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Der zweite Fall für Lisa Faber Was gibt es Besseres, als einen Urlaub im Schwarzwald? Das denkt sich auch die Journalistin Lisa Faber, die gemeinsam mit dem befreundeten Hauptkommissar Steidle eine Wanderung durch das große Enztal unternimmt. Nebenbei recherchiert sie über den Schwarzwald und seine Traditionen, denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, ein Buch darüber zu schreiben. Dabei stößt Lisa auf ein Tagebuch, das einer Frau gehörte, die die letzten Kriegstage im Tal miterlebt hat. Als dann bei den Bauarbeiten eines neuen Supermarktes die Leichen einer ganzen Familie zum Vorschein kommen, erkennt Lisa einen Zusammenhang. Doch Steidle will davon nichts wissen. Und so begibt sich die Journalistin auf eigene Faust auf die Spuren der Vergangenheit … Von Christa S. Lotz sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Martinsmorde (Lisa Faber ermittelt 1) Tod am schwarzen Fluss (Lisa Faber ermittelt 2)
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Tod am schwarzen Fluss
Christa S. Lotz, geboren 1950, wuchs an der Flensburger Förde auf, bevor sie in ihre Wahlheimat im Süden Deutschlands zog. Sie studierte an der Universität Tübingen, arbeitete als Diplom-Pädagogin vor allem mit traumatisierten Menschen und unternahm ausgedehnte Reisen in Europa und Übersee. Im Jahr 2004 veröffentlichte sie ihren ersten Roman über den Dichter Eduard Mörike, der große Beachtung in den Medien fand. Seitdem hat sie weitere historische Romane und historische Krimis veröffentlicht. Heute lebt sie in einer kleinen Stadt am Rande des Schwarzwalds. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, geht sie mit ihrem Lebensgefährten wandern, fotografiert oder macht Ausflüge, die sie zu neuen Geschichten anregen.
Der zweite Fall für Lisa Faber
Was gibt es Besseres, als einen Urlaub im Schwarzwald? Das denkt sich auch die Journalistin Lisa Faber, die gemeinsam mit dem befreundeten Hauptkommissar Steidle eine Wanderung durch das große Enztal unternimmt. Nebenbei recherchiert sie über den Schwarzwald und seine Traditionen, denn sie hat sich in den Kopf gesetzt, ein Buch darüber zu schreiben. Dabei stößt Lisa auf ein Tagebuch, das einer Frau gehörte, die die letzten Kriegstage im Tal miterlebt hat. Als dann bei den Bauarbeiten eines neuen Supermarktes die Leichen einer ganzen Familie zum Vorschein kommen, erkennt Lisa einen Zusammenhang. Doch Steidle will davon nichts wissen. Und so begibt sich die Journalistin auf eigene Faust auf die Spuren der Vergangenheit …
Von Christa S. Lotz sind bei Midnight by Ullstein erschienen:Martinsmorde (Lisa Faber ermittelt 1)Tod am schwarzen Fluss (Lisa Faber ermittelt 2)
Christa S. Lotz
Ein Schwarzwald-Krimi
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95819-255-3
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog
Nachwort
Leseprobe: Martinsmorde
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Cover
Titelseite
Inhalt
Zitat
Der Schwarzwald sei ein Waldgebirge mit tiefen Schluchten, schroffen roten Felsen und nachtdunklen Geheimnissen, so hatte Lisa es gelesen und auch erfahren. Jetzt stand sie auf dem Balkon ihres Ferienapartments und ließ den Blick über die Gegend schweifen. Ein Abglanz von Frühling lag in der Luft. Die steilen Höhen des Tals waren dicht mit Tannen bewachsen, in der Ferne sah sie den Fluss und die altersgrauen Hütten, in denen die Bauern immer noch Heu und Gerätschaften verwahrten. Sie war froh, den Stress der letzten Monate ablegen zu können und endlich angekommen zu sein.
Der Kurort Klosterzell wirkte aufgeräumt und friedlich, auch wenn die Schindeln an manchen Häusern schon etwas brüchig wirkten. Seit Monaten hatte sie sich auf den Osterurlaub mit Hauptkommissar Rainer Steidle gefreut. Er würde erst gegen Abend eintreffen. Lisa schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Sie hatte vergessen, einen Wanderführer zu kaufen. Wo sollte sie jetzt, am Karfreitag, noch einen herbekommen? Im Gasthof Ochsen nebenan konnte sie vielleicht ein paar Prospekte ergattern.
