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Still ruht die See an der deutsch-dänischen Ostseeküste – Der erste Fall für Biografin Sara Leuze Sara Leuze hat den Auftrag, die Biografie des Hotelmanagers Lukas Brauer zu schreiben. Während einer Sitzung gesteht er ihr, dass er eine Schuld mit sich trägt, die er ihr beichten möchte. In der darauffolgenden Nacht erhält Sara einen Anruf von ihrem Klienten, versteht jedoch kein Wort. Alarmiert eilt sie zu ihm ins Hotel. Doch es ist bereits zu spät: Lukas Brauer liegt tot in der Badewanne. Da die Todesursache ungeklärt ist, werden Hauptkommissar Johann Jessen und sein Team von der Flensburger Kripo informiert. Für die Polizei sieht alles nach einem Unfall aus. Sara fühlt sich jedoch verfolgt und ist sich sicher, dass der Tod kein Zufall war …
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Mörderische Förde
CHRISTA S. LOTZ, geboren 1950, wuchs an der Flensburger Förde auf, bevor sie in ihre Wahlheimat im Süden Deutschlands zog. Sie studierte an der Universität Tübingen, arbeitete als Diplom-Pädagogin vor allem mit traumatisierten Menschen und unternahm ausgedehnte Reisen in Europa und Übersee. Im Jahr 2004 veröffentlichte sie ihren ersten Roman über den Dichter Eduard Mörike, der große Beachtung in den Medien fand. Seitdem hat sie weitere historische Romane und historische Krimis veröffentlicht. Heute lebt sie in einer kleinen Stadt am Rande des Schwarzwalds. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, geht sie mit ihrem Lebensgefährten wandern, fotografiert oder macht Ausflüge, die sie zu neuen Geschichten anregen.
Still ruht die See an der deutsch-dänischen Ostseeküste – Der erste Fall für Biografin Sara Leuze
Sara Leuze hat den Auftrag, die Biografie des Hotelmanagers Lukas Brauer zu schreiben. Während einer Sitzung gesteht er ihr, dass er eine Schuld mit sich trägt, die er ihr beichten möchte. In der darauffolgenden Nacht erhält Sara einen Anruf von ihrem Klienten, versteht jedoch kein Wort. Alarmiert eilt sie zu ihm ins Hotel. Doch es ist bereits zu spät: Lukas Brauer liegt tot in der Badewanne. Da die Todesursache ungeklärt ist, werden Hauptkommissar Johann Jessen und sein Team von der Flensburger Kripo informiert. Für die Polizei sieht alles nach einem Unfall aus. Sara fühlt sich jedoch verfolgt und ist sich sicher, dass der Tod kein Zufall war …
Christa S. Lotz
Ein Ostsee-Krimi
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinOktober 2020 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95819-303-1
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
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Epilog
Nachwort
Leseprobe: Martinsmorde
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Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
1.
Dieser Sommer war einer der heißesten, die Sara jemals erlebt hatte. Es war so heiß, dass der Asphalt auf den Straßen zu schmelzen drohte. Der Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken herab. Die Luft waberte, der Geruch nach Meer und vertrocknetem Tang wehte zu ihr herüber. Silbermöwen hockten stumm auf den Pfählen. Wenn die Sonne unterging, würden sie wieder lebendig werden, aufflattern und am Strand entlangspazieren, um nach Muscheln und Krebsen zu suchen.
Sara blickte von ihrer Terrasse aus aufs Meer hinaus, spürte jedoch keinen Windhauch. Auch später kühlte es nicht ab. Am Abend war es Sara nicht möglich einzuschlafen. Sie wälzte sich hin und her, warf die Decke beiseite, stand auf, lief ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Erst danach begann sie endlich wegzudösen.
Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Ein Brummen hatte sie geweckt. Ihr T-Shirt war völlig durchgeschwitzt. Schlaftrunken tastete sie nach ihrem Smartphone und schaute aufs Display. Sie erkannte die Nummer von Lukas Brauer, ihrem Kunden, für den sie gerade eine Biografie schrieb. Wieso rief er so spät an? Sie räusperte sich. »Hallo, Herr Brauer?«
Statt einer Antwort drang ein Keuchen aus dem Hörer. Im Hintergrund hörte Sara das Rauschen von Wasser.
»Herr Brauer, was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«
Keine Antwort.
Da stimmte doch was nicht. Sara hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Brauchen Sie einen Arzt, Herr Brauer? Bitte antworten Sie mir doch!«
Ein leises Krachen ertönte, als wäre sein Smartphone auf den Boden gefallen.
»Herr Brauer!«, schrie sie ins Telefon. Doch die Verbindung war bereits unterbrochen.
Sara wählte die Nummer des Hotels, in dem Brauer als Resident-Manager arbeitete. Es klingelte einmal, zweimal, fünfmal, doch niemand ging ran. Sie trommelte mit den Fingern auf der Bettkante herum. Schließlich sprang sie aus dem Bett, zog sich in Windeseile an und eilte hinaus.
Schwülwarme Luft schlug ihr vom Meer entgegen und trug Salzgeruch herüber. Am Horizont flammte ein Wetterleuchten. Sie schwang sich hinter das Steuer ihres Wagens und fuhr los. Bis zum Hotel brauchte sie etwa zwanzig Minuten. Der Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken hinunter, ihre Hände klebten am Lenkrad. Hoffentlich kam sie nicht zu spät. Sie trat stärker aufs Gaspedal. Endlich erreichte sie den Parkplatz des Hotels Europa und eilte ins Foyer. Der Platz hinter dem Tresen war leer. Sara drückte auf die Klingel, die den Portier benachrichtigen sollte, wieder und wieder. Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Das konnte doch nicht wahr sein. Endlich schlurfte der Nachtportier herein und gähnte.
»Lukas Brauer hat mich angerufen«, rief sie ihm zu. »Er war offensichtlich nicht mehr fähig zu sprechen. Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Da ist was passiert!«
Er kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Die Rezeption ist nicht rund um die Uhr besetzt«, brummte er. »Wissen Sie, wie spät es ist? Drei Uhr in der Früh. Da dürfen wir niemanden stören.«
Ihr stieg das Blut in den Kopf. »Er braucht dringend Hilfe!«
»Er hat sich heute Abend schon früh in seine Suite zurückgezogen. Und er fühlte sich tatsächlich nicht gut. Wissen Sie, in welchem Zimmer er wohnt?«
»Ja, ich war schon dort, ich kenne mich aus.«
»Dann gehen Sie schon mal hinauf. Ich suche inzwischen den Schlüssel heraus.«
Sara lief einen Spiegelgang entlang und fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Sie eilte zur Tür seiner Suite und klopfte. Nichts rührte sich. Sie hämmerte lauter an die Tür. Keine Reaktion. Der Portier kam schnaufend angerannt, den Ersatzschlüssel in der Hand. Nachdem er umständlich aufgesperrt hatte, lief sie in die Wohnung, der Portier folgte ihr. Saras Puls raste. Fieberhaft durchsuchte sie das Wohnzimmer und das Schlafzimmer. Brauer war nirgends zu sehen. Als sie die Tür zum Bad öffnete, erschrak sie. Ein saurer Geruch schlug ihr entgegen.
Lukas Brauer lag mit weit offenen Augen angekleidet in der Badewanne, die Haut seines Gesichts und seiner Hände war bläulich-weiß verfärbt, der Mund weit geöffnet. Es wirkte, als hätte er noch einmal um Hilfe gerufen. Sara versuchte, den leblosen Körper aus der Wanne zu ziehen, doch er entglitt ihr und rutschte zurück ins kalte Wasser. Der Portier fühlte nach dem Puls an Brauers Halsschlagader.
»Kein Lebenszeichen«, sagte er. »Mein Gott. Er hat wohl einen Herzschlag erlitten.«
Sara hatte das Gefühl, sich in einem Albtraum zu befinden. Und es wurde mit jeder Sekunde schlimmer. Neben der Toilette bemerkte sie Erbrochenes, eine Wodkaflasche lag zersplittert auf dem Boden. Daneben sein Telefon mit zerbrochenem Display. Nervös fingerte sie ihr Smartphone aus der Tasche und wählte den Notruf. Der Portier klingelte inzwischen den Hoteldirektor und die Angestellten aus dem Schlaf. Sara ließ sich in einen der Sessel im Wohnzimmer fallen und überlegte krampfhaft. Was war gestern Nachmittag geschehen, als sie das letzte Gespräch mit Herrn Brauer geführt hatte? Er hatte gesagt, er wolle ihr bei der nächsten Sitzung etwas Brisantes erzählen. Etwas, das auf ihm lastete wie ein Zentnergewicht und das er seit fünfzehn Jahren mit sich herumtrug. Sein Gesicht war totenbleich und mit Schweißperlen bedeckt gewesen.
