Mord im Damianstor? - Gabriele Albertini - E-Book

Mord im Damianstor? E-Book

Gabriele Albertini

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Beschreibung

Beim Überfall auf einen Geldtransport in der Nähe von Wiesental wird einer der Fahrer ermordet. Wenige Tage später liegt ein Toter im Damianstor in Bruchsal. Die Polizei stellt schnell fest, um wen es sich handelt, aber die näheren Umstände seines gewaltsamen Todes bleiben im Dunkeln. Haben sich die Räuber um die Beute gestritten? Kommissar Adam glaubt es nur ungern, aber tatsächlich deutet alles darauf hin, dass ein Bruchsaler für die Verbrechen verantwortlich ist …

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Titel

Gabriele Albertini

Mord im Damianstor?

Ein Bruchsal-Krimi

Impressum

Impressum

Zur Autorin Der wohlklingende Nachname wurde durch Heirat erworben: Gabriele Albertini ist Bruchsalerin, sie wurde hier geboren und kam nach einigen Unterbrechungen immer wieder zurück. Viele Jahre unterrichtete sie Latein, Englisch und manchmal sogar Griechisch, doch jetzt kann sie sich als Pensionärin anderen Aufgaben widmen.

Anmerkung: Die Sprache der Bruchsaler wird in diesem Buch durchgehend hochdeutsch wiedergegeben. Das bedeutet keineswegs eine Missachtung dieser Sprache, sondern erfolgte nur, weil es für Bruslerisch keine Schrift gibt. Es wird darauf hingewiesen, dass die Huttenstraße in Bruchsal eine überaus friedliche Gegend ist. Dass es hier zu allerlei gefährlichen Ereignissen kommt, findet nur in der Fantasie der Autorin statt.

Von Gabriele Albertini ist im verlag regionalkultur auch erschienen: Mord am Saalbach. Ein Bruchsal-Krimi Mord in der Huttenstraße. Ein Bruchsal-Krimi Mord in der Silberhölle. Ein Bruchsal-Krimi Mord nach dem Schlosskonzert? Ein Bruchsal-Krimi

Autorin: Gabriele Albertini Titelbild und Umschlag: Jochen Baumgärtner, vr Satz: Patrick Schumacher, vr E-Book-Erstellung: Henrik Mortensen, Alwina Schweizer vr EPUB: ISBN 978-3-89735-007-6

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 128 S., Broschur. ISBN 978-3-89735-856-0.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

© 2018 verlag regionalkultur Alle Rechte vorbehalten.

verlag regionalkultur Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Basel

Korrespondenzadresse:

Kapitel 1

1

Es war ein ganz gewöhnlicher Samstag.

Sandra Brunner und Heike Knebel trafen sich auf dem Wochenmarkt. Sie begegneten sich zufällig vor dem Metzgerstand aus der Pfalz.

Der Wochenmarkt hat eine besondere Bedeutung für das Einkaufen. Wenn jemand behauptet, man könne die gleichen Lebensmittel auch in einem Supermarkt bekommen, versteht er nicht, wie man den Alltag genießt. Sicher, manches ist im Supermarkt bequemer, zum Beispiel der Einkaufswagen. Vielleicht geht es auch insgesamt schneller, wenn man sich auskennt und die Geschäftsleitung nicht wieder einmal alles umgeräumt hat. Aber wann geht es beim Einkaufen schon um Schnelligkeit? Das Gemüse auf dem Markt sieht frisch aus und es riecht auch frisch. Die Blumen duften anders als in einem geschlossenen Raum. Und die Marktleute sehen aus wie Marktleute, nicht wie Verkäufer. Man pflegt die Illusion, dass es sich um echte Bauern handelt, die in aller Herrgottsfrühe ihre Salatköpfe geerntet haben, um sie jetzt hier in Bruchsal zu verkaufen.

Es geht beim Einkaufen nicht nur darum, bestimmte Dinge zu erwerben. Man geht auch einkaufen, um Leute zu treffen. Auf dem Markt laufen einem auf jeden Fall Bekannte über den Weg, und wenn man noch nicht genug Leute gefunden hat, dreht man einfach noch einmal eine Runde. Was auf dem Markt besser geht als im Laden: Wenn man jemanden am Käsestand sieht, den man nicht treffen will, geht man weiter und besorgt erst das Gemüse.

