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»[...] Sie kamen am Tatort an, als die Spurensicherung im Bungalow noch zugange war. Herbert und Anne blieben auf der anderen Straßenseite im Opel Kapitän sitzen. Die Fenster des Bungalows boten einen freien Blick, ... so dass sie die Beamten bei der Arbeit beobachten konnten. [...]« Dieser historische Kriminalroman spielt in den 50-ern. Der Bau der Nordbrücke läuft in Düsseldorf. Und es wird mörderisch. Michaelis schildert es humorvoll. Und er liefert viele stadthistorische Rätsel. Miträtseln ist also angesagt. Bis hin zur spektakulären Auflösung des Falles.
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Seitenzahl: 152
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Jan Michaelis
MORDBRÜCKE
Großdruck-Ausgabe
Engelsdorfer VerlagLeipzig2021
Der Spielort der Handlung ist Düsseldorf in den 50er Jahren. Die Figuren und die Handlung sind mir von einem Taxifahrer genau so erzählt worden, ich habe nichts daran geändert oder hinzugefügt. Die sogenannte „Mordbrücke“ wurde als „Nordbrücke“ gebaut und dann in „Theodor-Heuss-Brücke“ umbenannt.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Umschlagsfotografie: Judith Michaelis Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Der Taxifahrer redete ohne Punkt und Komma
Die Frau in den Ruinen
Phönix aus der Asche
Herrenbesuch
Knallerei in der Kunstakademie
Geheimniskrämerei
Stippvisite in der Galerie
Die Mandantin
Augen zu und durch
Im Roxy Kino
Ein Böser Blick aus Bilk
Fotos im Dunkeln
Spurlos verschwunden
Chorprobe in Bilk
Am Tatort
Der Schlag auf den Kopf
Es gibt kein Recht auf ein Happy End
Blind in Bilk
Auf der Kö
Der Freischütz
Die Premierenfeier
In Köln
Der Dumm
Mordbrücke
Im alten Zum Jorvas
Im Pikbubeneck
Wer späht da wen aus?
Der Traum von der Hochzeit
Der Teppichmord
Die Verfolgung
Die Suche nach der Leiche
Wieder kein Mord
Urlaub mit 20 D-Mark
Kunst auf der Golzheimer Heide
Konrad und sein Doppelgänger
Waschtag in Bilk
Im Nordpark
Was beweisen die Fotos?
Der Albtraum
Taxifahrer leben länger
Das Traugespräch
Der Trauzeuge
Die weiße Frau
Eine raffinierte Frau
Seilschaften
Die Exmatrikulation
Rock and Roll
Das possierliche Monster
Der Reiz beim Drehen
Der drohende Tod des Taxifahrers
Der Aufstand
Sog der Tiefe
Herbert rettet seinen Vater
Die Beerdigung von Katharina Reiz
Die Hochzeit
Das perfekte Verbrechen
Ein raffinierter Dreh
Warum ließen Sie mich erblinden?
Wer war es dann?
Der Taxifahrerball
Und unsern kranken Nachbarn auch
Nachwort
Zitat aus der Düsseldorfer Stadtchronik 1956:„17.2.1956 – Offizielle Gedenkfeier der Bundesrepublik anlässlich des 100. Todestages von Heinrich Heine im Robert-Schumann-Saal in Anwesenheit des Bundespräsidenten Theodor Heuss.“
Jetzt saß ich also in diesem cremefarbenen Taxi und der Taxifahrer redete zu viel. Dass die Taxifahrer im Jahr 2020 noch so geschwätzig waren; dieser hier redete definitiv zu viel, schon eine halbe Stunde erzählte er mir diesen Krimi, am Stück.
