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Mörder unbekannt verzogen E-Book

Thomas Chatwin

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Beschreibung

Sommer in Cornwall. Ein neuer Fall für Daphne Penrose, Postbotin der Royal Mail. Daphne ist zu einem exklusiven Empfang in den Glendurgan Garden eingeladen. Der Rhododendron blüht, der Garten steht in voller Pracht. Dazu gibt es kornische Köstlichkeiten, und ein Literaturkenner spricht über Cornwalls weltberühmte Dichterin Daphne du Maurier. Doch das Fest endet jäh, als unter den riesigen Blättern der Gunneras die Leiche von Dr. Finch gefunden wird. Wer hätte Grund gehabt, den beliebten Arzt zu töten? Dann wird eine zweite Leiche entdeckt. Freunde geraten in Verdacht, lang gehütete Geheimnisse werden gelüftet, und ein Geflecht aus Hinweisen will sortiert werden. Da Chief Inspector Vincent mit dem Kopf schon im Jagdurlaub ist, müssen Daphne und ihr Mann Francis wieder einmal ermitteln. Auf eigene Faust bis zum überraschenden Finale.

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Thomas Chatwin

Mörder unbekannt verzogen

Ein Cornwall-Krimi

Über dieses Buch

Sommer in Cornwall. Ein neuer Fall für Daphne Penrose, Postbotin der Royal Mail.

 

Daphne ist zu einem exklusiven Empfang in den Glendurgan Garden eingeladen. Der Rhododendron blüht, der Garten steht in voller Pracht. Dazu gibt es kornische Köstlichkeiten, und ein Literaturkenner spricht über Cornwalls weltberühmte Dichterin Daphne du Maurier. Doch das Fest endet jäh, als unter den riesigen Blättern der Gunneras die Leiche von Dr. Finch gefunden wird. Wer hätte Grund gehabt, den beliebten Arzt zu töten? Dann wird eine zweite Leiche entdeckt. Freunde geraten in Verdacht, lang gehütete Geheimnisse werden gelüftet, und ein Geflecht aus Hinweisen will sortiert werden. Da Chief Inspector Vincent mit dem Kopf schon im Jagdurlaub ist, müssen Daphne und ihr Mann Francis wieder einmal ermitteln. Auf eigene Faust bis zum überraschenden Finale.

Vita

Thomas Chatwin, geboren 1949, ist promovierter Literaturwissenschaftler und ein profunder England-Kenner. Er liebt Cornwall und verbringt jede freie Minute dort. Seiner langjährigen Freundschaft mit der englischen Bestsellerautorin Rosamunde Pilcher und vielen gemeinsamen Reisen verdankt er ungewöhnlich detailreiche Einblicke in Cornwalls Alltag.

Für meine Freundin Ros Pilcher, deren Lebensklugheit, humorvolle Kraft und tiefe Liebe zu Cornwall für immer dort sein werden, wo der Himmel die Klippen berührt.

 

«Gehen wir doch los und finden es heraus.»

Rosamunde Pilcher, Heimkehr

Prolog

Man musste wie Daphne Penrose in Fowey geboren sein, um das Schaudern zu kennen, wenn der große Nebel kam. Während er wie eine riesige Woge vom Meer in die Bucht und über den River Fowey rollte und nur noch die Mastspitzen der Segelschiffe zu sehen waren, konnte man sich da draußen alles vorstellen. Als Kind hatte Daphne dabei am Fenster gestanden und die Gänsehaut gespürt, die einem das Rätselhafte verursachte.

Ganz Cornwall war voller Rätsel. Auf einer Küstenwanderung hatte ihr Mrs. du Maurier, ihre Namenspatin, von dem Jungen erzählt, der im Treibsand der Dünen versunken war und den man nie mehr wiederfand. Von da an hatte Daphne sich die Dünen als geheimnisvolle Lebewesen vorgestellt. Und da Mrs. du Maurier eine berühmte Schriftstellerin gewesen war, hatte sie die Geschichte natürlich ordentlich ausgeschmückt.

Auch über die Häuser am Fluss wusste Daphne alles. Der junge Peter Wolcot von Wolcot House war während eines Gewitters tot im Garten umgefallen, genau dort, wo seine Mutter einst von einem Baum erschlagen worden war. Und bei Readymoney Cove, direkt an den Klippen, stand das weiße Herrenhaus der reichen Tyndales. Um dieses Haus machte der Nebel seit vielen Jahren einen nicht erklärbaren Bogen und ließ es in der Sonne leuchten, während man schon ein Stück daneben die Hand nicht mehr vor Augen sah.

Auch dass Seeleute aus Fowey vom Meer verschlungen wurden, gehörte zu Daphnes Kindheit. Sobald jemand aus Fowey starb, der nicht gerade ein naher Verwandter war, sagte ihre Mutter immer: «Wenn es in Fowey von allem so viel gäbe wie traurige Abschiede und fröhliche Anfänge, müsste keiner mehr Fische fangen.»

Da der Satz alles beinhaltete, was man in Cornwall zu den Überraschungen des Lebens wissen musste, hatte Daphne ihn auch als Erwachsene für lebenswahr gehalten. Hin und wieder zitierte sie ihn sogar selbst, natürlich nur, wenn er passte.

Zuletzt an jenem Sommertag, als sie die Lehrerin Florence Bligh getröstet hatte, deren Nachbarin verstorben war. Florence hatte mit Tränen in den Augen über diese alte Weisheit gelächelt und Daphne stumm in den Arm genommen.

Als zwei Wochen später die grausamen Morde geschahen, hätte Daphne sich am liebsten jede Silbe des Satzes in den Mund zurückgeschoben.

1

«Überall waren kleine Schiffe und Yachten vor Anker, doch aufregender war ein großes Schiff, das näher glitt, von zwei Schleppern gezogen.»

Daphne du Maurier, Mein Cornwall

Noch am Morgen hätte Daphne als ihre besten Eigenschaften genannt, dass sie hartnäckig wie eine ganze Möwenkolonie sein konnte, Francis immer treu gewesen war und sämtliche Telefonnummern ihrer Freundinnen auswendig kannte. Francis hätte vielleicht noch ergänzt, dass sie mehr über Fowey wusste als jeder andere und dass die Familie ihr gutes Gedächtnis manchmal als ziemlich lästig empfand.

Aber morgens hatte sie auch noch nicht gewusst, dass sich dieser Tag als Wolf im Schafspelz entpuppen würde.

Francis war schon früh zu einem Meeting im Hafenamt gefahren. Daphne mochte es nicht besonders, wenn sie allein frühstücken musste. Sie schlang ihre beiden Toastbrote und ihr Porridge hinunter, band sich vor dem Flurspiegel die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz und zählte kurz ihre Falten. Es waren noch alle da. Sie waren erstaunlich treu, seit Daphne über fünfzig war. Dann streifte sie sich ihre orangefarbene Weste mit der Aufschrift Royal Mail über und holte ihr Fahrrad aus der Garage. Sie war die einzige Postbotin der Zentrale, die keinen der üblichen Trolleys für die Briefe benutzte. Obwohl das Fahrradfahren in Foweys steilen Gassen nicht immer ein Vergnügen war, fühlte sie sich ohne Trolley gleich zehn Jahre jünger. Oder zumindest fünf.