Schönes Wetter ist nicht unbedingt erforderlich. Bei Regen hat man immerhin ein gutes Gesprächsthema und kann gemeinsam jammern. Aber der richtige Genuss kommt doch erst bei Sonnenschein auf.

Im Übrigen ist der Markt am Samstag natürlich noch eine Stufe gemütlicher als am Mittwoch, denn das Wochenende hat bereits begonnen.

Sandra Brunner und Heike Knebel kannten sich schon lange. Sie waren als Nachbarskinder aufgewachsen, ihre Wege hatten sich erst getrennt, als sie kurz nacheinander heirateten. Sandra hatte ihren Mädchennamen behalten und leitete als selbständige Geschäftsfrau einen Party-Service, während Heike sich ihrer Familie widmete. Da die kleine Melanie und der noch kleinere Pascal für sie einen dichten Terminplan bestimmten, sahen sich die früheren Freundinnen nur unregelmäßig. Umso willkommener war ein Treffen wie dieses auf dem Markt: ohne die Kinder, denen sich an Samstagen der Vater widmete. Er ging nicht gern einkaufen.

Heike Knebel war eigentlich schon fertig, ihr Korb hing ihr schwer am Arm und mit der langen Lauchstange stieß sie immer wieder an. Sandra Brunner hatte es einfacher, sie zog eine große Einkaufstasche auf Rollen hinter sich her. Das hätte sich Heike nie getraut, weil eine solche Einkaufstasche eher für ältere Damen geeignet schien. Aber wenn man das Ding als Trolley bezeichnete, klang es recht flott. Und zudem war es so unendlich praktisch.

Sandra wollte noch Oliven einkaufen, also gingen sie zusammen zu dem wunderbaren Stand des dunkeläugigen jungen Mannes mit den langen Locken, der aussah wie ein Grieche oder Türke, jedoch einen alemannischen Akzent hatte. Seine Auswahl an den verschiedenen Genüssen der Mittelmeerküche war unübertrefflich.

Schließlich hatte auch Sandra genug, und da man sich noch ein bisschen unterhalten wollte, strebten die beiden das Café am Markt an, das nicht mehr „Café am Markt“ heißt. Aber bei dem schönen Wetter waren schon andere auf diese Idee gekommen: Alle Tische waren besetzt, und ins Innere wollten sie an einem solchen Tag nicht gehen. Aber schließlich gibt es in Bruchsal noch andere schöne Cafés.

Auf dem Weg zum Friedrichsplatz sahen sie bald, dass an der Stadtkirche etwas los war. Vor dem Haupteingang hatte sich eine bunte Gruppe Zuschauer eingefunden, die zunächst nur herumstanden und warteten.

„Eine Hochzeit! Wie schön!“

Dies musste nicht ausdrücklich diskutiert werden. Sandra und Heike blieben stehen. Seufzend ließ Heike ihren schweren Korb auf den Boden gleiten. Sandra wandte sich sofort an die Frau, die neben ihr stand, um Heike dann zu berichten: „Sie weiß auch nicht, wer da heiratet.“

In der Mitte, direkt gegenüber der Kirchentür, stellten sich ein halbes Dutzend Leute ordentlich in einer Reihe auf, dirigiert von einer stämmigen, kleinen Frau, die eine weiße Rolle unter den Arm geklemmt hatte. Diese Rolle war ein langes Plakat. Den Anfang drückte die Frau dem links stehenden Mann in die Hand, dann entrollte sie es sorgfältig, wobei die nächsten in der Gruppe es jeweils am oberen Rand festhalten mussten. Sie selbst behielt das Ende und stellte sich schließlich am rechten Rand auf. Jetzt war die Botschaft enthüllt: Auf dem Transparent stand: „Glückliche Reise in die Ehe!“

Noch war die Kirchentür geschlossen, aber man hörte deutlich die Klänge der Orgel. Es konnte nicht mehr lange dauern. Dann wurde die Tür einen Spalt geöffnet, ein Mann mit einer großen, professionell aussehenden Kamera trat heraus und bezog Stellung vor der Tür, nachdem er sich sorgsam umgesehen hatte und vor allem der Sonne einen kritischen Blick zuwarf.

„Der ist von dem Fotogeschäft in der Wörthstraße“, sagte Sandra.

Gleich darauf schlüpfte eine junge Frau durch die Tür und auch sie bereitete sich aufs Fotografieren vor, allerdings mit einer winzig kleinen Kamera. Sie schloss die Tür nicht mehr hinter sich, doch als der Türflügel langsam wieder in den Rahmen glitt, wurden auf einmal beide Flügel energisch aufgestoßen, und die letzten Orgelklänge drangen laut und triumphierend aus der Kirche.

