Vier Schafe und ein Todesfall - Thomas Chatwin - E-Book
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Vier Schafe und ein Todesfall E-Book

Thomas Chatwin

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Beschreibung

Gemeinsam ist man schlauer als allein! Diese charmante Großfamilie ermittelt mit viel britischem Humor und Familiensinn.  Die Doyles sind eine bemerkenswerte Familie. Man streitet sich, man verträgt sich, aber vor allem hält man zusammen. Wenn Familienoberhaupt Grandma Emily ruft, kommen alle: zu den legendären Familienfesten, zum World-Porridge-Day .... oder zur Mordermittlung. Denn als ein berühmter Verleger ermordet in der Nähe seines Landhauses gefunden wird, gerät ausgerechnet Tante Chloe ins Visier der Ermittler. Zum Erstaunen der Familie hatte Chloe alle Brücken nach Cornwall abgebrochen. Unerhört bei den Doyles! Doch nun braucht sie die Hilfe ihrer Verwandten. Denn dass Chloe unschuldig ist, davon sind alle Doyles überzeugt. Um den Fall zu lösen, braucht es die Schwarmintelligenz der ganzen Familie. Wie gut, dass Enkelin Kate neben einer Schaffarm auch einen True-Crime-Podcast betreibt, ihr Vater, der gemütliche Kunsthistoriker Gilbert, eine ganz und gar nicht gemütliche Vergangenheit beim MI5 hat und vor allem Grandma Emily nicht vor höchst eigenwilligen Ermittlungsmethoden zurückschreckt…   Der Auftakt zu einer Cosy-Crime-Reihe mit Setting Südengland und der wohl lustigsten ermittelnden Familie der Kriminalgeschichte. 

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Seitenzahl: 382

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Thomas Chatwin

Vier Schafe und ein Todesfall

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Gemeinsam ist man schlauer als allein!

 

Die Doyles sind eine bemerkenswerte Familie. Man streitet sich, man verträgt sich, aber vor allem hält man zusammen. Wenn Familienoberhaupt Grandma Emily ruft, kommen alle: zu den legendären Familienfesten, zum World Porridge Day … oder zur Mordermittlung. Denn als ein berühmter Verleger ermordet wird, gerät ausgerechnet Tante Chloe ins Visier der Ermittler. Zum Erstaunen der Familie hatte Chloe alle Brücken nach Cornwall abgebrochen. Unerhört bei den Doyles! Doch nun braucht sie die Hilfe ihrer Verwandten. Denn dass Chloe unschuldig ist, davon sind alle Doyles überzeugt. Um den Fall zu lösen, braucht es die Schwarmintelligenz der ganzen Familie. Wie gut, dass Enkelin Kate neben einer Schaffarm auch einen True-Crime-Podcast betreibt, ihr Vater, der gemütliche Historiker Gilbert, eine ganz und gar nicht gemütliche Vergangenheit beim MI5 hat und vor allem Grandma Emily nicht vor höchst eigenwilligen Ermittlungsmethoden zurückschreckt …

 

Hier ermittelt die ganze Familie – mit viel Humor und Gemeinschaftssinn!

Vita

Thomas Chatwin ist promovierter Literaturwissenschaftler und ein profunder England-Kenner. Er liebt Cornwall und verbringt jede freie Minute dort. Seiner langjährigen Freundschaft mit der englischen Bestsellerautorin Rosamunde Pilcher und vielen gemeinsamen Reisen verdankt er ungewöhnlich detailreiche Einblicke in Cornwalls Alltag. Schon mit seinen drei Kriminalromanen über die ermittelnde Postbotin Daphne Penrose begeisterte Chatwin ein großes Publikum.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Heike Brillmann-Ede

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01496-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Karte von Cornwall

Prolog

Kate Doyles verstorbenem Großvater Edward zufolge – einem Richter am Londoner High Court – begannen Morde immer beängstigend harmlos. Kates Großmutter Emily sah das genauso. Ihrer Meinung nach bestand die Infamie des Bösen gerade darin, sich erst gut zu tarnen und plötzlich aus dem Hinterhalt aufzutauchen. Nicht, dass Grandma schon mal ein Verbrechen miterleben durfte, aber sie hatte eine Menge darüber gelesen – Edwards Gerichtsakten, Kriminalromane, Bücher wie Die Psyche der Massenmörder und Ermitteln leicht gemacht.

Seltsamerweise hatte keiner der vielen Doyles den bösen Tsunami kommen sehen, als er sich am vierten Juni auf die eigene Familie zubewegte. Auch Kate nicht. Erst später, bei Peggys Herbstfest und nachdem die grausamen Morde aufgeklärt waren, war Kate der verrückte Gedanke gekommen, dass Grandma vielleicht einmal zu oft und zu fröhlich ihren Lieblingssatz von sich gegeben hatte: Nichts belebt uns wie ein kleiner Mord!

1.

An diesem vierten Juni sollte nichts schiefgehen, hatte Kate sich geschworen. Für Grandmas fünfundachtzigsten Geburtstag würde wieder das alte Doyle Cottageim Mittelpunkt stehen und Grandma so gefeiert werden, wie sie es verdiente. Ihr Achtzigster vor fünf Jahren war im frischen Schmerz um Grandpas Tod zweitrangig gewesen, zumal seine Richterkollegen am High Court ausgerechnet an diesem Tag ihre würdevolle akademische Trauerfeier für ihn veranstaltet hatten.

Ein letzter Blick aus dem Schlafzimmerfenster zu den Schafen. Dass Davids Farm auf einem grünen Hügel lag, machte sie für Kate besonders liebenswert. David witzelte manchmal darüber, in welcher Weise sie gerne Überblick, Einblick oder Durchblick behielt, aber sie fand, um den Rhythmus von Tieren begreifen zu können, konnte Wissbegier nicht das Schlechteste sein.

Heute graste die Herde anderthalb Meilen entfernt unten am Meer, eine harmonische Gruppe weißer Pünktchen hinter der Düne, nicht zu übersehen in der Weite der grünen kornischen Landschaft. David hatte die Schafe morgens notgedrungen auf die Weide von Ben Jenkins treiben müssen, weil oben die Gatter erneuert werden sollten. Hinter den Tieren glitzerte idyllisch das Meer, die Wellen geschoben vom Ostwind. Weil Jenkins’ alter Weidezaun nicht gerade der stabilste war, hatte David darauf bestanden, dass sein Farmnachbar während Grandmas Geburtstagsfeier mindestens zwei Mal nach der Herde schaute. Jenkins hatte es hoch und heilig versprochen. Leider wusste man nie, wann er Durst bekam und die Sache mit einem Besuch im Pub abkürzte. Heute musste David das leider riskieren.

Auch wenn Kate schon vor zwei Jahren zu David gezogen war, staunte sie selbst noch über ihren neuen Stallgeruch als Farmerin. Für ihre Stadtfreunde blieb sie zwar die Intellektuelle, die wegen ihrer großen Liebe aufs Land gezogen war. Aber das war ihr egal. Die große Liebe hieß David Pennymore, und sie hatte ihn vor dreieinhalb Jahren auf der Hochzeit einer Verlagskollegin kennengelernt, wo David als best man des Bräutigams fungiert hatte. Er war nur zwei Jahre älter als sie, und es hatte auf Anhieb zwischen ihnen gefunkt. Da David damals noch in Exeter als Polizei-Forensiker gearbeitet hatte, sie aber in London lebte, waren sie beide in den ersten Monaten eifrig und verliebt hin- und hergependelt. Dann hatte David vor drei Jahren völlig überraschend die Schaffarm seines verstorbenen Bruders geerbt. Er hatte nicht lange überlegen müssen, um zu beschließen, selbst Farmer zu werden. Nach vierzehn Jahren als Forensiker war ihm seine Arbeit nicht mehr wirklich befriedigend erschienen, und er sehnte sich nach neuen Herausforderungen. Kate bewunderte, mit welchem Mut und welchem Enthusiasmus David sich auf die neue Herausforderung als Schafzüchter einließ. Da ihr Herz sagte, dass sie mit ihm endlich den Richtigen gefunden hatte, war sie ein halbes Jahr später zu ihm auf die Farm gezogen.