Sie verließ das Zimmer und eilte die Treppe hinunter. Vom nahen Wald wehte ihr der Duft nach frisch geschlagenem Holz entgegen. Der Eingangsbereich des Gasthofs war hell und freundlich gestaltet. Die Frau hinter dem Tresen trug eine Schwarzwälder Tracht mit Bollenhut und lächelte Lisa an.
»Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden?«, flötete sie. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Ja, das Zimmer ist sehr sauber und gemütlich«, antwortete Lisa. Ihr Blick glitt über die ausgestellten Bücher, abgepackten Schinken und Mini-Kuckucksuhren. »Hätten Sie vielleicht noch einen Prospekt mit Wandervorschlägen?«
»Zum Wandern sind Sie hier genau richtig. In der Umgebung gibt es wunderbare Wege, da werden Sie eine Menge erleben.« Die Dame bückte sich und zog unter dem Tresen einen Hochglanzprospekt hervor. »Viel Spaß damit. Sie können hier im Restaurant auch zu Abend essen. Es gibt ausgesuchte Schwarzwälder Spezialitäten wie Hirschragout, Forelle Müllerin, Maultaschen in der Brühe oder Zwiebelrostbraten.«
Lisas Magen begann zu knurren, sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. Sie nahm den Prospekt entgegen, bedankte sich und kehrte in ihr Apartment zurück. Die Zeit bis zu Steidles Eintreffen vertrieb sie sich mit den Prospekten und einem Krimi, während die Schatten länger wurden.
Gegen sieben Uhr bog Steidles neuer BMW in den Hof ein. Lisa sprang auf und winkte ihm zu, als er ausstieg. Wie fast immer trug er seine alte, etwas zerknautschte Lederjacke. Er grüßte zurück, verschwand kurz im Gasthof und trug dann sein Gepäck ins benachbarte Apartment herüber. Selbstverständlich hatten sie getrennte Zimmer gebucht, schließlich waren sie kein Paar. Kurze Zeit später saß er neben Lisa auf dem Balkon, nachdem er sie mit einem kräftigen Händedruck begrüßt hatte.
»Hast du schon eine Wanderung ausgesucht?«, fragte er.
»Ja, ich habe eine im Prospekt gefunden, die nicht zu schwer ist. Die könnten wir morgen in Angriff nehmen. Etwa zwölf Kilometer, eine Halbtageswanderung. Sie fängt direkt am Kurhaus an.«
Steidle gähnte leicht hinter vorgehaltener Hand. »Entschuldige, ich musste heute früh raus und hatte einen anstrengenden Tag. Wie geht es Christine, Robert und Julian?«
Christine war seine Ex-Ehefrau und Lisas beste Freundin, Robert war mit Lisa verheiratet gewesen und Julian war ihr Sohn, für den sie das gemeinsame Sorgerecht hatten.
»Christine ist mit ihren Bücherfrauen ins Bayerische gefahren, sie ist ziemlich gestresst in ihrer Buchhandlung, glaube ich. Robert ist mit seiner Neuen irgendwohin geflogen. Und Julian weilt mit einer Jugendgruppe am Bodensee. Der Abstand von zu Hause tut ihm sicher mal gut.«
»Freut mich für die drei, dass sie unterwegs sind.« Er lächelte sie an. »Aber wir sind ja jetzt ebenfalls weg von allem. Übrigens habe ich einen Bärenhunger.«
»Essen können wir drüben im Gasthof Ochsen«, sagte Lisa. »Die Frau vom Empfang hat mir schon ein paar Speisen empfohlen.«
Nachdem sich beide in ihren Zimmern frisch gemacht hatten, stiegen sie die Treppe hinunter und überquerten den Parkplatz zum Gasthaus.
Im Speiseraum des Gasthauses waren die Tische weiß gedeckt. An den Wänden hingen Hirschgeweihe und ausgestopfte Köpfe von Rehen. Lisa fand das geschmacklos, aber sie gehörten wie die Kuckucksuhren und die Kirschtorte zu den Traditionen des Schwarzwaldes. Sie bestellte sich eine Flädlesuppe und ein Rahmschnitzel mit Spätzle, Steidle nahm eine Tomatensuppe und eine Rinderroulade. Dazu tranken sie frisch gezapftes Bier. Nach dem Essen gönnten sie sich einen Absacker an der Bar und begaben sich früh zu Bett.
