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Tanja Gestier, Kriminalkommissarin und alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter, wird zu einem un-gewöhnlichen Fall gerufen: Ihre Freundin Sabine Radek, ebenfalls alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter, hat in dem 200-Seelen-Dorf Potterchen im Krummen Elsass überraschend ein Haus geerbt. Als sie ihr Erbe antreten will, verschwindet ihre Tochter spurlos. Sie bittet Tanja um Hilfe. Die Kommissarin reist ins Elsass und arbeitet als Verbindungsbeamtin vor Ort. Währenddessen stellen ihre Kollegen auf der deutschen Seite eigene Ermittlungen an, die sie in die saarländische Weinregion Perl und nach Luxemburg führen. Tanja findet heraus, dass in dem kleinen, elsässischen Dorf vor zwei Jahren schon einmal ein deutsches Mädchen verschwunden ist. Von dem Kind gibt es bis heute keine Spur. Was geschieht mit den Mädchen?
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Seitenzahl: 484
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Elke Schwab
Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi
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Epilog
Impressum neobooks
Elke Schwab
Mord ohne Grenzen
Elsass-Krimi
Anmerkungen der Autorin:
Der Krimi spielt im Elsass. Diese Region in Frankreich ist zum Teil deutschsprachig geblieben, wobei sich ein interessanter Dialekt gebildet hat, nämlich Elsässisch oder Elsässerdeutsch.
Um die Menschen und die Region authentisch darzustellen, habe ich einige kurze Passagen in der wörtlichen Rede im Dialekt geschrieben. Zum besseren Verständnis habe ich am Schluss des Buches ein Wörterbuch angefügt, das Ihnen die Begriffe erklärt.
Mord
ohne
Grenzen
Elsass-Krimi
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2016
www.elkeschwab.de
Covergestaltung: Elke Schwab
Lektorat Sriptmanufaktur
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sie wartete. Reglos. Ob er ihre Nähe spürte?
Ihre Atmung beschleunigte sich. Sie schlug ihre Hand vor den Mund. Verzweifelt versuchte sie, leiser zu sein. Dabei überkam sie große Angst zu ersticken. Hastig zog sie ihre Hand wieder weg und atmete tief und gierig ein. Die Luft war kalt und schmerzte in ihren Lungen. Außerdem roch sie eklig.
Sie drückte sich tiefer in die nasse, kalte Nische. Wieder verhielt sie sich ganz still und lauschte. Nichts. War er noch da? Sie stieß den angehaltenen Atem aus.
Sollte sie sich ein Stückchen nach vorn beugen, um zu sehen, ob er noch dort war? Was, wenn er nur darauf wartete? Sie zitterte.
Sie schaute sich um, sah nur Dunkelheit. Das einzige Licht kam von oben. Dort musste er sein. Todesmutig wagte sie sich einige Zentimeter vor.
Da erblickte sie ihn. Er trug eine schwarze Kapuze, die Gestalt breit, die Hände bereit, zuzupacken.
Hastig zog sie sich zurück. Ein Schluchzen entfuhr ihr.
Ganz fest schloss sie ihre Augen. Wenn sie ihn nicht sah, konnte er sie auch nicht sehen. Das Gefühl gab ihr Trost.
Lange verharrte sie so, bis die Neugier sie antrieb, die Augen wieder zu öffnen. Zitternd beugte sie sich nach vorn, um zu sehen, ob er immer noch dort stand.
Aber sie sah nur noch ein helles Rund hoch über ihrem Kopf.
Der Kapuzenmann war verschwunden.
Sabine Radek wähnte sich am Ende der Welt. Ihre Tochter saß im Fond des Wagens und nörgelte, was Sabines Nervosität noch steigerte. Was erwartete sie? Ihre Aufregung wuchs mit jedem Kilometer. Sie hatte eine Erbschaft gemacht, mit der sie niemals gerechnet hätte. Ein Onkel im Elsass, das klang wie der Titel einer Komödie aus dem Ohnsorg-Theater. Nach Lachen war ihr seitdem tatsächlich zumute.
Sabine Radek, die Erbin.
Wollen Sie das Erbe annehmen?
Wie sollte sie diese Frage beantworten, ohne ihr Erbe jemals gesehen zu haben?
Also fuhr sie ins Elsass – zusammen mit ihrer Tochter Annabel, die unbedingt hatte dabei sein wollen.
Die Entfernung betrug von Saarbrücken aus vierzig Kilometer. Dichte schwarze Wolken türmten sich am Himmel. Eine Windböe kam auf und rüttelte heftig an Sabines Kleinwagen. Krampfhaft umklammerte sie das Lenkrad, ihren Blick immer auf die Route National gerichtet. Sie verließ Lothringen und überquerte die unsichtbare Grenze zum Krummen Elsass.
Nur noch zwei Orte. Die würde sie auch noch schaffen.
Endlich das Ortsschild: Potterchen.
Sabine bestaunte die schmale Straße, eingerahmt von dicken Stämmen der Kastanien, deren Blätter sich teilweise wie ein bunter Baldachin über der Allee ausbreiteten. Der andere Teil des Laubs klebte auf der Straße. Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpften sich durch die dichten Wolken und blitzten zwischen kleinen Lücken auf. Alles verschwamm in Licht und Schatten. Am Ende der Allee lag das Dorf, in dem ihr Onkel gelebt hatte, ohne jemals mit ihr in Kontakt getreten zu sein.
Wer wusste schon, warum es gut war, erst nach seinem Tod von ihm zu erfahren? Sabine grinste. So hatte sie wenigstens keine negativen Erinnerungen an ihn.
Bis jetzt. Es sei denn, das Haus war die reinste Bruchbude … Dieser Gedanke kam Sabine, als sie das erste Gebäude erblickte. Es war ein Trümmerhaufen, dessen endgültiger Zerfall jede Sekunde bevorstand. Das nächste, ein leer stehendes Bauernhaus, war von einer Größe, die sie umgeworfen hätte, säße sie nicht in ihrem Auto.
Ihre anfängliche Begeisterung bekam erste Dämpfer. Sie fuhr langsam weiter. Doch was sie dann zu sehen bekam, entschädigte sie für alles. Der Kern des Dorfes war traumhaft – als sei die Zeit stehengeblieben. Alte, gut gepflegte Bauernhäuser, teils aus Sandstein, teils aus Fachwerk. Manche waren in Pastellfarben gestrichen, andere prangten in Naturstein. Scheunen, Ställe und Blumenkübel in allen Formen und Größen zierten die schmale Straße. Dorfbewohner saßen auf Bänken vor ihren Häusern. Die Blicke, die Sabine trafen, waren argwöhnisch bis freundlich – es war alles dabei.
„Welches davon wohl unser Haus ist?“, fragte sie nach hinten, in Richtung ihrer Tochter.
Annabels Antwort fiel allerdings anders aus als erwartet. Laut schrie sie: „Pferde.“
Sabine schaute in die Richtung, in die der kleine Kinderfinger zeigte. Pferde grasten auf einer Koppel nahe an Bahngleisen, die das Dorf abgrenzten. Auf der anderen Seite der Schienen lagen Felder, soweit das Auge reichte. Direkt vor ihr auf der rechten Seite verunzierten hässliche breite Rohre die Natur, als sollte dort Kanalisation verlegt werden. Neben diesen Rohren sah der Boden felsig aus. Ein gelbes Schild fiel ihr ins Auge. Sabine beherrschte kein Französisch, weshalb sich ihr der Wortlaut nicht erschloss. Aber anhand der dazu abgebildeten Symbole glaubte sie zu erkennen, dass eine Baustelle angezeigt wurde.
„Ich vermute, wir sind zu weit gefahren.“ Sie ließ ihren Blick nach links wandern. Dort wies ein Schild darauf hin, dass die Rue de la Gare weiterging. „Oder doch nicht.“ Sie bog ab.
Weiter reihte sich ein Bauernhaus an das nächste. Bis sie auf eines traf, dessen Schönheit sie den Wagen abbremsen ließ. Leicht gebogene Fenster mit angepassten Klappläden in einem kräftigen Rotbraun stachen von der pfirsichfarbenen Fassade des Hauses ab. Daneben befand sich ein geschwungenes Scheunentor, ebenfalls in rotbraunen Tönen, flankiert von einem Garagentor in den gleichen Farben. Sabine suchte die Hausnummer. Einundzwanzig. So ein Mist. Ihr Erbe hatte die Nummer zwölf. Oder hatte sich vielleicht jemand einen Scherz erlaubt und die Ziffern vertauscht? Leider musste Sabine diese Hoffnung schnell begraben, denn die Tür ging auf und ein kräftiger Mann trat heraus. Auf seinen fragenden Blick begann sie zögerlich auf Deutsch zu sprechen: „Ich heiße Sabine Radek …“
„Aah.“ Der Mann nickte. „Wen suchen Sie?“
„Die Hausnummer zwölf.“
Er grinste verschmitzt, nickte wissend und fragte: „Sin Ihr der neue Propriétaire von dem Hüs?“
„Das weiß ich noch nicht so genau“, gab Sabine zu, wobei sie annahm, dass Propriétaire Besitzer hieß. Die Neugier des Mannes amüsierte sie.