David war den Umzug von London zurück nach Cornwall wert gewesen, zumal der größte Teil von Kates Familie dort lebte. Ihre Artikel für Literaturzeitschriften und Magazine flossen auch in Cornwall aus dem kleinen schwarzen Laptop und ihr True Crime-Podcast ließ sich auch auf der Trewistle Farm mit Ideen füttern. Dank ihrer Artikel und eines gut zahlenden Sponsors für ihren erfolgreichen Podcast brauchte sie sich wegen des Ortswechsels keine Sorgen zu machen.

Jetzt, mit zweiundvierzig Jahren, war Kate mitten im Leben angekommen. Besser ging’s gar nicht. Grandma hätte ihr auch den Marsch geblasen, wenn es anders gewesen wäre.

Grandma!

Der Tag ihres fünfundachtzigsten Geburtstags war als Highlight der Familie geplant. Entsprechend gut gelaunt trat Kate vor ihren durchschnittlich bestückten Kleiderschrank, klappte die Tür mit dem Spiegel auf und hielt abwechselnd zwei Blusen vor sich. Was sollte sie zum Fest anziehen?

So unkonventionell ihre verrückte Grandma auch war, als ehemalige Tänzerin besaß sie ein festes Credo: Jedes herausragende Ereignis braucht seine Garderobe. Hochzeiten, Geburten, Finanzamtsbesuche. Und ja, sogar Verbrechen. Grandpa persönlich hatte vor fünfundzwanzig Jahren den brutalen Smoking-Mörder von Mayfair als Vorsitzender Richter lebenslang ins Gefängnis gebracht. Früher hatte Kate die Kleidungsfrage für übertrieben abgetan, heute fand sie gelegentliche Häutungen gar nicht so dumm.

Draußen vor dem Schlafzimmer herrschte ein Höllenlärm. David rollte ohrenbetäubend laut mit dem Traktor vor und zurück, weil das alte Gatter der Koppel festhing.

Kate trat ans offene Fenster und pfiff schrill auf zwei Fingern. Würzig schlug ihr der Grasgeruch der Schafweide entgegen. Auf einer Farm, so hatte sie schnell kapiert, konnten archaische Kunststücke wie Pfeifen sehr nützlich sein. Schafehüten ohne laute Pfiffe wäre wie Autofahren ohne Lenkrad gewesen.

David hob die Hand und stellte den Motor aus. Tatsächlich waren sie spät dran. Um elf Uhr begann derSektempfang und pünktlich um 12:30 Uhr das Mittagessen im Doyle Cottage. Und bei Grandma Emily bedeutete pünktlich sehr pünktlich bis überpünktlich.

Um das Geschenk der Enkel hatte sich letzte Woche Informatik-Nerd Morwenna gekümmert, mit zweiundzwanzig Jahren Kates jüngste Cousine und die Tochter von Onkel Brian. Von allen Doyles konnte Mo am unkonventionellsten denken. Verabredet war, dass das Geschenk etwas Ungewöhnliches werden sollte. Bücher, Sektkühler, Schals oder Bilder besaß Grandma mehr als genug. Also, was blieb noch?

Erst vor sieben Tagen hatte Morwenna ihren Einfall telefonisch bei Kate vorgestellt. Alle Doyles kannten Grandmas ausgereifte Krimi-Manie. Seit Jahren durchforstete und studierte sie fasziniert die Berge von echten Kriminalakten, die Grandpa Edward ihr als Richter hinterlassen hatte. Sie sah ihn als ihren Lehrmeister, was Verbrechen, Tod und Hinterlist betraf. Kein Anwalt hätte die Strategien überführter Mörder besser rekonstruieren können als Grandma. Auch die bedrohlich hohen Stapel von Kriminalliteratur in ihrem Cottage kamen nicht von ungefähr.

«Wir schenken ihr was Cooles», hatte Morwenna am Telefon verkündet. «Wir rüsten Grandma mit perfekter Kriminaltechnik aus.»

«Was heißt das?», hatte Kate überrascht gefragt.

«Alles, was Kriminalisten Spaß macht – Nachtsichtgerät, Fingerabdruckbox, Schmauchspurensicherung und einen weißen Schutzanzug für den Tatort. Ich wette, sie lacht sich schief darüber.»

Kate fand die Idee sofort perfekt, sie klang Grandma-gemäß. In Gedanken sahen sie beide, wie Grandma die Sachen stolz ihren Freundinnen vorführte.

«Großartig, Mo! Vergiss nicht, zwei Päckchen Spurengips mit einzupacken.»

«Was soll sie denn damit? Plätzchen backen?»

«Grandma findet Spurengips sinnlich. Wusstest du das nicht? Wenn am Tatort langsam der Schuhabdruck des Mörders ausgegossen wird … In Grandpas Kriminalakten kommt das ständig vor.»

«Na dann.» Morwenna musste kichern. «Lass mich loslegen.» Und so war Morwenna im Internet auf Shoppingtour gegangen.

Was musste man noch über Grandma wissen? Sie war das willensstarke Rückgrat der Doyles. Mit ihrem gesalzenen Humor hätte man kornische Sardinen einlegen können.

Seitdem Kate bewusst war, dass jede und jeder Doyle ein echtes Unikat darstellte, betrachtete sie alle wie eine Sammlung faszinierender Objekte – mit Liebe, wohlmeinendem Spott und Stolz. Allein schon Tante Anne, die behauptete, sich an den Tag ihrer eigenen Geburt erinnern zu können! Leider sei im Kreißsaal ein Fenster offen gewesen, und es hätte wie Hechtsuppe gezogen. Oder Großonkel Nathaniel Doyle, der früher als Fischereiaufseher von Schloss Windsor für die täglichen Regenwurmlieferungen an die Royals verantwortlich gewesen war.

Nach Grandma Emilys letzter Zählung existierten in Cornwall und Devon derzeit fünfundachtzig echte Doyles. Nicht eingerechnet die Angeheirateten. Dass alle so zusammenhielten, war ganz klar ihr Werk. Nach Grandpas Tod hatte sie sich komplett aus London in ihr ländliches Cottage in den kleinen Küstenort Looe zurückgezogen. In Cornwall war sie auch den Kindern und Enkeln wieder näher. Als erste Amtshandlung hatte sie den alten Weinkeller unter dem Cottage angemessen aufstocken lassen, dann die eingeschlafenen Familienfeste wiederbelebt (Punkt eins und zwei hingen für alle Doyles fest zusammen) und schließlich mit Herz und Weisheit das Familienkommando übernommen, so wie früher Grandpa. Jüngere in der Familie wie Morwenna, Oscar oder Poppy fanden Emily sowieso cool, die Älteren bewunderten vor allem ihren scharfen, kämpferischen Freigeist.

In der Pubertät und auch danach hatte Kate trickreich gegen ihre lebhafte Doyle-Herde rebelliert. Vor allem gegen ihren ruhigen Vater Gilbert. Aber irgendwann war diese Masche ausgereizt gewesen. Welcher Teenager will sich dauernd aus Protest in die falschen Männer verlieben, wenn sich keiner in der Familie darüber ärgert? Wenn Grandma nur zwinkert und sagt: «Haben sie dir schon erzählt, dass ich außer mit Elvis auch mal was mit David Niven hatte?»