„Jetzt! Jetzt! Pass auf!“, rief Heike. Die Aufforderung war vollkommen unnötig.

Zuerst sah man etwas Weißes schimmern. Dann traten sie in die Tür: die Braut in einem romantischen Traum von Spitze, der Bräutigam ernsthaft in Schwarz. Beide blinzelten gegen die Sonne. Sie sahen glücklich aus, ein bisschen verlegen vielleicht und vor allem erleichtert. Die junge Frau brachte das Paar zum Stehen und knipste. Der Fotograf machte Aufnahmen.

Als sie sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatte, bemerkte die Braut die Gruppe mit dem „Glückliche Reise“-Transparent und machte ihren Mann darauf aufmerksam. Beide lachten und winkten.

Dann kam eine weitere junge Frau aus der Kirche, die sich an dem Brautpaar vorbeidrängte und einen kleinen Jungen hinter sich her zog. Es war ein hübsches Kerlchen mit dunklen Locken, vielleicht zwei Jahre alt, festlich gekleidet in einem hellblauen Anzug, der wie ein Anzug für Erwachsene geschnitten war, einschließlich einer winzigen roten Krawatte. Die Frau stellte ihn vor das Brautpaar und hängte ihm ein weißes Körbchen an einer langen Kordel um den Hals.

„Aha“, sagte Sandra. „Die haben schon ein Kind. Wahrscheinlich ist es bei der Gelegenheit getauft worden.“

„Eine Traufe also! Du, die Braut kommt mir bekannt vor.“

„Tatsächlich? Wer ist das?“

„Das weiß ich im Moment nicht.“

Das Brautpaar wurde nun mit dem Kind zusammen fotografiert. Dann erhielt der Kleine offenbar Anweisungen. Beide Hände senkten sich in das Körbchen, kamen als feste Fäuste wieder hervor und verstreuten in weit ausholender Geste einen Regen von Blütenblättern. Ein zweites Mal griff der Junge zu, das Gesicht angespannt bei dem wichtigen Geschäft, wieder flogen die Blütenblätter. Beim dritten Mal hoben sich die Händchen leer aus dem Korb. Der Junge stand in einem dichten Teppich von bunten Blüten, aber jetzt war sein Vorrat aufgebraucht.

„Süß, der Kleine!“

Erstaunt betrachtete der Junge seine leeren Hände und das leere Körbchen, das er vergeblich schüttelte. Seine Miene verzog sich. Er war wütend. Offensichtlich setzte er zu einem Brüller an. Doch die Frau, die ihm das Körbchen umgehängt hatte, kam dem zuvor. Sie kniete neben ihn und sprach auf ihn ein. Eine ältere Frau eilte ebenfalls herbei und redete ihm zu. Das Kind schaute misstrauisch von der einen zur anderen.

„Wahrscheinlich war es doch keine Taufe. Ich glaube, das da ist seine Mama.“

„Und die andere Frau ist die Oma.“

Heike und Sandra nickten zufrieden. Dieses Rätsel zumindest war gelöst.

Weitere Hochzeitsgäste strömten aus der Kirche und wollten sich zu Fotos aufstellen, aber zunächst drehte sich alles um den Blumenjungen, den weder Mama noch Oma beruhigen konnten. Er stampfte mit seinen kurzen Beinchen und schlug mit geballten Fäusten in die Luft. Schließlich löste sich aus dem Kreis der Gäste ein junger Mann und kam heran, um die Situation zu retten. Er reichte der Oma galant den Arm und half ihr hoch, während die Mutter des Kindes bereits aufatmend zur Seite trat. Was er dem Kind sagte, war nicht zu verstehen, aber der Kleine hörte ihm ruhig zu und ließ es geschehen, dass der Mann ihm erst die eine Faust öffnete und um die Kordel des Körbchens legte und dann die andere Faust. Am Ende stand der kleine Mann breitbeinig da, mit den Händen die Kordel umfassend wie ein Cowboy seine Hosenträger.

„Das war der Papa“, stellte Sandra fest.

Es wurde unablässig fotografiert. Zunächst stellte sich jeweils ein etwas älteres Paar rechts und links des Brautpaars auf. Dann wurde die Gruppe erweitert durch die Mutter des Jungen auf der Seite der Braut und einen Mann auf der Seite des Bräutigams. Anschließend stellten sich weitere Familienmitglieder dazu, nach einem geheimen Plan angeordnet von der Frau mit der Kamera.

