Mord nach dem Schlosskonzert - Gabriele Albertini - E-Book

Mord nach dem Schlosskonzert E-Book

Gabriele Albertini

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Beschreibung

Die 16-jährige Nina geht nach dem Schlosskonzert, wo sie ihren Auftritt als Page hatte, in die Disco. Das wird ihr zum Verhängnis. Es kommt dort zu einer heftigen Massenschlägerei, und Nina gerät zwischen die streitenden Parteien. Aber das ist kein Zufall, wie die Polizei schnell herausfindet. Kommissar Adam und sein Team übernehmen die Ermittlungen.

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Gabriele Albertini

Mord nach dem Schlosskonzert

Ein Bruchsal-Krimi

Anmerkungen:

Die Sprache der Bruchsaler wird in diesem Buch durchgehend hochdeutsch wiedergegeben. Das bedeutet keineswegs eine Missachtung dieser Sprache, sondern erfolgte nur, weil es für Bruslerisch keine Schrift gibt.

Auch der Mord nach dem Schlosskonzert geschah nur in der Fantasie der Autorin.

Von Gabriele Albertini ebenfalls erschienen sind die Bruchsal-Krimis:

Mord am Saalbach

Mord in der Huttenstraße Mord in der Silberhölle Mord im Damianstor?

Titel: Mord nach dem Schlosskonzert. Ein Bruchsal-Krimi Titelbildnachweis: Stefan Fuchs Satz: Luis Schmidt, vr Umschlaggestaltung: Jochen Baumgärtner, vr E-Pub-Erstellung: Charmaine Wagenblaß, vr E-ISBN: 978-3-89735-024-3 Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 128 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-89735-976-5. Bibliographische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­graphie; detailierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.ddb.de abrufbar. Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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1

Der Abend war zunächst völlig normal verlaufen, wie der Clubbetreiber Harry Schulze später der Polizei versicherte. Niemand hatte eine solche Entwicklung ahnen können. Dabei war man erfahren und aufmerksam im Club Cabrio. Schließlich bestand die Disco seit fast fünfundzwanzig Jahren und war die bekannteste Lokalität dieser Art in der Bruchsaler Innenstadt.

Um 21 Uhr war Einlass. Man öffnete absichtlich schon so früh, damit auch die unter achtzehn ein wenig Spaß haben konnten. Übrigens wurden auch sehr viele nichtalkoholische Getränke angeboten, und zwar zu zivilen Preisen. Deswegen war der Club sehr angesehen, auch bei den Eltern von Minderjährigen. Es war Schulze wichtig, darauf hinzuweisen. Wenn die Jüngsten gegangen waren, konnte man immer noch eine Menge Geld machen mit denen, die erst ab Mitternacht allmählich ankamen.

Als Schulze persönlich um genau 21 Uhr aufschloss, warteten bereits ein paar Grüppchen ungeduldig vor der Tür. Manche konnten es einfach nicht erwarten, besonders die Jüngsten. Für sie ging es darum, die kurze Zeit bis Mitternacht gründlich zu nützen. Zunächst war der zentrale Raum normal beleuchtet, und die frühen Gäste suchten sich die besten Plätze im Bereich der kleinen, runden Tischchen aus. Von dort hatte man nämlich, das war wichtig, einen Überblick auf die Neuankömmlinge. Auch konnte man in aller Ruhe die ersten Drinks zu sich nehmen. Um halb zehn wurden „die Farben“ eingeschaltet. Als Insider sprach man lässig von „den Colours“, deutscher Artikel und englisches Substantiv. Gemeint war die Disco-Beleuchtung im Club Cabrio. Die Polizei ließ sich das genau beschreiben und vorführen.

„Die Colours“ kamen von vier riesigen Kugeln, die von der Decke herabhingen und, sich ständig drehend, über zahllose winzige Glasplättchen ihr Licht abgaben. Es begann mit einem tiefen Rot, es folgten Gelb, Grün, Blau und ein giftiges Lila, alles sehr intensiv, und dann wurde es tiefschwarz. Das Besondere war, dass die einzelnen Abschnitte verschieden lang waren. Man konnte sich lange in höllischem Rot bewegen, eine gefühlte Ewigkeit, aber schön unheimlich. Die gelbe Phase war dann vielleicht extrem kurz, aber nicht immer. Während die Reihenfolge der Farben immer gleich blieb, konnte man sich auf die Dauer der Phase nicht verlassen. Die Dunkelheit war besonders beliebt. Wenn es schwarz wurde, ging ein Aufstöhnen durch die Masse, halb lustvoll, halb ängstlich, allerdings nur aus nächster Nähe hörbar. Man wusste nie, wie lange es finster bleiben würde.