Endlich hörte Sara das Martinshorn. Gleich darauf stürzte der Notarzt, gefolgt von zwei Sanitätern mit Trage, in die Wohnung und ließ sich von Sara den Weg zum Bad zeigen. Einige Zeit später kehrte er ins Wohnzimmer zurück; seine Miene war bekümmert.
»Wir haben alles versucht, leider vergeblich.« In seinen müden Augen stand eine unausgesprochene Frage.
»Ich bin von Beruf Biografin«, beeilte sie sich zu sagen. »Herr Brauer ist mein Kunde, ich schreibe seine Biografie. Beziehungsweise war er es. Vor etwa einer Dreiviertelstunde hat er mich angerufen, sich aber nicht gemeldet. Er klang, als befände er sich in Lebensgefahr.«
»Hat er davon gesprochen, sich umbringen zu wollen?«
»Nein, von Selbstmordgedanken war nie die Rede.«
»Litt er an einer Epilepsie?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Ich habe keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, Abwehrverletzungen wie abgebrochene Fingernägel oder Hämatome, bemerkt«, fuhr der Arzt fort. »Eher scheint er unter starkem Alkoholeinfluss gestanden zu haben. Vielleicht hat er sich zur Abkühlung in die Badewanne gelegt, ist ohnmächtig geworden und ertrunken. Näheres wird nur eine Obduktion ergeben. Wir ziehen in solchen Fällen immer die Kriminalpolizei hinzu. Ich werde die Kollegen verständigen.«
Sara setzte sich wieder ins Wohnzimmer, auf einen veloursbezogenen Sessel. Sie stützte den Kopf in die Hand, fühlte sich müde und erschöpft. Was war da mitten in der Nacht geschehen? Gestern Nachmittag schien doch mit Brauer alles in Ordnung zu sein. Bis auf die Nervosität. Er war im Begriff gewesen, ihr etwas Wichtiges mitzuteilen, eine Schuld zu beichten, etwas, das seinem Leben eine entscheidende Wendung gegeben hatte.
Zwanzig Minuten später waren die Kollegen da. Der eine, ein etwa vierzigjähriger Mann mit vollem, an den Schläfen leicht ergrautem Haar, kam mit energischen Schritten herein. Er war mit Jeans und Hemd bekleidet. In seinen Augen lag ein wacher Ausdruck. Der weiß, was er will, dachte Sara.
»Mein Name ist Johann Jessen, Kriminalhauptkommissar von der Kripo Flensburg, und das ist Kommissarin Linda Mattheus.«
Die Kollegin war blond, etwas pummelig und trug ihr Stupsnäschen selbstbewusst vor sich her. Sie nahmen Saras Personalien auf; der Notarzt berichtete, wie er Brauer vorgefunden hatte und was er als Todesursache vermutete. Inzwischen waren die Leute von der Spurensicherung eingetroffen und verteilten sich in der Wohnung. Jessen wandte sich an Sara.
»Auf dem Balkon können wir ungestört reden. Hier stehen wir nur im Weg.«
Vom Balkon aus hatte Sara einen Blick auf das Tal der Krusau. Es dämmerte. Die Lichter der Gebäude glänzten im Morgennebel, und die Vögel begannen in den Bäumen zu zwitschern.
»Sie sind die Biografin von Herrn Brauer?«, fragte er. »Schildern Sie doch bitte, was sich zugetragen hat.«
Sara räusperte sich.
»Ich war mit Herrn Brauer an einem entscheidenden Punkt der Biografie angekommen. Er wollte mir heute etwas Wichtiges mitteilen. Gegen drei Uhr nachts kam ein Anruf von ihm, aber er meldete sich nicht, ich hörte nur einige Geräusche am Telefon, dann war die Verbindung unterbrochen. Ich bin sofort losgefahren und habe den Portier alarmiert. Der ist dann mit mir hoch zu Herrn Brauers Wohnung und hat aufgeschlossen. Da haben wir ihn gefunden.«
»Ist Ihnen bei dem Telefonat etwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Linda Mattheus.
»Nein, außer dass er sich nicht äußerte.«
»Das passt ja zu der Wodkaflasche und dem Erbrochenen«, stellte Jessen fest. »Hatten Sie während des Schreibens der Biografie den Eindruck, Brauer wäre depressiv?«
Sara überlegte. »Das hat mich der Notarzt schon gefragt. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als bedrücke ihn irgendetwas, aber er wollte nicht darüber sprechen. Jedenfalls nicht bis jetzt.«
»Hat er angedeutet, was das war?«, warf Linda Mattheus ein.
»Er meinte, er hätte eine schwere Schuld auf sich geladen. Zu Beginn der Gespräche hat er gesagt, er fühle sich unzulänglich und einsam. Er würde gern seinem Leben einen neuen Sinn geben. Aber er wollte noch eine Nacht darüber schlafen.«
Der souveräne Blick war aus Jessens Augen verschwunden. Er schaute sie nachdenklich an. »Der Notarzt hat keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung gefunden. Hat Herr Brauer jemals Suizidgedanken geäußert?«
Sara spürte, wie ihr das Wasser in die Augen stieg. Eine Träne rollte ihr die Wange hinab. Jessen zog eine Packung Papiertaschentücher aus seiner Jackentasche und reichte ihr eines davon. Sie schnäuzte sich.
»Nein, im Gegenteil. Er hatte vor, sein Leben zu ändern und war in einer Art Aufbruchsstimmung.« Ihr kam ein weiterer Gedanke. »Da war noch etwas. Mein Computer hat sich gestern aufgehängt, und ein Experte sagte mir am Telefon, er wäre unter Umständen gehackt worden.«
Jessen schaute skeptisch, Lindas Mundwinkel verzogen sich. Die beiden hielten sie wohl für überspannt.
»Denken Sie, das hatte etwas mit dem Todesfall zu tun?«, fragte Jessen.
»Na ja, vielleicht hat jemand die Biografie von Herrn Brauer gelesen und wollte verhindern, dass er redet.«
Jessen schüttelte den Kopf.
»Das hört sich unwahrscheinlich an.«
»Der Experte meinte, der Computerabsturz könnte viele Ursachen haben, Viren, Trojaner, aber es könnte auch ein Zeichen dafür sein, dass der Computer gehackt wurde.«
»Warum sollte sich jemand die Mühe machen, den Computer zu hacken? Wenn er Herrn Brauer beseitigen wollte, hätte er doch direkt zuschlagen können.«
»Ich glaube, es hing mit der Beichte zusammen, die Herr Brauer bei mir ablegen wollte. Vielleicht hätte er jemanden damit belastet.«
Jessen hob amüsiert die Augenbrauen. »Lesen Sie gerne Krimis, Frau Leuze? Oder schauen Sie sich öfter den Tatort an?«
Sara merkte, dass sie rot wurde. »Ja, allerdings. Ich finde, das lenkt einen von der beschissenen Realität ab.«
Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, fast traurig. »Haben wir denn nicht schon genügend Mord und Totschlag in der Welt? Müssen wir uns das auch noch ins Wohnzimmer holen? Aber ich gebe zu, dass ich auch manchmal den Tatort gucke. Um mich darüber zu amüsieren, wie locker es bei denen zugeht. Polizeiarbeit ist Knochenarbeit und zum großen Teil ermüdend.«
»Sie denken sicher, ich hätte eine überbordende Fantasie«, meinte Sara.
Er wirkte etwas konsterniert. »Nein, das glaube ich nicht, und ich wollte Ihnen auch nicht zu nahe treten. Entschuldigen Sie, manchmal bin ich einfach zu direkt. Wir müssen erst einmal die Untersuchungsergebnisse abwarten. Lukas Brauer wird in die Gerichtsmedizin überstellt und untersucht. Wenn sich ein Verdacht ergeben sollte, wird er obduziert. In dem Fall werden wir der Sache nachgehen«.
»Also erst einmal werden wir die Todesursache klären«, wiederholte Linda Mattheus.
»Ich fahre dann mal nach Hause, oder?«, fragte Sara.
»Ja, schauen Sie, dass Sie noch eine Mütze voll Schlaf bekommen«, entgegnete Jessen. »Ich erwarte Sie dann gegen zehn auf dem Revier. Zum Protokoll.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatte, schleppte Sara sich müde zu ihrem Auto und fuhr nach Hause. Sie lebte im Reetdachhaus ihrer Eltern an der Ostsee, solange sie sich erinnerte. Es war weiß gestrichen und hatte rote Fensterläden. Als sie endlich im Bett lag, fühlte sie sich völlig zerschlagen.