„Eine Hochzeit ist einfach etwas Schönes“, seufzte Sandra.

Ein Mann aus der Gruppe der Transparent-Träger befreite sich umständlich aus der Reihe und trat vor das Brautpaar. Seine Kollegen bejubelten, was er sagte, und das Brautpaar strahlte.

„Ich hab’s“, sagte Heike plötzlich. „Das ist Frau Adam aus dem Reisebüro neben der Sparkasse. Wir haben letztes Jahr bei ihr den Urlaub in Spanien gebucht.“

„Reisebüro?“ Sandra rümpfte die Nase. „Wir machen das alles übers Internet.“

Das klang fast ein wenig herablassend. Aber Heike ließ sich nicht beirren. „Ich würde es nicht ohne Reisebüro machen. Einfach so drauflosfahren, nee! Frau Adam hat uns bestens beraten. Sie ist sehr nett und äußerst kompetent. Ach, weißt du was, ich glaube, der Bräutigam gehört auch ins Reisebüro. Vielleicht ist er ihr Chef.“

Sandra betrachtete die Hochzeitsgäste mit großem Interesse. „Der Herr neben ihr wäre dann der Brautvater, also ein Herr Adam. Den habe ich irgendwie schon mal gesehen. War er mal in der Zeitung?“

Die Kollegen aus dem Reisebüro gratulierten dem Brautpaar, und zwar immer nur einzeln, damit das Transparent nicht zu Schaden kam. Bald war das Brautpaar kaum noch zu sehen, als andere Zuschauer sich anschlossen, um dem Paar gute Wünsche mitzugeben.

„Warum hast du ihn umgebracht?“

Heike erstarrte. Was war das? Wer sprach da? Sie konnte nicht gemeint sein und doch fühlte sie eisige Angst in sich hochsteigen. Sie wollte sich umdrehen nach der Stimme, die ihr ins Ohr geflüstert hatte. Aber sie tat es nicht.

Sandra wandte ihr gerade den Rücken zu und sprach mit ihrer Nachbarin auf der anderen Seite. Offenbar hatte sie nichts mitbekommen.

Sie war übergeschnappt. Sie hatte Halluzinationen. Sie hatte sich verhört. Oder stand ein Verrückter hinter ihr?

„Halt die Klappe. Du hast von nichts eine Ahnung.“

Das war eine andere Stimme. Zwei Männer unmittelbar hinter ihr unterhielten sich. Sie hatte nichts damit zu tun. Der eine zischte wie eine Schlange, der andere raunte bösartig. Es war unheimlich.

Sie wagte es noch immer nicht, sich umzudrehen.

„Die Frau neben mir sagt, sie hat den hübschen jungen Mann erkannt, den Papa des kleinen Jungen. Er heißt Rob Walter und ist Schauspieler. Sie hat ihn im Fernsehen gesehen, im Dritten Programm, bei einem dieser langen Interviews in der Abendschau.“

Sandras fröhliches Plappern war ausgesprochen wohltuend. Heike betrachtete den gut aussehenden jungen Mann mit neuem Interesse. Er trete in Stuttgart in Musicals auf, berichtete Sandra.

Hinter Heike war es still.

Bestimmt hatte sie sich nur etwas eingebildet.

Endlich drehte sie sich um. Niemand war unmittelbar hinter ihr. Ein paar Meter entfernt stand ein junges Pärchen. Sie lachten miteinander und küssten sich.

Das Brautpaar schüttelte dem Pfarrer die Hände, der mittlerweile erschienen war. Allmählich machte sich die Hochzeitsgesellschaft auf den Weg. Der Blumenjunge ohne Blumen ging voraus, von der Seite her unauffällig geleitet von seinem Vater, dem Schauspieler. Es folgte das Brautpaar, dann die beiden Elternpaare, die Trauzeugen und all die anderen Familienmitglieder und Freunde. Es war nicht ersichtlich, wohin der Zug gehen sollte, aber alle waren fröhlich.

„Das war’s“, sagte Sandra. „Und jetzt ins Café.“

Kapitel 2

2

Am Sonntag geschah nichts Besonderes. Oder doch?

