehen, chéri. Du möchtest mich wohl so haben wie die tragische Madame Gray …« Sie gab ihm eine treffende Vorstellung von Rachel Gray als Mrs Tanqueray in dem Pinero-Stück.
Auguste lachte, und das gefiel ihr. Sie hatte Auguste gern. Sogar sehr. Sie liebte seinen Sinn für Humor, seine Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, seine schlanke Gestalt (wenn man seinen Beruf bedachte) und seine dunklen seelenvollen Augen.
»Eh bien, und was machst du hier, Auguste? Sag es mir schon. Dein Inspektor Rose, von dem du mir so oft erzählt hast – hat er dich hierher geschickt?«
»Egbert?« Wie immer verstand es die Kallinkowa, ihn zu überraschen. »Warum sollte Egbert mich hierher schicken?« Er schaute ihr zu, wie sie durch das Zimmer tanzte, begleitet vom leisen Knistern ihres kirschroten Seidenkleides.
»Gefällt es dir?« Sie hatte seinen Blick bemerkt. »Die neue Farbe. Mein Dienstmädchen ist entsetzt. Es sei doch Fastenzeit, hat sie mir erklärt. In Frankreich kleidet man sich in solcher Zeit so düster, aber ich verehre le Bon Seigneur auf meine Weise, nicht mit einem schrecklich düsteren Kleid.« Sie drehte eine Pirouette, und die kirschroten Röcke bauschten sich und enthüllten duftige Spitze.
August nickte fasziniert.
»Nun gut. Eh bien, Inspektor Rose arbeitet an einem Fall. Ich dachte, er würde dich möglicherweise an seiner Stelle nach Cannes schicken, vielleicht, um La Belle Mimosa zu besuchen.«
«Was für ein Fall? Und was ist La Belle Mimosa? Ein neues Restaurant? Hast du es ausprobiert?«
»Non, chéri, es ist kein Restaurant. Es ist eine Dame.« Sie drehte wieder eine Pirouette. »Na ja, eine Art Dame«, fügte sie lachend hinzu. »La Belle Mimosa ist une poule de luxe.«
»Und warum sollte Egbert mich hierher schicken, um diese Kurtisane zu besuchen?« fragte Auguste misstrauisch. »Das ist wohl einer deiner Scherze, chérie? Und hör bitte auf herumzuwirbeln, ma mie.« In romantischer Stimmung hatte er einst ihre ruhelose Grazie verglichen mit den Wellen der blauen See in ihrem beständigen sanften Auf und Ab auf ihrem zeitlosen Wege. Heute war sie lediglich irritierend.
»Oui, Auguste.« Ungewohnt nachgiebig ging sie zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich auf eine Weise, die der Zarin selbst angemessen gewesen wäre.
»Das ist kein Scherz. Es«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, »geht um …« Sie hielt inne. »Nein, ich will es dem Inspektor überlassen, es dir zu erzählen.« Das war ihre Rache.
»Es geht doch wohl nicht um einen Mord?« fragte Auguste besorgt.
»Nein«, lachte sie. »Nicht um Mord.«
»Dann kommt Egbert nicht«, sagte er voll Bedauern. »Sie würden ihn nur bei einem Mord schicken.« Schade! Es hätte ihm Freude gemacht, Egbert zu zeigen, wie eine richtige bourride schmeckte.
»Ach, ich denke, er wird kommen«, sagte sie abschließend.
Inspektor Rose stieg die letzte Treppe zu seinem bescheidenen Büro im Yard empor. Dort in dem kleinen Raum, der auf die Themse hinausging, erwarteten ihn zwei Dinge. Ein Brief und ein schmollender Sergeant Stitch. Der konnte nur mühsam seinen Ärger darüber verbergen, dass man ihm nicht den Inhalt eines Briefes anvertraut hatte, der mit einem Wappen versiegelt war, das selbst Rose beeindruckte.
»Er wollte nicht warten, Inspektor.«
»Wer wollte nicht warten, Stitch?« fragte Rose geduldig.
»Lord Westbourne«, erwiderte Stitch in ehrfurchtsvoller Erwartung. Man konnte von Rose sagen, was man wollte, aber er verstand es, interessante Fälle an sich zu ziehen. Lords und Ladies, Tänzerinnen – das gefiel Stitch. Es gehörte zu den Dingen, die ihn zu Rose halten ließen.