Da sie nichts weiter sagte, erklärte er ihr den Weg: „Einfach weiter die Chaussee entlang, an der Kreuzung à gauche, dann stoßet Ihr druff.“
Sabines Augen folgten seinen schwieligen Händen, die in die entsprechende Richtung deuteten. Sie bedankte sich und fuhr weiter.
Die Nostalgie, die dieses Dorf umgab, lullte Sabine ein. Sie fuhr extra langsam, weil sie jedes Haus bewundern wollte. Manche wirkten alt, zerfallen und geheimnisumwittert, andere waren mit Liebe restauriert worden.
Plötzlich stach ihr ein schweinchenrosa Monolith ins Auge. Erst bei genauerem Hinsehen begriff Sabine, dass dieses hässliche Gebilde die Dorfkirche war. Dort bog sie links ab. Die Mairie lag unmittelbar neben der Kirche. Wie Sabine wusste, waren in diesen kommunalen Gebäuden auch Schulen und Kindergärten untergebracht. Im Schritttempo fuhr sie daran vorbei.
Dann sah sie es - Hausnummer zwölf.
Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht. Der Anblick ihres Erbes entfachte keine Liebe auf den ersten Blick. Vor ihr befand sich ein Bauernhaus mit Wohnung und Stall unter einem gemeinsamen Dach mit durchlaufendem First. Die Scheune war erkennbar durch ein großes Scheunentor zur Straße hin. Diese Bauweise war in der Grenzregion häufig zu beobachten. Da das Haus zweigeschossig war, gehörte es der lothringischen Bauweise an - mit den Unterschieden, dass die Scheunenhälfte nachträglich angebaut sowie zerfallen wirkte und die Fenster überproportional groß waren. Braune Klappläden bildeten den einzigen Farbtupfer auf der schmutziggrau verputzten Front.
Annabel drängelte: „Darf ich zu den Pferden gehen?“
„Nein. Wir wissen doch gar nicht, wo die sind.“
„Doch. Ich habe den Stall gesehen.“
„Du wirst zuerst mit mir ins Haus gehen.“
Schmollen war die Antwort.
„Annabel“, versuchte Sabine es in einem freundlicheren Tonfall. „In Saarbrücken kannst du jeden Tag auf deinem Pony reiten. Deshalb bitte ich dich, zuerst mit mir unser neues Haus anzusehen.“
Annabel nickte, wie Sabine im Rückspiegel erkannte.
„Gut.“ Sie fühlte sich erleichtert. „Später gehen wir zu den Pferden, die du gesehen hast. Ist das ein guter Vorschlag?“
Annabels Augen leuchteten.
Sabine stellte ihren Daihatsu Cuore ab und stieg zusammen mit ihrer Tochter aus. Aus ihrer Tasche kramte sie den Haustürschlüssel hervor, dessen Form sie immer wieder in Staunen versetzte. So ein antikes Teil hatte sie noch nie in ihren Händen gehalten – groß, lang, von plumper Form, aus rostigem Eisen. Zum Glück sah die Haustür dazu besser aus. Massives Eichenholz mit Schnitzereien und einem Glaseinsatz mit eingeschliffenem Fischmuster. Unter Scharren und Schaben ließ sich die schwere Tür öffnen.
Kaum hatte Sabine sie hinter ihnen geschlossen, schien es ihr, als betrete sie eine andere Welt. Alles war geräumig, die Bauweise rustikal, die Decke hoch und aus massivem Eichenholz, der Boden mit Steinplatten belegt. Annabel schien es zu gefallen, denn sie stürmte neugierig durch die Räume, um alles zu erkunden.
Zu ihrer Rechten lag ein großes Wohnzimmer. Alte Möbel ließen den Raum dunkler wirken. Ein Kamin zog Sabine magisch an. Mit Holz heizen, das stellte sie sich romantisch vor. Sie öffnete sämtliche Schranktüren und sah hinein. Die Schränke quollen über: Bücher, Ordner, Porzellan, alles sammelte sich ohne die geringste Ordnung darin. Niemand hatte sich um diese Sachen gekümmert, nachdem der Onkel gestorben war.
Sie hörte Annabel im Nebenraum rumoren. Langsam folgte Sabine ihrer Tochter durch einen Rundbogen. Der Raum dahinter war lang und schmal, er beherbergte eine geräumige Küche und das Esszimmer und nahm die gesamte Rückfront des Hauses ein. Nicht nur eine gläserne Balkontür, sondern gleich zwei nebeneinander ließen viel Licht herein und gaben den Blick auf einen großen, ungepflegten Garten frei. Annabel war nicht zu sehen.
Eine der gläsernen Türen schlug gegen den Rahmen. Wieso stand sie offen? Sofort bekam Sabine eine Gänsehaut. Sollte das unbewohnte Haus die ganze Zeit über nicht abgeschlossen gewesen sein? Sie schaute sich um, als könnte jeden Augenblick ein Schatten auftauchen.
Ein Knarren ertönte. Sabine zuckte zusammen. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, fiel ihr Blick auf die Decke aus schweren Eichenbohlen. Sie erinnerte sich, dass Holz arbeitete. Die Geräusche waren ihr nicht vertraut. Würden sie es jemals werden?
Sie schaute sich um. Von ihrem Kind war nichts zu sehen oder zu hören. Sie durchquerte alle Räume im Erdgeschoss, die offen miteinander verbunden waren, konnte Annabel aber nirgends finden. Ein schmaler Flur ging vom Wohnzimmer ab und endete an einer alten Holztür. Sabine rüttelte daran. Sie war verschlossen. Erst jetzt sah sie zu ihrer Rechten eine steinerne Treppe, die im Rechtsbogen in den ersten Stock führte. Sabine folgte den Stufen und fand eine geräumige obere Etage vor. Sie stand in einem quadratischen Flur, von dem aus sich in allen vier Himmelsrichtungen jeweils ein Zimmer befand. Die Türen standen offen. Alle Räume waren möbliert. Die ganze Etage lag in Dunkelheit. Das Licht, das durch die kleinen Fenster hereinfiel, reichte nicht aus, um alles deutlich erkennen zu können.
„Annabel, wo steckst du?“, rief Sabine. Sie rannte in jedes Zimmer, schaute sich überall genau um, aber sie fand ihre Tochter nicht. Stattdessen entdeckte sie viele antike Möbel, die ihr Herz höherschlagen und sie an jedem Stück etwas verweilen ließen. Ihr Onkel hatte zu leben verstanden; solche Antiquitäten konnte sich Sabine nicht leisten.
Wieder rief sie Annabels Namen. Wieder erhielt sie keine Antwort.
„Annabel, das ist kein lustiges Spiel mehr. Wo bist du?“
Nichts.
Sie entdeckte eine Dachluke, die nach oben zum Speicher führte. Neugier packte sie. Sie wusste, dass die Kleine nicht dort oben sein konnte. Aber sie kannte Annabel. Mit Sicherheit war sie auf den Speicher eines fremden Hauses genauso neugierig wie sie.
„Schau mal hier, Annabel“, rief sie. „Hier ist ein uralter Speicher. Hier finden wir bestimmt was ganz Aufregendes.“
Ein Rumpeln ertönte. Also war sie auf dem Weg nach oben, dachte Sabine schmunzelnd.
Mit Mühe zog sie die Leiter herunter und arretierte sie. Sie schaute sich um, konnte Annabel aber nirgends sehen.
„Annabel. Hast du gehört? Willst du, dass ich den Schatz vor dir finde?“
Vorsichtig stieg sie nach oben. Der Speicher war überwältigend groß und mit allem möglichen Krempel voll gestellt. Sie ließ ihren Blick über das Chaos wandern. In Gedanken sah sie sich und Annabel schon geheimnisvolle Entdeckungen machen, die verborgene Geheimnisse aus grauer Vorzeit über ihre eigene Familie preisgaben. Das Haus gefiel ihr immer besser.
„Annabel. Du glaubst nicht, was ich hier entdeckt habe.“
Aber Annabel reagierte immer noch nicht.
Nun hörte sie nichts mehr, kein Rumpeln, keine Schritte, nichts.
Verunsichert kletterte Sabine die Leiter wieder hinunter. Ein sich wiederholenden Poltern ertönte. Erschrocken rief sie: „Annabel. Was machst du?“
Statt einer Antwort hörte sie wieder dieses Geräusch. Es drang aus dem Erdgeschoss zu ihr. Die geöffnete Terrassentür fiel Sabine wieder ein. Sollte das Mädchen nach draußen gelaufen sein?
Warum kam ihr der Gedanke jetzt erst?
Hastig eilte sie die Steinstufen hinunter ins Erdgeschoss, durchquerte den Flur und die Küche. Von Annabel keine Spur. Sie lief ins Freie. Vor ihren Augen bot sich eine großzügig geschnittene Terrasse, die direkt an den nicht enden wollenden Garten angrenzte. Alte, baufällige Mauern bildeten zu ihrer Linken eine schmale Gasse, an deren Ende Sabine auf ein Plumpsklo stieß. Sie öffnete die hölzerne Tür mit der obligatorischen Herzöffnung, konnte dort aber nur Teile von Sperrmüll entdecken. Ihre Tochter war nicht dort. Sie ging weiter an dem baufälligen Schuppen vorbei und stellte mit Schrecken fest, dass man von dort ungehindert auf die Dorfstraße gelangte.