Bei der morgendlichen Besprechung in der Polizeidirektion berichteten Linda und Jessen über ihren nächtlichen Einsatz. Die Teamsitzung fand etwas später statt, weil sie inzwischen die Eltern des Toten besucht und ihnen die Todesnachricht überbracht hatten.
»Wahrscheinlich ein Suizid«, sagte Jessen. »Im Hotel Europa in Süderstrand. Ein Hotelmanager wurde tot in der Badewanne aufgefunden. Er war stark alkoholisiert und hatte vorher bei seiner Biografin Sara Leuze angerufen. Die Untersuchung in der Rechtsmedizin wird endgültigen Aufschluss über die Todesursache geben. Linda und ich haben kurz mit den Verwandten gesprochen. Sie schilderten Lukas Brauer als einen Menschen, der alles immer leichtgenommen hat. Er kam aus einem reichen Elternhaus, der Vater hat ein Rum-Imperium in Flensburg aufgebaut. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr hätte er in den Tag hineingelebt, den Juniorchef gegeben und wäre viel auf Partys und mit dem Jet unterwegs gewesen. Vor einigen Jahren hat er sich aus dem väterlichen Betrieb zurückgezogen und arbeitete seither als Hotelmanager.«
»Wie passt das mit so einem Tod in der Badewanne zusammen?«, fragte Heiko Neumann. Der junge Kommissar hatte wie üblich eine Packung Chips vor sich stehen, was sich nicht positiv auf sein Übergewicht auswirkte. »Tod in der Badewanne. Erinnert mich irgendwie an den Tod von Uwe Barschel.«
»Wer war noch gleich Uwe Barschel?«, fragte Jessen.
»Das war der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, der in den 80er Jahren tot in der Badewanne eines Schweizer Hotels aufgefunden wurde. Bis heute ist nicht geklärt, ob er Suizid begangen hat oder ermordet worden ist.«
»Vermutest du politische Zusammenhänge?«, wollte Linda wissen. »Nein, aber es scheint nicht eindeutig zu sein.»
»Das würde ich ebenfalls ausschließen«, meinte Jessen. »In seinem Umfeld gibt es keine politischen Verbindungen. Die Eltern haben ihn als Menschen geschildert, der niemandem etwas zuleide tat und täglich seine Zeitung las.«
»Könnte jemand den Tod als Selbstmord getarnt haben?«, fragte Heiko Neumann weiter. »Auch das schließen wir im Moment aus«, meldete sich Linda zu Wort. »Es gab, wie gesagt, keinerlei Spuren. Aber warten wir das Ergebnis der Obduktion ab.«
Sara hatte nur kurz geschlafen. Müde rieb sie sich die Augen, stand auf und lief in die Küche. Dort warf sie die Espressomaschine an. Trotz der frühen Stunde schwitzte sie schon wie ein Straßenarbeiter zur Mittagszeit. Um sich ein wenig abzukühlen, stellte sie sich unter die lauwarme Dusche, die sie dann auf eiskalt drehte und wieder auf warm.
Der Espresso weckte ihre Lebensgeister, dazu knabberte sie an einem Buttertoast. Sie holte ihren Lederrucksack aus dem Wohnzimmer. Ihr Blick streifte die offene Tür zu ihrem Büro, in dem sie die Gespräche mit ihren Kunden führte. Sara spürte einen Stich, als sie an die letzte Sitzung mit Lukas Brauer dachte. Hätte sie seinen Tod verhindern können? Wäre es besser gewesen, ihn unter Polizeischutz stellen zu lassen? Aber das hätte sie nicht begründen können. Nur weil Lukas Brauer ihr etwas Wichtiges aus seinem Leben mitteilen wollte, war er noch nicht gefährdet gewesen.
Für den Augenblick wischte sie die Gedanken weg. Vor ihr lag der Besuch bei der Kripo. Sie trat aus dem Haus, stieg ins Auto, durchquerte mit ihrem Golf den kleinen Ort und passierte den großzügig angelegten weißen Strand. Die Autos standen schon dicht an dicht, der Geruch nach Pommes und Ketchup wehte durchs offene Wagenfenster herein. Sie fuhr durch die Nordstadt und am Hafen vorbei und erreichte schließlich die Kriminaldirektion. Das Polizeigebäude wirkte auf Sara wie ein Hotel aus der Gründerzeit mit etwas verstaubtem Flair. Davor standen silberblaue Einsatzwagen. Am Empfang fragte sie nach Hauptkommissar Jessen und stieg breite Stufen hinauf in den zweiten Stock. Vor der Tür mit seinem Namen blieb sie stehen und klopfte an. Ein kräftiges »Herein« ertönte. Jessen erhob sich von seinem Computertisch und lächelte ihr entgegen. Sonst war das Zimmer mit Aktenschränken und einem Bücherregal eingerichtet. An der Wand hing eine Magnet-Pinnwand, die mit diversen Zetteln und Fotos bestückt war. Durch das große Fenster konnte Sara einen Teil des Hafens sehen. Jessen reichte ihr die Hand und bot ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. Sie erblickte auf dem Tisch eine Fotografie, die eine hübsche, blonde Frau mit zwei ebenso hübschen Kindern zeigte. Sie lächelten strahlend in die Kamera. Er hatte also Familie, trug aber keinen Ring, wie Sara verstohlen feststellte.
»Ich hoffe, Sie haben das alles schon ein bisschen verdaut und noch ein wenig geschlafen«, sagte Jessen mit einer Wärme in der Stimme, die Sara verwunderte. Aber Polizisten waren eben auch nur Menschen mit ganz normalen Gedanken und Gefühlen.
»Na ja, es hat mich schon ziemlich mitgenommen. Und heute Morgen war ich ganz schön gerädert.«
Er lehnte sich zurück. »Schwimmen ist zurzeit die einzige Möglichkeit, dieser lähmenden Hitze zu entgehen«, meinte er. »Ich gehe nach dem Dienst gern ins Ostseebad, danach habe ich wieder einen klaren Kopf.«
Sara wunderte sich erneut darüber, dass er privat mit ihr sprach und nicht zur Sache kam.
»Manchmal wandere ich von meinem Haus zum großen Strand«, entgegnete sie, »und dann am Meer entlang bis zum Ostseebad.«
»Den Wanderweg kenne ich«, sagte Jessen und setzte sich gerade hin. »Sie wohnen doch am Damm bei der Schusterkate, an der früheren dänischen Grenze? Ist es ihr eigenes Haus?«
»Es ist mein Elternhaus«, erklärte sie. »Meine Mutter ist vor fünfzehn Jahren spurlos verschwunden. Und ich glaube, dass sie noch am Leben ist, deshalb habe ich sie nicht für tot erklären lassen. Mein Vater ist seit ein paar Jahren dement und lebt in einem Pflegeheim in Harrislee.«
Hoffentlich fragte er sie jetzt nicht, ob es ihr nicht zu einsam war in dem großen Haus. Sie hätte zugeben müssen, dass sie sich manchmal wirklich allein fühlte.
Jessen spielte mit einem Faserschreiber und wollte offenbar das Thema nicht vertiefen. Er räusperte sich. »Aber jetzt zur Sache. Meine Kollegin Frau Mattheus und ich haben heute Morgen mit den Eltern und der Schwester des Verstorbenen gesprochen. Sie waren zutiefst erschüttert über den Tod von Herrn Brauer. Sie haben mir Ähnliches über ihn erzählt wie er Ihnen. Dass es einen Bruch in seinem Leben gegeben haben muss. Bis zum Alter von dreißig Jahren sei er ein sorgloser Mensch gewesen, hätte keine Party verpasst und auch mehrere Beziehungen gehabt. Danach sei er stiller geworden und habe immer so gewirkt, als bedrücke ihn etwas.«
»Ich werde mich mit seiner Familie in Verbindung setzen«, meinte Sara. »Und sie fragen, ob sie die Biografie haben wollen oder ob ich sie vielleicht mit ihrer Hilfe zu Ende schreiben soll.«
»Ich werde mich dann bei Ihnen melden, sobald das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung da ist. Und jetzt brauche ich Ihre Unterschrift.«
Er zog ein Protokoll aus der Schublade und legte es ihr vor. Sara überflog es und unterschrieb. Jessen reichte ihr die Hand. »Vielleicht treffen wir uns mal auf dem Weg zum Ostseebad«, meinte er. »Falls ich jemals die Zeit dazu finden werde«, fügte er grinsend hinzu.
»Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mir das bei der Hitze antun will«, gab sie zurück.
Sara hatte die Kontaktdaten von Brauers Eltern und Schwester auf ihrem Handy gespeichert. Sie rief dort an und erfuhr, dass sie willkommen war. Die Eltern wohnten im Marienhölzungsweg oben hinter der Duburg. Sie waren beide in den Siebzigern. Luise Brauer, eine zarte Gestalt mit bläulich onduliertem Haar, öffnete ihr die Tür. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Ihr Gatte sah dagegen robust aus, er hatte eine massige Figur und aufgekrempelte Hemdsärmel. Frau Brauer führte Sara zu einem Tisch, der mit chinesischem Teegeschirr gedeckt war.
»Es tut mir so leid, was mit Ihrem Sohn geschehen ist«, begann Sara behutsam. »Ich habe ihn ja durch die Biografiearbeit gut kennengelernt. Und ich habe ihn sehr gemocht.«
Frau Brauer schenkte Tee ein, ihre Hand zitterte leicht. Ihr Mann reichte Sara die Zuckerdose. Nachdem Brauers Mutter die Kanne abgestellt und sich wieder gesetzt hatte, liefen ihr Tränen die Wangen herab. Sara spürte, dass ihre Augen ebenfalls nass wurden. Brauer reichte seiner Frau ein Stofftaschentuch, mit dem sie sich umständlich die Nase putzte. Sie straffte sich.
»Ich verstehe überhaupt nicht, warum das passiert ist«, brach es aus ihr heraus. »Lukas war doch so zufrieden mit seinem Leben. Er hatte es zum Hotelmanager geschafft und war beliebt bei den Kollegen. Er hatte immer ein sonniges Gemüt, war kein Kind von Traurigkeit. Deshalb glaube ich nicht daran, dass er sich umgebracht hat.«
»Aber Luise, alles weist doch darauf hin«, widersprach ihr Mann. »In den letzten Jahren hat er sich uns gegenüber ja immer mehr verschlossen. Sobald wir ihn auf etwas Persönliches ansprachen, ist er ausgewichen.«
»Ja, irgendetwas ist geschehen, das ihn aus der Bahn geworfen hat«, fuhr Luise Brauer fort. »Damals hatten wir eine Zeit lang keinen Kontakt zu ihm. Wir wussten nicht einmal, wo er sich aufhielt. Und seitdem war er in sich gekehrt, das ist wahr.«
»Möglicherweise war er doch nicht so glücklich, wie wir es gern gehabt hätten, Luise«, fuhr Herr Brauer fort. »Er hat nie geheiratet und keine Familie gegründet. Vielleicht war er doch depressiv und hat uns das nur nicht merken lassen.«
Seine Frau schüttelte den Kopf. »Er hat mir mal gesagt, dass er niemals Hand an sich legen würde, egal wie schwer ihn das Schicksal auch träfe. Er wäre einfach zu neugierig darauf, was das Leben ihm noch zu bieten hätte.«
»Aber was denken Sie dann, was geschehen ist?«, fragte Sara.
»Ich glaube, er wurde ermordet«, brachte Luise Brauer heraus. »Er hatte bestimmt Feinde, von denen wir nichts wussten.«
Ihr Mann schaute Sara hilflos an. »Das hat sie heute Morgen auch den beiden Kommissaren gesagt. Aber so etwas Schreckliches will ich nicht glauben. Und wie sollte denn jemand in seine Wohnung gekommen sein?«
»Darüber können wir nur spekulieren«, meinte Sara. »Es waren ja keine Spuren da. Und er wollte mir etwas anvertrauen. Genau in dem Moment kam er zu Tode. Das hat mir zu denken gegeben.«
»Ja, es muss mit dieser Zeit zusammenhängen«, pflichtete ihr Frau Brauer bei. »Irgendetwas ist da geschehen, das ihn nicht mehr losließ.«
»Wie haben die Kommissare darauf reagiert, als Sie meinten, er wäre ermordet worden?«, fragte Sara.
»Ich glaube, die haben das nicht ernst genommen. Die Frau Mattheus hat sogar die Augen verdreht.«
»Ich habe ja einen Teil der Biografie über Ihren Sohn schon fertig. Möchten Sie die als Andenken behalten? Selbstverständlich würden Ihnen dadurch keine Kosten entstehen.«
In Frau Brauers Augen blitzte etwas auf. Sie erhob sich und durchquerte aufgeregt den Raum. »Ich möchte, dass Sie die Biografie zu Ende schreiben, Frau Leuze. Mit allem Drum und Dran. Und insbesondere mit dem, was fehlt. Ich bitte Sie inständig, den Mörder unseres Sohnes zu finden und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen!«
Ihr Mann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber angesichts der Entschlossenheit seiner Gattin klappte er ihn wieder zu. »Ich bin einverstanden«, sagte er. »Finden Sie dieses fehlende Puzzleteil im Leben unseres Sohnes, dann erzählen wir Ihnen den Rest. Und nehmen die Biografie gern als Erinnerung an Lukas entgegen. Selbstverständlich erstatten wir Ihre Unkosten.« Er schluckte. Luise Brauer nickte ihm zu.
»Das könnte seinem Tod einen Sinn geben«, sagte sie. »Mir gibt es auf jeden Fall Kraft!«
Sara überlegte. Sollte sie den Auftrag von Frau Brauer, den Mörder ihres Sohnes zu finden, annehmen? So etwas konnte sehr gefährlich werden und war Aufgabe der Polizei.
»Ich verstehe sehr gut, dass Sie glauben, Ihr Sohn wäre ermordet worden«, sagte sie. »Aber ich kann das nicht einfach versprechen. Ich werde es mir überlegen und Ihnen Bescheid geben.«
Nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, verabschiedete Sara sich und versprach, sich wieder zu melden und die beiden auf dem Laufenden zu halten. Lukas Brauers Schwester sei auf einer Geschäftsreise in den Vereinigten Staaten, aber die könne Sara auch nicht mehr über ihren Sohn sagen, erzählten die Eltern. Sie standen sich nicht besonders nahe, und in den letzten Jahren hätten sie keinen Kontakt mehr gehabt.
Die Luft schlug Sara wie aus einem Backofen entgegen, als sie das Haus der Brauers verließ. Sie schaute auf die Uhr. Gerade zwölf vorbei. Sie beschloss, den Besuch bei ihrem Vater vorzuverlegen und dort in der Kantine eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Manchmal war ihr Vater wie früher, er konnte sich an alles erinnern und normale Unterhaltungen führen. An anderen Tagen lief er wie von einem inneren Teufel getrieben durch die Räume, suchte ständig nach irgendwelchen Unterlagen oder saß apathisch in seinem Zimmer und schaute am plappernden Fernseher vorbei ins Leere. Es schnitt ihr jedes Mal ins Herz, wenn sie ihn so sah. Angefangen hatte es nach dem Verschwinden ihrer Mutter. Er war in eine Schwermut verfallen, bestand darauf, dass alles so erhalten blieb wie zu ihrer Zeit. Dann wurde er vergesslich, lief im Winter ohne Mantel aus dem Haus, verschwand in der Nacht und musste mehrmals polizeilich gesucht werden. Sara hätte ihn gern gepflegt, aber er selbst äußerte damals in einem der lichten Momente den Wunsch, in ein Heim zu ziehen. Er könnte in dem Haus, in dem er mit seiner Frau und Tochter so lange Jahre gelebt hatte, nicht mehr richtig atmen, er ertrug den Anblick der leeren Hälfte im Bett nicht mehr.
Sara hatte mit ihm das Katherinenheim im Stadtteil Harrislee angeschaut und fand es geeignet. Dort kümmerte man sich, trotz der angespannten Personalsituation, liebevoll um die Bewohner. Es gab auch spezielle Therapien. Sara war gespannt, in welcher Stimmung sie ihren Vater heute antreffen würde. Sie setzte sich in ihren aufgeheizten Wagen und fuhr los. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren und sie ließ die Fensterscheiben herunter. Dadurch wurde es noch heißer. Sie schaltete die Klimaanlage ein. Allmählich spürte sie die kühlere Luft. Sie stellte das Auto auf dem Parkplatz des Katherinenheims ab. Wie immer freute sie sich über den schön gestalteten Eingangsbereich. Dort befand sich ein kleiner Teich mit Seerosen. Eine Kastanie spendete Schatten. Holzbänke und Kübel mit Oleander, Rosen und Lavendel säumten das Gewässer. Ein bisschen wie im Süden. Bei der Hitze hielt sich niemand draußen auf.