Der Kunstverein Damianstor eröffnete seine neueste Ausstellung. Offizieller Beginn war elf Uhr, also kamen kurz vorher die Besucher an, sahen sich schon ein wenig um und begrüßten einander. Die meisten kannten sich. Wenn jemand völlig fremd war, handelte es sich um den Künstler oder um die Freunde, die er mitbrachte.

„Verzeihung“, sagte Silvia Hendel, die Vorsitzende des Kunstvereins, zu einer Besucherin in einer dunkelblauen Jacke, die im Schnitt einem sportlichen Trenchcoat ähnelte. Sie mochte Anfang Fünfzig sein und hatte eine nicht sehr modische, aber wohl praktische Kurzhaarfrisur. Offenbar war sie allein gekommen. Sie erwiderte zwar jeden Gruß, zeigte aber kein Bedürfnis, sich mit jemandem in ein Gespräch einzulassen.

„Ich weiß leider im Augenblick Ihren Namen nicht mehr, aber Sie sind Polizistin, nicht wahr?“

„Betzke. Ja, ich bin bei der Polizei.“

Marion Betzke war nur hier, um die Kunst zu sehen. Aber sie reagierte sofort, das war ihre Natur, auf das Stichwort. Die Vorsitzende sprach sehr leise. Sie hatte Betzke mehr oder weniger in eine Ecke gedrängt und stand jetzt mit dem Rücken zu den anderen Besuchern. Was sie zu sagen hatte, würde niemand mitbekommen außer Betzke. Außerdem war sie nervös. Ihre Augen flackerten unruhig von links nach rechts, als wolle sie sich vergewissern, dass nicht doch jemand in der Nähe war.

Um all das zu registrieren, brauchte Betzke nur den Bruchteil einer Sekunde.

„Ich würde Sie gern kurz sprechen“, stieß Hendel hervor. „Nachher, nach der Eröffnung. Geht das?“

„Wenn es sein muss“, entgegnete Betzke fast ein wenig schroff.

Hendel war erleichtert, obwohl ihr bei ihrem Problem, was immer es sein mochte, noch nicht wirklich geholfen worden war. Sie lächelte Betzke dankbar an. Ihr Lächeln geriet ein wenig schief. Dann wurde sie gerufen.

Betzke konzentrierte sich weiter auf die ausgestellte Kunst. Die Objekte waren aus Stahlblech hergestellt und lagen auf weißgestrichenen hölzernen Sockeln, die im Raum verteilt waren. Es war nur Blech, sonst nichts, aber in Formen, die das Material nur noch ahnen ließen. Manche Objekte wirkten, als seien sie aus glattfließenden Textilien geformt, ein größeres Werk hatte scharfe Kanten wie gefaltetes Papier. Immer war die Oberfläche glänzend poliert und schimmerte in verschiedenen Silbertönen, so dass die Kunstwerke, obwohl keinerlei Farbe verwendet worden war, durch die Wechselwirkung von Licht und Schatten geradezu bunt wirkten.

Der Künstler war bereits eingetroffen, ein Mann, dessen Alter nicht zu erraten war, mit weißblonden oder vielleicht auch weißgrauen Locken, die eine hohe Stirn freiließen und dann bis über den Nacken rollten. Er war nicht verhärmt und ausgezehrt, wie es dem Klischee des Not leidenden Künstlers entspricht, sondern eher stämmig und wohlgenährt, und er blickte munter, keineswegs vergeistigt, in die Welt. Er stand neben der Tür und freute sich, wenn er erkannt und angesprochen wurde.

Man wartete noch auf den Kunsthistoriker, der die Einführung halten sollte. Es war nun schon elf Uhr vorbei, aber eine kleine Verzögerung war nicht unüblich. Schließlich ging es um Kunst und nicht um Mathematik. Auch sollte man sich vor der Rede einen Überblick verschafft haben und schlenderte also mit noch ungelenkter Neugier durch die Ausstellung.

Es gibt im Damianstor zwei größere Räume übereinander und jeweils auf den Seiten schmale Kabinette. Als Professor Tischer schließlich eintraf, hatten sich die Besucher über alle Räume verteilt. Frau Hendel klatschte in die Hände. Es dauerte ein wenig, bis alle, oder wenigstens die Mehrzahl, sich in dem unteren Hauptraum versammelt hatten. Sie klatschte noch zweimal, dann begrüßte sie die Anwesenden und stellte Ingo Martini, den Künstler, sowie Professor Tischer, den Kunsthistoriker, vor.

