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Auf einer nächtlichen S-Bahn-Fahrt nach Rostock wird ein junger Mann brutal erstochen. Tiefe Stichwunden und Spuren von verzweifelter Gegenwehr weisen auf ein Hassverbrechen hin. Mordmotive finden die Ermittler im beruflichen und privaten Umfeld des Opfers reichlich. Doch offenbar übersehen sie immer wieder etwas. Der Ermordete war Andriejus Medanauskas, ein Fischzuchtexperte aus Lettland. Der junge Mann wollte einen Betriebsrat gründen und hatte sich seinen Chef, einen einflussreichen Güstrower Unternehmer, damit zum Feind gemacht. Zudem betreibt seine Verwandtschaft auffällig gering frequentierte italienische Restaurants und wohnt dennoch in einer Villa in bester Lage fast am Meer. Auch sein Privatleben erweist sich als Fundgrube für Verletzungen und Rachegefühle. Autor Frank Goyke schickt ein typisch norddeutsch-knorriges Kommissarenduo auf Spurensuche. Bei ihren Ermittlungen durchqueren Barbara "Dampframme" Riedbiester und Jonas Uplegger einen Sumpf aus menschlichen Makeln, dumpfen Vorurteilen und tiefen Abgründen und bleiben dabei selbst nicht unangetastet. Dem Mörder allerdings kommen sie keinen Schritt näher. Denn wenn alles offensichtlich ist, muss man ein zweites Mal hinsehen ...
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Seitenzahl: 395
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Sie waren hinter ihm her, beobachteten und verfolgten ihn, manchmal allein, häufig zu zweit. Junge Kerle, Männer mittleren Alters, allesamt Angehörige einer mafiösen Verbindung. Sie trachteten ihm nach dem Leben, weil er zuviel wusste.
Zuerst hatte er gedacht, sie wollten ihm nur Angst machen. Doch schon längst spürte er die Gewissheit, dass sie nur auf die Gelegenheit warteten ihn geräuschlos zu entsorgen. Zur Polizei zu gehen, das hatte er mehr als einmal überlegt. Was konnte man ihnen von Amts wegen vorhalten? Heute, beim Gang durch Güstrows vorweihnachtlich geschmückte Altstadt, hatten sich ihre Wege wieder und wieder – stets scheinbar zufällig – mit den seinen gekreuzt. Zeitgleich mit ihm hatten sie die Post betreten und wieder verlassen. Wohin er auch kam, ihr schwarzes Auto wartete schon dort. Bummeln, auf die Post gehen, ein schwarzes Auto – kein Beamter der Welt würde ihn ernst nehmen.
Er überquerte den Pferdemarkt, passierte das John-Brinckman-Denkmal und hastete nun mit schnellen Schritten durch die Eisenbahnstraße. Wahrscheinlich blieb ihm nur die Flucht. Untertauchen. Allerdings hatten sie im Aufspüren von Opfern außergewöhnliches Geschick. Und in der Fremde, ohne Freunde und Bekannte, war er schutzlos.
Trotz stieg in ihm auf. Kampflos würde er sein Leben jedenfalls nicht preisgeben. Diese eiskalten Jäger schienen sich für allmächtig zu halten. In ihrer Arroganz glaubten sie wohl, dass er ihnen sowieso nicht entkommen würde. Wenn es ihm gelänge, unerwartet die lange Leine zu kappen, an der sie ihn zu führen glaubten, würde es nicht sofort auffallen.
Auf dem Bahnhofsvorplatz frischte der ohnehin starke Wind noch einmal auf und trieb ihm Wasser in die Augen, Tränen und Regen, vermischt mit Schnee. Seit Tagen herrschte dieses Wetter. Herbststürme hatten die sonst so sanfte Ostsee in ein wildes Meer verwandelt, ein Monster, das Molen überspülte und den Strand fraß.
Er unterdrückte den Impuls, sich umzuschauen oder auf dem Parkplatz nach einem schwarzen Wagen zu suchen. Sie sahen ihn, das wusste er ohnehin.
Der Zug stand hell erleuchtet auf Gleis vier. Drei rotlackierte Doppelstockwagen bildeten eine Einheit, die Generatoren der ebenfalls roten Lokomotive summten vor sich hin. Die Außenhaut der Waggons glänzte feucht, von innen waren die Fenster beschlagen.