Die Glastür des rötlichen Klinkerbaus öffnete sich wie von Geisterhand. Als Erstes suchte Sara die Kantine auf. Und schon hatte sie ihren Vater entdeckt. Er saß mit dem Rücken zu ihr an einem der Tische. Sie erkannte ihn an seiner Prinz-Heinrich-Mütze, die er nur beim Schlafen ablegte. Ihm gegenüber saß Nicole Winter, eine Pflegerin des Heims, mit der sich Sara angefreundet hatte. Sie trug ein luftiges, lindgrünes Kleid mit gelben Schmetterlingen, das ihre braunrötlich glänzenden Locken zur Geltung brachte. Nicole hatte Sara entdeckt und winkte ihr zu. Sara stellte sich zu den beiden an den Tisch. Ihr Vater hatte sie offensichtlich erkannt, denn er richtete seine intensiv blauen Augen auf sie und verzog den schmalen Mund zu einem Lächeln. Sara nahm ihn in den Arm und drückte ihn.
»Hast du Britta nicht mitgebracht?«, fragte er. An seine feste Überzeugung, dass seine Frau jederzeit wieder auftauchen könnte oder immer noch in dem Haus in Süderstrand lebte, hatte Sara sich gewöhnt.
»Nein, sie ist verreist, das weißt du doch, Vater«, sagte sie.
Nicole und sie begrüßten sich ebenfalls. Ein leichter Duft nach Patschuli strömte von ihrer Freundin aus, an ihren Handgelenken klimperten Silberreife. Sie wirkte müde. Ihr Vater widmete sich wieder seinem Essen, einem Schnitzel, das sich goldgelb auf dem Teller wölbte. Dazu gab es Ofenkartoffeln. Theo Leuze hatte zeitlebens gerne Fleisch gegessen und seine Vorliebe auch jetzt im Alter nicht abgelegt. Nicole aß Pappardelle mit Spinat. Wie Sara wusste, gab es immer zweierlei Menüs zur Auswahl. Suppe, Hauptgericht mit Fleisch oder vegetarisch.
»Ich hole mir dann auch mal was«, sagte sie und steuerte auf die Essensausgabe zu. Eine lächelnde Frau mit Apfelbacken fragte sie, was sie wünsche. »Ich nehme die Pappardelle, Suppe ist mir heute zu schweißtreibend«, sagte sie. »Und Obst zum Nachtisch.«
Sie trug ihr Tablett zurück zu den anderen. Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, kam eine junge Frau und stellte eine Flasche Mineralwasser und drei Gläser auf den Tisch. Saras Vater schaute auf die Nudeln, etwas blitzte in seinen Augen auf.
»Erinnerst du dich an unsere Reise zum Gardasee, Sara? Du warst zwölf Jahre alt. Da gab es doch diese Spagetti mit der Soße, die stundenlang auf dem Herd gekocht hat.«
»Spagetti Bolognese«, antwortete sie. »Ja, das sehe ich noch heute vor mir. In Malcesine haben wir jeden Tag unterhalb der Burg gebadet.«
»Und du hast am liebsten Eis aus echten Zitronen gelöffelt«, warf ihr Vater ein. Dann zog ein Schleier über seine Augen, und er versank in seinen Erinnerungen.
»Papa, vergiss nicht zu essen und zu trinken«, ermahnte sie ihn.
Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Ja, Mama«, meinte er, ein verschmitztes Grinsen im Mundwinkel.
Gehorsam widmete er sich wieder seinem Schnitzel.
»Hast du nachher ein bisschen Zeit?«, fragte Nicole.
»Ja, ich kann noch etwas bleiben.«
»Und ich habe ein Stunde Mittagspause, abzüglich des Essens noch eine halbe.«
Sie unterhielten sich angeregt, bis das letzte Stück Obst verzehrt war. Dann äußerte ihr Vater den Wunsch, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen und sich hinzulegen. Sara und Nicole begleiteten ihn. Sara zog ihm die Schuhe aus und half ihm, eine bequeme Position auf dem Bett einzunehmen. Die Prinz-Heinrich-Mütze nahm sie ihm ab und legte sie auf den Nachttisch.
»Nicole und ich gehen ein bisschen raus, aber nachher schaue ich noch mal vorbei«, sagte Sara.
Ihr Vater lächelte und nickte. Die beiden Frauen liefen die Treppe hinunter und setzten sich draußen in den Schatten der Kastanie.
»Wie geht es dir?«, frage Sara. »Du siehst abgekämpft aus.«
Nicole verzog ihren Mund. »Du weißt ja, wie das in den Pflegeberufen ist. Zu wenig Personal, zu viele Nachtschichten. Kein geregelter Urlaub, Überstunden ohne Ende, ohne Gelegenheit zum Abbummeln. Ich habe schon Kollegen und Kolleginnen erlebt, die mit Volldampf ins Burnout gerast sind, weil sie meinten, sich immer mehr aufopfern zu müssen. Viele haben gekündigt oder sich innerlich verabschiedet.«
Sara schaute ihrer Freundin prüfend ins Gesicht. »Du neigst aber auch dazu, dich für andere aufzuopfern, Nicole. Tritt mal etwas kürzer, guck nach dir selbst, gönn dir was, reiche Urlaub ein. Ich mache mir Sorgen, dass du ebenfalls krank werden könntest.«
»Du hast ja recht, Sara. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich nicht einschlafen kann. Ich bräuchte wirklich mal Urlaub, um das alles mal hinter mir lassen. Aber mehr als drei Tage am Stück kriegt man hier nicht, weil dann der Betrieb völlig zusammenbricht.«
»Über die Politiker will ich gar nicht schimpfen, sonst artet das hier aus«, meinte Sara.
»Und wie ist es bei dir, was hast du erlebt?«, fragte Nicole. »Wir haben uns jetzt ja zwei Tage nicht gesehen.«
»Willst du es wirklich wissen?«
»Nun mach es doch nicht so spannend!«
»Gestern Nacht bekam ich einen Anruf von einem meiner Kunden, der Name wird dir ein Begriff sein. Lukas Brauer. Offensichtlich war er betrunken und brauchte meine Hilfe. Ich bin sofort hingefahren und fand ihn in der Badewanne. Der Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Das hat mich ganz schön fertig gemacht.« Sie hielt inne.
»Das ist ja furchtbar!«, rief Nicole aus und nahm ihre Hand. »Was war denn da passiert?«
Sara atmete tief durch. »Offensichtlich hat er sich das Leben genommen. Das glaubten auch die beiden Polizisten, die hinzukamen. Ich habe aber meine Zweifel daran. Ebenso Brauers Eltern, mit denen ich heute Vormittag gesprochen habe. Seine Mutter sagte, er habe ihr einmal erzählt, dass er niemals Hand an sich legen würde. Außerdem habe ich den Verdacht, dass mein Computer gehackt wurde. Ein Fachmann hat mir das als Möglichkeit bestätigt.«
»Und es gab keine Spuren, die auf einen Mord hinweisen?«, fragte Nicole. Ihr Gesichtsausdruck war ernst geworden.
»Nein, keinerlei Spuren. Deshalb hielten der Kommissar und seine Kollegin mich wohl für verrückt, als ich vom Hacken des Computers anfing. Brauer wollte mir etwas Wichtiges aus seinem Leben mitteilen, über eine Schuld reden, die er auf sich geladen hätte.«
Nicole runzelte die Stirn. »Bei uns hier im Heim ist ebenfalls etwas Merkwürdiges passiert«, sagte sie. »Heute Morgen lag Gisela Elbinger, du hast sie, glaube ich, schon gesehen, tot in ihrem Bett. Sie war erst zweiundsiebzig Jahre alt und hat an einer Darminfektion gelitten. Unser Hausarzt hat Tod durch Dehydrierung und daraufhin Kreislaufversagen festgestellt. Aber sie hatte von mir ausreichend zu trinken bekommen. An diesem Todesfall stimmt irgendetwas nicht! Sie hatte ebenfalls angekündigt, mir etwas Wichtiges mitteilen zu wollen.«
»Das tut mir leid«, meinte Sara. »Du hattest doch ein gutes Verhältnis zu ihr?«
»Ja, sie war für mich eine Art Mutterersatz. Meine eigene Mutter hat mich nie richtig wahrgenommen.«
Nicole fuhr sich über die Augen, dann wandte sie sich Sara erneut zu. »Vielleicht finden wir beide heraus, was hinter den mysteriösen Vorkommnissen steckt«, sagte sie. »Es gibt so viele durchgeknallte Typen in dieser Welt, die Computer hacken, andere durch Kameras beobachten oder filmen, während sie sich im Fernsehsessel räkeln. Spanner, Stalker, Gauner, die einem das Geld aus der Tasche ziehen wollen.«
»Ist denn euer Computer auch gehackt worden?«, wollte Sara wissen.