Professor Tischer sprach von Formgebung und Bewegung, von Nuancierung und Intensität, von den Schwingungen der Oberflächen und von virtueller Lichtgebung. Er verwies auf einzelne Beispiele in diesem oder in einem der anderen Räume.

Betzke hörte aufmerksam zu. Sie glaubte nicht unbedingt an ihr eigenes spontanes Kunstverständnis, aber nach einer solchen Einführung, wenn sie erkannte, was sie zuvor übersehen hatte, genoss sie Kunst fast ohne Einschränkungen.

Als Professor Tischer sagte, der Künstler vermeide die Verwendung von Farbe, fiel Betzkes Blick auf eine rötliche Verzierung.

Sie war nicht die einzige. Der Künstler runzelte die Stirn. Die Vorsitzende Hendel packte ihn jäh am Arm. Tischer schien den Faden zu verlieren. Er hatte seinen Vortrag bisher fast frei gehalten, musste nur gelegentlich auf sein Konzept schauen. Jetzt fielen ihm beinahe seine Blätter aus der Hand.

„… vermeidet konsequent die Farbe. Umso auffälliger also, wenn plötzlich doch ein Farbklecks aufleuchtet. Was will uns der Künstler damit sagen?“

Tischer blickte Ingo Martini fragend an. Der Künstler lächelte nur.

Betzke bemerkte, dass Hendels Hand den Arm des Künstlers fest umklammert hielt.

Drei parallele Streifen in rötlich-braunem Ton. Die Farbe war eher stumpf, gerade auch im Gegensatz zu dem schimmernden Silber des Blechs.

Nur wenige Leute konnten sehen, worum es ging. Die Farbe befand sich auf der einem Fenster zugewandten Seite der Plastik, die mit ihrer geschwungenen Form an einen Hügel mit Burg erinnerte.

*

„Ist das ein Signal des Protestes gegen meine Kunst?“, fragte Ingo Martini zwei Stunden später.

„Nein, nein“, beruhigte ihn Hendel. „So etwas wäre viel spektakulärer ausgefallen.“

Martini nickte zufrieden. Die Antwort leuchtete ihm ein.

Die Besucher waren gegangen, auch Professor Tischer hatte sich bereits verabschiedet. In dem Raum neben dem Treppenaufgang hatte Frau Hendel eine kleine Runde von fünf Personen um sich versammelt: den stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Dehm, den Kassenwart Stolzenberger, die Schriftführerin Bittner, Ingo Martini und Frau Betzke. Der Raum wurde vom Kunstverein als Büro bezeichnet, erfüllte aber auch noch andere Funktionen. Im Hintergrund waren zwei weibliche Mitglieder des Kunstvereins damit beschäftigt, die Sektgläser zu spülen. Es gab hier einen langen Tisch, der normalerweise dem Vorstand des Vereins für seine Treffen diente, und darauf drei noch nicht ganz geleerte Sektflaschen. Hendel holte frisch gespülte Gläser von der Spüle und verteilte den Sekt. Betzke war die Einzige, die nichts trinken wollte.

„Ich habe Sie hierher gebeten, denn es gibt etwas zu besprechen“, sagte Hendel. Es klang wie die Eröffnung einer Mitgliederversammlung.

„Da war etwas mit dem Objekt am Fenster“, rief Dr. Dehm. „Absolut unerklärlich!“

„Der Reihe nach. Sie kennen wahrscheinlich Frau Betzke, sie ist seit kurzem Mitglied des Kunstvereins. Was Sie vielleicht nicht wissen: Frau Betzke ist bei der Polizei. Das stimmt doch, nicht wahr?“

„Ja, ganz richtig.“ Betzke verzichtete darauf, ihren Rang herauszustellen.

„Oh“, sagte Martini geschmeichelt, „Sie haben die Polizei gerufen, weil jemand meine Kunst beschädigt hat?“

Hendel überhörte ihn. „Was denken Sie über die Farbe, Frau Betzke?“

„Ich weiß, was Sie meinen. Aber das muss ein Fachmann untersuchen.“

„Das ist nicht alles“, sagte Hendel. „Ich habe heute Morgen auf der Treppe Blutflecken gefunden.“

„Wie? Was geht hier vor?“, rief jemand dazwischen.