Sie liebte den Wind in ihren Haaren, schon immer. Gutgelaunt radelte sie durch die schmale Lostwithiel Street zum Hafen hinunter. Vom Meer wehte eine frische, salzige Brise herein. Über dem Fluss kreisten Schwaden von Möwen, deren egoistisches Geschrei ohrenbetäubend war. Am hinteren Pier hatte ein havarierter Fischkutter festgemacht, das Deck voller Fangreste. Hinter ihm zogen weiße Segel vorbei. Es war Flut, die beste Zeit, das Revier des River Fowey zu verlassen.

Wie terrassiert zogen sich Foweys weiße Häuserreihen über den Hang, zu dessen Füßen die Hafenbucht, der kleine Platz am Quay und die Einkaufsgassen lagen. Daphne wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Touristen oben auf dem Parkplatz eintrafen und die gepflasterten Wege mit den steilen Treppen hinunterwanderten.

An der überfluteten Steintreppe am Quay werkelte David Goodall, hinter ihm schaukelte sein neues Taxiboot. Es war gelb, und noch glänzte es eindrucksvoll. Unter den seitlichen Fenstern stand in großer schwarzer Schrift: Wassertaxi, Kontakt über Kanal 6.

«Glückwunsch zum Boot!», rief Daphne. Früher hatte David Goodall Trawler kommandiert, seit er sechzig war, wollte er Fowey nicht mehr verlassen. «Und keine Möwen an Deck – wie machst du das?»

«Sie kennen mich!» David nahm einen Fender von der Treppe und warf ihn so geschickt, dass er genau auf dem Kajütendach landete. Er war niemand, der unnötig Worte machte. «Dein Mann macht heute eine Probefahrt. Falls du auch Lust hast …?»

«Und wer trägt die Post aus?», fragte sie lachend.

Nachdem sie in der Lagerhalle der Royal Mail ihre Posttasche randvoll mit Briefen gefüllt hatte, begann sie ihre Tour. Jeder Eingang der Fischerkaten und viktorianischen Reihenhäuser erzählte eine andere Geschichte – bunte Kinderbilder, Stiefel und Angelzeug, durchgestrichene Namen an der Klingel. Sie begegnete den vertrauten Gesichtern der begeisterten Rosenzüchterinnen in ihren Gärten, den Pubwirten, den Ladenbesitzern in der Fore Street und den Bootsbauern in ihren Schuppen.

Die meisten Gesichter waren wettergegerbt – und ihre Besitzer so kornisch, dass sie die Engländer für Spaßvögel aus dem Norden hielten. Gab es genügend Wind, ging man auf dem River Fowey segeln. Wenn es regnete, war man auch zufrieden, blieb zu Hause und genoss den Spaß, mit dem mizzle ein paar Verrückten aus London den Urlaubstag verdorben zu haben.

Natürlich war es wie immer, wenn Daphne es eilig hatte. Gerade dann öffneten sich besonders viele Türen, sobald der Briefkasten klapperte. Roger Carlyon wollte seine Post nächste Woche unter der Regenrinne versteckt haben, Peter Ashley maulte über mangelnde Pünktlichkeit, und Mrs. Gallagher brauchte den dringenden Rat ihrer Briefträgerin wegen des Einbaus einer neuen Hüftprothese.

Trotzdem schaffte Daphne es, einen neuen Rekord aufzustellen. Schon um 10:30 Uhr strampelte sie auf die beiden Ferienhäuser am Station Wood zu. Dafür würde ihr die Royal Mail zwar keine Medaille verleihen, aber durch den Zeitgewinn konnte sie früher nach Hause fahren und sich umziehen. Für den Nachmittag hatte sie eine Einladung, wie sie nicht alle Tage kam. Um zwei Uhr sollte sie mit dem Glas in der Hand unter den Palmen im Park von Glendurgan Garden stehen, wo ihr Schulfreund Sir Trevor Tyndale seinen vornehmen Sommerempfang geben wollte. In seiner exzentrischen Art hatte er das Fest Blüten und Bücher genannt – mit Lesungen, weiß gedeckten Tischen und klugen Gästen.

Sie lehnte ihr Rad an eine Eiche und holte die Briefe aus der Tasche. Am Waldrand vor den beiden Ferienhäusern wuchsen die schlanken gefiederten Adlerfarne, als hätte sie jemand gedüngt. In Foweys satter Erde wären sogar Kokosnüsse angewachsen. Neben den Häusern führte ein Pfad in den Wald. Am anderen Ende, hinter den Bäumen, begannen schon die Uferwiesen des Flusses.

Daphne stieg die Stufen zu den hölzernen Cottages hinauf und warf zwei Gemeinde-Briefe ein. Ab August sollte hier wieder jemand wohnen.

Als sie zu ihrem Rad zurückkehrte, hörte sie einen Knall, dessen Echo sich im Wald brach. Sie hatte keinen Zweifel, dass das ein Schuss gewesen war. Er kam aus dem Wald hinter den Cottages. Jemand rief etwas, dann war Stille.

Daphnes erster Gedanke war, dass heute Jäger unterwegs waren, um die Kaninchenplage in den Griff zu bekommen. Doch ihr fiel ein, dass der Forstverband die Jagd ohne Absperrung der Wanderwege verboten hatte. Also sind es wieder heimliche Schießübungen, dachte sie. Erst letztes Jahr hatten zwei übermütige Schüler im Wald herumgeballert, bis einer von ihnen Schrotkugeln im Fuß hatte. Sie beschloss, ein kurzes Stück in den Wald zu gehen und nachzusehen. Notfalls würde sie Francis informieren, der ständig mit der Jagdbehörde in Kontakt stand.

Plötzlich hörte sie das Knirschen von Kies und das Schlingern eines Rades hinter sich. Sie trat zur Seite.

Ein dunkler Schatten raste auf sie zu. Es war jemand auf einem Mountainbike, in schwarzer Jacke und mit dunklem Helm, der tief über die Stirn gezogen war. Das Gesicht unter dem Helm war bis an die Augen mit einem grauen Schal verhüllt.

Im selben Moment erhielt sie einen Tritt gegen das linke Knie. Er war so fest und brutal, dass er sie von den Beinen riss. Wie ein gefällter Baum flog sie rückwärts in die Farne, die neben der großen Eiche wuchsen. Während die Person auf dem Rad weiterraste, spürte Daphne, wie ihr Hinterkopf hart auf der Erde aufschlug, wie kleine Dornen in Haar und Kopfhaut drangen, wie Blätter über ihr Gesicht kratzten.