»Nicht, dass ich wüsste.«,
Sara schaute sie erschrocken an. »Du meinst, jemand hat es auf dich oder mich abgesehen?«
Nicole hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß gar nichts, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.«
»Ich auch«, meinte Sara. »Auf jeden Fall haben mich Brauers Eltern beauftragt, den Mörder ihres Sohnes zu finden.«
Sara verabschiedete sich von ihrem Vater, der mit offenen Augen auf seinem Bett lag. Die Prinz-Heinrich-Mütze hatte er wieder aufgesetzt. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, die sich wie samtenes Pergament anfühlte.
»Tschüs, mein Lütten«, sagte er. »Komm bald wieder, aber bring das nächste Mal deine Mutter mit.«
»Sie kann nicht kommen«, antwortete sie, obwohl sie wusste, dass er es im nächsten Moment wieder vergessen haben würde. Ihr fiel es jedes Mal schwer, ihn allein im Heim zurückzulassen. Aber es ging ihm gut hier, und es war und blieb sein ausdrücklicher Wunsch, den sie zu respektieren hatte.
Nicole war nirgends zu sehen, sie war an ihre Arbeit zurückgekehrt. Also fuhr Sara im stockenden Abendverkehr nach Hause. Am Strand war noch einiges los, viele Leute brachen gerade auf, sodass der Verkehr das reinste Chaos war. Seit die Wiesen zwischen Meer und Wald mit Ferienwohnungen und Apartments überbaut worden waren, hatten die Menschen von Südstrand im Sommer hier einen Rummelplatz. Dazu kam der dänische Supermarkt mit Spirituosen, Pflegeartikeln, Süßigkeiten und Tierfutter. Sonst war im Ort nicht viel los. Sara war jedes Mal froh, wenn sie den Winkel an der Schusterkate wieder erreicht hatte.
Zu Hause stellte Sara sich erst einmal unter die kalte Dusche. Erfrischt schlüpfte sie in Shorts und T-Shirt und setzte sich mit ihrem Laptop auf die Terrasse. Sie wollte die Biografie eines anderen Kunden zu Ende tippen und dann in den Druck geben. Vom Wasser her kam ein Lüftchen herüber, das den Abend erträglich machte. Und der Duft nach gebratenem Fleisch mischte sich in den Wind. Ihr Nachbar Heinrich Haber grillte offensichtlich mit seiner Familie. Ihr Magen knurrte. Sie holte sich aus dem Kühlschrank etwas zu essen.
Eigentlich war es nie ihr Traum gewesen, mit den Nachbarn Grillfeste zu feiern. Sie hatte sich mehr vom Leben erhofft. Doch sie war ihren Eltern dankbar für das Leben, das sie ihr ermöglicht hatten. Da keine Geschwister da waren, wurde Sara von Anfang an gehätschelt und hatte immer alles bekommen, was sie wollte. Ihr Vater Theo besaß ein Motorboot, das an der Mündung der Krusau im kleinen Naturhafen lag. Manchmal fuhr Sara damit ein Stück aufs Meer hinaus, auch zusammen mit Nicole.
Die Sonne verschwand hinter der Anhöhe von Süderstrand, Grillen zirpten. Auf einmal vernahm sie von der Terrassentür her ein leises Scharren. Die Tür war angelehnt gewesen, und Sara sah einen hellen Schatten in ihrer Küche verschwinden. Sie sprang auf und folgte ihm. Zu ihrem Erstaunen saß eine Katze vor dem Kühlschrank. Sara hatte noch nie so feine weiße Haare an einer Katze gesehen. Sie saß da, drehte den Kopf zu Sara, schaute sie aus großen dunklen Augen an und öffnete das Mäulchen.
»Miau!«
Sara wusste schon, was das bedeutete. Wenn man einer fremden Katze Futter anbot, wurde man sie nicht mehr los. Und irgendwem gehörte sie ja, so gepflegt, wie sie war. Derjenige würde sauer sein, wenn sie ihm die Katze abspenstig machte. Deshalb streichelte sie das Tier, das ihr daraufhin um die Beine strich und wieder miaute. Sara machte die Terrassentür weit auf.
»So, und jetzt gehst du schön nach Hause«, sagte sie. »Dein Herrchen oder dein Frauchen wartet bestimmt schon auf dich.«
Als die Katze weiterhin keine Anstalten machte zu gehen, nahm Sara sie auf den Arm und wollte sie nach draußen bringen. Sie stieß einen kläglichen Laut aus, zappelte, sprang wieder auf den Boden und lief aus der Küche. Sara folgte ihr. Im Schlafzimmer entdeckte sie das Tier zusammengerollt und schnurrend auf ihrem Bett. Sara nahm es auf den Arm. Aber erst beim dritten Versuch gelang es ihr, die Katze nach draußen zu bringen. Es tat ihr im Herzen weh, das Tier wegzuschicken, aber sie konnte es ja nicht einfach behalten. Draußen leckte sich die Katze von oben bis unten ab, bis ihr Fell noch seidiger aussah. Sara setzte sich wieder an den Tisch und widmete sich ihrem Laptop. Als sie noch einmal hinüberschaute, guckte die Katze sie mit großen Augen an und stolzierte dann um die Hausecke herum.
Saras Handy brummte, sie fischte es vom Tisch und meldete sich. Es war Hauptkommissar Jessen.
»Wir haben jetzt das Ergebnis der Untersuchung von Herrn Brauer aus der Rechtsmedizin bekommen«, sagte er. »Es wurde wie erwartet keine Fremdeinwirkung festgestellt. Keine äußeren Verletzungen oder Abwehrspuren. Die toxikologische Untersuchung ergab einen Alkoholgehalt von noch zwei Promille sowie Spuren des Medikaments Effortil. Nach Angaben des Rechtsmediziners ist er unter Alkoholeinwirkung ins Wasser gestiegen und ertrunken. Ein Herzinfarkt konnte ebenfalls ausgeschlossen werden.«
»Danke für die Benachrichtigung, Herr Jessen«, sagte Sara. »Ich nehme das mal zur Kenntnis.«
»Haben Sie denn immer noch Zweifel, Frau Leuze? Ist Ihnen etwas eingefallen, was auf einen Täter hindeuten könnte?«
»Eingefallen ist mir nichts, aber die Eltern von Herrn Brauer zweifeln am Selbstmord ihres Sohnes. Frau Brauer meinte, das hätte sie ihm niemals zugetraut.«
»Es ist schwer für Eltern, so eine Entscheidung ihres Kindes zu akzeptieren«, meinte Jesse. »Da ist es ihnen lieber, ein Fremdverschulden anzunehmen. Ich habe auf jeden Fall nichts in der Hand, um weiterzumachen. Die Ermittlungen werden eingestellt.« Er zögerte einen Augenblick. »Der Leichnam wird freigegeben, und Sie können an der Beerdigung teilnehmen, wenn Sie möchten.«
Trotz der Trauer, die bei Sara hochkam, tat ihr Jessens Art gut. Sie wischte eine Träne weg. »Ich werde zur Beerdigung kommen«, sagte sie.
»Wenn ich Zeit habe, nehme ich ebenfalls teil«, meinte Jessen. »Und vielleicht ergibt sich mal ein gemeinsamer Spaziergang.«
Sie verabschiedeten sich und legten auf. Obwohl sie sich von ihm nicht für ganz voll genommen fühlte, war Saras Laune mit einem Mal besser geworden.
Mitten in der Nacht schrak Sara aus dem Schlaf, denn es klopfte am Fenster. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Es war nichts zu sehen. Draußen war ein heftiger Wind aufgekommen, die Zweige des Haselstrauches schlugen gegen das Glas. Sara schwang sich aus dem Bett, nahm ihr Handy und schlich zur Haustür. Vorsichtig spähte sie hinaus. Neben den Pflöcken mit dem Briefkasten befand sich eine kleinere dunkle Masse. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen näherte Sara sich. Sie richtete den Strahl ihrer Handylampe darauf. Und schrie entsetzt auf. Da lag eine tote Ratte, übel zugerichtet. Aus ihrem Maul mit den spitzen Zähnen sickerte Blut.