„Ich habe das schon vielen erzählt. Irgendwann werde ich auf den treffen, der daraus was machen kann. Dann verdiene ich damit Geld, richtig Geld …“
„Hm.“ Ich gab mich nicht als Filmproduzent zu erkennen. Ich wollte wegen eines anderen Projekts nach Düsseldorf zur Filmstiftung NRW, dieser Krimi hier konnte warten. Der Taxifahrer hatte mich vom Flughafen mitgenommen, war den Zubringer gefahren, hatte beim Mercedes-Werk gewendet und dann die neue Toulouser Allee durch Derendorf genommen. Es dauerte, weil uns überall der Stau aufhielt, dieser Stau, der nicht ausbleiben konnte bei diesem Sturm, der sogar die Flugzeuge abdrehen ließ. Ich war mit dem Zug bis Düsseldorf-Flughafen gekommen, doch ab da war die Strecke gesperrt, weil es einen Oberleitungsschaden gab. Wie empfindlich unsere Infrastruktur doch war. Ein solcher Sturm und nichts ging mehr. Ich wählte ein Taxi, weil ich keine Hoffnung hatte, mit der U-Bahn weiterzukommen, denn die Rheinbahn hatte auch Oberleitungsstörungen gemeldet. Also fuhr ich mit diesem redseligen Taxifahrer. Der erzählte seine Story und ich muss gestehen, sie war nicht schlecht.
„Haben Sie das schon mal aufgeschrieben?“
„Nein!“
„Warum nicht?“
„Hab ich alles hier oben.“ Der Taxifahrer tippte sich gegen die Stirn und drehte sich dabei zu mir um.
„Sie sollten lieber auf die Fahrbahn achten!“
Er redete weiter. Ohne Punkt und Komma. Wie ein Wasserfall.
Schließlich hielten wir an der Adresse, die ich ihm genannt hatte, und ich war erleichtert, dass die Filmstiftung keinen großen Schriftzug am Eingang hatte, denn würde der Kerl lesen, wo ich hinfuhr, würde ich ihn nie wieder los werden können.
Nach zwei Stunden war die Verhandlung über die Bühne gegangen und mein Projekt war bewilligt, jetzt stand die Finanzierung. NRW war ein guter Partner für internationale Filmproduktionen wie meine. Hier konnten wir passende Drehorte finden und zu dem Geld, das wir investieren konnten, gab das Land über die Stiftungen etwas obendrauf. Ich wollte feiern.
Ich bat den Pförtner, einen Briten mit charmantem Akzent, mir ein Taxi zu rufen und war verwundert, als die Limousine vorfuhr. Das war doch mein Taxifahrer.
„Ich habe auf Sie gewartet“, sagte er und machte weiter, wo er aufgehört hatte.
Plötzlich hatte er mich am Haken. Wie jetzt, der Held erblindet? Er war doch Fotograf. Das hatte was: ein blinder Fotograf. Und noch besser: ein blinder Detektiv. Jetzt ging die Story erst richtig los.
Also sagte ich: „Erzählen Sie, am besten noch mal ganz von vorne!“
Er zielte durch Kimme und Korn der Pistole Modell Walther P 38, die er aus seiner Zeit bei der Wehrmacht behalten hatte. Von dieser Stelle wurde der Schuss abgegeben, der tödliche, denn dort auf dem Trümmergrundstück lag der Körper der Frau und er konnte ihre Wunde am Kopf erkennen, wo der mörderische Schuss sie getroffen hatte, das war keine 15 Meter entfernt.
Er machte ein Foto mit seiner Leica, um den Blick auf den Tatort aus der Position des Täters einzufangen. Die Frau lag reglos zwischen den Steinen, nur der Wind, der hier über das Grundstück fegte, pustete ihr Sommerkleid ein wenig auf. Sie war schön. Er würde das Foto allen zeigen.
Er steckte seine Militärpistole wieder ein. Und die Leica, die er um den Hals an einem Lederband trug, packte er unter seinen Tweetmantel. Es war zugig. Der Wind blies vom Rhein kommend durch Derendorf. Nach den vielen Luftangriffen waren nur noch ein Drittel der Häuser stehen geblieben, seit Mitte der 50er Jahre füllten sich die Baulücken allerdings wieder, Zug um Zug.