Starker Wind schlug ihr entgegen. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts. Keine Annabel. Sie stellte sich mitten auf die Dorfstraße, suchte mit den Augen alle Richtungen ab, aber alles war menschenleer. Wo waren die vielen Menschen, die noch vor wenigen Minuten vor ihren Häusern gesessen hatten? Angst kroch in ihr hoch. Sie schrie den Namen ihrer Tochter. Nichts geschah. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie spürte ihren Puls rasen. Wie konnte die kleine Annabel mit ihren vier Jahren so schnell spurlos verschwinden? Sie hatte ihr Kind unterschätzt – hatte einen Fehler gemacht. Sie musste sofort nach Annabel suchen, musste zusehen, ihr Kind so schnell wie möglich wieder in ihrer Nähe zu wissen.
Ein älterer weißhaariger Herr stand in der offenen Scheune des Nachbarhauses. Neugierig schaute er zu ihr herüber. Dieser Mann musste Annabel gesehen haben. Sofort steuerte sie ihn an und fragte: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“
„Sind Sie die neue Besitzerin?“, kam es statt einer Antwort.
Sabine stöhnte innerlich. Sie wollte sich jetzt nicht mit Höflichkeiten aufhalten.
„Ja. Ich heiße Sabine Radek.“
„Bernard Meyer.“ Sie gaben sich die Hände.
„Ich bin vorhin mit meiner Tochter hier angekommen“, setzte Sabine von neuem an. „Sie ist weggelaufen. Erst dachte ich, sie hätte sich versteckt. Aber ich kann sie nirgendwo finden. Sie heißt Annabel, ist vier Jahre alt, hat blonde Haare, trägt einen Jeansoverall und einen Anorak mit rosa Elefanten darauf. Haben Sie sie gesehen?“
„Ey joo“, sagte der Nachbar, was in Sabine sofort Hoffnung aufkeimen ließ. Doch dann fügte er hinzu: „Wenn Sie erst angekommen sind, kann sie noch nicht weit sein.“
„Sie stehen doch bestimmt schon länger hier“, fasste Sabine nach. „Ist Ihnen nichts aufgefallen?“
„Hier sind so viele Kinder“, meinte der Alte mit einem entschuldigenden Lachen. „Wie soll ich da erkennen, welches Kind darunter fremd ist?“
Sabine ahnte, dass ihr dieses Gespräch nicht weiterhalf. Sie warf einen Blick auf die Straße, auf der zum Glück kein Verkehr herrschte.
„Gibt es hier einen Reitstall?“, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Ja. Der befindet sich ein Stück weiter auf der rechten Seite.“
Sabine folgte dem Hinweis des Alten, passierte mehrere Bauernhäuser und eine kleine Kirche, die ihr bei ihrer Rund-fahrt durch das Dorf nicht aufgefallen war. Schön sah die Kapelle aus. Wie eine Entschädigung für das hässliche Pendant in Rosa. Ein schmaler Weg bog an der Kirche rechts ab. Ein Schild wies darauf hin, dass sie vor dem „Chemin de Hohenau“ stand.
Der Weg führte Sabine an einigen Häusern vorbei, bis sich vor ihren Augen Koppeln erstreckten. Das sah immer besser aus. Sabine beschleunigte ihre Schritte. Doch schon bald bemerkte sie, dass sie sich immer weiter vom Dorf entfernte. Auch sah sie den Reitstall nirgends, von dem sie annahm, ihre Tochter sei dorthin gelaufen. Wie sollte es der Vierjährigen gelungen sein, diesen Stall zu finden, wenn sie es selbst nicht schaffte?
Der Chemin de Hohenau war stellenweise von riesigen Pfützen durchzogen. Aber Sabine lief unbeirrt weiter und ignorierte ihre nassen Füße. Es dauerte nicht lange, da endete der Weg im Nichts.
Eisern entschlossen stapfte sie über die regennasse Wiese, bis sie nach einigen Metern vor einem reißenden Fluss stand. Frustriert kehrte sie um. Sie musste zurück ins Dorf laufen und dort jemanden suchen, den sie nach dem Weg zum Reitstall fragen konnte.
Die Stille und Einsamkeit lasteten schwer auf ihr. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Zeichen von Zivilisation – nur unendliche grüne Weite. Von Potterchen erkannte sie lediglich vereinzelte Hausdächer, die sich über die Bäume und Sträucher erhoben. Und den auffallend rosafarbenen Kirchturm. Ihre Angst wuchs mit jedem Schritt. Ihr Gefühl ließ sie befürchten, dass Annabel eine große Dummheit begehen könnte. Die Liebe der Kleinen zu Pferden grenzte schon an Besessenheit.
Das Geräusch eines Zuges donnerte durch die Stille.
Im gleichen Augenblick fielen ihr wieder die Gleise ein. In deren Nähe hatte Annabel ihren Schrei „Pferde“ ausgestoßen. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Sie schaute sich um, sah den Zug und schlug die Richtung dorthin ein.
An den Gleisen angelangt, sah sie die Pferde, die Annabel auch bemerkt hatte. Endlich war sie auf dem richtigen Weg. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Schotterweg. Die Pferdeäpfel wiesen zu ihrer Erleichterung darauf hin, dass dieser Weg zum Reitstall führte. Hinter einer Kurve wurde der Blick auf eine große Reithalle mit Stallungen und einem übergroßen, grellbunten Pferdetransporter frei. Zielstrebig steuerte sie den Hof an. Hinter der Halle konnte sie eine kleine Gruppe von Reitern auf Ponys zwischen zwei Koppeln ausmachen. Der einzige Steinbau inmitten der vielen Blechhallen und Schuppen beherbergte Pferdeboxen. Dort lag alles in Dunkelheit. Vorsichtig trat sie hinein.
Innen herrschte Totenstille, niemand zu sehen, weder Mensch noch Tier. Sie rief Annabels Namen. Als sie ein Geräusch vernahm, glaubte sie, sie sei erhört worden, wurde aber aufs Neue enttäuscht. Vor ihr tauchte ein Mann auf, der ihr gerade bis ans Kinn reichte. Seine dunklen Augen blitzten anzüglich, sein Mund kräuselte sich amüsiert, als er sie ansprach: „Was sucht eine schöne Frau wie Sie in einem verlassenen Stall?“
„Mein Kind.“ Sabine hatte Mühe, ihre Abscheu zu unterdrücken. Seine süffisante Bemerkung empfand sie als unpassend, besonders einer völlig Fremden gegenüber.
Die dunklen Haare des Mannes waren mit einigen grauen Strähnen durchzogen. Seinen Schnurrbart pflegte er offensichtlich; es schien, als sei ihm dieser Teil seines Äußeren besonders wichtig. Seine Augen hafteten unverhohlen auf ihren Brüsten, als er weitersprach:
„Es kommen immer sehr viele Kinder zum Stall. Mein Schwiegersohn lässt sie kostenlos auf seinen Ponys reiten.“
Sabine traute ihren Ohren nicht. „Aber doch nicht meine Tochter. Sie ist hier völlig fremd.“
„Ob Ihre Tochter dabei ist, weiß ich nicht. Ich kenne ja nicht jedes Kind. Dafür sind es zu viele.“
Aufgeregt rief sie: „Hier sehe ich kein einziges Kind. Wo sind denn alle?“
„Mein Schwiegersohn ist vor wenigen Minuten mit ihnen ausgeritten. Er reitet immer eine kleine Runde über die Felder.“ Das Lächeln des Mannes wirkte aufgesetzt.
Sabine schrie fast vor Entsetzen. „Das einzige Pony, das meine Tochter reiten kann, ist unser eigenes.“
„Dann kann ja gar nichts passieren.“ Der Mann strahlte sie zufrieden an. „Ponys sind alle gleich.“
„Wie können Sie nur so verantwortungslos sein?“.
„Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen. Mein Schwiegersohn reitet mit den Kindern immer ganz vorsichtig.“
„Aber …“ Sabine verschlug es die Sprache. „Er kann doch nicht einfach ein fremdes Kind auf ein Pony setzen.“
„Wie soll er sich jedes Gesicht merken? Es kommen immer viele Kinder, die ausreiten wollen. Die Eltern sind einverstanden, weil bisher noch nie etwas passiert ist. Außerdem wissen Sie doch gar nicht, ob Ihre Tochter wirklich dabei ist.“
Sabine rang nach Luft.
„Ich überlege gerade“, meinte der Mann, der nun doch leicht nachdenklich aussah. „Fünf Ponys sind gesattelt worden und fünf Kinder sind zu dem Ausritt gekommen.“
In Sabine machte sich die Hoffnung breit. Doch der nächste Satz machte die sofort wieder zunichte: „Jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau. Sechs Mädchen waren gekommen. Eines musste nach Hause gehen, weil es Bauchschmerzen hatte. Mein Schwiegersohn war bereits abgestiegen und wollte ein weiteres Pony satteln, aber das musste er dann doch nicht tun.“
„Annabel trägt einen Jeansoverall. Sie hat lange blonde Haare. Ist dieses Kind dabei?“
Der Mann nickte und meinte: „Dem Kind habe ich noch gesagt, dass die Nähte der Jeans ihr an den Beinen wehtun könnten. Aber das war ihm egal.“
Sabine rannte aus der dunklen Stallgasse. Das Wissen, dass ihre Tochter sich unter fremden Menschen befand und auf einem fremden Pony saß, trieb sie fast in den Wahnsinn.