Sara wachte schweißgebadet auf, ihr war schlecht. Was hatte sie da für einen Albtraum gehabt? Sie fühlte sich wirr im Kopf.
Da war es wieder, das Klopfen. Sara schaute zum Fenster und erblickte ein Mondgesicht, einen weißen, herzförmigen Kopf mit kohlschwarzen Augen. Die Katze! Sie saß oben auf dem Briefkasten und klopfte mit der Pfote gegen das Fenster. Woher wusste sie, dass Sara hier schlief? Sara überlegte scharf. Gestern Abend war die Katze durch die ganze Wohnung gewandert und hatte sich auf dem Bett zusammengerollt.
Sara stand auf und lief noch einmal hinaus. Dort, wo in ihrem Traum die tote Ratte gelegen hatte, war nichts, absolut nichts. Die Katze wandte sich um und miaute kläglich. Sara konnte es nicht mehr mit anhören. Sie ließ es zu, dass sie ihr in die Wohnung folgte und sich auf dem Teppich im Wohnzimmer zusammenrollte. Sie schien satt zu sein, rührte sich auch nicht, als Sara noch einmal in die Küche ging und sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank holte. Im Bett las Sara noch ein wenig in einem Buch, in dem es nicht um Tote und Mörder ging. Davon hatte sie erst einmal genug.
Das Erste, was sie am Morgen spürte, war etwas Warmes, Weiches auf ihren Füßen. Die Katze schaute sie an, gähnte, sprang dann auf, machte einen Buckel, reckte und streckte sich.
»Wie bist du denn in mein Zimmer gekommen?«, fragte Sara. Wahrscheinlich hatte sie die Wohnzimmertür und auch die Tür zum Schlafzimmer wie immer offengelassen. »Wie soll ich dich eigentlich nennen, Miez? Vielleicht Mondlicht oder Lizzy oder Schneeball? Ach nein, ich nenne dich einfach Flocke wegen deines seidenen Fells. Einverstanden?«
Die Katze war inzwischen vom Bett gesprungen und in die Küche gelaufen. Wie erwartet saß sie vor dem Kühlschrank und miaute.
»Ich darf dir nichts geben«, sagte Sara, obwohl sie es am liebsten getan hätte. Aber es war kein Lebensmittel da, das katzengerecht gewesen wäre. Sie öffnete die Tür zur Terrasse und machte eine einladende Handbewegung nach draußen. Die Katze rührte sich nicht. Als Sara sich zu ihr hinunterbeugte, um sie aufzunehmen und hinauszutragen, zappelte sie, entwand sich ihren Armen und verschwand blitzschnell in Richtung Schlafzimmer. Dort fand Sara sie hinter der Tür. Erschrocken starrte Flocke sie an, als wenn sie nicht damit gerechnet hätte, entdeckt zu werden.
»Jetzt komm, geh zurück zu deinen Besitzern, du kannst hier nicht einfach so bleiben.«
Es schnitt ihr ein wenig ins Herz, aber sie nahm Flocke auf den Arm, trug sie hinaus und setzte sie sanft auf den Boden. Die Tür machte sie wieder zu. Dann stellte sie das Espressokännchen auf den Herd. Flocke wartete, starrte flehentlich zu ihr herein und trommelte dann gegen die Scheibe. Das war kein Zustand mehr, befand Sara. Sie holte ihr Handy und rief Nicole im Altersheim an. Glücklicherweise hatte die gerade eine kurze Pause. »Du hast doch mal Katzen gehabt«, meinte Sara. »Mir ist eine zugelaufen, und anscheinend besteht sie darauf, bei mir einzuziehen. Kannst du mir einen Rat geben?«
»Auf keinen Fall füttern!«, sagte Nicole. »Dann wirst du sie nicht mehr los. Hat sie kein Halsband oder irgendein Kennzeichen mit Namen und Adresse des Besitzers?«
»Aber Nicole!«, protestierte Sara. »Dann wäre ja das Problem gelöst. Sie sieht gepflegt aus, ist nicht verwildert und muss jemandem gehören.«
»Dann frag doch mal in der Nachbarschaft herum. Vielleicht weiß einer etwas.«
»Gute Idee. Hätte ich selber draufkommen können.«
Insgeheim wusste sie, warum sie noch nichts unternommen hatte. Flocke war ihr schon ans Herz gewachsen. Aber sie dachte an die Familie, vielleicht mit Kindern, denen sie gehören könnte und die sich jetzt die Augen nach ihr ausweinte. Also sagte sie zu Nicole: »Okay, danke für den Rat. Ich werde Flocke dann lieber nicht mehr reinlassen.«
Nicole lachte. »Aha, einen Namen hast du auch schon für sie? Das spricht Bände!«
»Ja, sie ist wirklich süß. Ich komme dann morgen wieder ins Heim. Bist du da?«
»Morgen ist die Beerdigung von Frau Elbinger, du weißt, die Frau, die nach einer Darminfektion gestorben ist.«
»So schnell?«
»Ja, es gab kaum etwas zu regeln, da sie keine Verwandten mehr hatte.«
»Die Beerdigung von Herrn Brauer müsste auch bald stattfinden«, sagte Sara. »Ich erkundige mich, wann er von der Rechtsmedizin freigegeben wird. Die Ermittlungen werden eingestellt, hat Jessen mir gesagt.«
Sie schaffte es, aus der Tür zu kommen, ohne dass Flocke gleich wieder ins Haus schlüpfte. Den Rest des Tages verbrachte Sara damit, im Ort herumzufragen. Sie versuchte es bei allen Häusern in ihrer Nähe. Keiner wusste, wem die Katze gehörte. Dann rief sie Hauptkommissar Jessen wegen Brauers Beerdigung an.
»Der Leichnam ist schon freigegeben«, sagte er. »Ich habe mit seinen Eltern gesprochen. Die Beerdigung wird übermorgen auf dem Niehuuser Friedhof stattfinden.« Er räusperte sich. »Heute Abend habe ich frei. Sagte ich schon, dass ich in Klues wohne? Da könnten wir uns doch auf dem Weg zum Ostseebad treffen und vielleicht noch etwas essen gehen.«
Die Aussicht, den Abend nicht allein zu verbringen, erschien Sara verlockend. »Ja, das wäre nett«, sagte sie. »Ich würde so etwa um sechs Uhr losgehen. Da ist es nicht mehr so heiß.«
»Okay«, meinte er, »ich freu mich schon. Bringen Sie Ihr Badezeug mit.«
Am Nachmittag arbeitete Sara in ihrem Büro, obwohl es dort vor Hitze kaum auszuhalten war. Aber draußen auf der Terrasse war es auch nicht besser. Flocke ließ sich nicht mehr blicken. Fast bedauerte Sara das. Der Laptop arbeitete jetzt einwandfrei. Sara googelte nach Hinweisen aufs Hacken von Computern. Sie fand die Adresse eines Instituts, das über entsprechende Datenbanken verfügte, und gab ihre E-Mailadresse ein. Gleich darauf erhielt sie die Nachricht mit den Worten: »Glückwunsch! Ihre Adresse ist in unserer Datenbank nicht aufgeführt. Das ist aber keine Gewähr dafür, dass Ihnen nicht Unterlagen gestohlen worden sein könnten.« Also würde sie es nicht beweisen können.
Sie schaute auf die Uhr. Halb sechs. Sie trat hinaus auf die Terrasse, schnappte sich die Gießkanne und lief hinüber zu ihrem Garten. Dort wuchsen Heckenrosen, Fingerhut und Sommerflieder neben Tomatenstauden und Stangenbohnen. Sara goss drei Gießkannen auf die Beete, zupfte welke Blätter ab und band die Tomaten, die eine prallrote Farbe angenommen hatten, fester an den Pflock. Der Garten war durch eine Tujahecke zum Nachbargrundstück abgegrenzt. Von dort vernahm Sara ein Rascheln. Der Kopf ihres Nachbarn Heinrich Haber erschien. Sein Gesicht war sonnengebräunt, die grau melierten dunklen Haare sorgfältig gekämmt. Unter der Nase prangte ein altmodischer Schnauzbart.
»Hallo, Frau Nachbarin«, rief er. »Auch fleißig im Garten? Ich muss die Hecke mal wieder stutzen, ganz schön schweißtreibend bei diesem Wetter.«
Sara fand ihn eigentlich ganz nett. Sie hatte schon Mittel gegen ihren Heuschnupfen in seiner Flensburger Apotheke gekauft. »Ja, erst kriegen die Blumen das Wasser von oben und später gehe ich schwimmen.«
Er hob die Brauen und fixierte sie. »Mit Ihrem neuen Freund?«
Woher wusste er, dass sie sich mit Hauptkommissar Jessen treffen wollte?