Benommen blieb sie einen Augenblick liegen. Als sie endlich wieder die Kraft fand, sich aufzurappeln, stellte sie fest, dass zu ihren Füßen Münzen und anderer Kleinkram lagen – lauter Dinge, die ihr beim Sturz aus der Weste gerutscht sein mussten. Kniend sammelte sie alles ein. Dann stand sie vorsichtig auf und klopfte ihre Hose ab. Zum Glück entpuppte sich der hässliche schwarze Fleck am Knie nicht als Blut, es war nur feuchte Erde. Nachdem sie ruhig durchgeatmet und sich die restlichen Blätter aus dem Haar gezupft hatte, ging sie wieder zu ihrem Rad. Erleichtert stellte sie fest, dass es ihr keine Probleme bereitete, das Knie zu bewegen.

Sie wollte gerade auf ihr Rad steigen, als ihr Handy in der Posttasche klingelte. Der Anruf kam von Linda Ferguson.

«Ja, Linda?» Daphne spürte selbst, dass ihre Stimme noch etwas lahm klang.

«Ich wollte dir nur sagen, dass ich doch mit meinem eigenen Wagen zu Sir Trevors Sommerfest fahre. Du musst mich also nicht mitnehmen.» Linda war wie immer in Eile. Nachdem sie kürzlich ihr neues Bed-&-Breakfast-Cottage eröffnet hatte, plante sie alles eisern durch. Jede Minute.

«Okay», sagte Daphne müde. «Dann treffen wir uns also dort. Um zwei Uhr?»

«Ja.» Linda stutzte. «Ist was? Du klingst so komisch?»

«Wie denn?», fragte Daphne. Erschrocken fühlte sie mit der Zunge, ob sie vielleicht einen Schneidezahn verloren hatte. Zum Glück waren noch alle Zähne da.

«Ein bisschen lustlos», meinte Linda. «Muss ich mir Sorgen machen?»

Daphne beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. Als ehemalige Hoteliersfrau hatte Linda ohnehin ein untrügliches Gespür für die Stimmungsschwankungen anderer Leute.

«Mich hat gerade jemand ins Abseits befördert», gestand sie. «Du darfst es aber ja nicht Francis erzählen …»

«Ins Abseits? Was heißt das denn?», fragte Linda erschrocken.

Daphne berichtete ihr von dem Angriff. Während sie das tat, stellte sie fest, dass sie sich zwar detailliert an den Fußtritt und an den Ablauf ihres Sturzes erinnern konnte, aber kaum an den Moment davor. Sie wusste zwar, dass sie vor der Attacke des Mountainbikers irgendetwas im Wald gehört hatte, doch es gelang ihr nicht, sich die ganze Situation ins Gedächtnis zu rufen.

«Was hast du denn gehört?», fragte Linda. «Ich meine, oben im Wald?»

Daphne dachte verzweifelt nach. Es wollte ihr nicht einfallen. Sie wusste nur noch, dass sie etwas Dringendes unternehmen wollte, nachdem sie das Geräusch gehört hatte.

Sie kapitulierte. «Es ist weg! Totalblockade! Oh Gott, Linda, ich weiß es nicht mehr!»

«Dann war’s auch nicht so wichtig», meinte Linda entspannt. «Sei froh, dass du dir nichts gebrochen hast. Denk dran, laut Freud speichern wir nur das, was von Bedeutung ist.»

«Meinst du?»

«Aber ja. Ein paar Gläser Champagner auf Sir Trevors Fest, und du bist wieder wie neu! Also, bis später!»

Lindas Pragmatismus tat Daphne gut. Was war denn schon passiert? Sie war in ihrem Leben schon oft vom Rad gefallen. Was sie allerdings ärgerte, war die Tatsache, dass diesmal ein Lümmel daran schuld war, den sie nicht einmal zur Rechenschaft ziehen konnte.

Vorsichtig schwang sie sich auf den Sattel. Es klappte problemlos, ihr wurde auch nicht schwindelig.

Langsam ließ sie ihr Rad die Straße hinunterrollen. Als sie am Parkplatz Caffa Mill vorbeifuhr, begann sie schon wieder mutiger in die Pedale zu treten.

Na bitte, dachte sie erleichtert, geht doch.

2

«Ihr Lachen war hinreißend, ein unerhörtes Lachen, fast wie das eines Kindes. Jauchzendes Lachen, wenn etwas sie amüsierte.»

Virginia Woolf, Zwischen den Akten

In seinem engen Taucheranzug wirkte Harbour Officer Callum Stockwood wie eine pralle Wärmflasche. Schimpfend zog er vor dem Schwimmsteg die Taucherbrille ab und blies seine dicken Backen auf.

«Was für eine Zeitverschwendung! Wir könnten jetzt wunderbar am Quay sitzen und Shrimps essen!»

«Noch einen Versuch», rief Francis Penrose ihm zu. «Vielleicht mehr rechts.»

Callum tauchte erneut ab und hinterließ einen kräftigen Strudel. Obwohl er erst vierzig war, wurde nach den dicken Backen jetzt auch sein Rücken kräftiger. Jeder wusste, dass der Hobbykoch das Tauchen hasste, vermutlich schon deshalb, weil dort unten Tiere vor seiner Brille herumschwammen, die er viel lieber in der Pfanne sehen würde. Dennoch musste Francis als Flussmeister hin und wieder Tauchgänge anordnen. In diesem Fall hatten schwedische Segler einen verschlossenen Behälter mit Reinigungsmittel über Bord gehen lassen. Sein Inhalt konnte sich irgendwann im Wasser auflösen.

Callum erschien wieder an der Oberfläche. Prustend wie ein nasser Otter, hievte er den weißen Kanister auf den Steg und ließ sich danach selbst von Francis aus dem Wasser ziehen. Erschöpft setzte er sich auf die Planken und sagte schnaufend: «Dieser Fluss ist ein Wunder. Es gibt Strömungen, die es gar nicht geben dürfte.»

«Gut gemacht», antwortete Francis.

Hinter ihm bremste dröhnend ein gelbes Boot am Steg. Es war das Wassertaxi von David Goodall. Francis blickte auf die Uhr. Seine Probefahrt mit David war erst für eine Stunde später ausgemacht.

Während der Motor der Mary II im Leerlauf weitertuckerte, kam der Captain nach Backbord an die Reling. Er wirkte ernst.

«Ich brauch dich jetzt schon», sagte er. «Florence Bligh hat mir was Seltsames auf die Mailbox gesprochen. Irgendwas von Blut.»

Francis wusste, dass David Goodall niemand war, der leere Sprüche machte. Als erfahrener Trawlerkapitän kannte er die Regel auf dem Wasser, dass man andere nie leichtfertig beunruhigte.

«Okay, ich komme», sagte Francis. Schnell besprach er mit Callum, was jetzt mit dem gefundenen Behälter geschehen sollte. Dann sprang er an Bord der Mary II.