Es war natürlich niemals absolut finster, darauf legte Schulze Wert. Die eine Seite des Saales mit der Theke war ständig beleuchtet, allerdings so, dass es die Tanzenden möglichst wenig störte. Es gab eine durchgehende Neonröhre an der Decke, die zur Tanzfläche hin mit einer grell bemalten Blende abgeschirmt war. Die wilde Menge der Tanzenden sah darauf nur eine Reihe von schnittigen Autos, meist Rennwagen, die sich anscheinend mitten im Urwald diverse Rennen lieferten. Das Licht dahinter, zum Tresen hin, war rötlich-orange getönt, doch hell genug für die drei Mädchen und den Barkeeper, so dass sie nicht danebengriffen oder beim Eingießen etwas verschütteten. Außerdem sollten sie sehen können, wem sie die Drinks verkauften.

Diese Anlage diente natürlich auch der Sicherheit: Wer sich aus irgendeinem Grund auf der Tanzfläche nicht mehr wohl fühlte, ob es sich nun um einen Schwindelanfall oder um eine durch aufdringliche Mittänzer verursachte Notlage handelte, musste sich nur in Richtung Theke bewegen, dort fand er – oder vielmehr sie, denn es handelte sich fast immer um Mädchen – beim Personal auf jeden Fall Hilfe. Nebenbei bemerkte Schulze, dass diese geniale Anordnung der Theke mit der geradezu raffinierten Beleuchtung seine Idee gewesen war. Es war ihm wichtig festzuhalten, dass sich an diesem Abend niemand schutzsuchend an die Theke geflüchtet hatte.

Die vier Leute hinter der Theke bekamen kaum etwas mit vom Geschehen auf der Tanzfläche, weil das Licht über der Theke ziemlich hell war, vor allem dann, wenn im Saal gerade eine dunklere Farbe herrschte. Deshalb konnten sie keine Aussagen machen, es steckte wirklich keine böse Absicht dahinter. Gleiches galt für Kuno, den DJ. Erstens konzentrierte er sich dermaßen auf seine Arbeit, dass er sowieso nicht wahrnahm, was um ihn herum vorging. Zweitens dachte er viel nach, denn seine Sprüche zwischen den einzelnen Nummern mussten sitzen. Zwar schaute er häufig in die Menge, aber für ihn ging es nur darum festzustellen, ob möglichst alle mit Leidenschaft tanzten. Wenn zu viele ausscherten und am Rand stehen blieben, bedeutete das, dass ihnen die Musik nicht gefiel, also musste er etwas anderes suchen. Nein, Kuno hatte nichts Besonderes bemerken können.

Als Türsteher diente seit langen Jahren Dieter Lohse, ein früherer Boxer, dessen Nase im Laufe seiner Kämpfe all ihre Schönheit eingebüßt hatte. Er besaß die richtige Statur für seinen Job und konnte grimmig dreinschauen. Meistens hatte er einen Helfer, der mit ihm zusammen am Eingang stand. Es war nicht immer dieselbe Person, aber immer derselbe Typ. Am Vorabend war es ein gewisser Leo gewesen, der Lohse unterstützte und sich zwischendurch, wenn es gerade nichts zu tun gab, mit ihm unterhielt. Auch diesen beiden war zunächst nichts aufgefallen. Keinem der Ankommenden war anzusehen gewesen, wie er sich später verhalten würde. Sie hatten einen bereits ziemlich angetrunkenen Besucher abgewiesen, der sowieso Hausverbot hatte, und zwei Mädchen wieder nach Hause geschickt, die bestimmt noch keine sechzehn waren, auch wenn sie sich noch so toll geschminkt hatten. Aber das alles war nicht ungewöhnlich. Für ihre Begriffe ging es „total ruhig“ zu, vielleicht eine seltsame Ausdrucksweise für einen Raum, in dem der Boden dröhnte und die Luft vibrierte.

