Mörder im Gespensterwald - Frank Goyke - E-Book

Mörder im Gespensterwald E-Book

Frank Goyke

4,8

  • Herausgeber: Hinstorff
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Wäre Barbara Riedbiester doch liegengeblieben, auf ihrem Sofa, an diesem brütenden Sommertag, mit ihrem schnurrenden Kater auf der Brust und den Klängen der Hanse Sail vor ihrem Fenster. Doch bei einem vierfachen Mord zählt ein freier Tag eben nichts. Und so trifft sich das Rostocker Kommissarenteam Uplegger und Riedbiester am Nienhäger Gespensterwald, wo eine Stockholmer Familie regelrecht massakriert worden ist. Der Tatort wirkt wie nach einem Blutrausch. Unwahrscheinlich also, dass hier nur Touristen ausgeraubt wurden. Geht es um alte Münzen aus Mecklenburgs Schwedenzeit, für die sich eines der Opfer interessierte, oder hat der Mord ein sexuelles Motiv? Als auch noch die Tochter eines ortsansässigen Bauunternehmers spurlos verschwindet, kommen die Ermittler nicht nur wegen der Höchsttemperaturen gehörig ins Schwitzen ... Ein Goyke-Krimi, düster und gewohnt ironisch, den man bangend liest mit dem mulmigen Gefühl, dem Unaufhaltsamen zu begegnen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Reproduktionen, Speicherungen in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf fotomechanischen, elektronischen oder ähnlichen Wegen, Vortrag und Funk – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlages.

© Hinstorff Verlag GmbH, Rostock 2012

1. Auflage 2012

Herstellung: Hinstorff Verlag GmbH

Lektorat: Dr. Florian Ostrop

Titelbild: ©Thomas Grundner

E-Book: Hinstorff Media, Hindenburg

lSBN 978-3-356-01497-6 (E-Book)

DANKSAGUNG

Mein besonderer Dank gilt der Übersetzerin

Marie Ollivier-Caudray für die fachkundige Inaugenscheinnahme und Korrektur der schwedischen Passagen.

Prolog: Hitzestau

Gottes spitzer Finger hatte Rostock nach Süden verschoben, in die feuchtheiße Klimazone. Da seine Wege unerforschlich waren, gab diese Tat den Menschen Rätsel auf. Nur Barbara Riedbiester kannte den Grund: Wie sie hatte Gott die Cocktailrezepte in der Sommerbeilage der Ostsee-Zeitung entdeckt. Enttäuscht vom Menschen, der Krone seiner Schöpfung, die bereits kurz nach der Produktion aus dem Ruder gelaufen war, hatte er sich schmollend in die Tiefen des Universums zurückgezogen, mixte sich nun von morgens bis abends Drinks und spielte mit dem Globus. Demnächst würde er die Erdachse umdrehen, den Golfstrom versiegen und alle Vulkane ausbrechen lassen. Gott war ein Misanthrop und deshalb war er Barbara so sympathisch. Für alle gutgemeinten Werke strafte sie ihn jedoch, indem sie nicht an ihn glaubte.

Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer, und auf ihr lag Bruno. Den breiten Katerkopf hatte er ihr an den Hals gepresst, die Pfoten ruhten auf ihrer Schulter, sein schwerer Leib quetschte ihre Brüste. Er schnurrte leise und wärmte sie – ausgerechnet an einem Tag wie diesem.

Auf dem Tisch stand ein Daiquiri, nach einem Rezept aus der Zeitung gemischt. Barbara hatte sich gedacht, dass ein Getränk, das Kubaner erfrischte, auch im subtropischen Rostock von Nutzen sein könnte. Sie hatte lediglich den empfohlenen Rumgehalt erhöht und dafür etwas weniger zerstoßenes Eis zugefügt. Und sie hatte die Zutaten gerührt, weil sie gar keinen Shaker hatte. Es war also ein stilechter Cocktail, der Bond, Hemingway & Co. alle Ehre machte.

Sie streckte den Arm aus, um an den kühlenden Daiquiri Mamacita-Barbara zu gelangen. Das war gar nicht so einfach mit der Last auf der Brust, die nicht mehr schnurrte, sondern schnarchte. Im Übrigen war dies ein seliger Zustand: Shortdrink, Kuscheln mit Bruno und ein gutes Buch. Denn wie hatte Daniel Defoe geschrieben? Wer eine Katze hat, braucht das Alleinsein nicht zu fürchten.