David legte so rasant ab, dass Francis gerade noch Zeit blieb, sich auf die Bank vor dem Steuerstand fallen zu lassen. Dort saß er, bis das Boot die Pontons vor dem Hauptquay hinter sich gelassen hatte. Davids neues Schiff hatte drei Bankreihen und bequeme blaue Kissen für zwölf Personen. Damit war Platz genug, auch Fahrten für kleine Gruppen anzubieten. In seiner stoischen Art gehörte der Captain zwar nicht gerade zu den Entertainern unter den Bootsleuten, aber gerade deshalb fanden ihn die meisten in Fowey sympathisch. Zuverlässig, hager und sonnengebräunt wie immer stand er in seinem überdachten Steuerstand und hielt durch die Frontscheibe nach Hindernissen Ausschau.

Man mochte den River Fowey, oder man mochte ihn nicht. Niemand konnte ihn nur ein bisschen mögen, dafür war er zu wild. Dort, wo er im Bodmin Moor entsprang, hatte die Natur ihm die Willenskraft mitgegeben, es unter allen Umständen bis ins Meer zu schaffen.

David Goodall gehörte zu denen, die ihn sehr mochten, selbst wenn es stürmte. Vom Naturhafen Fowey aus, wo die Mündung des Flusses eine breite Bucht bildete, unternahm er Fahrten bis hinauf nach Lostwithiel.

Francis hielt es an Deck nicht mehr aus. Wohin fuhr der Captain? Er wusste, dass David Goodall auch öfter von der Lehrerin Florence Bligh gebucht wurde. Sogar Klassenausflüge hatte sie schon mit der alten Mary I unternommen. Warum tat David jetzt so geheimnisvoll?

Das Boot schwankte, am Heck dröhnte der Motor. Breitbeinig öffnete Francis die Tür zum Steuerstand, wo David hinter dem Funkgerät und dem Radar auf dem Kapitänsstuhl saß. Als Francis eintrat, blickte er kurz zur Seite und streckte die linke Hand aus.

«Gib mir mal mein Telefon. Es ist auf der Ablage.»

Auf dem weißen Brett unter dem Seitenfenster lagen ordentlich aufgereiht ein Fernglas, die Betriebsanleitung der Werft, eine Sandwichbox und ein Berg Schlüssel. Nachdem Francis das Handy unter der Betriebsanleitung gefunden hatte, reichte er es David, der während des Steuerns die Mailbox abspielte.

Francis erschrak, als er die Stimme von Florence Bligh hörte. Obwohl die Lehrerin erst Ende vierzig war, klang sie plötzlich um Jahre älter. Die sonst so klare, ruhige Sprechweise hatte sich in ein atemloses, abgehacktes Flüstern verwandelt.

«… Mr. Goodall … früher kommen, jetzt gleich … da ist lauter Blut …» Sie holte Luft, ihr Atem schien zu rasseln. «… zu Purdys Steg … ich konnte doch nicht wissen … Und Finch sagen, er soll aufpassen … Bitte!»

Es klang flehentlich und gleichzeitig verwirrt. Mit heftigem Atmen endete der Anruf.

«Wann war das?», fragte Francis.

David Goodall legte das Handy aus der Hand. «Vor zwei Stunden, um zwanzig vor elf. Ich war die ganze Zeit in meiner Werkstatt und hab es leider erst jetzt abgehört.» Er schien über sich selbst verärgert zu sein. «Was sagst du dazu?»

«Klingt, als wenn sie verletzt ist.» Francis überlegte. «Hattest du vorher den Auftrag, sie irgendwoanders abzuholen?»

David nickte. «Ja. Sie wollte bis Golant wandern. Dort sollte ich um zwei am Quay sein.»

Golant war das Nachbardorf flussaufwärts. Francis hatte Florence Bligh schon oft an der Küste und auf den Uferwegen des River Fowey joggen oder wandern sehen. Sie wäre nicht die Erste, die auf den steinigen Pfaden ausgerutscht war. Was aber sollte die kryptische Bemerkung über Dr. Finch, den Hausarzt von Fowey?

Purdys Steg lag zweihundert Yards vor ihnen auf der linken Uferseite. Früher hatte er zu einem Sardinenlager gehört, jetzt nutzten ihn nur noch Angler. Die Wiese dahinter endete oben am Wald von Station Wood.

Während David auf das Ufer zuhielt, nahm Francis das Fernglas und suchte damit die Anlegestelle, die Wiese und die Klippen ab. Auf dem hinfälligen Steg aus morschen Pfosten und rissigen Brettern war niemand zu sehen. Auch die Wiese war menschenleer und diente gerade einer Schar Möwen als Futterplatz. An den zerklüfteten Klippen unterhalb der Wiese schwappte Seegras im Flusswasser.

Da erkannte Francis etwas Rotes zwischen den Felsen und stellte das Glas schärfer: Florence Bligh! Die Lehrerin saß mit dem Rücken an einen scharfkantigen Felsen gelehnt und bewegte sich nicht.

David folgte seinem besorgten Blick. «Ist sie das?», fragte er. Seine Stimme klang plötzlich heiser. Es schien ihm schwerzufallen, den Anblick der leblosen Florence Bligh zu ertragen.

«Ja.» Auch Francis war mehr als beunruhigt. Er gab Goodall das Fernglas zurück und klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. «Lass mich am Steg raus. Dann ruf im Krankenhaus an und hol den Notarzt im Hafen ab.»

Wegen der starken Strömung war es kein leichtes Manöver. Da der Steg jederzeit einstürzen konnte, wenn man gegen ihn krachte, stoppte David Goodall die Mary II ein Stück daneben, sodass Francis auf die Stegplanken springen musste.

Während das Taxiboot danach wieder wendete und dröhnend zum Hafen zurückfuhr, arbeitete Francis sich mit schnellen, aber vorsichtigen Schritten über die glitschigen Felsbrocken bis zu der Stelle vor, an der Florence saß. Ihre Augen waren weit geöffnet, das rote Polohemd hatte einen großen schwarzen Fleck. Als er vor ihr stand, blickte er in ein starres Gesicht und auf verkrampfte Hände. Florence Bligh war tot.

Geschockt wich Francis zurück, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gestoßen. Sie musste große Schmerzen ausgehalten haben, ihr blasses, von Todesangst gezeichnetes Gesicht wirkte wie eine traurige Maske.

Das war nicht mehr die strahlende, warmherzige Florence, die durch ihre interessierte Art Sympathien geweckt hatte. Auch die Schüler und Eltern hatten immer gespürt, wie sehr Florence den einzelnen Menschen im Blick hatte. Obwohl sie selbst nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, besaß sie ein sicheres Gefühl dafür, wie moderne Pädagogik aussehen konnte. Gerade hatte sie die Schulleitung in Fowey abgegeben, um noch einmal frisch durchzustarten. Als Francis sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie freudestrahlend auf Daphne und ihn zugekommen und hatte erzählt, dass sie im Herbst einen neuen Job an der Universität Plymouth antreten würde.