Schulze selbst war grundsätzlich immer anwesend. Er stand mal am Eingang, mal hielt er sich bei seinem DJ auf, dann stand er hinter der Theke, oft lehnte er lässig davor. Er inspizierte sogar gelegentlich die Toiletten. Als Boss, sagte er, muss man überall sein, und zwar möglichst gleichzeitig. Das war sein Lieblingsspruch. Und wenn der DJ einmal ausfiel, beispielsweise auf Grund einer Erkältung keine Stimme mehr hatte, sprang Schulze ein. Er konnte das, er hatte viele Jahre als DJ gearbeitet, bevor er zum Boss aufstieg.

Harry Schulze vermittelte den Eindruck eines kompetenten Discobetreibers, der sich selbstverständlich an die Regeln hielt und ein Interesse daran hatte, sich mit der Polizei gut zu stellen. Damit sagte er bestimmt die Wahrheit. Ärger mit der Polizei war das Letzte, was er sich wünschen konnte.

Er hatte als Erster bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich am oberen Ende der Theke, am weitesten entfernt vom Eingang und gegenüber der dunkelsten Ecke des Saales. Dort hinten erblickte er (in einer lila Phase) eine dichte kleine Gruppe, die nicht tanzte. Sie waren auf der Tanzfläche und bewegten sich, aber es war eindeutig, dass ihre Bewegungen nicht zum Rhythmus passten.

In dieser Ecke versammelten sich normalerweise die Russen, also die jungen Männer, die meist schon in Deutschland geboren waren, deren Eltern jedoch aus unwirtlichen Gegenden des einstigen Sowjetreiches stammten. Sie blieben gern unter sich, aber sie waren nicht unbedingt Freunde und stritten sich oft. Nur wenn ein Nicht-Russe sie ärgerte, hielten sie natürlich zusammen.

Aber er wollte nicht missverstanden werden: Dass der Streit wirklich von den Russen ausgegangen war, behauptete er keineswegs. Dafür gab es keinen Anhaltspunkt. Im Großen und Ganzen waren die schon in Ordnung. Er war nur in einer Hinsicht sicher: Der Konflikt begann im dunkelsten Teil des Saales. Es konnten auch andere Unruhestifter gewesen sein.

Zugegeben, es gibt ab und zu mal eine kleine Schlägerei im Club Cabrio. Am ehesten entsteht der Konflikt in den Pausen, wenn sich viele an der Theke drängen. Wie leicht schubst da einer den andern, drängt sich vor, ohne an der Reihe zu sein, und schon haut einer zu. Wenn dagegen ein Streit auf der Tanzfläche entsteht, geht es normalerweise um ein Mädchen. Schulze kannte sich aus.

Was freilich dieses Mal die Schlägerei ausgelöst hatte, wusste er nicht. Das musste die Polizei herausfinden. Meistens können die Beteiligten hinterher selbst nicht sagen, was sie angetrieben hat, deshalb beschuldigen sie einfach die Gruppe, die sie nicht leiden können.

Selbstverständlich möchte kein Clubbetreiber eine Schlägerei in seinem Haus. Um dergleichen schon im Keim zu ersticken, gibt es einen ganz einfachen Trick: Man macht das Licht an. Nicht die sanfte Beleuchtung, die Ankommende am frühen Abend begrüßt, bevor „die Colours“ eingeschaltet werden, sondern das wirklich grelle Licht, das jede Ecke ausleuchtet. Man braucht es zum Aufräumen und für die Reinigungskräfte.

Ein plötzlich sehr helles Licht wirkt. Jeder erschrickt, hält inne. Die Musik bricht schlagartig ab. Dadurch wird es dann verhältnismäßig still im Saal.

Nicht so dieses Mal. Die Hölle brach los. Kreischen in den höchsten Tönen, dumpfes Gebrüll, dazwischen Heulen und Jammern. Schließlich eine laute Stimme, die sich jedoch nur mit Mühe durchsetzen konnte: „Arzt! Notarzt! Ruft einen Krankenwagen!“

2

„Was für ein Sonntag“, brummte Kommissar Adam. Er stand am Fenster und schaute hinaus in ein trübes Regenwetter. Es nieselte nur leicht, aber es sah nicht so aus, als könnte es bald aufhören. Der Himmel war grau und hing schwer über der Stadt.

Thomas Weber saß an dem großen Tisch in Adams Zimmer auf dem Polizeikommissariat und kämpfte gegen das Gähnen. Er sah so ordentlich aus wie immer und hielt sich vollkommen aufrecht, aber seine Augen waren müde. Er hatte einen Becher Kaffee vor sich stehen, doch er zögerte zu trinken, denn es war schon der vierte in einer halben Stunde.