„Ich nehme an“, sagte Betzke leise seufzend, „Sie haben die Flecken sauber abgewischt?“

„Natürlich. Aber es kommt noch etwas.“ Hendel holte eine Plastiktüte hervor, die über ihrer Stuhllehne hing, aber so, dass sie unter ihrer Umhängtasche bisher nicht zu sehen war. In der Tüte befand sich ein gelb-weiß kariertes Geschirrtuch. „Als ich nachsehen wollte, ob wieder einmal vergessen worden war, den Abfalleimer zu leeren, fand ich das.“

Sie breitete das Handtuch auf dem Tisch aus, und alle sahen die großflächigen Flecken. Es war dasselbe Rotbraun wie auf Martinis Kunstwerk.

„Du liebe Zeit!“

„Das sieht aus wie – –!“

„Noch etwas?“, fragte Betzke kühl.

„Nur noch das hier.“ Hendel legte ein paar Blätter Papier auf den Tisch. Es waren die Preislisten für die ausgestellten Kunstwerke. Auf dem obersten waren ein paar kleinere Flecken zu sehen. „Wir legen solche Zettel in jedem Raum aus. Diese waren auf dem Fenstersims bei dem beschädigten Objekt.“

„Huch! Da hat sich wohl jemand verletzt!“

„An meinen Objekten verletzt man sich nicht“, erklärte Martini würdevoll.

„Aber das ist doch naheliegend: eine scharfe Kante oder so etwas.“

„Vielleicht ist es beim Aufbauen passiert.“

„Oder ist es vielleicht doch Farbe?“

„Ein dummer Streich ist wohl nicht auszuschließen.“

„Na hören Sie mal!“

„Bitte beruhigen Sie sich“, sagte Hendel, als sie endlich zu Wort kam. „Wir wollen doch gern Frau Betzkes Meinung hören, nicht wahr?“

Betzke wartete, bis das allgemeine Raunen verstummte und aller Aufmerksamkeit ihr galt. „Fangen wir von vorn an“, sagte sie sachlich. „Wann wurde die Ausstellung aufgebaut?“

„Gestern Nachmittag“, erwiderte Dr. Dehm. „Herr Martini war hier, ich, mein Sohn Steffen und sein Freund Uli. Wir haben die Sachen aus Herrn Martinis Wagen heraufgebracht und nach seinen Anweisungen und mit seiner Hilfe aufgestellt. Das hat alles wunderbar geklappt.“

„Hat sich jemand verletzt?“

„Nein.“

„Ist jemand auf der Treppe gestürzt?“

„Nein, nein“, sagte Dr. Dehm. „Verstehen Sie, Frau Betzke, wir hätten das bemerkt, wenn jemand eine blutende Wunde gehabt hätte. Es geht hier ja wohl nicht um einen winzig kleinen Riss am Finger. Nein, es ist ausgeschlossen, dass einer von uns vieren diese Blutspuren hinterlassen hat.“

„Völlig ausgeschlossen“, bestätigte Martini. „Schon gar nicht auf meinen Stücken.“

„Wo sind die beiden Jungs?“

„Die sind heute nicht da. Sie haben gestern nur ein bisschen geholfen. Ich kann sie heute Abend noch gründlich ausfragen, aber ich versichere Ihnen, wenn mein Steffen ein kleines Wehwehchen hat, lässt er die Welt daran teilnehmen. Und bei Uli ist es ähnlich.“

„Wann haben Sie das Gebäude betreten?“

„Wir waren um drei verabredet. Dann haben wir gearbeitet bis – na, etwa sechs Uhr? Die Jungen sind schon früher gegangen. Sie haben uns nur beim Rauftragen geholfen. Die Feinausrichtung haben wir beide dann zusammen gemacht, Herr Martini und ich.“

„Sie haben einen Schlüssel zum Damianstor?“

„Ja.“

„Während Sie damit beschäftigt waren, die Objekte hochzubringen, war vermutlich unten nicht abgeschlossen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wenn da jemand hereingekommen wäre, hätten wir es doch bemerkt!“

„Tatsächlich?“

„Oh“, sagte Dr. Dehm verunsichert. „Ich denke schon.“

„Auf jeden Fall“, rief Martini.

„Aber wenn sich einer reingeschlichen hätte, wo soll der sich denn versteckt haben?“, mischte sich Hendel ein.

„Jedenfalls war jemand hier, in diesem Raum“, stellte Betzke fest.

Dr. Dehm und Martini sahen sich an.

„Wir waren überhaupt nicht hier im Büro, wir haben die Objekte aufgestellt.“

„Ich habe gar nicht gewusst, dass es diesen Raum gibt“, sagte Martini.