Am nächsten Tag um halb neun waren sie startbereit. Ihre Autos ließen sie stehen, denn heute, am Ostersamstag, würden die Straßen verstopft sein. An diesem Tag füllten die Leute für gewöhnlich ihre Vorräte auf, als würde morgen der Krieg ausbrechen.
Die Sonne war noch nicht über den Berg gestiegen, und es war empfindlich kühl. Zunächst liefen sie an der Enz entlang. Das Wasser erschien Lisa an manchen Stellen fast schwarz. Beim Aufstieg zum Bannwald wurde ihr schnell warm, sie zog den Anorak aus und stopfte ihn in ihren Rucksack. Die Wanderschuhe waren gut eingelaufen, sie spürte keine Druckstellen.
Steidle sprach von der Arbeit. Seine Dienststelle war kürzlich nach Rottweil verlegt worden, aber er erledigte vieles von Hohenstadt aus, wo er weiterhin wohnte.
»Könntest du dir nicht in Rottweil etwas suchen?«, fragte Lisa.
»Ist schwer, dort was Passendes zu finden. Aber die Strecke ist über die Autobahn in zwei Stunden zu schaffen. Ich bin nur an drei Tagen in der Woche dort, das ist zu verschmerzen. Und wie geht es dir beruflich, Lisa?«
»Ich bin inzwischen freie Journalistin. Wohne in Derendingen, bin aber viel unterwegs. Für den Schwarzwaldkurier arbeite ich weiterhin. Nebenher schreibe ich ein Buch über den Schwarzwald.«
»Wie schön, dann bist du also unter die Autorinnen gegangen«, meinte er. »Und wie kommst du finanziell klar?«
Lisa räusperte sich. Hatte er bei seinen Worten ein süffisantes Grinsen aufgesetzt? Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass er es ernst gemeint hatte.
»Wie du weißt, sind meine Eltern recht vermögend. Momentan leben sie wieder in Stuttgart in ihrer Villa. Sie haben mir einen Teil des Erbes geschenkt, denn es sei besser, wenn die Hände geben, die noch warm sind, hat meine Mutter gesagt. Also habe ich keinen Druck und kann mir die Zeit frei einteilen.«
Steidle seufzte. »Das ist aber ein Glücksfall, da kann ich nur gratulieren, Lisa! Ohne Neid, Ehrenwort!«
Er grinste jetzt sein schiefes Grinsen, das sie so an ihm mochte. Die Sonne hatte es inzwischen über den Berg geschafft und schickte ihre goldenen Strahlen über die Wiese, auf der sie emporstapften. Ein paar kleine graue Hütten standen dort, ihre Dächer waren moosbedeckt.
Sie folgten den Infotafeln und befanden sich bald mitten in einem Urwald mit mächtigen Tannen, liefen vorbei an Wasserlöchern und über Brücken. Moose und riesige Farne säumten den Weg, von den Bäumen hingen Flechten wie Bärte herab. Es roch nach Sumpf und modrigem Laub.
Später erreichten sie den Kaltenbachsee, der wie ein dunkles Auge in den Wald gebettet lag. Verschwitzt, aber glücklich kamen sie nach der Wanderung wieder beim Friedhof von Klosterzell an. Auf einer Bank vor dem Gottesacker hatte sich eine ältere Frau niedergelassen. Sie schien um die sechzig, saß aufrecht da und schaute ihnen entgegen. Sie war von mittlerer Statur und braun gebrannt, als hielte sie sich viel im Freien auf. Als die beiden näherkamen, stand sie auf und kam zu ihnen herüber. Ihr Gesicht war ebenmäßig und von vielen kleinen Falten überzogen.