Bei der Vorbereitung ihrer legendären Familientreffen legten sich die Doyles mächtig ins Zeug. Anlässe für Feste gab es viele. Wenn es ihr Spaß machte, lud Grandma auch schon mal am World Porridge Day zum Feiern. Ging es dann los, durfte sich die Party fröhlich und voller Doyle’scher Leidenschaft bis in die Morgenstunden entfalten. Als Kates Freund David Pennymore zum ersten Mal die Ehre hatte, von Kate zum Ostertreffen ins Cottage mitgeschleppt zu werden, kam er aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

So ein verrückter Doyle-Tag, wünschte sich Kate, sollte auch Grandmas fünfundachtzigster Geburtstag werden. Denn sie hatte es verdient.

Aber warum sollte das nicht klappen?

 

Zur Mittagsstunde war das gar nicht so große Cottage aus den 1940er-Jahren proppenvoll mit Doyles. Für Kate klang das kräftige Lachen von Onkel Brian, Großcousine Peggys witzige Beschreibung einer avantgardistischen Couch in ihrem Designerladen oder Morwennas Kichern wie eine Symphonie.

Der äußere Stil des Hauses mit seinem Reetdach, dem schwarzen Fachwerk und dem weißen Putz setzte sich auch innen fort. Zumindest was die Deckenbalken in den Zimmern anging. Der alte Kamin mit der Feuerstelle aus Granit verströmte im Wohnzimmer Ruhe und Charakter. Ausgesprochen gerne hätten die alten Doyles dem Haus auch ein separates Esszimmer abgeluchst, aber da war nichts zu machen. So erstreckte sich jetzt der lange, fein eingedeckte Esstisch mit den vielen Stühlen vor dem Fenster zur Straße. Für den Nachmittag hatte Grandma eine hübsche Tafel im Garten errichten lassen. Sie stand unter der hohen Zeder in der Mitte des Rasens.

Alles war so, wie die Familie es liebte. Natürlich gab es auch unter den Doyles Sorgen, überflüssige Diskussionen oder Empfindlichkeiten. Aber mit viel Glück, hoffte Kate inständig, konnte ihre Art von Familienleben noch für einige Generationen bestehen. Oder wie ihr Vater einmal gesagt hatte: Im Sommer feiern die Doyles mit dir, im Winter halten sie dich warm.

Erstaunlicherweise wollte Grandma diesmal nur im engeren Familienkreis feiern, was auch schon einen Haufen Leute ergab. Mehr wollte sie heute nicht sehen. Vier Wochen später stand nämlich schon ihr Sommerfest an. Dem entfernteren Teil der Sippe hatte sie als Trostpreis einfach kleine Ginfläschchen zum Selberfeiern nach Hause geschickt. Auf solche Ideen kam nur sie.

Kate hatte sich geschworen, auf Grandmas Geburtstag kein einziges Mal über ihr neues Leben als Schafzüchterin zu reden. Absolut nicht! Das sollte allein Grandmas Tag werden. Ihren Sektempfang und das viergängige Menü sollte sie wie eine echte Queen Mum genießen.

Doch es kam anders.

Am Ende war es Grandma selbst, die mit gewohnt spitzer Zunge die Schleusen zu diesem Thema öffnete. Zu ihrem Festtag hatte sie die weißen Haare elegant frisieren lassen und sich mit einem dunkelgrünen Seidenkleid in Schale geworfen. Für die Arbeit in der Küche hatten die Kinder diesmal die bewährte Hilfe aus dem Dorf engagiert.

Es passierte, als die junge Köchin nach dem Hauptgang (Chicken Tikka Masala) die Tafel im Wohnzimmer abgeräumt hatte. Bis zum Dessert sollte es eine kleine Verschnaufpause geben. Einige standen auf, um sich kurz zu strecken, eine zu rauchen oder vor dem Kamin einen Zwischendrink zu nehmen.

«Eigentlich wollte Myrtle ja Lammkoteletts machen», sagte Grandma, während sie der Köchin fast sehnsüchtig nachblickte. «Ich liebe Lammkoteletts! Die brät sie so was von zart!»

«Grandma!», sagte Morwenna und kicherte. Daraufhin prusteten alle los.

Emilys Blick wanderte unbeeindruckt zu Kate und David. «Was denn? Wir haben es ja gelassen. Dafür mussten nun drei Hühner dran glauben.»

«Danke, Grandma», sagte Kate lächelnd. Sie blieb völlig entspannt. Jeder von ihnen war ausreichend durch den Doyle’schen Humor gestählt.

Doch dann fing es an. Ob Großonkel Francis, Peggy, Kates Vater Gilbert, Tante Anne, ihr Sohn Harvey, Morwenna – alle hatten offensichtlich nur darauf gelauert, neue Geschichten von der Schaffarm zu hören. David stand geduldig lächelnd daneben, überließ Kate die Show und amüsierte sich über die Fragen.

«Wie hieß dein Lieblingslamm noch gleich?», fragte Kates Cousine Peggy.

«Monty», erklärte Kate. «Wir haben ihn teilweise mit der Flasche aufgezogen. Ein kleiner schwarzer Bock.»

«Hör mir auf mit den Böcken!», rief Peggy gut gelaunt vom Kamin herüber, das zweite Glas Gin in der Hand. «Nach zwei Verlobungen und meiner ersten Ehe weiß ich alles über Böcke!»

«Wir reden über Lämmer, Schätzchen», warf Onkel Francis grinsend ein. Alle in der Familie nannten ihn Seine Heiligkeitund waren stolz, dass er es heute möglich gemacht hatte zu erscheinen. Als anglikanischer Bischof sprach er sonst zwar lieber über das Lamm Gottes, aber er war weltlich genug, die Anzüglichkeiten seiner Cousine spaßig zu finden. Wie meistens sah er auch heute ausgesprochen gut aus. Sein weißer Bischofskollar im schwarzen Hemd unter dem grauen Sakko wirkte interessant.

«Was gibt es noch über Schafe zu wissen?», fragte Morwenna. «Außer dass sie fressen, wiederkäuen und eine Milliarde kleiner Köttel hinterlassen.»

Ihr Interesse war echt. Nach eigenem Bekunden hat sie erst einmal in ihrem Leben einen Bauernhof von innen gesehen, und das auch nur, weil sie sich bei Land’s End verfahren hatte. Dass Kates Freund die Farm aus heiterem Himmel von seinem Bruder geerbt hatte, faszinierte sie enorm.

«Ein weibliches Schaf heißt Aue, das männliche Bock oder Widder», erklärte ihr Kate. «Und ein Hammel – na ja, schnibbeldischnibb.» Sie machte eine Scherenbewegung mit den Fingern.

«Boah!» Der Schwere Harvey verzog angeekelt das Gesicht. Er war zweiunddreißig Jahre alt, wog einhundertdreißig Kilo und stellte sich das Prozedere gerade erkennbar für seine eigenen Teile vor. «Wie gemein!»

Grandma hatte mitgehört. «Keine Angst, das machen sie nur mit dicken Böcken, Harvey!», rief sie hinterlistig, die Dessertteller von Wedgwood in der Hand. Für sie war jeder Doyle über neunzig Kilo eine Zumutung.

Kate machte schnell weiter. «Wusstet ihr, dass Schafe Feinschmecker sind?» Sie sah in die Runde und schob sich ein Macaron in den Mund. «Wirkliche Feinschmecker.»

«Woher will man das nun wieder wissen?», erkundigte sich Harvey. «Füttert man die Viecher mit Kaviar?»