Wie so oft, wenn sie in der Natur unterwegs war, hatte sie auch diesmal ihr dunkelblondes Haar mit einem weißen Stirnband zurückgebunden. Jetzt war es blutverschmiert, genau wie das Polohemd und die helle Wanderhose. Auch auf den Schnürsenkeln ihrer Wanderschuhe entdeckte er Blut. Das Schlimmste aber war das verkrustete tiefe Loch neben ihrer rechten Brust.

Plötzlich kam ihm der Verdacht, dass es eine Schusswunde sein könnte, vielleicht ein Durchschuss. Obwohl es ihm schwerfiel, trat er hinter Florence. Sie lehnte schräg am Felsen, er musste sie also nicht mal anfassen, um auch das zweite Loch zu sehen. Ein Anblick, der schwer zu ertragen war. Francis hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Um keine Zeit zu verlieren, kletterte er auf einen Felsen, rief im Hafenamt an und bat Sybil Cox, die Polizeistation in St. Austell zu informieren. Zwischen zwei Felsen entdeckte er ein silberfarbenes Handy im Sand, daneben lag ein kleines hellblaues Portemonnaie. Gehörte beides der Toten?

Er musste an die merkwürdigen Worte denken, die Florence auf Davids Mailbox hinterlassen hatte. Und Finch sagen, er soll aufpassen …

Es hatte sich wie eine Warnung angehört. Warum hatte Florence überhaupt von Dr. Finch gesprochen? Er war einer der beiden Hausärzte in Fowey …

Francis zog sein Smartphone aus der Tasche, suchte nach der Telefonnummer von Dr. Finchs Praxis und wählte. Schon nach kurzem Klingeln hörte er das Ansageband. Dr. Finch sei erst morgen wieder erreichbar.

Ihm kam eine andere Idee. Vielleicht war Finch wie Daphne auf das Sommerfest von Sir Trevor Tyndale eingeladen. Schnell drückte er Daphnes Nummer. Doch auch dort landete er nur auf der Mailbox. Er hinterließ ihr die Nachricht, dass Dr. Finch so schnell wie möglich bei ihm anrufen sollte.

Als er endlich das Schnellboot des Hafenamtes auf den Steg zurasen sah, hatte er das Gefühl, einen zentnerschweren Stein loslassen zu dürfen.

3

«Mr. Fox hat mehr als 300 exotische Pflanzen naturalisiert … Ganze Wälder von Rhododendren und Kamelien wachsen in wilder Fülle.»

Alphonse Esquiros, Cornwall and its Coast (1865)

Als Daphne um zwei Uhr auf den Parkplatz von Glendurgan Garden fuhr, sah sie Linda Ferguson bereits am Picknickplatz vor dem Eingang sitzen. Während sie noch schnell im Rückspiegel ihre Lippen nachzog, kam Linda zum Auto, öffnete die Fahrertür und schaute ihr amüsiert dabei zu.

«Machst du dich für Sir Trevor fein?»

«Unsinn», sagte Daphne und ließ den Lippenstift wieder in ihrer Handtasche verschwinden. «Aber neben dir muss man sich ja anstrengen. Ich weiß nicht, wie du das machst – den ganzen Tag schick zu sein.» Sie zeigte auf den hellen Hosenanzug ihrer Freundin. Daphne selbst trug ein dunkelgrünes Sommerkleid.

Linda verzog den Mund. «Alte Angewohnheit. Eigentlich könnte ich mir jetzt erlauben, in alten Jeans rumzulaufen.»

Der Satz bezog sich auf ihre Trennung von Jake. Zusammen hatten die beiden das Blue Sea Hotel in Fowey zum Erfolg geführt. Erst vor ein paar Monaten hatte Jake ihr seine Geliebte vorgestellt. Es musste nicht wesentlich anders abgelaufen sein, als hätte er ihr einen schicken neuen Wagen präsentiert.

Linda sah in jeder Situation elegant aus. Selbst schlichte Pullover wirkten an ihr stylish, wobei ihr elegant hochgestecktes braunes Haar diesen Eindruck wirkungsvoll unterstrich.

Daphne stieg aus, verschloss ihr Auto und blickte sich auf dem vollen Parkplatz um. «Wir sind doch nicht etwa die Letzten?»

«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass man ab zwölf Uhr den Park besichtigen konnte. Die Vorträge beginnen erst um drei.»

Seit Sir Trevor Tyndale sein Sommerfest ins Leben gerufen hatte, waren sie beide immer dabei gewesen. Linda kannte Trevor aus dem Golfclub, Daphne wurde eingeladen, weil sie mit Trevor ein paar Jahre lang die Schulbank gedrückt hatte und sie sich beide sehr mochten. Sein Sommerempfang gehörte zu den ungewöhnlichsten Ereignissen in Cornwall. Die Veranstaltungsorte wechselten, jedes Mal ließ Trevor sich etwas Neues einfallen. Im vergangenen Jahr hatte er sie alle mit dem Boot auf eine winzige Felsinsel transportiert, wo ein Kammerorchester in einer Grotte mit Mozart aufgewartet hatte.

Man musste den hochintelligenten Sir Trevor schon besser kennen, um ihn zu durchschauen. Daphne wusste, dass er dies alles nicht aus Wichtigtuerei tat, sondern weil er aus tiefstem Herzen das Besondere liebte – und es mochte, die unterschiedlichsten Menschen zusammenzubringen. Er konnte es sich leisten, nicht eitel zu sein. Reich geboren, war Trevor schon als Kind ein Exzentriker gewesen. Mit sieben züchtete er rote Schmetterlinge, sammelte Zähne von Steinzeitmenschen und schrieb Gedichte über die lustigsten Tiere Englands. Vor allem aber liebte er Zelte. Im Garten des Tyndale-Familiensitzes hatten unter anderem ein Zeltpavillon und ein Schweizer Biwak für den kleinen Trevor gestanden. Mit Daphne hatte ihn etwas Unsichtbares verbunden, von dem sie beide wussten, dass es existierte, das aber nie ein Thema zwischen ihnen gewesen war.

Da Daphne bis zu ihrem elften Lebensjahr unter angeborener Schwerhörigkeit gelitten hatte, waren sie und der eigenwillige Trevor die beiden Sonderlinge in Foweys Grundschulklasse gewesen. Trevor hatte sie wie eine Schwester geliebt. Sie war die Einzige, die mit ihm in seinen Zelten liegen und lesen durfte.

Heute war Trevor ein erfolgreicher Kronanwalt. Obwohl seine Kanzlei ihren Sitz in Plymouth hatte und er oft in London sein musste, lebte er wie seine Vorfahren in Fowey. Alle mochten ihn, er war witzig und unterhielt glänzende Beziehungen zu Künstlern und Universitäten. Einen Wermutstropfen gab es allerdings: Die richtige Frau hatte er trotz vieler Affären immer noch nicht gefunden.