»Mein Name ist Franziska Klose. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so anspreche«, sagte sie und schaute Lisa unverwandt an. »Aber ich kenne Ihr Gesicht aus der Zeitung, aus dem Schwarzwaldkurier. Sie haben doch über die Tradition des Martinsrittes geschrieben und einen Kriminalfall aufgedeckt, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, so ist es«, antwortete Lisa. »Ich heiße Lisa Faber, bin Journalistin und beschäftige mich intensiv mit dem Schwarzwald.«
»Bitte denken Sie nicht, dass ich Ihnen zu nahetreten will«, sagte die Frau. Ihre Miene war inzwischen ängstlich geworden. »Aber ich brauche Ihre Hilfe. Gestern habe ich meine Mutter hier auf dem Friedhof zur letzten Ruhe geleitet, sie ist neunzig Jahre alt geworden.«
»Mein herzliches Beileid«, sagte Lisa.
»Nachdem die Trauerzeremonie vorüber war«, fuhr Frau Klose fort, »bin ich ins Haus meiner Mutter gegangen. Neben vielen Dingen, die noch zu verwenden sind, habe ich dort ein Tagebuch gefunden und einen Teil davon gelesen. Und was ich entdeckt habe, macht mir Angst. Meine Mutter, Sigrid Klose, ist in Klosterzell aufgewachsen und hat dort das Kriegsende erlebt. Sie schreibt über das entbehrungsreiche Leben dieser Zeit, aber auch über die Gefahren, denen die Menschen ausgesetzt waren. Der Krieg war so gut wie verloren. Und trotzdem drohte ihnen die sofortige Erschießung, wenn sie Fremdsender anhörten. Ich habe den Eindruck, als wäre damals etwas Schreckliches geschehen.«
»Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Lisa. Wie immer in solchen Momenten witterte sie eine Story, in die sie ihre journalistische Spürnase stecken konnte.
»Ich möchte Sie bitten, heute Abend zum Haus meiner Mutter zu kommen und sich das Tagebuch mit mir zusammen anzusehen. Vielleicht können Sie mir erklären, worum es sich dabei handelt, denn ich werde nicht recht schlau daraus. Das Haus ist dort drüben.«
Sie zeigte auf ein etwas baufälliges kleines Gebäude im Schwarzwälder Stil, mit Schindeln und Walmdach, das auf einer Anhöhe stand.
»Ich werde kommen«, sagte Lisa. »Sagen wir um neunzehn Uhr?«
Dem Gesicht der Frau war die Erleichterung anzusehen. »Ich freue mich so, dass Sie mir helfen wollen«, sagte sie. »Bis heute Abend dann.«
Lisa und Steidle setzten ihren Weg fort, nachdem sie sich von der Frau verabschiedet hatten.
»Da bist du ja mal wieder voll in deinem Element«, meinte Steidle grinsend. »Kaum tauchst du auf, gibt es schon irgendwelche dunklen Geheimnisse zu lüften.«
»Ich scheine sie anzuziehen wie die Motten das Licht«, erwiderte Lisa.
Den Nachmittag verbrachten sie damit, sich den Ort anzuschauen. Nach einem schnellen Abendessen brach Lisa auf zum Haus der Verstorbenen. Ihre Tochter stand schon vor der Tür.
»Schön, dass Sie da sind«, sagte Franziska Klose. »Jetzt fühle ich mich nicht mehr so allein. Kommen Sie.« Sie führte Lisa durch einen schmalen Flur, der nach Bohnerwachs roch, in eine Stube. Der Raum war sauber und gemütlich eingerichtet, ein geblümter Sessel, eine Stehlampe, ein kleines Sofa, eine Anrichte und ein alter Röhrenfernseher befanden sich darin.
Frau Klose bat Lisa, Platz zu nehmen. In zwei Terrakottatassen dampfte Tee, der nach Kräutern duftete.
»Das war das Reich meiner Mutter«, sagte Frau Klose. »Hier hat sie die letzten Jahre gelebt. Das Haus gehörte ursprünglich ihrer Tante und ging nach deren Tod auf sie über. Meine Mutter hat sich mit Klavierstunden durchgeschlagen und später, nachdem sie das Klavier verkauft hatte, mehr schlecht als recht von ihrer kargen Rente gelebt. Ich habe sie unterstützt, wo immer ich konnte. Ihre Eltern und ihre beiden Geschwister sind angeblich gegen Ende des Krieges nach Amerika ausgewandert. Der Pfarrer konnte mir aber die Eintragung im Kirchenbuch nicht zeigen. Und alle meine Nachforschungen in Ahnenregistern waren ergebnislos. Ich habe dort niemanden mit unserem Namen gefunden.«
»Warum ist Ihre Mutter nicht mitgegangen?«
»Sie selbst sagte mir immer wieder, dass sie nicht habe mitgehen wollen, weil sie sich ihrer Heimat, dem Schwarzwald, zu verbunden fühlte. Sie hat nach dem Krieg erst bei Nachbarn, dann bei dieser Tante gewohnt und angefangen, Klavierstunden zu geben. Damals ging ja alles drunter und drüber.«
»Wie alt war Ihre Mutter gegen Ende des Krieges?«, wollte Lisa wissen.