Der Bahnsteig war fast menschenleer, bis auf eine Frau, die von der Treppe zur Unterführung herbeigeeilt kam. Sie trug einen weiten Flickenmantel aus einer Art Filz und ein schwarzes Barett. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, doch nahm er an, ihr schon öfter begegnet zu sein. Ihre Aufmachung war auffällig und wenn er sich nicht irrte, war Schwaan ihre Haltestelle.
Die Frau betätigte den Druckknopf, mit dem sich die Türen öffnen ließen. Er selbst begab sich zum ersten Waggon, dem Wagen mit dem Steuerhaus. Als er sich nun doch umwandte, war die Frau eingestiegen, und der Bahnsteig schien verlassen.
Im Zug war es warm und stickig – vermutlich die Täuschung des ersten Augenblicks für jemanden, der aus der Kälte kam. Langsam stieg er die Stufen hinauf. Mit einem Zischen schloss sich die Tür.
Eine künstliche Stimme forderte die Reisenden auf, bei der Abfahrt des Zuges Vorsicht walten zu lassen. Der obligatorische Pfiff ertönte, sacht setzten sich die Wagen in Bewegung. Der Bahnsteig schien dahinzugleiten. Als Kind hatte er sich gern vorgestellt, dass gar nicht der Zug, sondern statt seiner die Welt bewegt würde. Die Waggons blieben stehen, während eine riesige Hand, vielleicht die Hand Gottes, Bahnhöfe, Häuser, Wiesen und Bäume an den Fenstern vorbeischob.
Leider gab es keinen Grund zu bezweifeln, dass einige seiner Häscher an Bord waren, und dass ihn später beim Aussteigen schon der schwarze Kombi erwartete. Ein Leichenwagen, dachte er, das Schwarz war wohl Ausdruck ihres speziellen Witzes. Ihres Killerhumors. Eine Zeitlang betrachtete er seine Hände, dann hob er unwillkürlich den Blick wie ein witterndes Kaninchen. Er spürte, wie sie näher kamen.
Plötzlich wurde er ganz ruhig. Langsam öffnete er den Reißverschluss seiner daunengefütterten Windjacke, fuhr mit der rechten Hand in die Innentasche und tastete nach seiner Waffe.
Er war bereit zum Kampf.
Die Welt der Eisenbahn war eine Welt der Zahlen.
Und ein Mensch der Zahlen war Rüdiger Sokolowski.
Seit drei Jahren begleitete er Züge. Er war kein Schaffner, sondern er gehörte dem Bahnschutz an und sorgte dafür, dass niemand über die Stränge schlug. Das war bitter nötig, denn die Fahrgäste wurden immer verrückter.
Genau genommen traf das auf alle Menschen zu. Früher war ihm das nicht aufgefallen, aber der Dienst hatte seine Sinne geschärft. Überall entdeckte er nun Zeichen von unheilbarer Unzufriedenheit, Wut und Hass, von Aggressivität und Geistesgestörtheit: auf der Straße und an den Kassen der Supermärkte, im Bus oder in der Straßenbahn, in der Videothek, wo die Einsamen sich Mittel zur Beschwichtigung ihrer Triebe verschafften, in der Stammkneipe, wo er sein Feierabendbier trank; es gab keinen Ort, an dem sich der alltägliche Wahnsinn nicht ausbreitete.
Da waren diese beiden muskelbepackten Typen in Wagen zwei, die in Schwaan eingestiegen waren und nichts Eiligeres zu tun hatten, als ihr Sitzabteil mit Bierbüchsen und Taschenflaschen in eine Kneipe zu verwandeln. Zweifelsohne gingen sie auf die Vierzig zu und hatten sich bereits ansehnliche Bäuche zugelegt. Sie steckten in Lederjacken, wie sie Motorradfans zu tragen liebten, hatten sich Glatzen rasiert, und auf ihren Stiernacken prangten Tätowierungen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen – dagegen hatte Sokolowski nichts. Es war nicht verboten, in der Bahn Alkohol zu trinken, das Rauchen aber war nicht erlaubt. Doch genau in dem Moment, als er das Oberdeck betreten hatte, hatten sie ihre Selbstgedrehten angezündet, eindeutig eine Provokation, mit der sie ihm zeigten, wie sehr sie ihn, seinen Job und seine Uniform verachteten. Sokolowski hatte seine Wut hinuntergeschluckt und sich gesagt, dass die beiden nur kleine Lichter waren, die sich wichtig machen wollten.