Der dritte Polizeibeamte im Raum war Richard Arnold, der Neue, wie man ihn nach ein paar Wochen noch immer nannte, natürlich nur hinter seinem Rücken. Er war ein richtiger Bruchsaler, den es nach zwanzig Jahren in Stuttgart wieder in seine Heimatstadt verschlagen hatte. Adam, der ihn von früher kannte, fand es überaus normal, dass es einen Bruchsaler zurück nach Bruchsal zieht.

„Cabrio? Das gab es zu meiner Zeit noch nicht“, sagte Arnold.

„Wahrscheinlich kennst du das Lokal unter einem anderen Namen. Es hat mehrfach den Besitzer gewechselt und noch häufiger den Namen. Wir sprechen von der Disco unter dem Bürgerzentrum. Erinnerst du dich?“

„Ja, doch, da war mal etwas.“

Weber gähnte.

„Sie sollten nach Hause gehen und sich hinlegen“, sagte Arnold sanft. „Wir halten hier schon die Stellung.“

„Ich bin nicht müde.“ Er konnte kaum die Augen offen halten. „Die jungen Leute halten es ja auch ohne Weiteres bis um fünf Uhr morgens aus. So sehr alt bin ich doch noch nicht. Es ist gar nicht lange her, da habe ich mir auch so manche Nacht um die Ohren geschlagen, ohne dass man es mir am nächsten Morgen angemerkt hat.“

„Sie wollen auf Frau Hartmann warten, nicht wahr?“

„Hartmann? Wer ist das?“

„Oh“, sagte Arnold verwirrt. „Ich meine Ihre Kollegin.“

„Lena? Aber die heißt doch nicht Hartmann.“

Arnold wandte sich verunsichert an Adam. „Nicht? Aber ich bin sicher, dass du sie mir als Lena Hartmann vorgestellt hast.“

„Hm. Kann sein. Ich hatte am Anfang Schwierigkeiten mit dem Namen. Es war halt eine Umstellung.“

„Und wie heißt sie nun richtig?“

„Weber.“

„Ach so. Jetzt verstehe ich. Ich habe wohl bemerkt, dass da etwas zwischen Ihnen beiden ist. Einmal haben Sie sie liebliche Lena genannt, als Sie glaubten, es hört niemand. Aber ich dachte, Sie seien ein Liebespaar.“

„Nein, nein. Wir sind verheiratet. Schon lange.“

„Noch nicht einmal ein halbes Jahr“, korrigierte Adam.

„Aber ich bin ganz sicher, dass auch Frau Betzke neulich von Frau Hartmann gesprochen hat“, verteidigte sich Arnold.

„Frau Betzke! Das ist eine andere Sache. Sie ignoriert, dass Lena ihren Mädchennamen aufgegeben hat. Sie findet das antiquiert. Ihrer Meinung nach hätte Lena ihren Namen behalten oder wenigstens einen Doppelnamen führen sollen.“

„Die Kriminaloberrätin mag Lena wohl nicht?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Adam.

„Die beiden verstehen sich wunderbar“, sagte Weber.

Arnold beschloss, das verwirrende Thema nicht weiter zu verfolgen, und stellte Weber stattdessen eine andere Frage: „Haben Sie heute Nacht überhaupt geschlafen?“

„Ja, tatsächlich, aber nicht sehr lange. Ich war gerade erst eingeschlafen, als der Anruf kam. Die Sanitäter hatten natürlich die Polizei alarmiert. Wie war das eigentlich mit dem Besitzer des Clubs, hat der auch die Polizei verständigt?“

„Zunächst nur das Rote Kreuz. Die Polizei hat er später angerufen. Er dachte anfangs, es sei alles nicht so schlimm.“