Ein Mann trat an ihn heran. Es war Georg, der fragte: „Und, hast du es im Kasten?“
„Ja, du kannst gehen!“, sagte er. „Und noch mal: Danke!“ Herbert schätzte den Freund.
„Immer wieder gerne, bis zum nächsten Mal Herbert! Hier hast du noch was zum Abwischen“, sagte Georg. „Und tschüss!“
Herbert Weber nahm das Tuch mit der linken Hand, in der anderen trug er eine Ledertasche, stieg über das Trümmerfeld zu der Frau und sagte: „Ich habe das Foto.“
Die schöne Leiche öffnete die Augen. „Mir ist kalt. Länger hätte ich das nicht durchgehalten.“
Herbert Weber öffnete die Ledertasche und entnahm ihr eine Wollhose und einen Wollpullover.
„Hier zieh das an! Aber warte noch!“
Der Maskenbildner Georg hatte gute Arbeit geleistet, schließlich war er Profi und arbeitete an der Deutschen Oper am Rhein, die eben erst gegründet worden war. Er wischte mit dem Tuch über ihre Stirnwunde und das Theaterblut verschwand.
„Du hast toll ausgesehen“, sagte Herbert. „Das Bild wird in der Ausstellung bei Schmölke großartig wirken.“
„Das hoffe ich, denn dauernd für dich die Tote in den Trümmern zu geben ist anstrengend, schließlich liegt es sich nicht bequem auf den Steinen hier in diesen Ruinen.“
Anne Gebhardt war das Model für Herbert Webers Fotoserie. Der Fotokünstler wollte die Trümmergrundstücke als Orte des Todes inszenieren. Dass die Galerie Schmölke ihn zeigte, sollte für ihn der Durchbruch seiner Künstlerkarriere sein. Albert Schmölke hatte Herbert Weber unter Vertrag genommen. Er war der erste Kunsthändler im Rheinland, der in den 50er Jahren künstlerische Fotografie anbot. In der Szene nannte man ihn das „Trüffelschwein der Kunst“, weil er unbekannte Künstler entdeckte, die dann Weltruhm erlangten.
Anne hatte sich inzwischen warm angezogen. Herbert Weber sagte: „So, nachdem du auferstanden bist, mein Engel, fahre ich uns beiden Hübschen nach Hause.“
„Lass mich fahren!“
„Gerne“, sagte Herbert zögernd. Es war in den 50ern nicht üblich, dass Männer ihre Frauen oder Freundinnen gerne ans Lenkrad ließen.
Anne steuerte den waldgrünen Opel Kapitän Baujahr 1955. Herbert himmelte seine Geliebte an. Und so schaute er sich während der Fahrt nicht um, er versuchte souverän und ohne Furcht zu wirken. Beide saßen sie auf der durchgezogenen Vorderbank, denn das Fahrzeug hatte keine getrennten Sitze. Und auch keine Sicherheitsgurte.
Herbert war Jahrgang 1917. Er würde nächstes Jahr seinen Vierzigsten feiern. Anne war 30 Jahre alt. Beide vermieden sie das Thema Heirat. Wenn er nur endlich mit seiner Kunst Geld verdienen würde, dann würde er Anne einen Antrag machen, das war sein Plan, den er seinem Freund Georg schon oft mitgeteilt hatte. Er hatte in dieser Hinsicht konservative Vorstellungen. Er wollte ihr etwas bieten können.
Aber noch war Herbert auf andere Aufträge angewiesen. Die brachten im Moment mehr Geld als die Fotokunst und auch bei den anderen Jobs kam oft seine Leica zum Einsatz. Und gelegentlich setzte er dabei auch seine Pistole Typ Walther P 38 ein.
Die Zeit war reif für die Fotografie als Kunstform. Die Sammler und Museen begriffen das jetzt in der Nachkriegszeit. Herbert war Ende Dreißig mit vollem Haar. Er wollte als Fotograf Erfolg haben. Er wusste, dass er da von Schmölke eine Chance erhalten hatte, er, der Soldat, der Kriegsheimkehrer, der in Düsseldorf neu anfangen musste nach dem Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges.