«Dein Ticket liegt noch an der Kasse», sagte Linda. «Ich hab meines gerade geholt.»

Daphne ging zum Eingangsbau und ließ sich von den drei Damen am Schalter ihre Freikarte geben. Sie sahen aus wie Drillinge, alle im gleichen Alter und gleich gekleidet. Als sie zurückkam, stand Linda schon auf dem Kiesweg zum Tor.

«Typisch Trevor», sagte sie, «dass er gleich den ganzen Park für seine Gäste gemietet hat.»

«So ist er eben – immer mit Stil.» Daphne schlug beim Gehen ihr Programmheft auf. «Wusstest du, dass Lewis Russell dabei ist?»

«Ja, er wohnt seit heute Morgen bei mir», sagte Linda. Sie meinte damit ihre Bed-&-Breakfast-Pension, die sie seit der Trennung von Jake betrieb. «Trevor bat mich, ihm das schönste Zimmer zu geben.»

«Und das erzählst du mir nicht?»

«Ich wusste nicht, dass du ihn kennst.»

«Er war letztes Jahr auf Trevors Geburtstagsfeier in Plymouth. Ein interessanter Mann.»

Linda hob fragend die Augenbrauen. «Was meinst du mit interessant? Interessant klug oder interessant attraktiv?»

«Geistreich eben», sagte Daphne ausweichend.

Sie wollte ungern zugeben, dass sie Lewis Russell anziehend gefunden hatte. Er war Literaturwissenschaftler und Dozent an der Universität Birmingham. Mit seiner brillanten Biographie über Virginia Woolf hatte er wochenlang die Bestsellerlisten angeführt. Heute wollte er sein neuestes Buch vorstellen, das sich mit dem Nobelpreisträger William Golding und seinem Longseller Herr der Fliegen befasste. Wie Virginia Woolf hatte auch Golding in Cornwall gelebt.

Erwartungsvoll gingen die beiden Frauen auf den Parkeingang zu. Seit ewigen Zeiten wurde er von zwei steinernen Füchsen bewacht, die rechts und links auf der Mauer standen. Sie sollten daran erinnern, dass die beiden dicht nebeneinanderliegenden Parks Glendurgan Garden und Trebah Garden im 19. Jahrhundert von den reichen Fox-Brüdern angelegt und mit tropischen Pflanzen bestückt worden waren. Daphne rechnete zurück, dass sie seit fast zehn Jahren nicht mehr hier gewesen war.

Während sie das Holztor aufstieß, fragte sie Linda: «Und du? Wann warst du zum letzten Mal hier?»

«Keine Ahnung», antwortete die Freundin und schlüpfte schnell an ihr vorbei.

Schon nach wenigen Metern schlug ihnen der Duft von Blüten entgegen. Je weiter sie auf dem Kiesweg in den Park vordrangen, desto intensiver wurde der Geruch. Hinter den Beeten mit üppigen Sommerblumen wie Bechermalven, Klatschmohn oder Bartnelken begann die Reihe hoher Büsche. Dort hatten die Gärtner viele Gehölze nach Themen gepflanzt, so wie es in Englands viktorianischen Gärten üblich war. Neben dem Kamelienweg gab es uralte Magnolienbäume, Oliven, Judasbäume und Zierkirschen. Aus den tieferen Lagen stieg der harzige Geruch von Zedern und Kiefern auf. Und zwischen den Pflanzungen erstreckten sich weite Rasenflächen, die das Parkartige des Gartens betonten.

Bewundernd blickte Daphne zu den Rhododendren auf, deren rote Blüten wie Gemälde in den Farben Tizians wirkten. Weil sie dicht aneinander gepflanzt waren, wirkten die fünf Meter hohen Gruppen wie weit ausladende Baumriesen. Weiter unten im Tal entdeckte sie auch den knorrigen Tulpenbaum wieder, dessen dickster Ast wie eine Brücke über den Weg wuchs, sodass man unter ihm hindurchgehen konnte.

Linda blieb abrupt stehen. «Hier geht’s lang.»

Im Gras steckte ein weißes Schild, dessen roter Pfeil bergauf zeigte. Auf einer Wiese weiter oben rauchte ein riesiger Grill. Daneben waren zwei große elegante Pavillons zu sehen. Sie waren an den Seiten offen, sodass man erkennen konnte, dass im linken Zelt Stuhlreihen für die Vorträge aufgebaut waren, im rechten die Stehtische für Essen und Drinks standen. Noch unterhielten sich alle Gäste angeregt beim Essen.

«Sie mampfen noch», stellte Daphne fest. In ihrer lebendigen Phantasie malte sie sich aus, wie man dort über die Musikfestivals dieses Sommers oder das diesjährige Rennen von Ascot plauderte.

«Trotzdem sollten wir gleich hochgehen», drängte Linda. «Schau dir nur diese Zelte an!»

Daphne musste lachen. «Trevor und seine Zelte! Ich hätte wetten können, dass er sie wieder aufbauen lässt!»

«Du kennst mich ja auch lange genug», sagte eine tiefe, gutgelaunte Stimme hinter ihr.

Als Daphne sich umdrehte, sah sie, wie Sir Trevor und sein Ehrengast Lewis Russell wie zwei grinsende Schüler unter den Bäumen hervortraten. Russell trug einen Stapel Bücher unter dem Arm.

Trevor Tyndales Gestalt war unverwechselbar. Über dem zugeknöpften blauen Blazer, dem feinen weißen Hemd und der roten Seidenkrawatte lachte ein fröhliches gerötetes Bubengesicht. Jetzt, mit Ende vierzig, ließen ihn die Fältchen neben den Augen noch warmherziger erscheinen als früher. Die runde Brille mit dem dünnen Rand war schon in der Jugend sein Markenzeichen gewesen. Wenn er sie heute im Gerichtssaal abnahm und damit spielte, wusste man, dass er etwas Ungewöhnliches ausheckte. Es gab Stimmen, die behaupteten, die Queen habe ihn auch deshalb in den Ritterstand erhoben, weil er unter all ihren Kronanwälten der witzigste und geistreichste war.

Lewis Russell wirkte ähnlich vital, wenn auch bohemienhafter. Er war im gleichen Alter wie Trevor, und Daphne wusste, dass er aus Wales stammte. Bei ihrem ersten Zusammentreffen auf Trevors Geburtstag hatte er ihr von der Unverwüstlichkeit der Waliser und ihrem Sinn für Sprache vorgeschwärmt. Mit seinen graumelierten Locken und dem kurzen Vollbart sah er selbst unverwüstlich aus. Sein weißer Anzug bildete einen interessanten Kontrast.

Lächelnd breitete Sir Trevor die Arme aus. «Na endlich! Ihr habt den bretonischen Hummer verpasst.»