Barbara bummelte Überstunden ab. Während draußen die Hanse Sail tobte und ihr Kollege Uplegger im Stadthafen den Stand des Polizeipräsidiums betreuen musste, durfte sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und die Biografie einer unglücklichen Frau lesen. Im Moment war das Marie Antoinette. Das Buch hatte sie auf einem Grabbeltisch in der Breiten Straße entdeckt, und der Titel Marie Antoinette – Die unglückliche Königin war dermaßen vielversprechend, dass sie hatte zuschlagen müssen. Allerdings war es ein Mängelexemplar, und so hatte Barbara noch nicht ein Wort gelesen, weil sie die Mängel suchte.

Die Fenster zum Stadthafen standen weit offen, was absurd war, da nur die Hitze eindrang. Und Geräusche: das Dudeln zahlreicher Karussells, die Musik von den vielen Bühnen. Irgendein Schreihals eröffnete oder schloss gerade einen Programmpunkt. Barbara mochte solche Großveranstaltungen nicht, aber sie mochte auch nicht aufstehen und das Fenster schließen, weniger wegen des Katers als aus Faulheit.

Das Telefon klingelte. Bruno spitzte die Ohren, Barbara gähnte. Sie war nicht da.

»Anschluss Riedbiester«, vernahm sie ihre Stimme vom Anrufbeantworter, »wir sind zur Zeit nicht da, Sie können aber eine Nachricht hinterlassen. Wir rufen umgehend zurück. Danke.«

Wen hatte sie eigentlich mit dem Wir gemeint?

»Oberkommissar Winkler, Leitstelle PP«, sagte ein Mann mit voller, erotischer Stimme. »Kollegin Riedbiester, bitte setzen Sie sich sobald wie möglich mit Ihrer Dienststelle in Verbindung. Es ist dringend! Ein mutmaßliches Tötungsverbrechen im Nienhäger Holz. Ich versuche es auch auf Ihrem Handy. Ende.«

Nienhäger Holz? Das war doch der Gespensterwald? Barbara massierte ihrem Kater ein Ohr, was dieser grunzend goutierte. Mit dem Handy würde der erotische Polizist kein Glück haben. Sie hatte es ausgeschaltet.

Abermals klingelte das Telefon, und sie verdrehte die Augen.

»Gunnar.« Das war ihr Chef. »Wuchte dich in die Senkrechte und geh ran! Ich kenne dich und weiß, dass du bei solchem Wetter nicht am Strand liegst.«

Barbara seufzte – mit ihrer Figur lag sie bei keinem Wetter am Strand. Langsam hob sie Bruno vom Busen und legte ihn auf das Couchkissen, noch langsamer stand sie auf. Mit den Bewegungen einer Hundertjährigen trat sie zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Du hast mich durchschaut.«

»Man sagt: Guten Tag.«

»Und an schlechten Tagen?«

»Dann gerade. Wo ist Uplegger?«

»Du selbst hast ihn dafür eingeteilt, unseren Stand im Stadthafen zu betreuen. Da steht er sich jetzt die Beine in den Bauch und muss sich fragen lassen, warum es in Rostock so gefährlich geworden ist, dass man sich nicht mehr auf die Straße wagen kann.«

»Ich hole ihn ab. Und du komm in die Puschen nach Nienhagen West, Waldstraße, und zwar hurtig. Nimm deinen eigenen Wagen.«

»Ich habe dienstfrei!«

»Bei vier Toten ist dienstfrei aufgehoben.«

»Vier?«

»Darunter zwei Kinder.«

»Oha!«

»Sag ich doch. See you later, alligator!«

Barbara schlüpfte nun wieselflink ins Bad. Ein Blutbad während der Hanse Sail würde wohl die bleibende Erinnerung an das diesjährige »Mega-Event« werden.

