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Von der Schweiz aus muss Stephan Hagner im Chat hilflos mit ansehen, wie seine Netzwerk Freundin Miriam mit einem schwertähnlichen Gegenstand ... Was in Miriams Zimmer vor sich ging, kann Hagner nicht sagen, denn die vermummte Gestalt mit der Machete hat ihren Laptop geschlosssen. Von ihren Baseler Kollegen alarmiert, ermittelt die Rostocker Mordkommission im Hochhausviertel Lütten Klein. Wenig später werden in der Wohnung einer jungen Frau umfangreiche Blutspuren sichergestellt. Es bestehen kaum Zweifel, dass hier jemand wie im Rausch gemordet hat, und zwar jemand, dem sein Opfer vertraut haben muss. Nette Nachbarn gibt es im Wohnblock leider mehr als genug, und nicht nur die korpulente, noch dazu in Alkoholentwöhnung befindliche Kommissarin Barbara Riedbiester flucht, dass der Fahrstuhl außer Betrieb ist ...
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Seitenzahl: 384
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MÖRDER IM CHAT
Mein besonderer Dank gebührt Herrn Gerald Tuschner,
dem Leiter des Schulcampus Rostock-Evershagen,
der sich viel Zeit nahm, um mich über die
Schulgeschichte zu informieren.
Der Raum war ihm vertraut, obwohl er ihn noch nie betreten hatte. Für einen Moment hatte Miriam ihn verlassen, um sich eine Cola zu holen. Die Tür, die womöglich in einen Flur führte, stand einen Spaltbreit offen. Links von ihr befanden sich an der hell gestrichenen Tapete zwei Farbfotos, doch obwohl sie ein recht großes Format hatten, erkannte man den Inhalt kaum: Man ahnte eine mit roten Flecken bedeckte weiße Wand unter einem schrägen Dach und davor, aber das war schon ganz unsicher, Menschen in weißen Hemden, die etwas spielten oder vortrugen. Und auch die Hinterköpfe von Zuschauern waren vielleicht zu sehen. Trotzdem wusste Stephan Hagner, worum es sich handelte, weil er Miriam gefragt hatte: Die Aufnahmen stammten aus der Zeit ihres Freiwilligen Sozialen Jahres in Mittelamerika.
Unterhalb der Fotos, ebenfalls nur angeschnitten sichtbar, stand eine Kommode mit einer Blattpflanze obenauf. Außer der Lehne eines Drehstuhls war das alles, was Hagner von dem Zimmer zu sehen bekam.
Er wandte den Kopf nach links, zum Fenster. Große Tropfen schlugen gegen das Glas und vereinigten sich beim Ablaufen zu Rinnsalen. Seit Tagen regnete es fast ununterbrochen in der gesamten Nordwestschweiz, herbstlich, kalt und für Mitte Oktober etwas zu früh.
Vor dem Fenster war es dunkel. Hagner schaute auf die Uhr am rechten unteren Rand seines Monitors: 21:56. Seit mehr als zwei Stunden war er zu Hause.
Wie üblich hatte er seinen Arbeitsplatz im Hauptlabor von Novartis gegen sechs verlassen, hatte 18 Minuten später an der Station Hüningerstraße die 11 bestiegen und war dann in Richtung Innenstadt gefahren, so wie an jedem Arbeitstag. Und wie stets musste er auf die Tramlinie 10 umsteigen, wobei er sich, um für ein wenig Abwechslung zu sorgen, täglich exakt zwischen Universitätsspital und Schiffländle entschied, wo er correspondance machen würde: Bankverein, Aeschenplatz, Basel SBB oder – das war die letzte Gelegenheit – am Dreispitz.
Heute war er bis zum Dreispitz sitzen geblieben. Bei diesem Wetter war das ein Fehler gewesen, denn der Wind pfiff dort mächtig, vor allem durch die Münchensteinerstraße, auf der die stadtauswärts fahrenden Autos unaufhörlich lärmten. Hagner hatte sich zwar untergestellt, war aber trotzdem vom peitschenden Regen ziemlich gebeutelt worden.
Er schaute wieder auf den Bildschirm und stellte fest, dass Miriam noch nicht zurück war. 21:58. In zwei Minuten würden die Glocken des Arlesheimer Doms zu läuten beginnen. Vermutlich hatte Miriam nicht nur eine Cola holen, sondern auch austreten wollen.
Doch da kam sie. Wie es aussah, stieß sie die Tür mit dem Fuß auf, denn beide Hände waren blockiert, die rechte mit der Colaflasche und die linke mit einer Chipstüte. Miriams Webcam machte keine besonders guten Aufnahmen, sodass Stephan die Colasorte nicht erkennen konnte, aber die Chips waren Pringles und es gab sie auch im Supermarkt von Arles-heim, seinem Heimatdorf, wo er noch im Haus der Eltern lebte.
Miriam setzte sich, lächelte ihn an und tippte einen Satz, der auf seinem Bildschirm erschien: Habe Besuch bekommen. Ohne dass er einen bestimmten Grund hätte angeben können, hatten sie sich für diese Form der Kommunikation entschieden bzw. hatte sich diese Form zwischen ihnen von Anfang an so ergeben, per Text und Bild, obwohl zumindest von seiner Seite auch Tonsprache möglich gewesen wäre. Sie aber wollte nicht skypen, beziehungsweise nur halb, mit Bild, aber ohne Ton. Das war eine ihrer Eigenarten, oder genauer gesagt, die einzige, die er bisher an ihr wahrgenommen hatte. Sie kannten sich aber auch erst seit einem Monat.