„Nicht so schlimm! Ihr hättet den Club sehen sollen! Es war der Morgen nach der Schlacht. Die Verwundeten lagen am Boden und stöhnten. Manche hatten sich aufgerichtet und starrten auf ihre blutigen Hände. Einer stützte den andern. So torkelten sie durch den Raum. Die Sanitäter bewegten sich zwischen den Verletzten. Sie hatten, als ich ankam, schon ein wenig aufgeräumt und die schweren Fälle aussortiert. Wir Polizisten waren meistens irgendwie im Weg. Plötzlich sprang einer auf, nachdem er die ganze Zeit still in einer Ecke gehockt hatte, und stürzte sich in einem jähen Wutanfall auf einen anderen, der gerade an ihm vorbeiging. Wir mussten ihn mit Gewalt zurückhalten. Es herrschte ein Geschrei und Geheule, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Ein paar von diesen Kindern weinten. Auf dem Fußboden schimmerten einzelne Blutflecken. Es war ein grausiger Anblick. Das künstliche Licht war grell und unbarmherzig. Die Sonne, die am Morgen nach der Schlacht aufgeht, hätte die Szene nicht so hart beleuchtet.“

„Habt ihr alle Personalien aufnehmen können?“

„Das war nicht einfach in dem Durcheinander, aber wir hatten wenigstens genug Leute, nachdem die angeforderten Kollegen von umliegenden Revieren eingetroffen waren. Ich habe sechs Beamte beim Ausgang aufgebaut, so dass sie jeden erfassen konnten. Es hat endlos gedauert, weil sie nicht nur die Personalien aufnehmen mussten, man hat die Typen auch noch auf Waffen durchsucht. Dagegen haben die meisten protestiert, einfach aus Prinzip. Dann bemerkte ich, dass die Kollegen nur die jungen Männer untersuchten.“ Weber seufzte. „Ich habe ein bisschen mit ihnen geschimpft, also wundert euch nicht, wenn sich nachher jemand über mich beschwert. Jedenfalls könnten uns da ein paar Messer entgangen sein, die ein fixer Junge schnell seiner Freundin in die Handtasche schob. Aber die Erfassung ist sowieso nicht vollständig. Die Tür zum Notausgang stand nämlich offen. Vermutlich sind in der ersten Panik ein paar von den jungen Leuten einfach davongerannt. Wir können nicht ausschließen, dass der eine oder andere vielleicht deshalb das Weite suchte, weil er der Polizei nicht gern begegnete. Da ist jetzt nichts zu machen. Ich habe vorhin die Liste bei Peter Schmitz abgegeben, er überprüft nun, ob Bekannte von uns unter den Besuchern waren. Der Clubbetreiber meinte, dass wahrscheinlich Russen, also Russlanddeutsche, und Türken aus irgendeinem kaum nachvollziehbaren Grund aneinander geraten sind und die Schlägerei auslösten, aber da bin ich nicht sicher. Die meisten Namen sind jedenfalls deutsch. Wir werden die Liste durcharbeiten und die Leute aufsuchen oder einbestellen. Es wird schwierig sein, die Schuldigen zu finden. Ein paar Anklagen wegen Körperverletzung sind auf jeden Fall drin. “

„Wieso nehmen die Kerle Messer mit, wenn sie zum Tanzen gehen?“, fragte Adam kopfschüttelnd.

„Wir haben eine Menge Messer verschiedener Art konfisziert, ein paar davon lagen herrenlos auf dem Boden. Die wollten ihre Besitzer schnell loswerden. Dass man einzelne Waffen bestimmten Verletzungen zuordnen kann, wage ich zu bezweifeln. Im Übrigen läuft es so: Wenn einer sieht, dass der andere ein Messer in der Hand hat, dann zieht er seines auch. Es ist gewissermaßen ansteckend. Darüber hinaus gab es viele, die als Waffe ihre Fäuste benutzten. Hier waren die blutigsten Eindrücke wahrscheinlich die harmlosesten. Eine Nase, auf die heftig geprügelt wird, gibt mehr Blut her als so mancher tiefe Stich. Ein Mädchen war völlig blutverschmiert im ganzen Gesicht, aber dann stellte sich heraus, dass sie nicht im geringsten verletzt war. Es war gar nicht ihr eigenes Blut. Ihr Freund hatte sie in den Arm genommen, um sie zu schützen, und der hatte einen tiefen Schnitt auf der Wange. Ein großer, muskulöser Typ lag wie tot am Boden, aber er war nur ohnmächtig geworden, weil er kein Blut sehen konnte. Als er wach wurde, begann er zu wimmern und wollte nur noch nach Hause. Mit den Mädchen war es einfacher. Die haben sich nur ständig umarmt. Ich gehe davon aus, dass die Mädchen weniger gewalttätig waren. Aber heutzutage weiß man ja nie.“