***

Er fühlte sich von allen Seiten belästigt, und zwar von Geräuschen und Gerüchen. Rechter Hand drehte sich ein Riesenrad zu Konservenmusik, links pries ein Ausrufer sensationelle Zwiebel- und Gemüseschneider an, von irgendwo dazwischen brüllten die Lautsprecher eines Autoscooters Lena Meyer-Landruts Taken By A Stranger, das an allen Ecken und Enden schon so oft gespielt worden war, dass Uplegger die ersten Zeilen mitsingen konnte:

She’s got a knuckle in her eye/ He knows her cat-call/ Can’t escape from telling lies/ I heard her saying …

In seinem Blickfeld befanden sich etliche Buden, die dem Wohl des leiblichen Umfangs dienten – mit Bratwurst, Schaschlik, Krakauer, Pommes und noch mehr Bratwurst; der ganze Hafen roch nach altem Fett und geschmacksverstärkten Metzgerabfällen. Nur ein Stand gefiel ihm, genau genommen ein weißes Zelt, auf dem in hoffnungsfrohem Grün Helden der Liebe geschrieben stand. Es wurde nur zaghaft aufgesucht, in einem ruhigen Moment hatte Uplegger die wenigen Schritte hinüber gewagt und eine Broschüre mitgenommen: Was Sie als Frau über zeitgemäße Therapien bei Erektionsstörungen wissen sollten. Es ging um die Erektile Dysfunktion, im Volksmund schlicht Impotenz genannt. Darüber wollte er bei genauerer Überlegung gar nichts wissen, nicht als Frau und schon gar nicht als Mann. Aber trotzdem hob sich das stille Zelt da drüben wohltuend vom lauten Trubel ab.

Jonas Uplegger beugte sich über seinen eigenen Tisch mit Informationsblättern zur Sicherheit von Haus, Wohnung und Handtasche und reckte den Kopf vor, wie er es in den letzten Stunden schon oft getan hatte. Marvin und Tim waren beim Stand Up Paddling im Segelstadion vor dem Neptun Einkaufscenter. Bei dieser Trendsportart paddelte man mit einem Surfbrett auf die Warnow hinaus, im Stehen. Laut Marvin war das »total easy«, das aber glaubte Uplegger nicht. Er wusste genau, dass er gern aus jeder Mücke einen Elefanten machte, und trotzdem hatte er Visionen von Schlingpflanzen, die Surfbretter umrankten und in die Tiefe zogen, und von Ausflugdampfern, die sie rammten. Er sah seinen Sohn verzweifelt gegen das Ertrinken kämpfen und rekapitulierte im Geiste, was dazu in gerichtsmedizinischen Lehrbüchern beschrieben war. Erstes Stadium: tiefe Aspiration, zweites: bewusste Apnoe, drittes: tiefe Inspirationen, viertes: tonisch-klonische Krämpfe, fünftes …

Und dann sah er sie, noch bevor er bei den terminalen Atembewegungen angekommen war. Mit der arroganten Miene lässiger Sportsmänner schlenderten sie barfuß daher, Haare, T-Shirts und Bermudas völlig nass. In der einen Hand die Schuhe, in der anderen ein Eis. Uplegger fielen Felsmassive vom Herzen. Einer Frau, die irgendetwas gefragt hatte, drückte er irgendwelche Broschüren in die Hand, dann stürzte er auf die beiden Bengels zu.

»Wie war es?«, fragte er, mühsam beherrscht.

»Macht übertrieben Fun.« Marvin schleckte.

»Waren auch Rettungsschwimmer da?«

»Mann, Papa! Natürlich nicht. Nessie passt auf.«

He drops a pause / She looks annoyed / But she’s so mean / She thinks he has to be the one …

»Wir gehen später noch mal hin«, verkündete Tim und strich sich eine feuchte Strähne aus der Stirn.

»Ich bin in einer Stunde fertig«, sagte Uplegger, »da könnten wir etwas gemeinsam … Riesenrad vielleicht?«

»Rie-sen-rad?« Marvin schaute, als habe ihm sein Vater einen Beißring angeboten.

»Oder nach Warnemünde, Windjammer beobachten?«

»Das machen wir jedes Jahr. Voll langweilig. Wenn so ein Kasten wenigstens einmal absaufen würde …«

»… oder ein Feuer ausbrechen an Bord«, schlug Tim vor.

»Islamistischer Bombenanschlag.«

»Tsunami!«

Die Jungen kicherten. Uplegger warf einen Blick über die Schulter. Am Stand war Gunnar Wendel aufgekreuzt, der Leiter der Mordkommission.

»Ich glaube, ich muss …«

»Ist okay, Papa!« Marvin zog sein iPhone aus einem Schuh. »Ich habe ja das Babyfon dabei und dich stets auf meinem Schirm.«

»Zieht euch die Schuhe an. Man kann sich hier sonst was eintreten.«

Tim lugte zum Helden-der-Liebe-Zelt: »Auch heiße Mädchen?«

Wie immer gab Uplegger auf.