M oder w?, fragte Stephan. Das konnte er wagen, so vertraut waren sie dennoch.
Miriam drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger, dann schickte sie sich an, die Antwort zu tippen. Doch in diesem Augenblick sah Stephan bereits, dass jemand in der Tür erschien.
Sofort klopfte sein Herz bis zum Hals, denn dieser Jemand, den er für einen Mann hielt, trug nicht nur schwarze Kleidung, sondern auch eine schwarze Maske. Eine Skimaske? Oder eine Strickmütze, in die er Öffnungen für Augen und Mund geschnitten hatte? Man konnte es nicht genau erkennen.
Warum eine Maske? War das ein Scherz? Denn Miriam schien ihn doch zu kennen? Sie sprach jedenfalls, und auch wenn es aussah, als wären ihre Worte an Stephan gerichtet, konnte doch nur der Maskierte gemeint sein. Der gerade einen Gegenstand in die Höhe hob.
Stephan beugte sich vor, kniff die Augen zusammen … Warum war Miriams Kamera nur so schlecht?
Aber das war doch ein Schwert? Ein Samuraischwert? Nein, auf keinen Fall. Ein Buschmesser? Ja, so sah es aus: Der Maskierte holte mit einer Machete aus!
Miriam, Vorsicht!, tippte er hektisch.
Das Messer sauste auf ihren Kopf zu. Stephan sah noch so etwas wie Erschrecken in ihren Augen. Schnell startete er das Aufnahmeprogramm Fraps 3.5.0.
Dann wurde die Klappe ihres Laptops geschlossen.
Das Entsetzen hatte einen Namen: Trockendock. Für gewöhnlich wurden auf solchen Docks Schiffe gebaut oder repariert, aber dieses Trockendock diente der Reparatur von Menschen.
Barbara Riedbiester bedauerte längst, gegenüber der Suchtberaterin des Polizeipräsidiums den Wunsch geäußert zu haben, mit dem Trinken aufzuhören; sie hatte sogar um Hilfe gebeten, aber das hatte sie schnell verdrängt. Sie bat nicht um Hilfe. Sie nicht! Drei Ausrufezeichen.
Nach mehreren ebenso ausführlichen wie peinlichen Gesprächen hatte ihr Frau Dipl.-Psych. Grünberg eröffnet, sie erwarte von allen Klienten, sich eine Selbsthilfegruppe zu suchen. So sagte sie immer: Klienten statt Patienten. Klientin Barbara fand eine solche Gruppe in der Broschüre Angebote für Suchtkranke in der Hansestadt Rostock, die ihr die Diplompsychose überreicht hatte. Heute hatte sie ihren ersten Termin beim Trockendock e.V.
Zu dem Verein gehörten mehrere Selbsthilfegruppen; eine traf sich auf dem Grundstück der Beratungsstelle am Wasserturm, einer Einrichtung der Evangelischen Suchtberatung, die sich in einer schönen Villa am Anfang des Dahlwitzhofer Weges befand – in einer solchen Villa sollten Trinker und andere Süchtige einen Weg zu zufriedener Abstinenz finden. Dieses Schlagwort benutzte nicht nur die Diplompsychose häufig, es stand auch auf der Webseite des Vereins.
Für Barbara war es nur ein Sprung von der Dienststelle in der Blücherstraße, sie hätte den Weg durchaus zu Fuß absolvieren können, aber sie war mit dem Dienstwagen gekommen, weil der ihr einen sicheren Rückzugsraum bot. Aus dem Wagen heraus beobachtete sie drei Männer und zwei Frauen, die eher eilig als genussvoll zu rauchen schienen, ansonsten aber völlig unauffällig wirkten: Barbara vermutete in ihnen Gruppenmitglieder und war überrascht, hatte sie doch mit abgezehrten Gestalten gerechnet, mit eingefallenen Gesichtern. Wirkten die Abstinenten zufrieden? Das konnte man nicht sagen. Andererseits: Gab es überhaupt noch zufriedene Menschen? Barbara hatte schon lange den Eindruck, diese Spezies sei ausgestorben.
Mit einem lauten, an Gott und das Universum gerichteten Seufzer stieg sie aus. Sie war aufgeregt, so als würde sie in wenigen Minuten vor Hunderten von Menschen ein Gedicht vortragen müssen, ihr Herz klopfte wild, vor allem aber hatte sie Durst. Vor 42 Tagen hatte sie ihr letztes Bier getrunken. Sie zählte die Tage wie ein Entlassungskandidat beim Militär, im Gegensatz zu ihm war sie jedoch froh über jedes Plus. In acht Tagen, beim Erreichen der 50, würde sie feiern. Zum ersten Mal nach längerer Zeit würde sie ihre Stammkneipe in der Stampfmüllerstraße aufsuchen, um vor den Augen der versammelten Säufer literweise Kaffee in sich zu schütten und um zu triumphieren.
Barbara näherte sich peu à peu. Zuerst einmal lenkte sie ihre Schritte zu der Anschlagtafel. Dort hing neben den Öffnungszeiten der Beratungsstelle und den Gruppenterminen der Trockendocker ein Zettel, der auf die Existenz eines alkoholfreien Kellercafés hinwies. Aus den Augenwinkeln schielte sie auf die Gruppe, und die Gruppe beäugte sie. Natürlich wussten die genau, zu wem sie wollte, und Barbara wusste, dass sie wussten …
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