»Ich glaube, so um die siebzehn. Was damals geschehen ist, hat sie mir niemals erzählt. Es war wohl unmöglich für sie, darüber zu sprechen. Aber ich habe immer gespürt, dass da etwas war. Nach den ersten Seiten konnte ich nicht weiterlesen, da meine Mutter gerade erst …« Tränen traten in ihre Augen, und sie schluchzte auf. »Als ich Sie dann am Friedhof gesehen habe, kam mir der Gedanke, dass Sie mir vielleicht helfen könnten, das zu bewältigen. Ich bitte Sie, das Tagebuch an sich zu nehmen, es zu lesen und mir zu berichten, was für Schlüsse Sie daraus ziehen.«
»Sehr gern«, sagte Lisa. »Ich habe ein Faible für solche Geschichten. Allerdings bin ich nicht lange hier. Mein Bekannter und ich haben nur über die Osterfeiertage gebucht.«
»Sie werden nicht viel Zeit für die Lektüre brauchen. Meine Mutter hat zwischen Januar und Ende April 1945 in größeren Abständen Einträge hinterlassen. Wir können uns jeden Tag für ein Stündchen treffen und uns austauschen.«
»Ja, das wäre machbar«, meinte Lisa. »Dieses Tagebuch interessiert mich sehr.«
»Ich wüsste nicht, wem ich es sonst zeigen könnte. Die Leute in Klosterzell sind nicht besonders entgegenkommend gegenüber Fremden. Schließlich wohne ich nicht hier, sondern in Enzbach.«
»Das habe ich auch schon erlebt. In Niederweiler, einem Dorf im nördlichen Schwarzwald.« »Es gibt hier einen Kulturverein oder eine Bürgerinitiative, wie sie sich nennen«, fuhr Franziska Klose fort. »Die sind mir schon seit einiger Zeit ein Dorn im Auge. Sie treten ein für den Naturschutz, bauen Krötenzäune, wollen die Verbauung der Landschaft verhindern, aber ich habe immer den Eindruck, sie hätten was ganz anderes im Auge. Ich weiß bloß nicht was.«
»Interessant. Vielleicht habe ich das Vergnügen, diese Bürgerinitiative noch kennenzulernen. Und heute Abend fange ich an zu lesen. Was Sie mir erzählt haben, macht mich wahnsinnig neugierig. Es würde mich freuen, wenn wir etwas Licht in das Dunkel Ihrer Familiengeschichte bringen.«
»Kommen Sie morgen um zehn Uhr zur Kirche. Da werden die Osterbräuche zelebriert. Und in drei Tagen gibt es eine Versammlung der Bürgerinitiative.«
»Bei beidem will ich unbedingt dabei sein. Ich schreibe ein Buch über Schwarzwälder Traditionen, da passt eine Bürgerinitiative gut hinein. Und meinen Freund, Hauptkommissar Steidle, bringe ich gleich mit.«
»Oh, ist er dienstlich hier?«
»Nein, wir machen einen gemeinsamen Wanderurlaub. Ursprünglich wollte ich nur über die Osterfeiertage bleiben, aber ich werde meinen Aufenthalt verlängern.« Lisa setzte ihre Teetasse ab, erhob sich und nahm das Tagebuch in die Hand. »Wir sehen uns dann morgen früh um zehn.« Sie verabschiedete sich von Frau Klose und verließ das Haus.
Wenig später klopfte sie aufgeregt an Rainer Steidles Tür. Er ließ sie hinein und schaltete den Fernseher aus, auf dem er die Tagesschau angesehen hatte. Lisa berichtete ihm, was sie von Frau Klose erfahren hatte.