Herbert glaubte an Wunder. Und er wollte sein eigenes Wirtschaftswunder erleben, sein eigenes Wunder von Bern. Herbert wollte gewinnen, so wie es die Spieler im Fußball getan hatten. Natürlich wusste er, dass dazu auch gehörte, sich gegen Gegner durchzusetzen. Das Saarland war für die Fußballer solch ein Gegner gewesen, hatte es doch eine eigene Nationalmannschaft, die ausgerechnet gegen Deutschland spielen musste, und hätten die Spieler der saarländischen Fußballauswahl gegen die bundesdeutsche Mannschaft nicht 1:3 verloren, wer weiß, ob es das Wunder von Bern überhaupt gegeben hätte. Das Wunder, im Endspiel die Ungarn zu besiegen und Weltmeister zu werden. Aber der Vereinsspieler von Fortuna Düsseldorf Toni Turek hatte im Tor der Bundesdeutschen gestanden und war der Held. Solch ein Held wollte Herbert auch sein, in seinem Metier, der Fotografie.
Seine Fotos der Bombentrichter in Düsseldorf hatte er mit schönen Frauen inszeniert, die wie Leichen zwischen den Trümmern lagen. Das waren Fotos von Trümmerfrauen, wie sie keiner erwartete. Es war ein Tabubruch. Herbert zeigte die Frauen als Opfer. Er wollte damit ausdrücken, dass auch Frauen im Krieg gelitten hatten und dass diese Frauen über das, was ihnen widerfahren war, meist schwiegen. Selbst Frau Kazmarek, die Vermieterin von Anne, verheimlichte ihr Leid und das ihrer Tochter. Viele Frauen waren vergewaltigt worden, wie sie. Deshalb hatten viele von ihnen den Tag der Befreiung oder Tag des Sieges der Alliierten über Nazideutschland nicht unbeschwert feiern können.
Die Trümmergrundstücke in Düsseldorf durften fünf Jahre lang nicht bebaut werden. Es gab einen verordneten Baustopp. Erst danach fing der Bauboom an. Erst dann wurden zunächst auch nur Teile der Flächen zur Bebauung freigegeben, denn die Planer im Rathaus und bei der Verwaltung hatten Ehrgeiziges vor. Ab Mitte der 50er Jahre bauten sie die autogerechte Stadt Düsseldorf mit Hochstraßen und Brücken. Und die Architekten entwarfen dazu Hochhäuser. Am Hofgarten sollte ein Hochhaus für die Phoenix-Rheinrohr AG Vereinigte Hütten- und Röhrenwerke gebaut werden. Der Generaldirektor Fritz-Aurel Goergen war ein Vorzeigeunternehmer des Wirtschaftswunders. Die Düsseldorfer sprachen darüber: „Hast du die Pläne gesehen?“
„Ja, das wird Prinz Aurels Pyramide.“
Das Gebäude stand noch nicht, da schickte man den sogenannten „Prinz Aurel“ in die Wüste, weil er in Ungnade gefallen war, und das Hochhaus bekam einen neuen Namen: Dreischeibenhaus.
Düsseldorf erhob sich aus den Trümmern wie Phönix aus der Asche. Und Herbert Weber war der Fotograf dieses Wunders.
„Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, ich dulde keinen Herrenbesuch, Frau Gebhardt?“, fragte laut die Vermieterin. Anne Gebhardt schrak aus dem Schlaf. Anne Gebhardt war eine unabhängige Frau. Sie verdiente ihr eigenes Geld und wohnte allein in einem möblierten Zimmer in Bilk. Aber nun war Ihre Vermieterin Frau Kazmarek einfach in das Zimmer gekommen, um ihr Vorhaltungen zu machen. Und Anne konnte sie schlecht aus dem Zimmer verweisen. Wohnungen waren knapp in Bilk und sie war froh über das möblierte Zimmer für acht Deutsche Mark die Woche.