Kate erklärte es ihm so, wie David es ihr damals erklärt hatte. «Man erkennt es daran, dass Schafe selektive Fresser sind, also nur das feinste Futter rupfen und den Rest sehr lange liegen lassen.»

«Oh, das kennen wir auch von deiner Tante Anne», mischte sich Grandma ein. Sie blickte zu ihrer Tochter hinüber. «Keiner mümmelt wie sie.»

«Vielen Dank, Mum», protestierte Anne und unterdrückte ihren Schluckauf nach den aus Frankreich importierten Rübchen. «Jeder weiß, wie viele verschiedene Allergien ich habe.»

Tante Anne war die Schwester von Kates Vater und von Onkel Brian und mit dem schwersten Busen aller Doyles gesegnet. Wegen ihres geräuschvollen Atems wurde sie unter der Hand die Schnaufende Anne genannt.

«Darf ich jetzt, liebe Meute?» Onkel Brian klopfte ans Glas, erhob sich und erstickte Annes beleidigten Ton mit seiner beginnenden Geburtstagsrede.

Wie immer wurde seine Rede brillant. Grandma hörte sichtlich gerührt zu. Nur ihr Edward hatte so elegant und geistreich reden können wie ihr jüngster Sohn. Als Professor für Biowissenschaften philosophierte Brian diesmal über Grandmas familiären Ehrentitel Queen Mum, sprach über ihren legendären Weinkeller, witzelte über die vielen Flaschen in der Familie und erklärte mit raffinierten, scheinbar wissenschaftlichen Gedankenschritten, warum Grandma, wenn sie denn ein Champagner wäre, als einzige Champagnersorte der Welt unter dem Namen Champagne Emily Vintage Brut erst im fünfundachtzigsten Jahr unnachahmlich reif, wertvoll und einmalig werden würde.

Grandma stand auf, umarmte Brian stürmisch und knickste trotz ihrer dicken Beine wie früher als Tänzerin nach allen Seiten. Keiner wusste so richtig, wo sie damals getanzt hatte, nur dass sie sich «Jane Summer» genannt und unter diesem Namen eines Nachts Elvis kennengelernt hatte. Bis heute ging sie felsenfest davon aus, dass mit ihr alle Doyles stolz auf diesen erotischen Ritterschlag durch Elvis Presleys Degen waren.

Gerührt wischte Grandma sich mit Kates Serviette eine Träne aus dem Augenwinkel. «Danke, Kinder! Und jetzt will ich euch schmettern hören! Was singt ihr?»

Solange Queen Mum das Kommando behielt, musste mindestens ein Mal gesungen werden. Heute war klar, was es sein würde.

«Deine Lieblingshymne!», rief Kates Vater gut gelaunt.

Dann legten sie los. Entschlossen stimmten alle ein: «She’s a jolly good fellow, she’s a jolly good fellow …» Für Grandma gehörte das robuste, für ihre Person leicht variierte Lied auf die ewige Freundschaft zu Englands musikalischen Kronjuwelen. Seine Heiligkeit Onkel Francis übernahm souverän die Baritonführung. Seine mächtige klerikale Stimme war sonst nur in der Kathedrale von Truro zu vernehmen. Auch Großcousine Peggys Sopran machte Freude, während Kates Vater Gilbert und Cousin Harvey angestrengt um die Wette röhrten. Jetzt musste auch Kate mit den Tränen kämpfen.

Für jeden von ihnen stellte das Cottage den letzten großen Anker im Meer der familiären Vergangenheit dar. Denn so lebendig, wach und kämpferisch Grandma heute noch vor ihnen stand, so sicher würde irgendwann der Tag kommen, an dem sie ihr gewohntes Kommando abgeben musste. Kate benötigte nur etwas Küchenpsychologie, um zu durchschauen, dass sich hinter Grandmas schwarzem Humor und ihrer Faszination für Mordfälle, also für den Tod anderer, nichts als pure Angst verbarg. Angst, demnächst selbst in der langweiligen Kiste zu liegen. Nicht umsonst hieß ihr Wahlspruch: Nichts belebt uns wie ein kleiner Mord!

Während der letzten Strophe war Grandma langsam zu ihrem Geschenketisch gewechselt. Stolz postierte sie sich hinter der glänzenden Metallkiste mit Spurengips, Nachtsichtgerät, Fingerabdruckbox und Schmauchsicherung, ihr Geschenk von den Enkeln, das Geschenk überhaupt! Morwenna machte schnell ein Handyfoto. Der Familienchor verklang.

Grandma applaudierte begeistert, die Wangen unter den weißen Haaren von Sekt und Gin gerötet. «Gigantisch, Kinder! Variieren wir doch meinen Wahlspruch: Nichts belebt uns wie ein guter Song!»

Alle lachten. Dann holten sie sich ihre Gläser von der Tafel und verteilten sich wieder plaudernd im Raum.

In diesem Moment klingelte Kates Handy in der Handtasche. Sie zog es heraus und stellte es wegen der vielen Stimmen im Raum sofort laut. Am anderen Ende war Farmnachbar Ben Jenkins. Wie befürchtet rief er vom Pub aus an.

«Feiert ihr noch?» Jenkins klang nach mindestens vier, fünf konsumierten Pint Bier.

«Was gibt’s denn?», fragte Kate alarmiert.

«Nur dass ihr’s wisst», lallte er ins Telefon. «Ihr habt vier neue Ausreißer! Keine Ahnung, wie sie den Zaun aufgekriegt haben.»

Kate spürte, wie sie blass wurde. Alle im Cottage verstummten, jeder versuchte mitzuhören.

«Was heißt das, Ben? Wo sind diese vier Schafe?»

«Weg, abgehauen! Komisch ist nur das viele Blut im Gras. Sogar auf der Einfahrt vor Carringtons Strandvilla.»

«Blut?», wiederholte Kate schockiert.

Tante Anne trat zu ihr und flüsterte tröstend: «Da hatte bestimmt jemand Nasenbluten! Gott, wie ich das kenne! Ein Liter ist da schnell weg!»

Ohne darauf zu reagieren, reichte Kate ihr Handy stumm an David weiter. Auch seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert.

«Ben?», fragte er heiser. «Was genau ist passiert?»

«Dieses Blut macht mir Angst. Das … das verdammte Blut macht mir Angst!»

2.

Angespannt saß Kate während der rasanten Autofahrt neben David auf dem Beifahrersitz. Was war passiert?

Keiner von beiden redete. David machte sich vermutlich Vorwürfe, weil er gegen jede Vernunft Ben Jenkins vertraut hatte. Darüber hinaus schien er die Ruhe zu bewahren. Kate wusste, dass er nicht die Verantwortung für eine Schaffarm tragen könnte, wenn er keine guten Nerven hätte.

Passieren konnte immer etwas, schließlich gehörten zweiundfünfzig Schafe zur Farm. Mal verletzte sich ein Tier bei Rangeleien oder in Dornensträuchern, mal grassierte eine Infektion unter der Herde. Hin und wieder versuchte auch ein Schaf, bei günstiger Gelegenheit auszubüxen. Doch so, wie sich Ben Jenkins angehört hatte, erfasste Kate Angst, dass diesmal ein größeres Unglück geschehen war. Sie hoffte inständig, dass Jenkins im Suff übertrieben hatte, dass nur eines der verschwundenen Tiere eine kleine Verletzung hatte und dass ihnen ansonsten gleich vier fröhliche Ausreißer entgegentraben würden.

«Wir parken ganz unten», sagte David, während sein Pick-up die Landstraße verließ und auf den Weg Richtung Strand einbog. Bis vor ein paar Monaten war das hier ein holperiger Feldweg gewesen, jetzt hatte ihn der neue Anrainer Hugh Carrington auf seine Kosten asphaltieren lassen. Ganz unten meinte, dass sie bis vor die Düne fuhren, bei der die Weide endete.