»Du kannst es einfach nicht lassen«, meinte er. »Aber so bleibt es spannend, selbst bei einem harmlosen Wanderurlaub.«
Jetzt ist der totale Krieg ausgebrochen. Und er wird auch zu uns kommen, hier in unseren kleinen Ort Klosterzell. Was waren das für Zeiten, als hier die Kurgäste ein und aus gingen. Das war Ende der dreißiger Jahre, kurz vor Ausbruch des Krieges, da war ich noch ein Kind. In vornehmen Limousinen fuhren sie vor, die Damen und Herren aus dem Deutschen Reich, aus England und sogar aus Amerika. Da wurde im Kurpark gepicknickt, an der Orchestermuschel wurde zum Tanztee aufgespielt, und abends rauschten die Frauen in Seidengewändern zum Kursaal, wo die Bälle stattfanden. Riesige Buffets waren dort aufgebaut, mit Flusskrebssuppe, französischem Weißbrot, Austern, Muscheln und vor allem Champagner, Champagner, Champagner! Mir knurrt der Magen, wenn ich nur daran denke! Vater hatte als Kurdirektor immer alle Hände voll zu tun, es gab so viel zu organisieren und zu regeln. Aber er war stets gerecht zu allen Gästen, auch für die weniger Betuchten hatte er ein offenes Ohr.
Doch das ist lange vorbei, und jetzt hat er wegen seiner Schussverletzung am Knie Heimaturlaub. Mutter kümmert sich um unser leibliches Wohl, das so gelitten hat in den letzten Jahren. Gerade ist die 19. Armee der Deutschen von Baden-Baden auf dem Weg hierher, die Kampfeinheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS halten die Stellung im Murgtal. Manchmal höre ich nachts das ferne Donnern der Geschütze und verkrieche mich tief in mein Bett. Die Männer des Volkssturms haben Panzersperren auf der Schwarzwaldhochstraße errichtet, Jungen von zehn Jahren müssen dabei helfen, es ist ein Wunder, dass sie unsere noch nicht geholt haben. Wehe, wenn einer nicht mitmacht oder es wagt, am Endsieg zu zweifeln! Der wird standrechtlich erschossen oder kommt in die Feldstrafgefangenenabteilung, sagt der Sturmbannführer Nägele. Ich habe einige von diesen Gefangenen gesehen, abgemagert, mit Lumpen an den Füßen. Sie ziehen in den Wäldern herum, angetrieben von den Feldwebeln und Schergen, schlafen in heruntergekommenen Scheunen und ernähren sich vom Brot und von den Kartoffelschalen, die sie mühsam bei den Bauern erbetteln. Wir haben manchmal das Letzte, was wir hatten, mit ihnen geteilt.
Vater und Mutter sind genauso abgemagert wie Annemarie, Fred und ich. Die Sorge ist allen tief ins Gesicht geschrieben. Gestern haben unsere Eltern sich gestritten, ich habe es genau gehört, während Annemarie und Fred schon schliefen. »Alfred«, hat sie beschwörend auf ihn eingeredet, »du darfst dich im Gasthaus nicht mehr darüber äußern, dass der Krieg bald zu Ende ist und dass die Nationalsozialisten schlimmes Unrecht getan hätten. Das wird gewiss dem Sturmbannführer zugetragen, und du weißt, wie der reagiert. Wenn der herauskriegt, dass du heimlich ausländische Sender hörst.«
»Jetzt beruhige dich, Frau, uns wird schon nichts geschehen. Aber ich kann das, was ich für wahr halte, nicht verbergen. Diese Wahrheit bin ich den Menschen des Ortes und denen da draußen schuldig. Wer weiß, wie viele noch unschuldig sterben müssen, bloß weil die da oben dem Wahn verfallen sind, jetzt noch den Endsieg herbeiführen zu können!«
Lisa war über den ersten Seiten des Tagebuchs so müde geworden, dass sie es weggelegt hatte und in einen tiefen Schlaf gefallen war. Sie selbst kannte die Zeit des Krieges nur aus dem Fernsehen und aus Büchern. Doch da sie Erfahrungen mit psychischer und physischer Gewalt hatte, war ihr der Bericht von Franziskas Mutter nahegegangen.
Sie schüttelte die Nachtschwere ab, machte sich im Badezimmer etwas frisch und begab sich in den Frühstücksraum des Gasthofs, wo Rainer sie schon erwartete.