Die Außenboxen im Hof waren vereinzelt mit Pferden besetzt, daneben befanden sich eine gähnend leere Reithalle und ein großer Heuschober. Sie suchte die dahinterliegenden Felder akribisch ab, bis sie tatsächlich eine Gruppe von Reitern sah.
Der Anblick versetzte ihr den nächsten Schock: von wegen langsam reiten. Die Truppe jagte in wildem Galopp über die Felder.
„Das nennen Sie langsam?“
Der Mann schaute in die gleiche Richtung. Nun war es an ihm, zu staunen. „Das verstehe ich nicht. Pascal, mein Schwiegersohn, reitet sonst immer nur im Schritt.“
„Wer sind Sie überhaupt?“
„Mein Name ist Ernest Leibfried. Ich bin der Bürgermeister von Potterchen.“
„Dann helfen Sie mir bitte, dass meine Tochter heil zurückkommt.“
Ernest Leibfried lief zum Feldweg, der an den Bahngleisen entlang verlief, und ließ einen lauten Pfiff ertönen. Besorgt beobachtete Sabine, was nun geschah.
Es dauerte eine Weile, bis die Gruppe von Reitern ihre Ponys zügeln konnte, um sie zum Rückweg zu wenden. Kurzfristig herrschte dort heilloses Durcheinander. Die Tiere liefen in alle Richtungen, bis es dem Anführer der Gruppe gelang, sie alle auf den Weg zu lenken, der zum Stall zurückführte.
Bis auf eine Ausnahme.
Ein Pony setzte sich von der Gruppe ab, sprang über die Schienen und galoppierte auf der anderen Seite weiter. Der Anführer der Gruppe riss sein Pferd herum und jagte hinter dem ausbrechenden Tier her, während der Rest der Gruppe im ruhigen Schritt zum Stall zurück trottete.
Sabine suchte unter den Kindern Annabels Gesicht, doch ihre Tochter war nicht dabei. Ihr Albtraum wurde wahr: Ausgerechnet Annabels Pony hatte sich von der Gruppe getrennt und war über die Schienen davon galoppiert.
Endlich schüttelte sie die Lähmung ab, die sie vor Schreck erfasst hatte, und lief los. Gerade noch konnte sie verhindern, an den Gleisen zu stolpern und auf den Schotter zu fallen. Sie erreichte das Feld auf der gegenüberliegenden Seite und rannte noch schneller. Aber gegen die Vierbeiner hatte sie keine Chance. Der Abstand war schon viel zu groß. Sie konnte nicht einmal mehr sehen, ob eine Reiterin auf dem wild galoppierenden Pony saß. Es war zu weit weg und viel zu schnell. Schon hatte sie das Pony völlig aus den Augen verloren.
Kalter Wind schlug ihr entgegen. Sie bekam keine Luft mehr. Schwindelattacken zwangen sie, langsamer zu werden. Sie stolperte weiter und weiter. Alles um sie herum war grün, grün und wieder grün. Soviel Natur hatte sie noch nie in ihrem Leben auf einmal gesehen. Sie verlor die Orientierung.
Eine Reiterin kam ihr entgegen. In ihrer freien Hand hielt sie die Zügel eines reiterlosen Ponys. Das Tier war nassgeschwitzt, zerzaust und schnaufte.
„Was ist mit meinem Kind passiert?“, fragte Sabine atemlos.
„Das Pony ist ausgebrochen. Das Mädchen, das darauf saß, ist runtergefallen“, antwortete die junge Frau.
„Und wer sind Sie? Warum reiten Sie seelenruhig zum Stall zurück?“
„Ich habe lediglich das Pony eingefangen, damit Pascal weiter nach dem Kind suchen kann. Sobald das Pony im Stall ist, helfe ich bei der Suche.“
Sabine ging weiter, begann erneut zu rennen, in der Hoffnung, Annabel so schneller zu finden. Das Einzige, was sie damit bewirkte, war ein schmerzhaftes Seitenstechen. Sie verlangsamte ihre Schritte und suchte alles ab, was nach einem Reitweg aussah, warf einen Blick in jeden Graben. Ohne Ergebnis. Ständig rief sie Annabels Namen. Keine Reaktion. Sie stolperte ziellos herum. Sie bemerkte nicht, wie die Zeit verging, fühlte nur eine große Hilflosigkeit und Sorge. Ihre Schuhe waren durchnässt, Kälte kroch durch ihren Körper. Sie durfte nicht schlappmachen. Hier irgendwo lag ihre Tochter und brauchte ihre Hilfe. Sie fiel auf den nassen Boden, erhob sich und stolperte weiter. Ihr Kopf dröhnte, sie konnte nur noch Schemen erkennen. Aus dem Nebel schälte sich eine Gestalt. Hoffnungsvoll riss sie die Augen auf, schrie den Namen ihrer Tochter und rannte darauf zu.
Doch es kam keine Antwort und niemand war mehr zu sehen. Ihre Sinne hatten sie getäuscht.
Sie blieb stehen, bückte sich und schloss die Augen, um ihre Atmung zu beruhigen. Dann setzte sie ihre Suche fort. Hastig sprintete sie los. Doch schon nach wenigen Metern stürzte sie erneut auf den nassen Boden. Gleichzeitig hörte sie etwas. Ein Platschen. Ganz in ihrer Nähe. Das musste ihre Tochter sein. Sie riss die Augen auf und krächzte „Annabel“. Suchend schaute sie sich um. Ein Schatten trat auf sie zu. Sie sprang auf vor Erwartung. Doch es war nur der Bürgermeister.
„Die Männer aus dem Dorf helfen bei der Suche nach Annabel“, sagte er in beruhigendem Tonfall. „Leider hat mein Schwiegersohn nicht gesehen, wo Ihre Tochter heruntergefallen ist. Deshalb müssen wir den ganzen Weg abgehen. Pascal reitet sicherheitshalber das gesamte Feld ab. Keine Sorge. Wir sind so viele. Wir werden Ihr Kind finden.“
Sabine nickte schwach. Sie rieb über ihre schmerzenden Augen, blickte hoch und fand bestätigt, was der Bürgermeister gesagt hatte. Bewaffnet mit Stöcken gingen Fremde über die Felder, schoben Gras zur Seite, klopften den Boden ab, riefen dabei immer wieder Annabels Namen.
Konnte sie dieser Anblick wirklich beruhigen? Wer waren diese Leute? Wollten sie wirklich das Beste für ihr Kind? Wie sollte Sabine diesen Menschen vertrauen, wo sie hier doch nur eine Fremde war?
Mit zitternden Knien erhob sie sich und setzte ihre eigene Suche fort.
Dämmerung brach herein und noch immer keine Spur von Annabel. Plötzlich ergriff ein naheliegender Gedanke von ihr Besitz: Was wäre, wenn Annabel zum Stall zurückgekehrt wäre und dort nach ihr suchte? Diese Vorstellung ließ einen Funken Hoffnung aufblitzen. Sofort wendete Sabine und stolperte den langen Weg zurück. Sie überquerte die Schienen und steuerte den Stall an. Aber ihre Hoffnung, dass Annabel dort auf sie wartete, löste sich schnell in Nichts auf. Keine Menschenseele hielt sich dort auf. Nur die Pferde, deren Kaugeräusche den Stall erfüllten.
Blieb noch die Hoffnung, dass sie in das Haus Nummer zwölf in der Rue de la Gare zurückgekehrt war. Sie passierte eine große Ruine. Der Anblick dieses baufälligen Gemäuers ließ sie innehalten. Die morsche Holztür war nur angelehnt, also kein Hindernis, um dort hineinzugelangen. Sie zog sie einen Spaltbreit auf und quetschte sich hindurch. Vor ihren Augen war nur ein brüchiger Boden übersät mit Unrat zu sehen. Links von ihr lehnte eine Leiter an der Wand, die auf eine Zwischenetage führte. Sabine stieg hoch und rief mehrmals Annabels Namen. Aber dort war sie nicht.
Sie verließ die Ruine und schlug den Weg zur Rue de la Gare ein, die zu ihrem Haus Nummer zwölf führte. Ein gut gepflegtes Eckhaus war direkt an die Ruine angebaut. Ein seltsamer Anblick. Darin befand sich das Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“.
Ernest? Hieß so nicht der Bürgermeister dieses Dorfes?
Die halb zerfallene Mauer, die das Restaurant mit dem benachbarten Haus auf der anderen Seite verband, brachte sie zum Staunen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen gepflegten und vernachlässigten Gemäuern irritierten sie. Diese Mauer endete mit einem Stacheldraht am oberen Rand, womit verhindert wurde, dass jemand drüber kletterte. Ein verrostetes Tor bezeugte, wo früher mal der Eingang gewesen war. Sabine rüttelte daran, aber es ließ sich keinen Millimeter verschieben.
Was verbarg sich dort? Das musste sie unbedingt wissen.
Durch die Gitter des Tores blickte sie auf die Äste einer Eiche, die bis auf wenige rostbraune Blätter vom Herbstwind kahlgefegt worden war. Mit ihrem dicken Stamm und den knorrigen Ästen hob sie sich bedrohlich vom dunklen, regenschweren Himmel ab. Runensteine ragten verstreut aus hohem, wild gewachsenem Gras und Efeu empor. Jahrhunderte von Wind und Regen hatten auf ihnen Spuren hinterlassen. Die Beschriftungen waren verwittert und kaum lesbar. Eingefasst wurden sie von niedrigen Steinmauern der Umfriedung.