„War der Raum abgeschlossen?“

„Wahrscheinlich.“

„Sie wissen es nicht genau?“

„Nein. Das ist nicht so wichtig, weil das Gebäude immer abgeschlossen ist.“

„Ja“, sagte Betzke. „Außer während des Aufbaus. Haben Sie sich ohne Unterbrechung von 15 bis 18 Uhr im Damianstor aufgehalten?“

„Nein, wir haben eine Pause gemacht, das war zwischen vier und fünf. Wie lange waren wir weg – eine halbe Stunde? Jedenfalls nicht mehr. Wir haben da drüben im Café am Schloss einen Kaffee getrunken.“

„Cappuccino“, verbesserte Martini.

„Aber eines weiß ich mit Sicherheit“, fuhr Dr. Dehm fort. „Ich habe abgeschlossen, als wir weggingen, und ich musste wieder aufschließen, als wir zurückkamen.“

„Gut“, sagte Betzke. „Sie haben dieses Büro überhaupt nicht betreten, Sie haben die Flecken auf dem Objekt und auf der Preisliste nicht gesehen. Und was ist mit den Flecken auf der Treppe?“

„Keine Ahnung.“

„Männer sehen so etwas nicht“, bemerkte Hendel spitz.

„Sind Sie sicher, Herr Dr. Dehm, dass Sie beim Verlassen des Gebäudes um achtzehn Uhr abgeschlossen haben?“

„Ganz sicher, wirklich. Das macht man automatisch.“

„Wer kam heute Morgen zuerst?“

„Ich natürlich“, sagte Hendel.

„Berichten Sie bitte.“

„Die Flecken auf der Treppe sah ich sofort. Da habe ich mich nur geärgert und nichts weiter dabei gedacht. Dann kam ich zuerst hier herein, um zu überprüfen, ob die Gläser bereitstehen und der Sekt im Kühlschrank ist. Und dabei, wie gesagt, kontrollierte ich noch den Abfalleimer. Er war leer bis auf dieses Handtuch. Von da an wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich ging dann durch die Ausstellung und fand die Streifen auf der Plastik. Aber es war zu spät, um etwas zu unternehmen. Die ersten Besucher waren schon kurz vor halb elf da. Ich habe also beschlossen, die Eröffnung erst mal durchzuziehen.“

Betzke hatte sich auf einem kleinen Schreibblock Notizen gemacht. Das sah auf jeden Fall professionell aus, und der Kunstverein fühlte sich ernst genommen. Aber niemand konnte Betzkes Schrift entziffern. Sie hatte sich nur Namen notiert.

Anschließend begab man sich in den Ausstellungsraum.

„Ortstermin“, murmelte jemand.

Das Objekt „Lied“ wies noch immer seine kurzen rotbraunen Streifen auf. Bei genauer Betrachtung war nun festzustellen, dass sich neben den drei Streifen ein zarter kleiner Punkt befand.

Martini betrachtete sein Werk von allen Seiten und fuhr liebevoll mit zwei Fingern über die Oberfläche.

„Sehen Sie, hier ist eine kleine Delle. Und außerdem steht mein Lied ein wenig anders. Es gehört so auf den Sockel.“ Er veränderte die Ausrichtung des Objekts minimal.

„Ist das schlimm?“, fragte Hendel ängstlich.

„O nein. Die Lichtwirkung hat sich verändert, sehen Sie? Sehr interessant.“

Möglicherweise erschloss sich die künstlerische Änderung nicht jedem Betrachter sofort. Der Vorstand war immerhin froh, dass der Künstler die Angelegenheit gelassen nahm. Das nächste Problem war die Frage, ob man die Verschandelung nicht sofort entfernen sollte und inwiefern das überhaupt möglich war.

Betzke verfolgte die Diskussion unbeteiligt. Fast schien es, als hätte man sie vergessen, bis sich endlich Hendel an sie wandte: „Können Sie uns etwas sagen?“

Betzke nickte. „Jemand war hier, der eine Verletzung hatte. Er stand am Fenster und schaute hinaus.“ Sie trat ans Fenster und schaute hinaus. „Dann drehte er sich um und stieß dabei an das Objekt. Es fiel vom Sockel. Er packte es und stellte es wieder auf.“ Betzkes Hand schwebte einen Zentimeter über der schimmernden Oberfläche, drei Finger zeigten genau die Richtung der Streifen, der kleine Finger hatte offenbar wenig Berührung gehabt. Das war der kleine Punkt.