David parkte, und sie stiegen aus. Kate nahm als Lockmittel für die vier Ausflüglereine Tüte Schafsleckerli mit, die sie immer im Handschuhfach bereithielt. Die schwarzen Gesichter der Schafe im Gatter drehten sich alle gleichzeitig in ihre Richtung. Kate glaubte, eine Spur Ironie aus ihren Augen ablesen zu können. Na, auch schon da?

Der Wind hatte gedreht und blies jetzt vom Meer über die Wiesen. Es roch nach Salz, Krabben und Seetang, Cornwalls Grundausstattung. Wie an so vielen Tagen an der kornischen Küste verstärkte der hellwolkige Himmel auch heute wieder alles Licht und ließ die Landschaft auf besondere Weise leuchten. Seit ihrer Kindheit empfand Kate diesen Zauber besonders intensiv. Mit ihrer Mutter hatte sie früher bei Sonnenschein begeistert weiße Muscheln gesammelt, in denen man nach einer kornischen Sage das Sonnenlicht aufbewahren konnte.

Es war Wochen her, seit sie zuletzt zum Joggen hier unten gewesen war. Und nur selten verirrten sich Besucher an diese kleine Bucht, wo es ja nicht mal einen Parkplatz gab. Außer der umzäunten Weide von Ben Jenkins, wilden Streifen von Adlerfarn und Wiesen voller alter Apfelbäume war hier nicht viel zu sehen.

Dennoch war der schmale graue Asphaltweg neben der Weide noch nicht ganz zu Ende. Unmittelbar vor der Düne machte er eine scharfe Rechtsbiegung und verlief ab dort parallel zum Meer und zur Düne noch knapp hundert Meter weiter bis zu dem einzigen bebauten Grundstück im Naturschutzgebiet. Dort stand die weiße Strandvilla des Verlegers Hugh Carrington, umgeben von einem hübschen Bauerngarten. Kate konnte das Haus von der Weide aus sehen. Carrington war ein Einsamkeitsfreak, das wusste sie. Er hatte sich aus dem internationalen Verlagsgeschäft zurückgezogen und galt als menschenscheu.

David war an den Weidezaun getreten und wandte sich mit beruhigender Stimme an seine Schafherde, sichtlich erleichtert, dass die achtundvierzig verbliebenen Tiere sich nicht von den vier Ausreißern hatten anstecken lassen.

«Hey, guys!», rief er in lockerem Tonfall. «Ich weiß, ihr hattet Probleme. Was war hier los?»

Ein vielstimmiges aufgeregtes Blöken antwortete ihm. Am lautesten meldete sich der Bock, nachdrücklich und fordernd. Es klang wie: Ihr solltet jetzt mal einschreiten!

Der Bock hieß Sinclair, brachte fast hundert Kilogramm auf die Waage und glaubte, seinen Harem gut im Griff zu haben. Ein Irrtum, wie Kate wusste, hinter seinem Rücken machten die Mädels, was sie wollten. Aber sein Job war nun mal der Glaube an die eigenen Hormone. Wenigstens vor seinen großen gerundeten Hörnern zeigte jeder Respekt.

Kate trat neben David an den Zaun. Da graste sie nun, die stolze Herde ihrer Scottish Blackface-Schafe. Eine Art, die aus den schottischen Highlands stammte, wie gemacht für Cornwalls sanfte Hügel und moorige Niederungen. Von mittelgroßer Statur und unkompliziert im Wesen, liebten die Tiere ihre Unabhängigkeit. Kate hätte sie alle pausenlos knuddeln können. Rechnete man die vier Ausreißer mit, glaubte man beim Anblick aller zweiundfünfzig Tiere lauter Kopien von Shaun das Schaf vor sich zu sehen, mit schwarzem Kopf, dunklen Strümpfen und flauschigem weißen Fell sowie zweiundfünfzig Paar kluge, verstehende und wissende Augen. Nur das jüngste Lamm, der kleine Monty, war vor drei Monaten mit schwarzem Fell und weißem Gesicht auf die Welt gesprungen. David wusste selbst nicht, ob Monty nur eine Laune der Natur darstellte oder aus einem unbemerkten Fehltritt seiner Mutter stammte.

Nachdem die Schafe mit David kommuniziert hatten, wandten sie sich wieder ihren eigenen Problemen zu. Sie wirkten extrem wachsam, keines fraß.

«Sie wissen was», stellte David besorgt fest. «Lass uns sehen, wer aus der Herde fehlt.» Nach ein paar Sekunden Durchzählen war die Sache klar. «Camilla, Susan, Pearl und Monty sind weg!», konstatierte David. «Das wird wieder Camilla ausgeheckt haben. Wir hätten sie auf der Farm lassen sollen.»

Camilla war ihr klügstes Schaf. Sie hatte wohl wieder einmal ihre Freundinnen zum Unfug angestiftet.

Dass Schafe gerne untereinander Freundschaft schlossen, hatte die Wissenschaft bewiesen, aber die Zusammensetzung jener kleinen Gruppe ließ selbst David staunen.

Dass neben der kräftigen, breitrahmigen Camilla, der verfressenen Susan und der lebhaften Pearl auch der kleine schwarze Monty verschwunden war, war beunruhigend. Pearl hatte ihn Anfang März auf der Weide zur Welt gebracht. So verständlich es war, dass sie ihren Kleinen auf den Ausflug mitgenommen hatte – Kate brach es das Herz. Für ein Lamm wie ihn, gerade erst drei Monate alt, lauerten überall Gefahren. Erst im vergangenen Jahr hatten Füchse und Raben eines der Neugeborenen tödlich verletzt.

Knapp zwanzig Meter vor Kate klaffte das Loch im Zaun, durch das die Schafe entkommen waren. Raffiniert hatten starke Schafshörner den Draht nach oben gebogen.

Auch das war Camillas Werk. Nur sie beherrschte den Trick, ein Stück Drahtzaun auf die Hornspitze zu drehen und dann mit Wucht den Kopf hochzureißen. Kate hätte früher nie gedacht, wie erfinderisch Schafe werden konnten, wenn sie etwas im Schilde führten. Einige schafften es sogar, aus dem Stand aus der Koppel zu springen, wenn es irgendwo etwas Interessanteres zu fressen gab.

Während David eilig mit einer Zange und einem Stück Draht aus dem Kofferraum die Stelle reparierte, machte Kate sich auf die Suche nach den vermissten Tieren.

Schon nach wenigen Metern entdeckte sie, was sie lieber nicht gesehen hätte. Eine Blutlache zwischen dem Strandhafer. Der Anblick schockierte sie, auch wenn sie durch Ben Jenkins’ Anruf darauf vorbereitet war. Ein Stück dahinter bemerkte sie weitere Blutflecken – und daneben, wie ein Siegel, ein paar Häuflein frischer Schafsköttel.

Die Spur schien Richtung Villa zu führen.

Während Kate sich der Strandvilla beklommen näherte – erst auf der Düne, dann unten auf dem Asphalt –, bereitete sie sich innerlich darauf vor, gleich ein schwer verletztes Schaf zu finden. Für Sekunden glaubte sie sogar, den metallischen Geruch des Blutes riechen zu können.

Plötzlich war David hinter ihr, wie aus dem Nichts. Gemeinsam begannen sie zu rennen, die letzten Meter an der Düne entlang, immer auf Hugh Carringtons Einfahrt zu.