Ohne ein Zeichen des Dankes für soviel Ergebenheit öffnete Rose den Brief. Lady Westbourne, die elegante blonde Gattin dieses ein wenig furchteinflößenden Politikers war eine der Damen, denen man ein Fabergé-Ei gestohlen hatte. Davon schien ihr Mann nichts zu wissen, denn er erwähnte in seinem Brief lediglich den Diebstahl eines Rubins. Er schrieb weiterhin, dass er aus London über sichere Informationen über die Identität des Fassadenkletterers verfüge. Leider müsse er sofort zum Nachmittagszug nach Paris, wo es plötzlich zu einer Krise gekommen war. Er war Teilnehmer an der, wie es schien, ein Leben lang andauernden Konferenz über den Niger – ein Streitfall, der von entscheidender Bedeutung war für die künftigen Beziehungen zwischen London und Paris. Wegen Afrika könnte es sehr wohl zwischen den beiden Ländern zum Krieg kommen, falls Lord Westbourne es nicht schaffen sollte, die anderen Mitglieder seines Komitees zur Vernunft zu bringen. Krieg zwischen Frankreich und England. Napoleon warf noch einmal seine Schatten. Ziemlich unwahrscheinlich, dachte Rose, aber schließlich – man wusste ja nie bei diesen hitzköpfigen Franzmännern! Auguste natürlich ausgenommen. Auguste hatte Verstand, er durchdachte die Dinge, fast wie ein Engländer – aber schließlich war seine Mutter ja auch Engländerin. Das erklärte es wohl.
»Ich sehe Sie dann in Cannes.« Rose las mit gemischten Gefühlen noch einmal seine Anweisungen. »Ich werde Seine Königliche Hoheit den Prinzen von Wales am zehnten selbst empfangen. Sie erwarte ich am elften um neunzehn Uhr nach dem Spiel im Pavillon.«
Weiches Spiel? Welcher Pavillon? Cannes? Was in aller Welt wird der Chief Constable dazu sagen? Das ist eine rein rhetorische Frage, dachte Rose mit einigem Vergnügen. Jetzt, da Lord Westbourne gerufen hatte, wusste er genau, was der Chief Constable sagen würde.
Vage Andeutungen über Fassadenkletterer, »verborgene Abgründe« bei dem Fall und Hinweise von Higgins hatten den Chief Constable nicht bewegen können, seinem besten Detektiv eine Spritztour an die Côte d’Azur zu erlauben. Der letzte Mann, der dorthin gefahren war, hatte die Freuden des Casinos von Monte Carlo entdeckt und war nie zurückgekehrt. Jetzt gab es keine Frage. Lord Westbourne hatte gerufen, und er würde gehen. Ein seltenes Lächeln der Zufriedenheit huschte über sein kummervolles Gesicht. Er würde einige von jenen Gerichten der Provence probieren können, von denen Auguste dauernd geredet hatte, und dazu einen netten leichten Fall zu lösen haben. Dann fiel ihm plötzlich – ein wenig verspätet – etwas ein. Was würde Mrs Rose dazu sagen? In ihrer fünfundzwanzigjährigen Ehe waren sie kaum einmal getrennt gewesen, und nun musste er ihr mitteilen, dass er an die Côte d’Azur fahren würde und nicht wusste, wann er zurückkommen würde. Er freute sich jetzt gar nicht darauf, nach Hause zu kommen.
Auguste ging gemächlich den Boulevard de la Croisette zurück und bewunderte den rosaroten Schein der Sonne, die hinter dem Esterel unterging. Gab es etwas Schöneres auf der Welt als einen Sonnenuntergang in Cannes? Vielleicht den Sonnenaufgang über der Halbinsel Croisette mit seinem graurosa Licht und der blendenden goldenen Verheißung. Als er vorn am Hôtel de Ville vorüberkam, um die Straße zur Rue du Barri hinaufzugehen, tauchte die Sonne hinter den Bergen gänzlich unter und ließ nur ein trübes Dämmerlicht zurück; und bis er den Wachtturm unterhalb der Festung Mont Chevalier erreicht hatte, musste er seine Augen anstrengen, um sehen zu können, denn zwischen die hohen Häuser zu beiden Seiten der Straße drang kaum noch Licht. Er bog um die Ecke, und ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn so warm und einladend die Provence am Tage war, ließ sie nun plötzlich etwas von der Wildheit ihrer barbarischen Vergangenheit ahnen. Huschte dort eine Gestalt vorüber oder bewegte sich ein Zweig? Da war doch jemand? Er strengte seine Augen an – die Gestalt eilte durch die Dunkelheit und schien beinahe zu glühen. Er hätte schwören können, dass es ein Mann war, der einen altmodischen Umhang und Hut trug, genau wie bei Dumas. Er wollte hinterherlaufen, um sich zu überzeugen, und wollte es auch wieder nicht. Die Neugier überwog, er rannte los, seine Schritte hallten durch die Stille. Ganz bestimmt lief da jemand vor ihm – lautlos, schweigend – immer im gleichen Abstand. Die Straße machte einen Bogen und – nichts. Nichts als die leere Straße, die nach oben führte, mit ihren hohen Mauern auf der einen Seite und steil abfallend auf der anderen.
Etwas beklommen lachte August über sich selbst, er war einem Schatten nachgejagt. Er war froh, als er wieder den sicheren Hafen seines kleinen Elternhauses betreten konnte. Erst Stunden später, nach einem rouget au safran und einem hiesigen Tresterbranntwein, erwähnte er beiläufig sein seltsames Erlebnis.