Ein alter, vernachlässigter Friedhof lag dort vor ihr. Ein Schaudern überlief sie. Dort würde sich Annabel bestimmt nicht aufhalten. Die linke Seite des verwahrlosten Areals grenzte an den baufälligen Schuppen, den sie ergebnislos nach ihrer Tochter abgesucht hatte. Sie wollte sich wegdrehen, als ihr ein Mann in gebückter Haltung auffiel. Er legte Blumen auf eines der alten Gräber. Er bemerkte sie, erhob sich und drehte sich um. Dicke Brillengläser ließen seine Augen übergroß aussehen. Sabine erschrak. Seinen Mund verzog er abwechselnd zu einem Lachen und zu einer Kaubewegung. Kleine, vorstehende Zähne und dunkelrotes Zahnfleisch am Oberkiefer entblößten sich, Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln.
Sabine wollte weitergehen. Doch sie hielt inne. Warum sollte sein Aussehen ein Grund sein, diesen möglichen Augenzeugen nicht zu befragen?
„Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Es ist vier Jahre alt, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trägt einen Jeansoverall.“
„Pauvre fille.“ Das Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer traurigen Fratze. „Fille riche.“ Er zog eine lachende Grimasse und wandte sich ab.
Sabine war völlig außer sich. Mit diesem Kerl hatte sie nur Zeit verschwendet. Wie eine Irre rannte sie los, steuerte die Mitte der Dorfstraße an. Dort hatte sie den besten Überblick. Alles, was sich ihr auf der Suche nach ihrem Kind in den Weg stellen wollte, beachtete sie nicht. Autofahrer mussten zusehen, wie sie Sabine passierten, ohne sie umzufahren. Dabei schleuderte sie jedem die Frage nach ihrem Kind entgegen. Kaum begegnete ihr ein Mensch vor einem der Häuser oder an geöffneten Fenstern, keuchte sie: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“ Doch immer nur erntete sie Kopfschütteln oder bedauernde Mienen. Also rannte sie weiter und weiter und weiter. Irgendwo musste ihr Kind doch sein. „Annabel.“, schrie sie immer wieder den Namen ihrer Tochter. Doch es kam keine Antwort.
Dunkelheit brach herein. Und mit ihr der Schrecken, der in Sabine immer größer wurde. Wie fühlte sich ihr kleines Mädchen jetzt? Annabel hatte Angst im Dunkeln. Sie hatte Albträume. Sie kroch immer zu ihrer Mutter ins Bett, weil sie ihren Schutz suchte. Und jetzt? Jetzt lag sie irgendwo allein und ungeschützt da und hatte niemanden.
Sabine brach in Tränen aus, rannte aber unbeirrt weiter.
Jemand steuerte direkt auf sie zu. Erschrocken bremste sie ab, riss die Augen weit auf und schaute in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes. Seine Haltung war leicht gebückt. Er grinste. Sollte er etwas wissen?
„François kann Ihnen nicht helfen“, sprach er hastig mit halb verschluckten Vokalen.
„Ich will nichts von François, ich will meine Tochter finden“, knurrte Sabine und wollte ihren Weg fortsetzen. Aber der Alte war noch nicht fertig. Die eine Hand stützte er auf seinen Stock, als sei er zu schwach, ohne diese Hilfe stehen zu können, doch seine andere Hand hinderte sie mit erstaunlicher Kraft daran, weiterzugehen. Sein Gesicht kam ihrem immer näher. Sie erkannte, dass nur noch ein einziger Zahn seinen Mund zierte.
„Gehen Sie nach Hause. Der Bürgermeister hat die Gendarmerie aus Straßburg benachrichtigt. Von dort ist jemand auf dem Weg hierher.“
„Nur ein Einziger kommt hierher, um meine Tochter zu finden?“
Der Alte nickte und fügte an: „Einer, der was davon versteht.“
Er humpelte auf seinen Stock gestützt davon. Erst jetzt nahm sie den Golden Retriever wahr, den der Alte ausführte. Auch der hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich. Struppig, mit weißer Schnauze und krummen Beinen wackelte er hinter seinem Herrchen her.
Kriminalkommissarin Tanja Gestier hielt den Blick auf das gerötete Gesicht ihrer Tochter gerichtet. Dabei versuchte sie, sich das Handy zu schnappen, ohne dass Lara wieder einen ihrer Wutanfälle bekam. War vier Jahre bereits ein schwieriges Alter? Tanja wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Lara ganz schön unangenehm werden konnte, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Sie konnte es kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen war, seit sie wusste, dass sie Mutter werden würde. Die Unsicherheit und die Angst, als klar war, dass dieses Kind niemals seinen Vater kennenlernen würde, hatten sie damals überwältigt. Ihre Befürchtungen, es niemals zu schaffen, hatten sie ihrer Vorfreude auf dieses Kind beraubt. Aber, wenn man musste, konnte man über sich hinauswachsen. Laras Vater Sebastian war im Einsatz von einer Kugel getroffen worden, die für Tanja bestimmt gewesen war. Sie waren nicht nur ein Ehepaar gewesen, sondern auch beruflich ein Team. Und dann hatte alles mit einem einzigen Knall geendet. Kaum hatte Tanja begriffen, dass Sebastian getötet worden war, erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewusst, dass sie das Kind behalten und über alles lieben würde. Es war ein Teil von Sebastian. Auch war ihr klar gewesen, dass es nicht leicht würde, beide Elternrollen zu übernehmen. Doch wie schwierig es schließlich wirklich war, darauf hätte sie sich nicht vorbereiten können. Gerade jetzt spürte sie, dass sie dieser Doppelrolle nicht immer gewachsen war.
Noch war Laras Lachen unbekümmert. Wer wusste, wie lange …
Das Handy dudelte unaufhaltsam „Riders on the Storm“ von den Doors. Tanjas Beruf als Kriminalkommissarin ließ sich nicht so einfach mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen. Trotzdem übte sie ihren Beruf weiterhin mit Leidenschaft aus, wobei sie sich selbst einredete, dass Sebastian es so gewollt hätte. Aber sie konnte nichts anderes. Sie liebte den Job, obwohl er sie schon viel gekostet hatte. Und immer noch kostete, denn im letzten Jahr war die leidige Tatsache hinzugekommen, dass ihr Stiefvater die Leitung der Abteilung übernommen hatte, in der sie arbeitete. Der Mann, der ihre Doppelrolle als Mutter und Polizistin nicht guthieß. Seine ständigen Seitenhiebe nervten gewaltig. Aber das spornte Tanja nur noch mehr an.
Doch in Augenblicken wie diesem wurden die Schattenseiten ihres Lebens übermächtig. Tanja ahnte, dass ihre Dienststelle auf dem Handy anrief. Die Kollegen wussten, dass sie es ständig mit sich herumtrug. Endlich gelang es ihr, danach zu greifen. Kaum hatte sie es in der Hand, stieß Lara einen lauten Schrei aus, sodass Tanja nicht verstand, wer am anderen Ende der Leitung war. „Moment bitte“, rief sie und wandte sich zu ihrer Tochter mit der Bitte, sie möge leiser sein. Doch das half nichts. Im Gegenteil: Es wurde noch schlimmer.
„Gestier“, startete sie einen neuen Versuch, das Telefonat entgegenzunehmen.
„Ich bin‘s“, verstand Tanja endlich, nachdem Lara das Wohnzimmer verlassen hatte.
„Sabine?“ Tanja war nicht wenig überrascht. Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Durch ihre gleichaltrigen Töchter war aus ihrer Bekanntschaft eine tiefe Freundschaft entstanden, weshalb dieser Anruf in Tanja sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Sabines hysterische Stimme brachte Tanjas Trommelfell fast zum Platzen. Sie wiederholte immer wieder: „Sie ist weg. Sie ist weg.“ Dann sprudelte eine Salve an Worten durch den Hörer an Tanjas Ohr, wie sie sie von ihrer Freundin noch nie gehört hatte. Nur mit Mühe konnte sie alles verstehen, was Sabine teils heulend teils schreiend ausstieß. Was sie verstand und was ihr die Nackenhaare aufstellte, war die Tatsache, dass Sabine sich im Krummen Elsass befand und dort auf unerklärliche Art und Weise ihre Tochter verschwunden war. Sie berichtete von ihrer Suche nach Annabel, von den Menschen vor Ort, die sie nicht verstand, und von einem davon stürmenden Pony. Tanja musste sich selbst zusammenreimen, welches grauenhafte Szenario sich in diesem kleinen Ort abgespielt haben musste.
Im Hintergrund hörte sie Lara rumoren. Den Geräuschen nach war sie noch immer wütend. Doch in diesem Augenblick empfand Tanja ihr Toben als wohltuend. Sie ahnte, dass dieser Anruf etwas Schlimmes einleitete. Sie wagte nicht nachzufragen, was passiert war. Aber das war auch nicht nötig, denn alles sprudelte aus Sabine von allein heraus.