Und da waren ihre Schafe! Zufrieden wie beste Freundinnen standen die drei Ladys vor der Villa, die schwarzen Mäuler in Carringtons Wildblumenwiese versenkt. Zwischen ihnen knabberte der kleine Monty an einer gefundenen Möhre und blickte nur kurz auf, als wolle er Hallo! sagen. Das Dahlienfeld entlang der Hecke war bereits blütenlos.

«Camilla!», rief Kate. «Du kleine Hexe!»

Camilla kümmerte das wenig. Ihre kräftige Gestalt mit dem breiten Rücken, auf dem die Wolle noch dichter und voller als bei anderen Schafen wuchs, drehte sich zu Kate um, als ob sie es unpassend fände, gerade jetzt gestört zu werden. Die anderen beiden Mädels fraßen unbeirrt weiter, vermutlich ahnten sie, dass der Spaß bald zu Ende sein würde. Monty beugte sich auf staksigen Beinen über eine Margerite und rupfte sie liebevoll ab. Kate war erleichtert, dass keines der Tiere eine Verletzung aufwies. Das Fell der erwachsenen Schafe war noch so weiß wie am Morgen.

Ihr Herzschlag beruhigte sich wieder – bis sie David entdeckte, der ein Stück entfernt bewegungslos und offensichtlich schockiert auf den Boden starrte. Zwischen den Ähren des hohen Weidelgrases unter ein paar Apfelbäumen waren nackte Waden und blaue Schuhe zu erkennen.

Was war da los?

Erst als Kate neben David stand, begriff sie das Ausmaß der Katastrophe. Vor ihnen lag der Körper eines etwa sechzigjährigen Mannes. Hugh Carrington! Kate erkannte ihn sofort wieder, auch wenn es nur die Fotos aus der Presse waren, die sie vor Augen hatte. Schaudernd registrierte sie, dass sein hellblaues Hemd mit Blut durchtränkt war. Ihr Blick wanderte an seinem Körper entlang, gewahrte zahlreiche Wunden, auch rechts am Hals und an seiner linken Schulter. Für einen Moment glaubte Kate, dass ihr übel werden würde, konnte das Gefühl aber abschütteln.

«Was … was sind das für Wunden?», fragte sie leise.

«Schusswunden», sagte David.

Kate schluckte. Der Anblick des Toten war nur schwer zu ertragen. «Er … er wurde erschossen … hier, auf seinem Grundstück?»

«Es sieht so aus. Und das dürfte noch nicht allzu lange her sein.»

Sie hatten beide nicht mehr an die Schafe gedacht. Wie aus dem Nichts tauchten Camilla, Susan und Pearl neben ihnen auf und beugten sich gemeinsam über die Leiche. Entsetzt wollte Kate sie verscheuchen, auch David streckte sofort die Arme von sich, um die Tiere wegzudrücken. Doch da richteten sich die Schafe schon wieder auf. Camillas große Augen mit den waagerechten Pupillen wirkten klug und wissend. Dann – als hätten sie genug gesehen – wandten sie sich alle wieder ab und trotteten zurück zu ihren Blumen.

David drehte sich zu Kate um, in der Hand sein Telefon. «Ich rufe jetzt die Polizei», sagte er. «Bringst du die Schafe zurück zur Weide?»

Er strich Kate sanft über die Wange. Sein Mitgefühl für ihre Betroffenheit angesichts des Toten tat ihr gut. Dann schien er Haltung anzunehmen. Konzentriert und entschlossen nahm er erneut den Tatort in den Blick und agierte wieder als der, der er bis vor drei Jahren gewesen war. Die ungeliebte Forensik hatte ihn zurück.

 

Das Warten auf die Polizei kam Kate endlos vor. Angesichts der vielen schmalen, kurvenreichen und mauergesäumten Landstraßen in Cornwall brauchte zwar alles seine Zeit, aber diesmal hätte Kate den Uhrzeiger am liebsten vorgedreht. Ungeduldig lehnte sie an einem der Apfelbäume und hoffte, dass alles schnell vorüberging. Die vier Schafe befanden sich inzwischen wieder sicher beim Rest der Herde auf Ben Jenkins’ Weide.

Immerhin war das Crime Unit Team der Polizei bereits auf dem Weg. Normalerweise wären die Ermittler aus Bodmin zuständig gewesen, dochein Sergeant hatte David am Telefon erklärt, dass heute eine Vertretung aus Plymouth zuständig wäre unter der Leitung einer gewissen Kirstie Scott. Krankmeldungen und Urlaubszeit hätten die Teams stark reduziert. David und Kate ahnten, was das bedeutete. Wenn sie Pech hatten, betrat gleich ein ortsunkundiger Chief Inspector den Tatort.

Während der Wind vom Meer zulegte, wie so oft am Nachmittag, und es merklich kühler wurde, bewegte sich David wie in Zeitlupe durch den Garten. Wo ihm etwas auffiel, blieb er stehen und diktierte eine kurze Beschreibung in sein Handy. In seinen Jahren als Forensiker bei der Polizei in Exeter hatte er viele Leichen in Augenschein nehmen müssen.

Kate war Hugh Carrington nur einmal kurz bei einem Spaziergang begegnet, obwohl seine Villa so nah an der Trewistle Farm lag. Eigentlich hätte er sich damals bei David als neuer Nachbar vorstellen müssen. Nur Kates Vater, Gilbert Doyle, hatte engeren Kontakt mit dem Verleger gehabt. Als Kunsthistoriker hatte er Carrington dabei beraten, wie der seltene, über hundert Jahre alte Eiskeller im Garten der Villa fachgerecht restauriert werden konnte.

Kate schielte noch einmal zu dem Toten hinüber, gleichermaßen fasziniert und schockiert. Sie produzierte einen Podcast über reale Kriminalfälle, eigentlich müsste sie den Anblick einer Leiche doch aushalten können, oder? Ihr fiel auf, dass Carringtons Kinn wie bei Kirk Douglas gespalten war. Zwei tiefe Falten rechts und links der Nase machten das Gesicht markant.

Aus welchem Grund hatte dieser Mann sterben müssen? Vermutlich war Grandmas Einschätzung richtig, und Morde faszinierten bei aller Grausamkeit stets auch durch ihre verborgenen, düsteren Geheimnisse. Aber einen Ermordeten zu finden, das hatte selbst Grandma noch nicht geschafft.

Plötzlich musste Kate wieder an ihr kleines totes Lamm vom vergangenen Frühjahr denken. Für Schafe war der Tod allgegenwärtig, obwohl David ihr geschworen hatte, dass die Tiere seiner Farm, wenn überhaupt, ausschließlich zu Zuchtzwecken weitergegeben wurden. Und doch gab es selbst unter Schafen Verräter, wie Kate wusste. Um die Angst der Tiere vor dem Schlachtermesser zu überwinden, hatte man früher in Frankreich sogenannte Judasschafe ausgebildet. Sie hatten die Aufgabe, ihre ahnungslosen Genossen bis in die Schlachterei und damit in den sicheren Tod zu führen. Der Gedanke daran konnte Kate Tränen in die Augen treiben.

Auf dem Asphalt neben der Düne flackerte Blaulicht auf. Endlich! Es waren zwei Fahrzeuge, ein gelb-blauer Streifenwagen mit zwei Constables und ein Minibus. Während die Constables flott ihre Absperrbänder aus dem Kofferraum holten, wurde die Tür des Busses scheinbar zögerlich aufgeschoben. Sich umblickend, stiegen eine Frau und zwei junge Männer aus. Die Männer trugen bereits die weißen Anzüge der Spurensicherung, während die etwa fünfzigjährige Frau zivil gekleidet war. Ganz offensichtlich handelte es sich bei ihr um die zuständige Ermittlerin.