„So etwas kannst du nur sagen, weil Lena nicht da ist.“

„Wieso? Sie ist sehr für die Gleichbehandlung der Geschlechter. Es würde ihr nicht gefallen, wenn wir die Mädchen von vornherein als hilflose Gänschen bezeichneten. Vielleicht hat eine von den Süßen um sich gebissen?“

„Das fehlt noch! Weiß man, wie viel Schwerverletzte es gab?“

„Die Sanitäter konnten die meisten schnell versorgen, aber ungefähr ein Dutzend wurde ins Krankenhaus abtransportiert, darunter ein junger Mann mit einer Stichwunde im Hals. Es ist wohl sehr gefährlich, aber Genaueres kann ich nicht sagen. Und dann natürlich das Mädchen.“ Weber verstummte.

„Hast du sie noch gesehen?“, fragte Adam.

„Nein, ich habe nur noch den Krankenwagen gesehen. Er fuhr los, als ich auf den Platz beim Bürgerzentrum ankam. Dr. Wild, der Notarzt, sagte mir nachher, dass sie das Mädchen möglichst schnell wegbringen wollten, weg aus dem Blickfeld der anderen. Es waren genügend Krankenwagen da, sie kamen sehr schnell.“

„Vielleicht konnten sie ja im Krankenhaus noch etwas für sie tun“, meinte Arnold.

Weber schüttelte den Kopf. „Das habe ich auch gefragt, aber Dr. Wild hat mir keine Hoffnung gemacht.“

„Hast du nicht auch eine Tochter, Adam?“, fragte Arnold.

„Drei Töchter. Sie sind schon erwachsen. Wenn ich mir vorstelle, sie gehen abends in die Disco… nein, ich stelle es mir nicht vor. Wieso wurde gerade dieses Mädchen verletzt? War sie zufällig in der Nähe, als einer sein Messer zog? Oder wollte sie vermitteln?“

„Ich habe versucht, ein paar Fragen zu stellen, aber ich habe keine brauchbaren Antworten bekommen. Sie war mitten auf der Tanzfläche, dann fing der Krach an, und plötzlich lag sie auf dem Boden. Bei diesen seltsamen Lichtspielen kann man schlecht erkennen, was geschieht. Ich weiß nicht, ob die Spurensicherung da etwas Entscheidendes herausfinden kann. Sie waren noch beschäftigt, als ich ging. Ich bin nur geblieben, bis alle Besucher abgefertigt waren. Das war gegen fünf.“

„Geh nach Hause“, sagte Adam. „Ich rufe eine Streife, die dich fährt.“

„Nichts da. Ich habe mein Auto dabei. Den kurzen Weg schaffe ich, ohne überm Lenkrad einzuschlafen. – Da kommt Lena.“

Arnold wunderte sich, denn Weber hatte nicht aufgeschaut. Er blickte lediglich in seinen Becher mit dem nun kalt gewordenen Rest Kaffee. Adam fixierte die Tür, offenbar nicht überrascht durch Webers Ankündigung. Zunächst war nichts zu hören, dann näherten sich Schritte auf dem Gang.

Es war tatsächlich Lena, die die Tür aufriss und als Begrüßung nur „Mistwetter!“ sagte. „Ihr Armen, wartet ihr auf mich?“ Sie trug einen hellen Mantel, auf dem winzige Regentröpfchen glänzten. Adam und Arnold sahen ihr zu, wie sie den Mantel auszog und auf einen Haken hängte. Eine Haarsträhne war ihr in die Stirn gefallen, die sie mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten warf.

Weber hatte bei ihrem Eintreten sofort den Raum verlassen. Bevor Lena sich zu den anderen an den Tisch setzen konnte, war er zurück und stellte einen Becher Kaffee vor sie hin. Weber hatte ihn, ohne zu fragen, von dem berühmten Kaffeeautomaten auf dem Flur geholt, der einen überraschend guten Kaffee lieferte. Lena dankte ihm mit einem leichten Lächeln, wurde aber gleich wieder ernst.