»Mit was für einem Freund?«, fragte sie. »Normalerweise gehe ich allein schwimmen.«
»Na, mit dem, der hier in letzter Zeit immer ein und aus gegangen ist.«
Dann wusste er also noch nichts über Brauers Tod. In den Zeitungen hatte sein Name nicht gestanden. Sie brauchte es ihm auch nicht auf die Nase zu binden. »Ich mache einen Spaziergang zum Ostseebad und werde mich dort ein bisschen abkühlen.«
»Das machen Sie ganz richtig so«, meinte er. »Apropos: Am Samstag steigt bei uns ein Grillfest. Hätten Sie nicht Lust zu kommen?«
Sara überlegte kurz. Das wäre eine Gelegenheit, mal wieder unter Leuten zu sein. »Ja, gerne«, sagte sie. »Um wie viel Uhr?«
»Um sieben. Sie brauchen nichts mitzubringen.«
»Bevor ich es vergesse«, meinte Sara. »Wissen Sie, wem die weiße Katze gehört, die hier immer herumstreunt?«
Er schüttelte den Kopf. »Die habe ich auch schon gesehen. Meine Kinder hätten sie am liebsten aufgenommen, aber sie ist immer wieder weggerannt. Wird wahrscheinlich verwildert sein.«
Sara beschloss, es dabei zu belassen. »Also dann bis Samstag«, sagte sie.
Er winkte ihr zu, bevor sie zurück zur Terrasse und zu ihrem Haus eilte. »Sie können auch gern mal wieder ihre Allergietropfen bei mir abholen«, rief er ihr nach.
»Kein Bedarf in diesem Sommer«, gab sie zurück. »Jetzt fliegt nur noch der Lieschgrassamen, der macht mir kaum was aus.«
Drinnen machte sie sich frisch, zog ihren Bikini an, darüber halblange Shorts und eine luftige Bluse. Sie steckte Geldbörse und Handy in ihren Lederrucksack, verschloss die Türen und stieg in ihren Wagen. Unterwegs warf sie einen Blick auf den kleinen Hafen der Krusau. Da lag das Motorboot ihres Vaters neben anderen Booten und kleineren Segelschiffen. Die Mündung des Flusses war mit dichtem Schilf bewachsen. Schwäne und Rallen zogen ihre Bahnen.
Sara lief hinunter zum Strand und spazierte die Promenade entlang. Es waren noch viele Badegäste da. Sie beschleunigte ihre Schritte. Auf Höhe des Strandhotels erhob sich eine leichte Brise. Der Weg verlief jetzt zwischen dem Wasser und einem Hang, der mit Buchen bestanden war. Sara liebte diese Farben, das ständig wechselnde Blau der Förde, marineblau bis türkis, das Plätschern der Wellen an die Ufersteine und das satte Grün der Buchen. Nur wenige Spaziergänger kamen ihr entgegen. Einmal hörte sie das Tuten des Dampfers, der vom Flensburger Hafen nach Kollund fuhr. Es sollte Leute geben, die den ganzen Tag mit diesen Dampfern hin- und herfuhren, hatte sie gehört. Sara fühlte sich wie früher, wenn sie abends mit Freundinnen in die Stadt gegangen war. Voller Erwartung auf die Begegnungen, die ihr bevorstanden. Es passte eigentlich gar nicht zu ihr, sich mit einem fremden Mann zu treffen, noch dazu mit einem, der sie nicht für ganz voll nahm. Aber sie versuchte gerade, aus ihrer selbstgewählten Isolation wieder herauszukommen. Ähnlich wie Brauer, der seinem Leben eine andere Richtung hatte geben wollen.
Das Ostseebad war ein Naturstrand mit einem langen Steg ins Wasser hinaus, begrenzt von einem schönen Waldpark, der sich bis zur Straße hinaufzog, und einigen Ruderclubgebäuden. Ein Teil des Strandes war Hundebesitzern vorbehalten.
Sara strengte ihre Augen an, aber sie konnte Jessen nirgends entdecken. Wahrscheinlich war er beruflich aufgehalten worden. Sie streifte ihre Kleidung ab und watete ins Wasser. Es waren nur noch wenige Badegäste da, Kinder bauten Sandburgen. Sara schwamm weit hinaus, immer die Marineschule in Mürwik, die Werft am Hafen und das grüne Umland der deutschen und dänischen Küste vor Augen. Hohe weiße Wolkentürme hatten sich am Himmel aufgebaut. Weit draußen war das Meer kühler. Erfrischt schwamm sie zurück und trocknete sich ab. Jessen war immer noch nirgends zu sehen. Dann war das also nichts geworden heute Abend.
Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Seufzend schlenderte sie zum Kiosk hinüber. Dann gab es eben Currywurst mit Pommes statt Nizza-Salat oder Pasta mit Shrimps. Sie bestellte sich ein Bier und die Wurst und setzte sich auf eine Bank. Jetzt sah sie Jessen in der Ferne auftauchen. Seine Augen funkelten, als er vor ihr stand.
»Guten Abend, Frau Leuze«, sagte er und deutete eine leichte Verbeugung an. »Jetzt hat es doch endlich mal geklappt. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, ich wurde zu einem Einsatz gerufen.«
»Macht nichts«, meinte Sara. »Ich war froh, mal wieder eine Strecke laufen zu können. Und das Bad hat mich erfrischt. Wollen Sie auch einen Happen essen?«
»Ich nehme dasselbe wie Sie. Aber mit Ketchup statt mit Mayo.«
Er gab seine Bestellung auf, setzte sich und wandte sich wieder an Sara. »Ich bin an Fast Food gewöhnt«, meinte er. »Die besten Hotdogs gibt es übrigens in Süderhav in Dänemark, da, wo die Ochseninseln sind.«
»Ja, die kenne ich, war da mal mit meinen Eltern als Kind. Sie haben mir Geschichten von Seeräubern erzählt, die dort gehaust haben sollen.«
»Das ist eine Legende.« Er schien amüsiert zu sein. »Ich glaube, Sie haben eine lebhafte Fantasie, Frau Leuze.«
Da war es wieder, dieses Gefühl, er nehme sie nicht ernst oder hielte sie für überspannt.
»Sie meinen … wegen des gehackten Computers? Ich habe das schon überprüfen lassen, meine Mailadresse ist zumindest nicht in den Datenbanken von Hackern. Und Fantasie muss ich haben, um mich in meine Kunden einfühlen zu können.«
Seine Miene wurde wieder ernst. »Ein interessanter Beruf, den Sie haben. Ist das nicht ein wenig wie das Schreiben von Romanen?«
»Ja, kann man so sagen. Ich fühle mich in die Personen ein und befrage sie so, dass sie mir alles erzählen, was für ihre Biografie wichtig ist. Und seitdem mich eine Katze regelmäßig besucht, fühle ich mich auch nicht mehr so einsam.« Jetzt war es heraus, sie hatte es zugegeben.
»Damit sind Sie nicht allein, Frau Leuze. Ich habe meinen Beruf, aber ansonsten kaum Privatleben. Es ist ja bekannt, dass viele Polizistenehen in die Brüche gehen, weil die Dienstzeiten unregelmäßig sind und die Arbeit sehr belastend ist.«
Er holte seine Currywurst vom Tresen, drückte eine Menge Ketchup darauf und begann, die Wurst und die Pommes mit einem Holzstäbchen zu essen. Sara war schon fertig und trug die Pappschale zum Papierkorb.
»Den Abend hatte ich mir nicht so prosaisch vorgestellt«, meinte Jessen zwischen zwei Bissen. »Sollen wir nicht wenigstens noch ein Bier miteinander trinken?«
Sein Handy klingelte. Er nestelte es aus der Tasche. »Ja, verstehe«, sagte er. »Ich komme sofort.« Mit einem bedauernden Blick wandte er sich Sara zu. »Tut mir leid, aber so ist es eben. Eine Schlägerei mit Körperverletzung in einer Hafenkneipe. Ich habe mich gefreut, dass Sie gekommen sind. Vielleicht können wir es nachholen.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Schade«, meinte sie und ergriff seine Hand, die warm und trocken war. Sie nahm ihren Rucksack und verließ den Kiosk, während sie Jessens Blick im Rücken spürte. Sara hatte es eilig, wieder nach Hause zu kommen. Eine schwarzviolette Gewitterwand überspannte die Seeseite des Weges. Sie dachte an Jessen. Dann war also auch er einsam, und das nicht ohne Grund.