Sie wirkte sympathisch, wenn auch ein wenig zurückhaltend. Kate gefiel, dass sie es hier mit einer Frau zu tun hatten. Bei ihren Podcast-Interviews waren ihr männliche Detectives begegnet, die eher arrogant aufgetreten waren. Scott wirkte anders. Mit ruhigem Blick schaute sie sich erst mal auf dem Gelände um, als wollte sie sich gleich zu Beginn alle Gegebenheiten einprägen. Sie war mittelgroß und dunkelblond, gekleidet in Jeans, mit einem hellen Pulli und einer dunkelblauen Jacke darüber. Das Sportliche an ihrer Figur ließ Kate vermuten, dass sie oft körperlich trainierte.

David ging der kleinen Truppe entgegen und stellte sich und Kate vor.

Die Beamtin war tatsächlich Detective Chief Inspector Kirstie Scott. Ihre Stimme klang ruhig und sachlich. Obwohl sie zur Polizeieinheit Plymouth gehörte, hatte sie den Namen des ehemaligen Exeter-Kollegen und Forensikers David Pennymore bereits gehört. DCI Scott reichte auch Kate ihre kräftige Hand. «Kate Doyle? Machen Sie diesen Kriminal-Podcast?»

«Ja, seit drei Jahren.»

DCI Scott lächelte. Es war ein freundliches, wenn auch etwas bedecktes Lächeln. «Interessant, was Laien so alles auf die Beine stellen.»

War die Bemerkung Lob oder Kritik?, fragte sich Kate irritiert. Scotts Stimme nach tendierte sie eher dazu, eine kleine Botschaft daraus ablesen zu können: Wer in ungelösten Kriminalfällen stocherte, nahm die Polizei nicht ernst. Also besser Finger weg!

Kirstie Scott ließ Kate stehen und folgte David zu den beiden Spurensicherern. Er hatte von Scotts Worten nichts mitbekommen.

Während sich die vier unterhielten, versuchte Kate, sich ein genaueres Bild von der Ermittlerin zu machen. Sie fand DCI Scott immer noch sympathisch, trotz der kleinen Bemerkung über den Podcast. Das war Scotts gutes Recht. Ihr Blick wirkte aufgeschlossen, aber auch ein klein wenig kämpferisch, als wüsste sie ihre Interessen gut zu verteidigen.

David schilderte der Ermittlerin, wie Kate und er den Ermordeten gefunden hatten. Fragend blickte er die beiden weiß verhüllten Gestalten an. «Wie wollt ihr diese vielen Spuren denn zu zweit sichern?»

«Die Forensik ist derzeit knapp besetzt», mischte sich DCI Scott ein. «Aber wenn wir Glück haben, kommt bald ein zweiter Wagen.»

Kate spürte Davids Fassungslosigkeit angesichts des sehr überschaubaren Ermittlerteams und war dankbar, dass in diesem Moment ihr Handy klingelte.

Es war Grandma.

«Wo bleibt ihr denn, Schätzchen? Die ersten Gäste gehen schon wieder.»

Kate gab sich verhalten. «Wir sind noch beim Strand, Grandma. Es gibt ein paar Probleme.»

«Wenn du schon so anfängst!» Grandma klang verärgert. «Dein kleiner Bock hängt hoffentlich nicht im Zaun und ist jetzt ein Hammel?»

«Nein, Monty geht es gut.»

«Also stammt das Blut von jemand anderem?» Grandmas Stimme wurde wieder freundlicher. «Los, erzähl!»

«Hier beim Strand ist jemand ermordet worden … genau genommen nicht am Strand, sondern in der weißen Villa davor.» Im Hinblick auf Grandmas schlagartig ausgefahrene Antennen beschloss Kate, ihr lieber gleich die Wahrheit zu sagen. «Hugh Carrington ist tot. Der Verleger. Erschossen.»

«Ach du dickes Ei!», stieß Grandma hervor.

«Grandma, bitte reg dich nicht auf. Keiner kannte ihn ja so richtig …», sagte Kate in dem Versuch, sie zu beruhigen.

«Unsinn! Ich kannte ihn!» Grandmas Stimme klang betroffen und gleichzeitig erbost. «Dieser Esel! Schenkt mir einen neuen Computer und lacht, wenn ich ihm da draußen eine Alarmanlage empfehle.»

Kate glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

3.

In GrandmaEmilys Jahreskalender, der an der Küchenwand hing, waren Tag und Uhrzeit des Mordes an Hugh Carrington bereits anderthalb Stunden nach dem Auffinden der Leiche in Rot vermerkt:

Exitus Hugh Carrington

4. Juni zw. 13 und 14 Uhr

So was machte sie stets sorgfältig.

Das Wort Exitus hatte sie sich aus den Gerichtsakten ihres verstorbenen Mannes angeeignet und benutzte es immer noch gern. Es klang wunderbar. Für sie gehörte es ebenso zu einem interessanten Fall wie die Begriffe Ermittlungsakte, Materialspuren oder Leichenöffnung. Sie liebte die plastische Sprache der Kriminalisten.

Dass sie Hugh Carringtons Namen im Kalender eintragen musste, betrübte Emily allerdings sehr. Carrington und sie hatten sich zwar erst seit ein paar Wochen persönlich gekannt, aber so viel stand fest: Seine Ausstrahlung war immer gentlemanlike gewesen. Der Himmel möge es ihm im Jenseits gemütlich machen.

Genau das hatte Emily vorhin auch zu Kate gesagt. Natürlich war ihre Enkelin entsetzt gewesen, dass Emily das Mordopfer gekannt, der Familie aber kein Sterbenswörtchen mitgeteilt hatte. Aber manchmal ging es nun mal nicht ohne Geheimnisse. Das sollte auch Kate langsam lernen.

Jeder in der Familie wusste, dass Kate Grandmas Lieblingsenkelin war. Denn Kate war herrlich fantasiereich, nach ihrem Studium in Oxford herrlich klug und dabei herrlich eigenwillig wie die meisten Doyles. Auch dass sie sich in David Pennymore verliebt hatte, gereichte ihr zur Ehre. Einen wie ihn hätte Emily sich früher auch geschnappt, nur das Leben auf der Trewistle Farm und Davids blökende Schafe wären vielleicht nicht ganz nach Emilys Geschmack gewesen.

Inzwischen war es sechzehn Uhr geworden, in Emilys Cottage herrschte wieder Stille, nachdem sich die Geburtstagsgäste rücksichtsvoll verzogen hatten. So gerne die Doyles sonst auch feierten, sie blieben immer Realisten. Ein Mord in nur wenigen Meilen Entfernung war nun mal der Stimmungskiller schlechthin. Außerdem steckten Kate und David nach wie vor am Tatort fest, Brian als Professor hatte an der Uni abends einen Vortrag zu halten, und Peggy war wegen eines Geschäftstermins früher als sonst auf dem Absprung gewesen.

Der Kern der Doyles wohnte zu Emilys Freude nicht weit von ihrem Cottage im pittoresken Fischerort Looe entfernt, fast alle im Umkreis von zwanzig Meilen an Cornwalls Südküste. Kates und Davids Farm lag auf einem Hügel oberhalb von Sealton Beach, während Peggy mit ihrer Familie im Dorf Sealton selbst lebte. Emilys Tochter Anne und ihr Sohn Harvey waren im hübschen Ort Fowey mit seinem Hafen zu Hause, und Kates Vater Gilbert wohnte in Torpoint nahe dem Herrenhaus Mount Edgcumbe. Nur Emilys jüngster Sohn Brian, seine Frau und seine Tochter Morwenna lebten in Plymouth und gehörten damit bereits zur Grafschaft Devon. Aber was waren schon die paar Meilen zwischen ihnen allen, wenn es um die Familienbande ging?