Zum Abschluss ihres Berichts bat die Freundin: „Tanja. Ich bitte dich, du musst kommen. Du bist Polizistin. Nur du kannst mir helfen.“
„Ich kann in Frankreich nichts ausrichten. Meine Befugnisse enden an der Grenze.“
„Natürlich kannst du. Mehr als diese bornierten Gendarmen, die nicht mal ein Wort Deutsch reden. Du kannst perfekt Französisch.“
„Die Gendarmerie ist aber in Frankreich zuständig. Nicht die Kriminalpolizei von Saarbrücken. Wenn ich dort auftauche, schicken die mich sofort wieder nach Hause.“
„Bitte komm“, flehte Sabine, als hätte sie Tanjas Erklärungen gar nicht gehört. Und wurde mit dem nächsten Satz ihrer Freundin endgültig in die Defensive gedrängt: „Stell dir mal vor, deine Lara verschwindet spurlos?“
„Nein. Lieber nicht.“
„Also. Ich bitte dich.“
Damit hatte sie gewonnen. Obwohl Tanja wusste, dass sie nicht einfach ins Elsass spazieren und dort eigenmächtig ermitteln konnte, sagte sie ihrer Freundin zu.
Sabine Radeks Erbe stellte sich als rustikales Sandsteinhaus heraus, dessen schmutziggrauer Verputz teilweise abbröckelte. Es befand sich in einer Linkskurve ein gutes Stück abseits der Straße, mit einem Vorgarten, den ein kleiner, baufällig wirkender Holzzaun einrahmte. Die Scheune auf der linken Seite verdarb den ersten nostalgischen Eindruck. Zerfallen lehnte sie sich an die starke Hauswand zur Ostseite. Breite Risse ließen einen baldigen Einsturz befürchten. Der mit Steinplatten ausgelegte Weg zur Haustür war vom Regen der vergangenen Tage spiegelglatt. Tanja musste aufpassen, nicht zu stürzen.
Kaum hatte sie geklingelt, stand Sabine schon in der Tür. Beim Anblick ihrer Freundin wusste Tanja, dass es richtig gewesen war, hierherzukommen. Sabine sah so schlecht aus, dass es Tanja einen schmerzhaften Stich versetzte. Die Freundin fiel ihr zur Begrüßung in die Arme. Außer Weinen brachte sie keinen Ton heraus.
Es dauerte eine Weile, bis Tanja endlich das Haus betreten konnte. In der Küche wartete eine Überraschung auf sie. In dem mit neuen glänzenden Küchenmöbeln in sanften Terrakottafarben eingerichtetem Raum wartete bereits ein ein Gendarm in dunkelblauer Uniform. Er umrundete den Tisch, der das Zentrum des großen Raums bildete, trat auf Tanja zu und begrüßte sie mit einem knappen Nicken.
„Warum ist der Gendarm hier im Haus?“, fragte Tanja, nachdem Sabine sich endlich ein wenig beruhigt hatte. „Glauben die etwa, du hältst dein Kind hier versteckt?“
„Pssst. Der versteht jedes Wort.“
„Am Telefon sagtest du, die sprechen kein Deutsch“, murrte Tanja.
„Le Commandant ist unterwegs“, mischte sich der Uniformierte mit dunkler Stimme in das Gespräch der beiden Frauen ein.
„Wird der Commandant den Fall übernehmen?“
„Oui, Madame.“
„Komm, ich zeige dir, wo der Stall liegt“, drängte Sabine.
„Das geht doch nicht“, widersprach Tanja. „Der zuständige Beamte ist auf dem Weg hierher. Mit ihm musst du zum Stall gehen. Er ist es, der über alles informiert werden muss.“
„Le Commandant wurde von uns über alles informiert“, meldete sich der Gendarm erneut ohne Aufforderung zu Wort.
„Also. Sieh es dir bitte an.“
„Aber Sabine. Wir müssen doch hier sein, wenn er eintrifft.“
„Bis dahin sind wir längst wieder zurück.“
„Okay. Danach erzählst du mir aber der Reihe nach alles, was passiert ist“, verlangte Tanja und folgte ihrer Freundin.
Sie traten durch die große gläserne Terrassentür in einen verwilderten Garten. Vor Tanjas Augen erschien alles nur noch Grün - in einem wilden Durcheinander. Seitlich davon passierten sie den angebauten Stall, dessen Zustand von hinten genauso marode wirkte wie von vorne.
Die Dorfstraße war so wenig befahren, dass sie ohne Besorgnis auf ihrer Mitte gehen konnten. Tanja dachte, dass es hier sehr schön sein könnte, wenn da nur nicht diese Geschichte mit Annabel wäre.
Eine gefällte Birke säumte an einer Stelle den Bürgersteig. Einige Häuser weiter entdeckte Tanja abgesägte Äste einer Buche, die aufgetürmt am Straßenrand lagen. An der Weggabelung fiel ihr Blick auf das Eckhaus, ein Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“. Teure Autos standen auf dem kleinen Parkplatz davor. Direkt neben dem Restaurant sah es jedoch ähnlich aus wie hinter Sabines Haus: ein halb zerfallenes Mauerwerk, das nur noch an vereinzelten Stellen mit dem Hauptgebäude verbunden war; das Dach hing schief, von unten zog Nässe in die Steine.
„Hier ist sie rechts reingelaufen.“ Sabines Stimme riss Tanja aus ihren Beobachtungen. „Ich weiß nicht, wie sie den Stall so schnell finden konnte.“
Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus Sabine heraus. Wieder schilderte sie in allen Einzelheiten die quälende Suche nach Annabel und ihre Hilflosigkeit, als sie das davon stürmende Pony gesehen hatte. Sie folgten der scharfen Rechtskurve, bis sie vor einer Reitanlage standen. Sie war klein, wirkte ungepflegt. Der strenge Geruch nach Pferdedung schwängerte die Luft. Schlammlöcher erschwerten ihnen den Weitermarsch.
„Ich glaube, ich habe genug gesehen“, erklärte Tanja. „Wie Pferde in einem Stall aussehen, weiß ich.“
Sabine schaute Tanja eine Weile zweifelnd an, bevor sie fragte: „Hilfst du mir bei der Suche nach Annabel?“
Tanja setzte an, ihrer Freundin zu erklären, warum das nicht möglich war, aber das wollte Sabine nicht hören.
Auf dem Rückweg fragte sich Tanja fieberhaft, wie sie es anstellen sollte, damit sie hier vor Ort ermitteln durfte. Sie wagte sich nicht, Sabine ins Gesicht zu schauen. Der Schmerz, der sich darauf abzeichnete, die Hoffnungen, die Sabine mit Tanjas Eintreffen verband, das alles konnte Tanja kaum ertragen.
Um sich erste Eindrücke der Umgebung zu verschaffen, schaute sie sich um. Sie musste vorbereitet sein, denn – egal wie sich ihr Chef in dieser Angelegenheit entscheiden würde – wusste sie jetzt schon, dass sie hier nach Annabel suchen wollte. Fachwerkhäuser standen Steinhäusern gegenüber. Scheuneneingänge waren zu Garagen umfunktioniert. Hier und dort parkten Traktoren, das Muhen von Kühen erfüllte die Dorfstraße. Doch zu Tanjas Erstaunen roch es nicht nach dem Dung von Kühen, sondern nach Verbranntem. Sie schaute sich suchend um und entdeckte zwischen zwei Häusern Flammen, die aus einer Tonne schlugen und hellen Rauch erzeugten. Dieser Rauch verbreitete sich immer mehr, wurde immer dichter, bis Tanja den Eindruck bekam, durch eine Nebelwand zu schauen. Sie beobachtete die wenigen Dorfbewohner auf der Straße und erkannte schnell, dass sich niemand daran störte. Im Gegenteil. In Gespräche vertieft standen sie grüppchenweise zusammen und starrten Tanja und Sabine neugierig hinterher.
Jean-Yves Vallaux legte behutsam den Hörer auf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das auch seine Augen erreichte. Ein zufriedenes Lächeln, so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Obwohl der Anlass traurig war. Ein vierjähriges Mädchen war in Potterchen spurlos verschwunden. Ein deutsches Mädchen. Die Kriminalpolizei - La Direction Interregional de Police Judiciaire - in Strasbourg hatte bei der Vergabe der Ermittlungen sofort an ihn gedacht, weil er in Saverne lebte und dem Krummen Elsass am nächsten war.
Aber das war nicht der einzige Grund.
Seine Schritte hallten durch das fast leere Haus, das nach dem Tod seiner Frau viel zu groß für ihn geworden war. Seine Frau. Ein Seufzer kam ihm über die Lippen. Wie immer, wenn er an sie dachte. Wie immer, wenn seine Gedanken von ihr gefangen genommen wurden. Seine Freunde hatten versucht, ihn zu einem Umzug zu überreden. Das Haus sei viel zu groß für ihn allein. Aber das war das Letzte, was er wollte. Die Macht der Erinnerungen hielt ihn hier fest. Erinnerungen an eine Liebe, die nicht von Leidenschaft oder Temperament bestimmt wurde. Nein, eine Liebe, die tiefer ging. Ihre Zurückgezogenheit war zu seiner Obsession geworden. Das Unberechenbare an ihr zu seinem Fetisch. Diese Frau hatte sein Herz im Sturm erobert. Dabei wusste er bis heute nicht, ob sie seinem Verlangen aus Mitleid oder aus echter Zuneigung nachgegeben hatte. Doch damals hatte das für ihn keine Rolle gespielt. Seine Begierde nach ihr war nicht zu bändigen gewesen. Mit jeder Faser seines Körpers hatte er sich nach ihr verzehrt. Er hatte geglaubt, sein Verlangen würde für sie beide ausreichen. Sein Wunsch sie zu besitzen ging über die Vernunft hinaus, sie selbst entscheiden zu lassen.