I Massenmord

Barbara benutzte Schleichwege. Die Entscheidung hierzu war am Schutower Kreuz gefallen, denn dort hatte sie bemerkt, dass es auf der Stadtautobahn staute. Zwar gab es für die Hanse Sail ein Verkehrskonzept, aber in den Verantwortlichen der Stadt erwachte jeden Sommer eine unerklärliche Wut, Baustellen einzurichten und Straßen zu sperren. Jahr für Jahr regte sich Barbara darüber auf, aber ob sie nun auf die Palme ging oder gelassen blieb, es änderte nichts. Der sommerliche Bauwahn hatte den Charakter eines Naturgesetzes angenommen.

Sie stieß einen lauten Seufzer aus, der an das Universum gerichtet war. Angeblich hatte die Hanse Sail Jahr für Jahr über eine Million Besucher, die zweifellos einen Haufen Geld in alle möglichen Taschen spülten, aus ermittlungstechnischer Sicht war dies jedoch ein Alptraum. Allein der Gedanke, unter all den Gästen von sonst wo könne ein Mörder sein, musste einer Kriminalistin Sodbrennen bereiten – falls nicht ein Spezial-Daiquiri daran schuld war.

Kriminalkommissarin Riedbiester lenkte ihren Wagen über die Dörfer westlich der Stadt, wobei sie feststellte, dass ihre Schleichwege auch anderen Rostockern bekannt waren. Da ihr privates Auto weder über Martinshorn noch Blaulicht verfügte, musste sie sich in Geduld fassen. Außerdem machte Kuddel Sperenzchen. Immer, wenn sie halten musste, ging der Motor aus.

Als sie den weinroten Golf vor sieben Jahren gebraucht erworben hatte, da hatte sie sofort gewusst, dass er Kuddel heißen musste. Die von ihrem Kollegen Uplegger so gehassten Psychologen würden sicher ein verborgenes Motiv dafür vermuten, womöglich ein verdrängtes Kindheitserlebnis; verdrängte Kindheitserlebnisse waren schließlich groß in Mode. Bewusst konnte sich Barbara jedenfalls an keinen Kuddel erinnern, nicht einmal an einen Kurt.

Während sie sich durch Dorf Lichtenhagen quälte, ersann sie ein Spiel, das ihr den Stau versüßte. Sie zerlegte Modewörter in ihre Silben und trommelte dazu rhythmisch auf das Lenkrad: »Authentizität, Ambivalenz, Projektion, unbewusst …« Der letzte Begriff war quasi in den Wortschatz jedes Frisörs übergegangen, der beim Warten auf Kundschaft Artikel über Hirnforschung studierte, aufbereitet für die Leserin von Gemälde der Frau. Hirnforschung! Barbara hupte ihren Vordermann an, der nicht bemerkt hatte, dass die Blechschlange ein paar Zentimeter vorgerückt war. Das war schon keine Wissenschaft mehr, sondern Religion. Kuddel hieß Kuddel, basta! Und an heißen Tage stank es in seinem Inneren nach Benzin.

Uplegger kam schneller voran, denn Gunnar Wendel fuhr in seinem Dienstwagen über Warnemünde mit Sondersignal. Der Chef war nicht gerade redselig, und Uplegger telefonierte zweimal mit Barbara. Das zweite, sehr kurze Gespräch kommentierte er mit dem Satz: »Sie ist stinkig!«

»Das ist die Dampframme doch immer. Den Tag, an dem sie mal anders ist, rahme ich in meinem Kalender mit Gold.« Wendel bremste den Wagen ab, als das Ortseingangsschild von Nienhagen in Sicht kam. Obwohl der NDR-Wetterfrosch einen Hitzerekord angekündigt hatte, trug er wie immer Anzug und Krawatte, was er seinem Posten schuldig zu sein glaubte; allein der Anblick ließ bei seinem Beifahrer noch mehr Schweiß ausbrechen. Da nun der Fahrtwind wegfiel, stand die Luft im Wagen trotz geöffneter Fenster.

Ein paar hundert Meter vor ihnen raste ein weinroter VW-Bus durch den Ort, der ebenfalls blaue Hörner trug. Beide Männer erkannten ihn sofort als Fahrzeug der Spurensicherung. Und als Uplegger in den Seitenspiegel schaute, sah er hinter sich den grauen Kastenwagen der Rechtsmedizin.

Wendel sagte: »Wie Sie es mit Barbara aushalten, ist mir schleierhaft.«

»Ich nehme sie, wie sie ist.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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