Natürlich hatte er Schulungen besuchen müssen, bevor man ihn als Bahnschützer einsetzte, doch das waren eher Notlehrgänge gewesen als eine richtige Ausbildung. Ruhiges, höfliches, aber bestimmtes Auftreten – jeder Referent, der vermutlich pro Lektion mehr kassierte als ein Wachmann im ganzen Monat, hatte diese Phrase gedroschen. Im Alltag nützte sie fast nie. »Männer«, hatte Sokolowski gesagt, weniger höflich und bestimmt als vertraulich und bittend, »ihr wisst doch, dass Quarzen verboten ist. Macht mir bitte keinen Ärger.«
Und was war geschehen? Die Stiernacken hatten ihm zugeprostet und gelacht. Das war alles. Sie hatten ihn keiner Antwort für würdig befunden und die Zigaretten brennen lassen. Und Sokolowski war einfach weitergegangen. Verstohlen hatte er ein Fenster geöffnet und gemacht, dass er fortkam.
Nun ärgerte er sich über sich selbst, aber er war allein und hatte mit Mitte Fünfzig nicht mehr die Kraft, sich gegen jede Herausforderung zu wehren. Außerdem hatte er dem Wahnsinn etwas entgegenzusetzen: Zahlen. Zahlen wurden nicht verrückt. Sie repräsentierten die Ordnung, hatten eine unverrückbare Position inne, ob nun auf einem Strahl oder in einem Koordinatensystem, wenn nicht gar im Universum.
Sokolowski sah auf die Uhr: 21:54:09. In 51 Sekunden müsste Zug Nummer 9511 Papendorf erreichen.
Die Stadtbahn der Linie 2 verkehrte zwischen Güstrow und Warnemünde via Rostock Hauptbahnhof. Auf der Kursbuchstrecke 182 bediente sie bei einer Fahrzeit von 54 Minuten 17 Haltepunkte. Sokolowski hatte alle Abfahrtzeiten im Kopf, er wusste, dass der Zug von einer E-Lok der Baureihe 243 geschoben oder – in der Gegenrichtung – gezogen wurde, und nun war er dabei, die Fahrgestellnummern auswendig zu lernen. Obwohl er alle wichtigen Telefonnummern auf seinem Handy hatte, brauchte er den Speicher nie. Auf sein Zahlengedächtnis war er stolz, er hatte sonst wenig, auf das er stolz sein konnte.
Der Zugführer bremste. Sokolowski trat an die Doppeltür, legte den rechten Zeigefinger auf den Öffner. 9511 rollte aus.
Draußen war es ungemütlich. Immer mehr Schnee mischte sich in den Regen, und der kräftige Wind zwang Sokolowski, seine Schirmmütze festzuhalten. Dies war seine letzte Fahrt für heute. Er würde sofort nach Hause gehen, ohne den kleinen Umweg zu seiner Kneipe. Daheim einen Grog mixen, die Beine hochlegen, sich vor den Fernseher fläzen – mehr Paradies brauchte er nicht an einem solchen Abend.
Aus dem Steuerwagen kletterte ein Mann mittleren Alters. Er war barhäuptig und hatte langes, ungepflegt wirkendes Haar, in das sofort der Wind fuhr; dass er auch einen Bart trug, wusste Sokolowski nur, weil er schon zwischen Güstrow und Schwaan durch den Zug gegangen war. Der Mann hatte im Zwischendeck gesessen, nahe der Tür am Übergang zu Wagen zwei, und er hatte einen nervösen Eindruck gemacht. Solche Fahrgäste traf Sokolowski öfter.
Nun begab sich der Mann mit eingezogenem Kopf durch den Schneeregen zur Anschlagtafel, an der einst Fahrpläne befestigt worden waren. Viele kleine, Pläne abreißende Davids hatten irgendwann den Kampf gegen den Goliath Deutsche Bahn gewonnen. Die sinnlose Tafel ruhte auf zwei Stahlträgern, die zumindest noch zwei Fahrrädern Halt boten. Um 21:56:02 schloss die Tür.