Irgendwann hatte er sich eingestanden, dass es gerade ihre Unberechenbarkeit war, die ihn magisch angezogen hatte. Ihre Launenhaftigkeit, immer schwankend zwischen Leidenschaft und Schwermut. Indem er sich selbst in ihre Einsamkeit verbannte, wollte er ihre Mauer durchbrechen, ihr mit seiner Ruhe und Beständigkeit einen Rettungsring hinzuwerfen. Aber sie hatte ihn nicht ergriffen, sich nicht daran festgehalten. Ihre Rastlosigkeit hatte sie ihre ganze gemeinsame Zeit begleitet – eine viel zu kurze Zeit.
Sein Blick aus dem Fenster fing einen Teil der Landschaft ein. Vor den nördlichen Ausläufern der Vogesen zeigte sich trotz grauem Wetter der Hafen von Saverne in seiner schönsten Pracht. Eine Schönheit, die ihn schmerzlich an seine Frau denken ließ. Wie gern hatte sie in ihrem Vorgarten gesessen und den Menschen zugesehen. Immer Beobachterin sein, niemals aktiv am Leben teilnehmen. All seine Bemühungen, sie mitzunehmen, mit ihr gemeinsam in das Leben draußen einzutauchen, waren gescheitert. Niemals waren sie gemeinsam über den Quai geschlendert – ein Eis in der einen Hand, mit der anderen aneinander festhaltend, wie so viele verliebte Paare das taten. Mit ihr konnte er nur zusehen, wie andere das Leben in vollen Zügen genossen. Für sie war das passive Miterleben von Glück das Höchste der Gefühle. Deshalb hatte er diese Momente mit ihr geteilt. Es waren schöne Augenblicke gewesen - damals.
Sie war in Potterchen geboren und aufgewachsen. Ihre Schwester lebte immer noch dort. Vermutlich lag darin der eigentliche Grund, dass er für diesen Fall eingeteilt worden war.
Er warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sein Dreitagebart ließ ihn verwegen aussehen. Das gefiel ihm besser als die Trauermiene, die er immer aufsetzte, wenn er an seine Frau dachte. Außerdem trieb ihn der Gedanke an, dass ein kleines Mädchen seine Hilfe brauchte.
Mit neuer Energie verließ er das Haus. In der angrenzenden Garage glänzte ein dunkelblauer Peugeot 607. Er stieg ein und ließ den V6-Motor leise surren. Mit seinen fast fünf Metern Länge war das rückwärts Manövrieren aus der Garage eine erste Herausforderung für Jean-Yves. Gegenüber seinem Haus grenzte der Canal de la Marne au Rhin unvermittelt an die schmale Straße, was für ihn bedeutete, die Geschwindigkeit seines Wagens zu drosseln, sonst würde er im Wasser landen.
Die schnittige Form des Fahrzeugs ließ ihn ruhig über die Straßen gleiten, der drei Liter Hubraum setzte eine Power frei, die Jean-Yves tief in den Sitz drückte. Er überquerte eine kleine Brücke, passierte das Rohan-Schloss, in dem heute die Museen der Stadt untergebracht waren, und geriet vor dem roten Backsteinbau des Bahnhofs, den kleine Springbrunnen zierten, in einen Stau. Leise surrte der starke Motor unter ihm, ein monotones Brummen, das ihn beruhigte.
Endlich ging es weiter. Jean-Yves steuerte die Zaberner Steige mit ihren vierhundert Metern Höhe an, ein Zeugnis einer ungeheuren Arbeit, wie ein berühmter Dichter einst seiner Bewunderung Ausdruck verliehen hatte. Während Goethe im achtzehnten Jahrhundert mit seinem Pferd über diesen Pass nach Phalsbourg geritten war, zog er es vor, dessen Spuren mit zweihundertzehn Pferdestärken zu folgen.
Der Ausläufer der Vogesen verlief in steilen Serpentinen über den Pass, wo er das Col de Saverne hinter sich ließ. Aus den malerischen Fachwerkhäusern, die Saverne beherrschten, wurden alte, charakteristische Steinhäuser, die die Hauptstraße säumten. Er verließ das Elsass mit seiner verträumten Route du Vin, durchquerte das lothringische Dorf Danne et Quatre Vents, dem die Bewohner mit viel Witz und Fantasie eine eigene Persönlichkeit zu verleihen suchten. Am meisten erfreute sich Jean-Yves am Anblick eines rosa Schweins aus Plastik in Lebensgröße in einem der Vorgärten der langen Häuserreihe.
Nun erreichte er Phalsbourg. Mitten in der Stadt befand sich das geschichtsträchtige Tor, das Goethe einst durchquert hatte. Doch heute blieb Jean-Yves keine Zeit für kulturgeschichtliche Betrachtungen. Ein vierjähriges Mädchen war verschwunden Ihm blieb keine Zeit, er musste auf direktem Weg weiter zu seinem Ziel.
Das große Internat Saint Antoine zu seiner Rechten prägte Phalsbourgs Stadtbild nachhaltig. Weitere Dörfer folgten, alte Bauernhöfe und Reste von dem, was einst Bauernhöfe gewesen waren, boten sich seinem Auge dar. Hinter einer kleinen Häuserreihe, die als Metting beschildert war, überquerte er die unsichtbare Grenze zum Krummen Elsass.
Die Landschaft veränderte sich, zeigte sich immer weitläufiger. Statt Weinreben beherrschten nun Maisfelder das Bild. Etliche Häuseransammlungen ohne Ortsbezeichnung wurden ihrer Bedeutung als Kuhdörfer gerecht. Weiden voller Kühe in den Farben schwarz-weiß oder rot huschten an seinem immer schneller werdenden Auto vorbei. Gelegentlich nahm er auch Pferdekoppeln und Schafsweiden wahr. Die Sonne zeigte die letzte Kraft des Sommers, der sich seinem Ende zuneigte. Gelegentlich schaute sie hinter dunklen Wolken hervor und ließ alles in freundlichem Licht erstrahlen.
Plötzlich huschte ein großer, bedrohlicher Schatten über sein Auto. Jean-Yves richtete seinen Blick nach oben. Störche zogen am Himmel ihre Bahnen. Er schaute ihnen nach und wünschte sich, einer von ihnen zu sein. Diese Vögel waren schlau genug, zur Winterzeit in den Süden zu fliegen.
In Sarre-Union änderte sich das Bild von neuem. Keine Landwirtschaft, sondern Industriebetriebe stachen hier ins Auge. Eine Saftfabrik, daneben ein Hersteller von Elektrozubehör und im Zentrum der Stadt eine Plastikfabrik – allesamt Garanten für viele Arbeitsplätze im Elsass.
Hinter Sarre-Union bog er links ab. Hier wurde die Straße schmal. Kurz vor Potterchen sah er die Schienen, die das Dorf einrahmten. Rechts lagen Steinquader, die Reste alter Klostermauern. Der Bürgermeister hatte sich immer noch keine Mühe gemacht, dort etwas zu ändern. Jean-Yves schüttelte verständnislos den Kopf. Da erst fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Seite. Große Rohre lagerten dort. Bagger parkten daneben. Einige Gräben und Löcher klafften bereits in der nassen Erde. Sollte hier doch noch etwas passieren?
Er überquerte die Schienen. Nur noch wenige Meter und er hatte sein Ziel erreicht.
Die Türklingel riss Tanja aus ihren Gedanken. Sabine stand wie erstarrt am Fenster. Tanja wartete, ob sie reagierte, doch das tat sie nicht. Also erhob sie sich und öffnete die alte, massive Eichentür.
Vor ihr stand ein Hüne von einem Mann. Schwarze Haare kräuselten sich über seiner breiten Stirn, ein Dreitagebart betonte ein starkes Kinn. Stahlgraue Augen blitzten unter dunklen Augenbrauen hervor. In der einen Hand hielt er lässig seine Anzugjacke, in der anderen seinen Dienstausweis. Sein Hemd war bis zur Hälfte geöffnet und gab die Sicht auf eine behaarte Brust frei.
So sieht also ein Hauptkommissar in Frankreich aus, überlegte Tanja. Dabei überlegte sie zu lang. Das merkte sie, als er sie mit einem leichten, französischen Akzent fragte: „Sind Sie Madame Sabine Radek?“
„Oh. Äh… Nein.“ Verdammt, warum stammelte sie? „Sabine Radek ist im Haus.“
Um die Tür ohne peinliches Kopf Anstoßen zu passieren, musste er sich bücken. Tanja schaute ihm dabei interessiert zu. Er ging ihr voraus in die geräumige Küche, die durch sein Eintreten plötzlich klein wirkte.
Sabine stand an einen der Schränke gelehnt, bleich und zitternd.