„Tut mir leid, Frau Kazmarek“, sagte Anne.
Die Vermieterin keifte: „Der muss verschwinden, sonst kriegen die mich dran wegen Kuppelei!“ Sie deutete auf das Bett von Anne. Neben Anne lag unter der Zudecke ein weiterer Körper. Er schien einen gesegneten Schlaf zu haben. „Nu mach schon, Fräulein!“, drohte die Kazmarek. „Sonst wecke ich ihn.“
Anne zögerte. Da riss die Kazmarek die Zudecke vom Bett.
Anne protestierte: „Das geht jetzt wirklich zu weit!“
„Tschuldigung!“, sagte die Kazmarek und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war, aber mit hochrotem Kopf. Der Körper neben Anne war aus getragener Kleidung wohl geformt. Anne sah in Gedanken, wie Herbert sich ins Fäustchen lachte. Der Scherz war ihm gelungen.
Herbert Weber war ihre große Liebe. Sie hatte ihn an ihrem ersten Tag in Düsseldorf kennengelernt, als sie bei den Briten als Sekretärin anfing. Die britischen Besatzer hatten ihr Quartier am Nordpark und in der Golzheimer Heide aufgeschlagen. Sie brauchten für die Verwaltung ihrer Besatzungszone viele Schreibkräfte. Eine davon war Anne Gebhardt. Sie hoffte, sich bald zu verbessern, es stünden Veränderungen an, hatte sie erfahren, die Briten hätten etwas vor, das Land sollte eine neue Verwaltung bekommen und dorthin wollte sie wechseln, sie spürte, dass da etwas für sie drin war. Aber erstmal war es gut so. Herbert hatte damals an ihrem ersten Tag irgendeine Ausnahmegenehmigung beantragt. Aber darüber sprach er bis heute nicht. Er konnte ein echter Geheimniskrämer sein.
Jetzt musste er am frühen Morgen das Bett, ihr Liebesnest verlassen haben, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Was hatte er vor so früh am Tag? Er hätte doch ausschlafen können, denn er konnte sich als Fotokünstler den Tag selbst einteilen. Oder hatte er wieder einen dieser Jobs, die ihm sein Vater zuschanzte? Ihr war damit nie ganz wohl, denn er hatte dann immer seine Militärpistole dabei. Wenn sie ihn fragte, beruhigte er sie, aber es schien ihr, als würde Herbert diese Aufgaben bagatellisieren.
Die Türklingel riss Anne aus ihren Gedanken. Frau Kazmarek öffnete. Anne hörte Stimmen im Flur. Dann klopfte es an ihrer Zimmertür. Frau Kazmarek blieb diesmal artig draußen und sagte: „Frau Gebhardt, der Herr Weber wartet auf Sie in meiner Küche.
„Komme gleich“, flötete Anne. Schnell zog sie sich die Wollhose und den Wollpullover vom gestrigen Fototermin mit Herbert über. Dann bürstete sie sich die Haare und kniff sich in die Wangen. „Ersetzt das Rouge“, sagte sie zu sich selbst.
Als sie in die Küche kam, duftete es nach frischem Kaffee. Die Kazmarek brühte ihn gerade auf und sagte ohne aufzublicken: „Herr Weber hat Bohnenkaffee mitgebracht.“
So kannte Anne ihren Herbert, immer zu einem, manchmal auch üblen, Scherz bereit, aber dann folgte eine versöhnliche Geste. So konnte ihm keiner lange böse sein.
Sie grüßte ihn artig aus der Distanz und Herbert erhob sich höflich von dem Küchenhocker. Es war undenkbar, sich vor Frau Kazmarek einen Kuss zu geben oder sich zu umarmen oder überhaupt in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen. Die 50er Jahre waren da sehr prüde.
Anne setzte sich auf die Holzbank zu der dritten Tasse, die auf dem Küchentisch stand, und auch Herbert nahm wieder seinen Platz ein. Die Kazmarek filterte inzwischen den Kaffee.
„Was machst du so früh am Tag?“, fragte Anne.