„Was wollt ihr wissen?“, fragte sie nach dem ersten Schluck. „Ich habe nicht wirklich viel erfahren. Aber ich kann euch Zahlen liefern.“ Sie kramte aus ihrer Umhängtasche ein Handy, das Adam ursprünglich für ein Gerät zum Telefonieren gehalten hatte, das aber, wie er inzwischen wusste, auch als Notizbuch verwendet werden konnte. Lena nannte es Smartie. „Dreizehn Personen aus dem Cabrio wurden in der Nacht ins Krankenhaus gebracht. Sieben davon wurden genäht, verbunden oder sonstwie versorgt und konnten dann gehen. Zwei weitere sind heute Morgen entlassen worden. Das eine war ein Mädchen mit Kreislaufkollaps, ferner ein junger Mann mit Verdacht auf Gehirnerschütterung und schließlich einer, der einen sehr kranken Eindruck gemacht hatte, dem aber weiter nichts fehlte. Er war nur total betrunken. Ich habe versucht, mit den dreien zu sprechen, aber die Unterhaltung war nicht sehr ergiebig. Sie haben einfach nichts gesehen und konnten nichts berichten, außer dass plötzlich alle aufeinander losgingen. Auch der Patient mit dem Stich in den Hals wusste nicht mehr. Er hat keine Ahnung, wer ihn verletzt hat. Mir scheint, es ist ihm gar nicht klar, dass seine Verletzung lebensgefährlich war. Er hat großes Glück gehabt. Heute ist er wieder munter und fühlt sich wohl, obwohl ihm das Sprechen Mühe macht. Dann gibt es einen mit gebrochenem Kiefer. Eine grausige Sache! Sie haben mich nur für fünf Minuten zu ihm gelassen, ihm geht es schlecht. Er hat lediglich ein wenig genickt, er konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Ich erwarte jedenfalls keine großartigen Auskünfte von ihm. Diese beiden werden ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Insgesamt würde ich sagen, dass wir uns von Aussagen der Disco-Besucher nicht allzu viel erhoffen sollten.“

„Bleibt noch das Mädchen“, sagte Adam.

„Ja, das Mädchen.“ Lena seufzte. „Nina Färber, sechzehn Jahre alt. Einziges Kind. Ordentliche Familie. Der Vater arbeitet bei der SEW, die Mutter ist Bankangestellte. Nina ging aufs Schönborn-Gymnasium.“

„Wissen die Eltern Bescheid?“

„Sie sind schon in der Nacht vom Krankhaus benachrichtigt worden und kamen sofort, um ihre Tochter zu sehen, was aber nicht möglich war. Heute Morgen erschien der Vater wieder in aller Frühe, und ich konnte kurz mit ihm sprechen. Es war gespenstisch. Er stand mitten im Raum und starrte vor sich hin, und nur wenn man ihn direkt fragte, gab er einzelne Worte von sich. Aber er versteht, dass wir uns möglichst bald mit ihm und seiner Frau unterhalten müssen. Es ist zwar Sonntag, aber wir können nicht warten. Ich habe abgemacht, dass ich die Färbers um vier Uhr heute Nachmittag aufsuche. Wer von euch kommt mit?“

Adam erklärte sich bereit.

„Was war das für eine Verletzung?“, fragte Weber.

„Der Arzt in der Notfallaufnahme hatte nicht viel Zeit, aber das Wichtigste weiß ich.“ Lena warf einen Blick auf ihr Smartphone. „Stichverletzung im rechten Unterleib. Hat stark geblutet, war aber nicht besonders tief.“

Weber setzte sich ruckartig auf. „Das heißt?“

„Ach so, das habe ich ja noch gar nicht gesagt. Die Stichverletzung war nicht so schlimm. Nina ist erdrosselt worden. Es war Mord.“

3

Eine alte Frau saß ihnen gegenüber. Ihr Gesicht war grau und zerfurcht, man sah kaum die kleinen, rot geweinten Augen, die sie immer wieder schloss, als wolle sie nichts von der Realität sehen. Strähnig hingen ihr die Haare auf die Schultern herab. Sie trug eine weite, zerknautschte Jacke über einer Bluse, die farblich nicht dazu passte. Sie sprach davon, dass man den Polizeibeamten etwas anbieten müsse. Kaffee vielleicht? Oder Mineralwasser? Sie forderte ihren Mann auf, etwas zum Trinken zu bringen. Es war die automatische Reaktion einer Frau, die Besuch bekommt.

Sie war höchstens Mitte vierzig, aber sie sah aus wie ihre eigene Groß­mutter.

Herr Färber ignorierte ihre Aufforderungen. Er blieb unbeweglich und starrte Lena und Adam an, ohne sie wahrzunehmen. Frau Färber saß an einem Ende des Sofas, er am andern. Zwischen ihnen blieb ein breiter Streifen frei. Die Lücke, in der ihr Kind sitzen sollte?