„Commandant Jean-Yves Vallaux. Ich bin von der Direction Interregional de Police Judiciaire Strasbourg hierher beordert worden“, stellte er sich vor. „Und wer sind Sie?“
„Das ist Sabine Radek“, erklärte Tanja, „die Mutter des vermissten Mädchens.“
„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte der große Mann mit einem amüsierten Grinsen. Bevor er noch etwas anfügen konnte, sprach Tanja hastig weiter: „Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich an Frau Radecks Stelle Ihre Fragen beantworte?“ Auf das Schweigen des Commandants fügte sie erklärend an: „Sie fühlt sich nicht gut.“
„Sind Sie, wie sagt man bei Ihnen, l’infirmière?“
„Nein, das bin ich nicht“, stellte Tanja klar und warf trotzig ihre langen, dunklen Haare zurück. „Ich bin nicht Sabines Pflegerin, ich bin Tanja Gestier, Kriminalkommissarin der Landespolizeidirektion Saarbrücken.“ Sie trug extra dick auf, in der Hoffnung, dass es gut klang. Aber schon der nächste Satz machte ihr klar, dass der Commandant durch diese Äußerung nicht zu beeindrucken war.
„Von meiner Dienststelle in Strasbourg ist mir nichts über eine Verbindungsbeamtin aus Saarbrücken mitgeteilt worden.“
„Verbindungsbeamtin?“ Tanja ahnte, dass sie mit dieser Frage ihre Unwissenheit verraten hatte. Aber jetzt war sie heraus.
„Die Stimme aus Deutschland?“
„Die Stimme aus Deutschland“, wiederholte Tanja begriffsstutzig.
„Wir haben es hier mit einem Verbrechen in Frankreich zu tun, dessen Opfer aus Deutschland stammt“, erklärte er endlich genauer.
Jetzt verstand Tanja. Wenn sie sich weiter so anstellte, konnte sie ihren Einsatz in Frankreich schnell wieder vergessen.
„Ihre Kollegen haben wohl noch nichts über meine Rolle in diesen Ermittlungen erfahren“, bluffte Tanja in ihrer Not.
„Oh. Le Juge d’Instruction hat sich bereits über den Fall informiert. Ich werde ihn wohl über sein Versäumnis aufklären müssen.“
„Wer ist der Juge d’Instruction?“ Tanja ahnte Schlimmes.
„Der Untersuchungsrichter, der das Verfahren überwacht.“
Der große Mann grinste immer noch. Dabei zogen sich seine vollen Lippen auf der linken Seite nach oben, was anzüglich wirkte. Tanja bemühte sich, diesen Ausdruck zu übersehen. Besser war es, sich jetzt darum zu kümmern, dass ihr der Fall nicht aus den Händen glitt. Und das konnte ihr nur gelingen, indem sie umgehend nach Saarbrücken fuhr. Dort musste sie alle Hebel in Bewegung setzen, um als Verbindungsbeamtin eingesetzt zu werden. Nur welche Hebel waren dafür nötig? Sie fühlte sich so hilflos, kannte sich mit den Regelungen der deutsch-französischen Zusammenarbeit der Polizei nicht aus.
„Ich muss zuerst nach Hause fahren, bevor ich hier mit meiner Arbeit beginnen kann“, erklärte sie so lässig, wie es ihr gerade möglich war.
„Wirklich?“ Wieder dieses Grinsen.
„Ja. Warum?“
„Als Verbindungsbeamtin sind Sie hier unentbehrlich.“
Jetzt nahm er sie auch noch auf die Schippe. Tanja kochte innerlich. „Keine Sorge. Ich werde zurückkommen.“
„Lassen Sie mich nicht zu lange warten.“
„Was wird hier gespielt?“, fragte Sabine dazwischen. „Ich kann es nicht fassen. Annabels Leben ist in Gefahr und Sie haben nichts Besseres zu tun, als meine Freundin anzubaggern.“
Erschrocken wich Jean-Yves Vallaux zurück. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er hob beide Hände als Entschuldigung, doch diese Geste sah Sabine nicht mehr. Sie brach in Tränen aus, ging zu Boden und schüttelte sich vor Weinkrämpfen.
„Am besten fahre ich sofort los und kümmere mich um alles.“ Tanja beugte sich erschrocken zu ihrer Freundin herunter und meinte: „Du musst zu einem Arzt gehen. Du brauchst etwas zur Beruhigung.“ An den Commandant gewandt fragte sie: „Gibt es in Potterchen einen Arzt?“
„Nein. Der Nächste ist in Sarre-Union. Und ich bezweifle, dass der noch erreichbar ist.“
„Dann komm mit mir nach Saarbrücken“, schlug Tanja vor.
„Nein. Ich bleibe hier“, stellte Sabine klar.
Im Büro der Kriminalpolizeiinspektion in Saarbrücken herrschte eine Betriebsamkeit, die Tanja sofort das Schlimmste ahnen ließ. Sollte dort die Hölle los sein, würde sie niemals die Möglichkeit bekommen, im Elsass nach der Tochter ihrer Freundin zu suchen.
Milan Görgen, ihr Teampartner, sah sie als Erster. Sofort sprang der Kollege von seinem Platz auf und eilte ihr entgegen. „Unser Dienststellenleiter fühlt sich auf den Schlips getreten, weil du eine ausländische Behörde auf ihn losgelassen hast, ohne ihn vorzuwarnen.“
„Ich habe was?“ Tanja verstand gar nichts.
„Die Kripo in Strasbourg hat sich bei ihm gemeldet und nach der Entsendung einer Verbindungsbeamtin namens Tanja Gestier gefragt.“ Milan grinste, wodurch seine lange Nase noch länger wirkte und sein ganzes Gesicht mehr an einen Lausbuben, denn an einen erwachsenen, fast fünfzigjährigen Kriminalkommissar denken ließ.
Tanja stieß die angehaltene Luft aus. Dieser Mistkerl von Commandant. Er hatte sie ins offene Messer rennen lassen.
Sie steuerte ihr Büro an.
„Deine Kaffeemaschine muss zurzeit für den Abteilungskaffee herhalten“, rief Milan und folgte ihr. „Der Automat ist kaputt.“
„Das heißt also, dass ich mir jetzt einen Kaffee holen kann. Das ist alles, was mich gerade interessiert.“
„Was ist im Elsass passiert?“
Tanja schenkte sich in. Sie fühlte sich aufgewühlt. Leider schaffte es der Kaffee nicht, diesen Zustand zu mildern. Im Gegenteil. Sie verhaspelte sich ständig, während sie versuchte, Milan die wenigen Einzelheiten mitzuteilen, die sie bisher in Erfahrung gebracht hatte.
„Es geht dir also nur um einen Freundschaftsdienst?“
„Für mich ist es mehr“, murrte Tanja. „Die Tochter meiner Freundin ist im gleichen Alter wie Lara. Sie ist in einem fremden Land spurlos verschwunden. Da kann ich nicht einfach stillsitzen und hoffen, dass alles gut ausgeht.“
„Aber in Frankreich gibt es doch auch Polizei.“
„Klar. Aber Sabine vertraut mir mehr als denen.“
„Dazu kann ich dir nichts sagen. Mit der Arbeit der französischen Polizei kenne ich mich nicht aus“, gestand Milan.
„Ich auch nicht.“
„Das merkt man.“ Milan lachte. „Wie es aussieht, hast du bereits einen Fehlstart hingelegt. Übergangen zu werden, findet unser Vorgesetzter nämlich nicht so toll.“
Kaum hatte er ausgesprochen, wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen. Dieter Portz trat mit einer Miene ein, die nichts Gutes verhieß.
„Warum stellst du mich vor vollendete Tatsachen?“, fragte er anstelle einer Begrüßung. Er lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und wippte mit seinem rechten Fuß, eine Angewohnheit, die immer dann zutage trat, wenn er nervös war. Mit seinen stechend blauen Augen fixierte er Tanja, zeigte mit dem Zeigefinger auf sie und antwortete selbst: „Weil ich dann zustimmen muss, wenn ich mein Gesicht nicht verlieren will.“
Tanja wurde ganz heiß. Mit brüchiger Stimme fragte sie: „Was heißt Gesicht verlieren?“
„Was glaubst du, wer mich über die eigenmächtigen Handlungen meiner Mitarbeiterin in Frankreich aufgeklärt hat?“, stellte Portz in schneidendem Ton eine Gegenfrage. „Nicht Tanja Gestier, wie es der vorgeschriebene Dienstweg wäre. Nein. Der Commissaire Divisionaire von Strasbourg. Und weißt du, was der Commissaire Divisionaire für einen Dienstgrad besitzt? Kriminaldirektor.“
Tanja staunte darüber, in welchen Ebenen der Fall von Annabel Radek in Frankreich gelandet war. Eigentlich ein gutes Zeichen, wäre ihr Chef nicht so stinksauer.
„Ich habe am Telefon so getan, als sei mir der Fall bekannt. Ich konnte schlecht zugeben, dass ich keine Ahnung davon habe, was meine eigenen Leute so treiben.“
Mit nervösen Schritten ging er in dem engen Raum auf und ab, bis er anfügte: „Und mit der nächsten Quizfrage kannst du den Jackpot knacken: Was glaubst du, wer der zuständige Mann dafür ist, deine Genehmigung zur Verbindungsbeamtin beim Leitenden Polizeidirektor unserer hiesigen Landespolizeidirektion zu beantragen?“
„Heinrich Behrend“, antwortete Tanja und wäre am liebsten im Boden versunken, weil Kriminalrat Behrend nicht nur für seine Unerbittlichkeit bekannt war. Er war auch ihr Stiefvater.
„Bingo. Die Kandidatin hat tausend Punkte.“