„Ich habe den Kapitän verkauft bei Auto Deckert“, antwortete Herbert.
Anne erschrak: „Was? Das schöne Auto?“
„Hat noch gutes Geld gebracht“, sagte Herbert.
„So kann ich jetzt die Miete zahlen.“
„Und mit was fährst du dann?“
„Das wird ein Triumph“, grinste Herbert. „Ein Moped der Marke Triumph. Fährt echt super.“
Herbert saß in der Küche seiner Wohnung in Derendorf, die er sich mit drei Studenten der Kunstakademie teilte. Vor ihm auf dem Küchentisch lag die zerlegte Pistole und wartete darauf, wieder zusammengesetzt zu werden. Der Vorgang lief zügig und wie selbstverständlich. Herbert hatte das bei der Wehrmacht gelernt. Er hatte es oft getan. Sehr oft. Zu oft. Aber es musste sein, auch jetzt musste es sein. Und auch jetzt beruhigten ihn die beinahe rituellen Handgriffe. Er setzte den Lauf in den Schlitten und das Ganze auf den Unterbau mit dem Griff. Er zog am Schlitten. Die Pistole war funktionsbereit.
Vor ihm auf dem Küchentisch stand die Glasschale seiner Großmutter. Darin lagen die Patronen. Er nahm sie einzeln auf. Dann lud er das Magazin. Er zog die Waffe durch. Dann zielte Herbert durch Kimme und Korn. Er hatte heute einen Termin in der Kunstakademie. Auf seinem Gesicht konnte man Vorfreude erkennen. Die Pistole Modell Walther P 38 würde ihm heute gute Dienste leisten.
Er zog seinen Wintermantel an, verstaute die Pistole in der Innentasche des schweren Wollmantels. Dann nahm er die Leica und schnallte sie sich über die Schulter, um sie auch mit dem Mantel zu schützen. Er griff seinen Motorradhelm. Schließlich stapfte er die Treppe hinunter und trat auf die Straße.
Hier stand seine Triumph. Es war eine schöne Maschine, schwarz mit silbernen Deckeln. Der Motor hypnotisierte ihn mit seinem wundervollen Gleichtakt. Er freute sich auf die Fahrt zur Kunstakademie.
Herbert erreichte die Eiskellerstraße. Er parkte sein Moped etwas abseits, damit kein Kommilitone aus Scherz die Maschine ruinierte.
Dann ging er die Eiskellerstraße entlang. In dem Gebäude linker Hand waren die berüchtigten Zellen, in denen die Gestapo ihre Vernehmungen durchgeführt hatte. Er war angewidert bei dem Gedanken und spuckte aus. Laut sagte er: „Gut, dass das vorbei ist!“
Dann erreichte er die Kunsthochschule. Er schlenderte hinein, die Korridore entlang zu den Räumen der Klasse, in der er als Gasthörer studierte. Er wehte hinein in den Klassenraum. Sofort wurde er mit einem lauten Hallo begrüßt. Alle drängten auf ihn ein: „Und hast du sie dabei?“
Er hob die Hand, zog seine Pistole und herrschte alle an: „Dort rüber!“ Dabei wedelte er mit dem kurzen Lauf der Pistole in die Ecke, wo das Waschbecken war.
Alle folgten artig und aufgeregt. Eine junge Studentin, die nur zu Besuch aus Frankreich da war, fragte ängstlich: „Qu’est-ce que ça devrait être?“ Und da Herbert nicht zu verstehen schien, setzte sie hinzu: „Was soll das?“
„Wer sind Sie denn?“, fragte Herbert zurück.
„Ich bin Niki aus Paris“, sagte Niki und sprach das „s“ nicht aus. „Ich bin zu Besuch.“
„Gut, mitgefangen, mitgehangen.“
Herbert lädt die Pistole durch, entsichert und schießt. Das Rot spritzt. Und läuft in Strömen herunter. Herbert schießt insgesamt vier Mal. Vor aller Augen wird es blau, gelb und schließlich schwarz.