«Tut uns leid», sagte Daphne entschuldigend. «Es ging leider nicht früher. Zum Glück servierst du ja noch geistige Delikatessen.»

Er lachte herzlich und begrüßte sie in alter Gewohnheit mit einem Kuss auf die Wange. Linda gab er höflich die Hand. Dann zeigte er auf seinen Gast. «Ihr kennt euch ja.»

«Wie könnte ich Mrs. Penrose vergessen?», sagte Russell mit charmantem Lächeln.

Während Linda danebenstand und ungeduldig in ihrem Programmheft blätterte, reichten sie sich die Hände und wechselten ein paar Worte. Daphne zeigte auf die Bücher unter seinem Arm. «Ist das alles für die Lesung?»

Er lachte. «Keine Angst. Golding ist keine Virginia Woolf. Er ist zwar glänzend, aber auch kompakter.» Eines der Bücher drohte zu rutschen, er hielt es schnell fest. «Ich weiß von Trevor, wie gut Sie die Werke von Daphne du Maurier kennen.»

«Er übertreibt. Als Kind durfte ich Mrs. du Maurier hin und wieder besuchen. Mehr steckt nicht dahinter.»

«Ist das nicht genug?» Russell hob bewundernd die Augenbrauen. «Damit wissen Sie sicher mehr über die Lady als andere. Ich hoffe, wir können uns heute noch unterhalten. Ich brauche vielleicht Ihre Hilfe.»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte Daphne schnell. Im Hinblick auf Russells Professionalität war ihr sein Vorhaben unangenehm. Sie wandte sich erneut an Trevor.

«Haben wir noch Zeit, einen Rundgang durchs Tal zu machen?» Sie bereute, nicht früher gekommen zu sein, um Glendurgans Blütenpracht zu genießen. «Gib uns eine Viertelstunde – und wir werden strahlen vor guter Laune!»

Trevor amüsierte sich über ihre Begeisterung für Glendurgan. Lachend hob er die Hände. «Bitte, von mir aus … Ihr sollt ja Spaß haben!»

Nachdem die beiden Männer in angeregter Unterhaltung auf dem Kamelienweg verschwunden waren, steuerte Daphne auf das Tal zu. Nach ein paar Metern merkte sie, dass Linda zögernd stehen geblieben war.

«Ich weiß nicht, Daphne … lass uns das doch später machen …»

Was war denn mit Linda los? Normalerweise konnte man mit ihr Pferde stehlen gehen.

Entschlossen zog Daphne die Freundin mit sich. «Na los, komm! Mir tut es auch leid, dass wir so spät dran sind, aber den Garten lasse ich mir deswegen nicht entgehen.»

Sie erreichten die Talsohle. Hier unten befand sich der tropische Teil des Parks mit dem berühmten Irrgarten, einem romantischen Teich und dem abenteuerlichen Dschungel. Zu ihm gehörten Bambusdickichte, neuseeländische Farnbäume, Palmen, Bananenstauden und ein kleiner Bach. Über dem plätschernden Wasser lag eine Bambusbrücke, und ein kurzer Weg führte hinunter zum Helford River, dessen schmaler Kiesstrand bereits außerhalb des Parkgeländes lag, aber durch ein offenes Tor erreichbar war. Angesichts der knappen Zeit beschlossen sie, den Strand auszulassen und stattdessen in Ruhe die Schilder an den Bäumen zu studieren.

Der warme Golfstrom vor der Küste war ein Geschenk für Glendurgan Garden. In der feuchten Meeresluft gediehen die tropischen Pflanzen wie in einem Gewächshaus. Während Daphne bei den Farnbäumen und Palmen stehen blieb, machte Linda sich selbständig und ging zum Seerosenteich hinüber. An seinem Ufer wucherten riesenhafte Gunnera-Pflanzen, unter deren gewaltigen Rhabarberblättern man aufrecht stehen konnte. Sie wirkten wie grüne Schirme, sodass man sich wie ein Zwerg fühlte.

Obwohl Daphne sich lieber nur auf die Schilder konzentriert hätte, die zu den verschiedenen Palmenarten gehörten, ging ihr Lewis Russell nicht aus dem Kopf. Was hatte er wohl damit gemeint, als er sagte, dass er für ein neues Buch ihre Hilfe brauchte?

Sie klopfte mit dem Knöchel an einen dicken braunen Stamm und rief Linda zu: «Mexikanische Washingtonpalme. Wächst auch in St. Ives und Penzance.» Ihre Stimme machte eine kurze Pause. «Was hältst du eigentlich von Lewis Russell?»

Sie erhielt keine Antwort.

«Linda?»

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Linda bereits vor den Gunnera-Pflanzen stand. Reglos starrte sie auf etwas, das im Wald der dicken Stängel auf dem Boden lag.

«Linda? Was hast du denn?»

In diesem Moment begann die Freundin zu schreien. So grell, durchdringend und anhaltend, dass Daphne dachte, sie würde nie wieder aufhören.

Sie rannte los. Schon von weitem erkannte sie einen menschlichen Körper. Als sie endlich bei Linda war, drehte sie sie von den Gunneras weg und hielt sie mit beiden Armen fest. Bei einem Blick über Lindas Schulter erkannte sie, wer dort in einer Blutlache am Boden lag.

Dr. Alan Finch, der Hausarzt aus Fowey.

Er lag auf dem Bauch, wie umgemäht, die Arme weit von sich gestreckt. Seine Brille befand sich zerbrochen neben dem Kopf. Auf dem dunkelgrauen Anzug, der am Rücken blutgetränkt war, krabbelten Fliegen. Oberhalb des rot durchnässten Anzugkragens klaffte eine Wunde am Hals, so tief, dass Knochen zu sehen war. Die ungeheure Menge Blut konnte nur aus der verletzten Halsschlagader stammen.

Es war ein Anblick, den man nicht ertragen konnte. Daphne schob Linda auf den Kiesweg zurück, unter den Bäumen stand eine Parkbank.

«Ist er tot?», flüsterte Linda schluchzend.

«Ich glaube schon», sagte Daphne, obwohl sie es sicher wusste. Mit dieser grauenvollen Wunde konnte kein Mensch mehr am Leben sein. Sie musste so schnell wie möglich die Parkleitung und die Polizei informieren, denn es sah nicht danach aus, dass Dr. Finch einfach nur gestürzt war. Sie hatte schon einmal in ihrem Leben den Anblick zweier ermordeter Menschen ertragen müssen. Auch hier schien alles auf ein Gewaltverbrechen hinzudeuten.

Aber warum gerade Alan Finch? Jeder kannte ihn als liebenswürdigen Menschen und großartigen Arzt.

Im Wald krächzte ein Eichelhäher, in den Wipfeln flogen Tauben auf. Als hätten sie auch Linda wachgerüttelt, riss sie sich mit einem Ruck von Daphne los und lief wankend zum Hauptweg zurück.

«Ich will weg!», schrie sie. «Ich will weit weg!»