Im Grunde tat es Emily gut, wieder allein zu sein. Allein zu sein, um über die Sache mit Hugh Carrington nachzudenken und ihre Schlussfolgerungen zu ziehen.

Fünf Wochen war das jetzt her. Nein, sechs. Bis dahin kannte Emily den Namen Hugh Carrington vor allem durch zwei große Berichte in der Presse. Erst hatte der Verleger seinen vielfältig verzweigten H. H. Carrington News Verlag im vergangenen Jahr an drei seiner Chefredakteure verkauft, dann war kurz darauf seine komplette Kunstsammlung als Geschenk an die Londoner Tate Gallery gegangen. Emily imponierte auch, dass Carrington sich ausgerechnet hier, im stillen Cornwall, endgültig niederlassen wollte. Wichtigtuerische Menschen taten das eher nicht.

Dann, vor sechs Wochen, hatten Emily und er am Gemüsestand des Supermarktes zufällig nach derselben gigantisch großen Gurke gegriffen. Ihr war sofort klar gewesen, wer da neben ihr stand. Natürlich hatte Carrington die Gurke, charmant lächelnd, Emily überlassen. Dabei war ihr die Bemerkung entschlüpft, dass sie es mit der vermutlich letzten EU-Gurke Englands zu tun hätten, und er hatte schlagfertig darauf geantwortet.

Während sie beide plaudernd und die Einkaufswagen vor sich herschiebend zur Obstabteilung weitergewandert waren, hatte Carrington sich mit einer Verbeugung vorgestellt. Wie sich herausstellte, kannte er Emily Doyles Sohn Gilbert bereits. Dieser hätte, so Carrington, den alten Eiskeller seiner Villa restauriert, was Gilbert später auf Nachfrage seiner Mutter bestätigt hatte.

Von da an begegneten Carrington und Emily sich jeden Freitagvormittag um zehn Uhr am Gemüsestand, ohne dass es dazu eine Verabredung geben musste. Irgendwann hatte sie ihn deshalb ihren Gemüse-Stalker genannt. Er hatte kräftig gelacht, das war genau sein Humor. Meist gingen sie nur bis zum Brotshop oder bis zum Süßigkeitenregal zusammen weiter, plauderten ein bisschen und trennten sich dann gut gelaunt.

Emily dachte nach.

Genau genommen war ja nur sie es gewesen, die hin und wieder stolz ein paar Dinge über ihre Familie erzählt hatte, vor allem über ihre Kinder und Enkel. Davon konnte er anscheinend nicht genug hören. Über sein eigenes Leben gab Hugh Carrington dagegen nur wenig preis. Außer, dass er seine Liebe zum Garten neu entdeckt hatte, gerne Muffins aß und Kunst liebte. Darüber hinaus hatten sie einmal über die vielen Wohnungseinbrüche in London gesprochen. Emily hatte ihm geraten, sich in seiner abgelegenen Villa am Strand eine Alarmanlage zuzulegen, vor allem wegen seiner Prominenz. Aber das hielt er für Unsinn. Seine Einfahrt habe er dank eines kleinen Tricks immer gut im Blick, hatte er gemeint. Außerdem wolle er hier auf dem Land nur noch ein ganz normaler Pensionär sein.

«Ich mag den großen Rummel nicht mehr», hatte er Emily gestanden. Seine Bescheidenheit klang glaubhaft. «Sicher, es wird immer Menschen geben, die mir etwas neiden. Aber das kümmert mich nicht. Das Schicksal hat mich zum Glück einiges dazulernen lassen.»

«Dann schenke ich Ihnen einen Hund», hatte Emily mütterlich-streng entschieden.

«Nein danke.» Lachend war Carrington mit zwei Kilo Äpfeln und einer Ananas zur Waage gegangen. «Dafür bin ich nun wieder zu viel unterwegs.»

Das letzte Mal hatten sie sich vor zwei Wochen getroffen. Emily war etwas still gewesen, weil morgens ihr braver alter Computer seinen Geist aufgegeben hatte. Carrington versuchte, sie zu trösten. Diesmal war er nur bis zu den Cornflakes mitgegangen, weil er nachmittags nach Dublin fliegen musste.

Zwei Tage später hatte ein Techniker aus Truro an Emilys Tür geklingelt, um im Auftrag von Mr Carrington einen neuen Computer in ihrem Arbeitszimmer zu installieren. Emily war sprachlos gewesen. Auf der Karte, die dabei lag, wünschte ihr der Verleger viel Vergnügen. Er hatte nur eine Bedingung für sein Geschenk, Emily durfte die Sache nicht an die große Glocke hängen, auch ihrer Familie sollte sie nichts erzählen. Für einen Moment hatte sie gezögert, ob sie das generöse Geschenk überhaupt annehmen sollte. Aber sie wollte Carrington nicht enttäuschen.

Am vergangenen Freitag wollte sie ihm dann im Supermarkt danken. Dafür hatte sie extra einen Apfelkuchen gebacken, den gleichen, den auch der langjährige Präsident des High Courts jedes Jahr zu Ostern von ihr bekam. Doch Hugh Carrington war nicht erschienen.

Warum hatte er das mit dem Computer getan? Und warum war er überhaupt immer so pünktlich an dem Gemüsestand aufgetaucht?

Von Gilbert wusste Emily, dass während der Eishausarbeiten stets eine Haushälterin die Tür der Villa geöffnet hatte. Ging diese Frau denn nicht für ihren vielbeschäftigten Chef einkaufen?

Noch etwas fiel Emily ein. An einem der Freitage hatte sie den Eindruck, dass Carrington von der abgelegenen Getränkeabteilung aus sein Handy auf sie gerichtet hielt und sie fotografierte. Doch dann glaubte sie sich geirrt zu haben. Während ihres zweiten Blicks hatte er nur hastig auf dem Handy rumgetippt.

Was, wenn das alles kein Zufall gewesen war? Was, wenn er sie kennenlernen wollte?

Wenn sie dreißig Jahre jünger gewesen wäre, hätte sie sich natürlich geschmeichelt gefühlt. So aber fielen ihr nur zwei schnöde Gründe ein, keiner angenehmer als der andere. Entweder war dieser Mann gerontophil (allein das Wort ließ Emily schaudern). Oder er war aus irgendeinem Grund am Leben der Familie Doyle interessiert.

Denn es gab da noch eine Ungereimtheit. War Hugh Carrington nicht von sich aus wegen der Eishausrenovierung auf Gilbert zugekommen? Obwohl ihr Sohn gar keine entsprechende Firma betrieb, sondern als Kunsthistoriker das berühmte Herrenhaus Mount Edgcumbe sowie einige Museen beriet. Kaum jemandem war bekannt, dass er vor Jahrzehnten als Student an zwei Eishausprojekten in Bristol mitgeforscht hatte. Hatte Carrington davon gewusst? Gilbert jedenfalls hatte sich zwar über seinen Auftrag gewundert, jedoch nicht dezidiert nachfragen wollen.

Emily fühlte ein Kribbeln im Nacken, das Kribbeln der Aufregung. Zu spüren, dass sich irgendetwas Merkwürdiges anbahnte, ließ sie beschwingt werden. Bei allem angebrachten Mitleid mit Carrington, plötzlich stimmte er wieder, ihr Satz – dass nichts so belebend wirkte wie ein kleiner Mord.

Natürlich nur, wenn man nicht selber die Leiche war.

Sie wanderte gut gelaunt von der Küche durch den Flur zu ihrem holzgetäfelten Arbeitszimmer und summte dabei vor sich hin. Der Raum lag an der Gartenseite des Cottage. Zuverlässig knarrten beim Gehen die alten Dielen unter ihren Füßen.