Bei solchen Begegnungen drückt man sein Beileid aus, und es war bei Adam keine simple Phrase, sondern ein wirkliches Gefühl, denn er empfand tiefes Mitleid mit den verwaisten Eltern. Lena hielt sich kerzengerade, er erkannte an ihrer Haltung, wie sehr sie um Beherrschung kämpfte.

Aber sie mussten Fragen stellen. Adam bemühte sich um einen sachlichen Ton. „Wann hat Nina gestern das Haus verlassen?“

„Kurz nach sechs.“ Die Frage war an das Ehepaar gerichtet, aber Frau Färber gab die Antworten. Vielleicht war es gut für sie, dass es im Augenblick etwas gab, worauf sie sich konzentrieren musste.

„Aber die Disco öffnet doch erst um neun?“

„Ach, die Disco! Sie ging zum Schlosskonzert. Wissen Sie denn das nicht? Das eigentliche Konzert beginnt um acht, aber vorher gibt es noch einen Vortrag, eine Art Einführung, um halb acht. Die Pagen müssen natürlich früher da sein. Sie haben ja einiges zu tun. Und sie müssen sich umziehen.“

Adam verstand. Frau Färber sprach von den Bruchsaler Schlosskonzerten, die im Kammermusiksaal stattfinden und einen Höhepunkt des heimischen Kulturlebens darstellen. Er hatte einmal gehört, dass die hier auftretenden Künstler in die oberste Klasse der deutschen und internationalen Musikwelt gehörten. Er hatte auch schon einzelne Konzerte miterlebt, obwohl es Leute gab, die ihn für unmusikalisch hielten.

„Die Pagen?“, wiederholte Lena. Natürlich kannte auch sie die Konzerte. „Das sind die jungen Leute in schwarzen Kostümen mit weißen Perücken, passend zu unserem Barockschloss, die am Schluss die Blumen überreichen. Ich nehme an, es sind normalerweise Mädchen.“

„Ja, natürlich. Sie verkaufen auch die Programme, und sie zeigen den Leuten ihren Platz, und sie öffnen die Türen, und sie schließen die Türen ……“ Frau Färbers Stimme wurde immer leiser und verstummte.

„Wir fanden es gut, dass sie so etwas macht“, mischte sich Herr Färber ein. „Sie bekommt ein Gefühl für klassische Musik …. Ich meine, sie bekam …..“

„Die nehmen nicht jede. Nina wurde speziell ausgewählt. Und Frau Grieser sagt immer, wie gut sie das macht. Man bewegt sich ja irgendwie anders, wenn man ein historisches Kostüm anhat. Kennen Sie Frau Grieser? Sie organisiert das mit den Pagen. Auch Herr Professor Heck, das ist der Leiter des Kulturrings, der die Konzerte veranstaltet - -“

„Das ist doch unwichtig“, unterbrach Färber.

„Oh. Ja. Entschuldigen Sie bitte.“ Frau Färber senkte den Kopf wie ein gescholtenes Schulmädchen.

Adam räusperte sich. „Nina ging also kurz nach sechs zum Schloss. Ging sie da allein?“

„Nein, sie holt immer unterwegs ihre Freundin Laura ab, die beiden gehen dann zusammen. Laura ist auch bei den Pagen.“

„Laura Wolf, sie wohnt in der Asamstraße“, ergänzte Färber.

„Laura und Nina waren schon zusammen im Kindergarten. Seither sind sie unzertrennlich.“

„Wir werden mit Laura sprechen.“ Adam bemerkte, dass neben ihm Lena etwas mit ihrem Smartphone machte und erwartungsvoll darauf starrte.

„Wie ging es weiter? Die beiden Mädchen gehen also zusammen zum Schloss. Zu Fuß, nehme ich an?“

„Natürlich, es ist ja nicht weit. Aber sie dürfen nicht den kurzen Weg durch den Schlossgarten nehmen, sondern außen herum, durchs Damianstor. Darauf bestehe ich, auch im Sommer, wenn es noch hell ist. Man sollte keine unnötigen Risiken auf sich nehmen.“

Adam fand diese Gedanken vernünftig, bezweifelte aber, dass eine Sechzehnjährige sich immer an die väterliche Anordnung halten würde.

„Und nach dem Konzert?“