Daphne folgte ihr. Sekunden später erschien Sir Trevor auf dem Weg, ein paar Schritte hinter ihm Lewis Russell und drei andere Gäste. Sie hatten Lindas Schreie bis zu den Zelten gehört.

Erschrocken blieb Linda vor der Gruppe stehen und blickte sich hilfesuchend nach Daphne um. Mit beruhigenden Worten nahm Daphne sie an die Hand.

Als Linda stocksteif und mit verdrehten Augen ohnmächtig wurde, konnten Sir Trevor und Lewis Russell sie gerade noch rechtzeitig auffangen.

4

«Der Mensch ist ein Geschöpf, dem es bestimmt ist, in Katastrophen zu leben.»

Graham Greene, Vom Paradox des Christentums

Es knackte im Gehölz, mit eingezogenen Köpfen kamen zwei Polizisten unter dem Magnolienbaum hervor. Einer trug einen Fotoapparat. In der vergangenen halben Stunde hatten sie erst das Gelände am Tatort nach Indizien abgesucht, danach die Wiese und den Wald rund um Trevors Zelte. Zwei andere Kollegen waren zusammen mit dem Polizeiarzt am Seerosenteich geblieben.

Sie bildeten nur die Vorhut, der Chief Inspector und die eigentliche Spurensicherung sollten jeden Moment eintreffen. Schon vor einer halben Stunde hatten die jungen Polizisten alle einundfünfzig Gäste in das Cateringzelt gebeten, wobei das Ganze eher einem Einsperren glich: Niemand durfte sich entfernen, bis der Chief Inspector seinen Auftritt gehabt hatte. Entsprechend groß war die Unruhe unter den Gästen. Inzwischen war jedem von ihnen klar, dass Dr. Finch nicht eines natürlichen Todes gestorben sein konnte.

Alle redeten durcheinander. An einigen der schicken Cocktailkleider und Anzüge waren bereits hässliche Schweißflecke zu sehen. Niemand konnte glauben, dass ausgerechnet dem netten Dr. Finch etwas zugestoßen war.

Während die arme Linda draußen auf einer Liege zu sich kommen durfte, musste Daphne die Fragen der anderen Gäste aushalten. Immer wieder wurde sie bedrängt, Details über ihren makabren Fund zu erzählen. Doch sie weigerte sich. Da sie schon einmal polizeiliche Ermittlungen miterlebt hatte, wusste sie, dass ihr Wissen auch Täterwissen war.

Soweit sie aus den Gesprächen heraushören konnte, war Finch mittags um 12:30 Uhr angekommen. Danach hatte er zusammen mit anderen Gästen einen kurzen Spaziergang durch den Park unternommen und sich dann in die Schlange am Buffet eingereiht. Um kurz nach eins hatte ihn jemand allein aus dem Zelt gehen sehen, es sah aus, als würde er die mobile Toilette ansteuern. Später war er niemandem mehr aufgefallen. Überhaupt schienen zu diesem Zeitpunkt bereits alle Gäste ihren Rundgang durch die Gartenanlage hinter sich gebracht zu haben.

Trevor Tyndale tat Daphne leid. Alle paar Minuten stellte er sich nervös neben sie und ließ sich von ihr beruhigen. So mitgenommen hatte sie ihn noch nie erlebt. Sein freundliches, kindliches Brillengesicht zeigte tiefe Sorgenfalten. Mit Dr. Finch war er vor allem durch das gemeinsame Interesse an Kultur und Wissenschaft verbunden gewesen, und auch die empathisch-menschliche Art des Arztes hatte ihm imponiert. Außerdem war er Realist genug zu sehen, dass mit diesem Verbrechen seine Idee von einem fröhlichen und dennoch anspruchsvollen Sommerfest Schaden genommen hatte. Ihm war klar, dass die polizeilichen Ermittlungen Wochen oder sogar Monate dauern konnten. Dazu kam, dass er morgen nach London aufbrechen musste, wo er am Krongericht Old Bailey einen wichtigen Prozess zu führen hatte.

Schließlich sah er sich veranlasst, vor das Buffet zu treten und eine kurze Rede zu halten. Als Jurist war er gewohnt, Zusammenhänge ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen. Das tat er auch jetzt. Daphne zollte ihm Respekt dafür, mit welcher Haltung er das vorzeitige Ende seiner Veranstaltung verkündete. Ohne jede verbale Verrenkung zitierte er den Polizeiarzt, der bei Dr. Finch eine tödliche Schusswunde diagnostiziert hatte. Am Schluss bat er mit fester Stimme darum, gemeinsam für den Toten eine Minute zu schweigen. Alle blieben wie eingefroren stehen, blickten mit leeren Augen an die Zeltwand oder zerdrückten hilflos Brotkrümel auf den weißen Tischdecken.

Es war eine Gesellschaft feiner Namen. Der hagere Verleger Edward Sturgeon und seine Frau waren dabei, die reichen Philbys, die mit sehr großen Zähnen gesegnete Theaterregisseurin Megissa Trawn sowie jede Menge junger Anwältinnen und Anwälte, die Sir Trevor fördern wollte. Daphne, die auf einem Klappstuhl am Zelteingang saß, wurde plötzlich klar, dass die meisten Gäste wohl nun erst begriffen, was Sir Trevors Worte bedeuteten: Dass jeder von ihnen zu einem Mordverdächtigen geworden war.

Nach der Schweigeminute hatte sich Trevor in die hinterste Ecke des Zeltes zurückgezogen, wo auch Lewis Russell mit betroffenem Gesicht wartete. Daphne beobachtete, wie Russell traurig ein leeres Glas in der Hand drehte. Nach allem, was passiert war, konnte natürlich auch sein Vortrag nicht mehr stattfinden – er war vergeblich nach Fowey gekommen.

 

Daphne hatte inständig gehofft, dass das zuständige Major Crime Investigation Team in Bodmin diesmal einen anderen als Detective Chief Inspector James Vincent schicken würde. Es musste doch jede Menge begabten Nachwuchs bei der Devon & Cornwall Police geben.

Doch ihr Flehen war vergeblich.

Schon knapp zehn Minuten nach Sir Trevors Rede stapfte ein schlaksiger Mann in grünen Gummistiefeln über die Wiese auf das Zelt zu. In den Stiefeln steckte die feine Hose seines beigefarbenen Anzuges. Auf eine Krawatte hatte er heute verzichtet, stattdessen trug er ein dunkelgrünes Halstuch im Hemd. Offenbar fühlte er sich in den Stiefeln unwohl, denn zweimal blieb er stehen, bückte sich und fummelte mit mürrischem Gesicht am Innenfutter herum. Als er endlich das offene Zelt betrat, verstummten schlagartig alle Gespräche. Jeder starrte den Fremden an.

Sir Trevor kam eilig nach vorne, um den Inspector vorzustellen. Er kannte jeden in Cornwall, der ein Amt innehatte.