Sokolowski setzte seine letzte Runde fort und überlegte, ob für die Strecke durch den Zug dieser Ausdruck überhaupt passte. »In Kürze erreichen wir Rostock Hauptbahnhof«, schnarrte es aus den Lautsprechern, als er den ersten Wagen betrat.
Auf der Treppe zum Oberdeck war Blut.
Im Kinderzimmer wurde geschossen.
Jonas Uplegger seufzte. Er legte Nedopils Forensische Psychiatrie auf den Glastisch, ein Buch, das er geradezu obsessiv wieder und wieder zur Hand nahm, ohne wirklich zu verstehen, was er da las. Dieses Wortgeklingel: »Reliabilität der Diagnose, faktorenanalytische Typenbildung, Einteilungsansatz dimensional / kategorial«, was sollte das? War das nicht alles bloße Wichtigtuerei und Täuschung, der Versuch, unter einem Schwall von Begriffen zu verbergen, dass man über die Seele des Menschen so gut wie nichts wusste?
Uplegger war seit langem der Überzeugung, dass die Krone der Schöpfung Pfusch war. Im Menschen hatte sich die Evolution nicht vollendet, sondern die Grenze zur Fehlfunktion überschritten. Die menschliche Apparatur war wie alle komplizierten Maschinen in höchstem Maße störanfällig. Ein kaputtes Zahnrad ließ sich mit einfachen Handgriffen auswechseln. Die Seele hingegen bestand quasi aus nichts. Und doch konnte dieses Ding weitaus stärker schmerzen als der Körper, der im Grunde nicht viel mehr war als ein fleischliches Wasserfass.
Die Schießerei im Kinderzimmer nahm kein Ende. Jonas Uplegger entschied sich für einen pädagogischen Eingriff. Also erhob er sich von seiner weißen Ziegenledercouch, schritt über den weißen Flokati und trat in die Diele. Dort wandte er sich nach rechts, ging sehr langsam auf die Tür mit der Aufschrift Eintritt nicht nur für Schneider verboten! zu, klopfte an, wartete, klopfte erneut, öffnete dann behutsam die Tür und sah Marvin dort, wo er ihn erwartet hatte, nämlich vor seinem PC, den Controller in beiden Händen.
Der Junge trug noch das verschwitzte blau-weiße Trikot von Motor Warnow, und er tötete. Sein verkrampfter schmaler Körper zeigte die ganze Anstrengung, die das Töten erforderte, aber auch die Lust, mit der er auf schwerbewaffnete Wesen ballerte; anders konnte man sie nicht bezeichnen, da sie von Kopf bis Fuß in einer alles verhüllenden Hightech-Rüstung steckten. In der Zeitschrift für Kriminalistik und Kriminologie wurden diese Spiele gern als Auslöser von Gewalttaten bezeichnet, von Mord, gar von Amokläufen. Uplegger hielt das für übertrieben, schließlich stammte der Mord aus biblischen Zeiten, und Amokläufe gab es vor allem deshalb, weil einer mit ihnen angefangen hatte: Der Ur-Amoklauf rief dauerhaft eine Reihe von Kopisten auf den Plan.
Uplegger wusste, dass sein 13-jähriger Sohn die Anwesenheit des Vaters spürte und nur noch so tat, als würde das Spiel ihn fesseln.
»Marvin!«
»Ja, Papa?« Der Junge vollführte eine Vierteldrehung auf seinem Schreibtischstuhl. Er hatte jene Unschuldsmiene aufgesetzt, mit der er jedermann um den Finger wickelte, und seine blauen Augen, angeblich Spiegel der Seele, verrieten nicht die geringste Gemütsbewegung. Marvin war nicht nur das sprichwörtlich stille, aber tiefe Wasser, er hatte es faustdick hinter den Ohren. Mit seiner scheinbaren Unschuld, seinem Charme und seiner noch kindlichen Schönheit gelang es ihm, dass sowohl Weiblein als auch Männlein schwach wurden. Uplegger unterdrückte die Schwäche und kehrte den großen Erzieher heraus, fand aber nur einen missglückten Anfang: »Setz dir wenigstens Kopfhörer auf!« Das hatte er gar nicht sagen wollen. Der Kampf um die Macht war eröffnet.
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