Seine Eltern sahen sich an und nickten weise. »Beunruhige dich nicht, mein Sohn«, sagte sein Vater, »es war nur der Geist.«
Auguste erbleichte. »Geist? Was für ein Geist?« Er kreischte fast.
»Der Geist des Mannes mit der eisernen Maske, mein Sohn. Du erinnerst dich doch an die alten Geschichten? Er geht wieder um.«
»Er erscheint nicht sehr oft«, warf seine Mutter tröstend ein.
»Aber ich erinnere mich an keinen Geist«, sagte Auguste.
»Weil er erst vor kurzem wieder aufgetaucht ist«, erklärte sein Vater. »Es hat schon immer Geschichten über ihn gegeben, aber dann hörte man nichts mehr davon. Nur alte Leute erinnerten sich noch an sie. Erst diese Woche hat ihn Mutter Peyret gesehen.«
Der Mann mit der eisernen Maske war ihm in seinen Kinderträumen erschienen. Es gab Tage, an denen er aus seinem Fenster zur Insel Ste Marguérite hinüberblickte, die hinter der Halbinsel Croisette lag. Er konnte gerade noch die Festung erkennen, auf der der Mann mit der eisernen Maske gefangen gehalten wurde, bis man ihn in die Bastille brachte – oder er, wenn man den Gerüchten glaubte, nach Cannes floh und sich hier verbarg. Er hatte Dumas’ »Der Vicomte von Bragelonne« verschlungen. Und er hatte sich selbst als d’Artagnan, den vierten Musketier betrachtet. Doch jetzt sah er die Dinge ein wenig anders! Tote Helden waren eine sichere Sache, umherspukende Geister aber entschieden beunruhigend.
»Es heißt, er sei mit seiner Frau, der Tochter des Gouverneurs, nach Cannes geflohen«, erzählte der Vater aufgeregt. »Ihr Name sei Bonaparte gewesen. Er starb hier, sie floh mit ihrem Sohn nach Korsika. Und dieser Sohn war der Vorfahr von Napoleon. Und da ist jetzt ein junger Mann nach Cannes gekommen, das ist ein Nachkomme des Comte de Bonifacio, und er behauptet, er sei der rechtmäßige König von Frankreich. Ist Geschichte nicht aufregend, mon fils? Und das mit dem Mann mit der eisernen Maske stimmt. Schließlich soll laut Voltaire der Soldat Rioffe gesagt haben, er hätte ihn in Cannes gesehen.«
Auguste war entschlossen, wenn auch nur wegen seines steigenden Unbehagens, alles Gerede von Geistern im Keime zu ersticken. »Aber warum sollte er hier umgehen?«
»Wegen der Gerechtigkeit, mein Sohn«, antwortete seine Mutter mit Nachdruck.
»Und warum will er nur manchmal Gerechtigkeit?« fragte Auguste.
»Ja, das ist merkwürdig«, gab der Vater zu. »Vorher ist er fast fünfzig Jahre lang nicht gesehen worden.«
»Warum gerade in meinem Urlaub?« grollte Auguste.
»Er war der Bruder von Ludwig dem Vierzehnten«, entgegnete seine Mutter gewichtig. »Das sagt Monsieur Dumas.«
»Das sind Legenden, nicht die Wahrheit, Maman«, beharrte Auguste.
»Nicht für die Leute in Cannes, Auguste. Für sie ist er sehr real«, sagte der Vater tadelnd.
»Ja, Papa, der Mann. Aber nicht der Geist. So etwas gibt es nicht. Es muss eine wirkliche Person dahinterstecken. Ich bin doch schließlich Detektiv. Also gut«, sagte er kühn, »ich werde herausfinden, was sich hinter eurem sogenannten Geist verbirgt.«
Immerhin gab das ein hübsches kleines Rätsel für seinen Urlaub. Natalia würde er nichts davon erzählen. Sie war eine Frau, der Gedanke an Geister würde sie aufregen. Wenn nur Egbert in Cannes wäre, dann könnten sie die Sache zusammen untersuchen. Das wäre sehr schön. Denn eine Geisterjagd hätte schließlich nichts mit Mord zu tun.
Die Villa Russe stand in ihrer ganzen weißleuchtenden Pracht an der Chemin de Montrouge hoch oben auf dem Hügel von La Californie im Osten Cannes. Sie bot eine herrliche Aussicht auf das Mittelmeer unterhalb ihres Parks, auf die gesamte Bucht von Cannes – von dem vorspringenden Teil der Halbinsel Croisette mit der Ile Ste Marguerite dahinter bis hin zum Esterel im Westen. Darunter, über den Dächern der sehr viel weniger prächtigen Villen lag der Boulevard de la Croisette und der Park der Hesperiden, wo zur Freude jedes hiverneurs, der bereit war, fünfzig Centimes zu bezahlen, vor mehr als vierzig Jahren zehntausend Apfelsinenbäume gepflanzt worden waren.