»Na, gut geschlafen?«, fragte er mit einem Zwinkern. Er selbst wirkte ausgeruht.
»Wie ein Stein«, beteuerte Lisa.
Sie holte sich Brötchen und Rührei vom Buffet. Steidle schenkte Kaffee ein.
»Gestern Abend habe ich die ersten Seiten des Tagebuchs gelesen«, sagte sie zwischen zwei Bissen. »Am Ende des Krieges ist es ja ganz schön hergegangen in diesem Kurort. Ich wusste nicht, dass die Bevölkerung so hat leiden müssen. Und dass es hier Leute gab, die bis zum Schluss an die Sache geglaubt und ihren Ort bis zum letzten Quadratmeter verteidigt haben. Das hat man ihnen mittels Volksempfänger eingetrichtert.«
»Ich denke, wir werden einige der Nachkommen noch kennenlernen«, meinte Steidle.
Vom anderen Ufer der Enz klang das Läuten der Kirchenglocke herüber. Die beiden sprangen auf.
»Es ist Zeit zum Kirchgang«, sagte Lisa. »Wir sollten auf jeden Fall rübergehen.«
Steidle nickte.
Lisa holte ihre Spiegelreflexkamera aus ihrem Zimmer und sie eilten über die Brücke zur Kirche. Fast der ganze Ort schien sich versammelt zu haben.
Franziska Klose kam auf sie zu und begrüßte sie. »Ich sage Ihnen, wer die Leute dort vor der Kirche sind«, meinte sie. »Der vorne mit den Hirschhornknöpfen an der Jacke ist Kurdirektor Meller. Daneben steht Dr. Gauss, leitender Arzt und Psychiater der Sonnenbergklinik. Sie haben wahrscheinlich schon den herrschaftlichen Bau auf Halbhöhe zum Wald gesehen. Und dort ist die Psychologin Dr. Judith Schlosser.«
Ein jüngerer Mann mit dunklen Haaren kam auf sie zu. Er war mit einem Wollpullover, Jeans und Sportschuhen bekleidet. Während er näherkam, sah Lisa seine verschmitzt glänzenden schwarzen Augen.
»Darf ich vorstellen?«, fragte Frau Klose. »Das ist Sebastian Küfer, Kunsttherapeut an der Sonnenbergklinik.«
Er streckte Lisa die Hand entgegen. Sie fühlte sich fest und warm an.
»Lisa Faber, Journalistin. Ich bin ein paar Tage zum Wandern hier.«
»Das trifft sich gut«, meinte er. »Da läuft man sich wieder über den Weg. Heute findet hier ein Osterfeuer statt, mit allem Drum und Dran. Ich hoffe, Sie kommen vorbei.«
»Das passt mir«, antwortete sie. »Ich interessiere mich sehr für die Traditionen des Schwarzwalds.«
»Jetzt muss ich weiter«, sagte er und lächelte sie an. Dann drehte er sich um und begab sich zu der kleinen Gruppe vor der Kirche.
Frau Klose fuhr mit ihrem Bericht fort. »Sebastian Küfer hat meine Mutter gut gekannt. Er und Dr. Gauss waren Vertraute für sie. Dr. Gauss ist als hervorragender Arzt bekannt und hält überall in der Welt Vorträge.«
Lisa drehte den Kopf zur Seite und schaute in Richtung der Kirchentür. Der groß gebaute, herrisch wirkende Mann war also Dr. Gauss. Er hatte feine, gelockte graue Haare und trug einen Kaschmirmantel. Mit weit ausladenden Gesten redete er auf Meller ein. Die Psychologin war in den Vierzigern, hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug halbhohe Wildlederstiefel.
»Hinter uns steht der Bürgermeister«, fuhr Frau Klose fort. »Er spricht mit einem Mitglied der Bürgerinitiative.«
Lisa drehte sich einmal im Kreis, als wolle sie die Gegend bewundern. Dabei erhaschte sie einen Blick auf zwei Männer, die miteinander redeten. Der eine, ein hoch aufragender Anzugträger, trug eine undurchdringliche Miene zur Schau, der andere war feist und rotbackig und fuchtelte aufgeregt mit den Armen.
»Bürgermeister Tritschler und unser Metzger Rosen. Das reicht erst mal für den Anfang«, meinte Frau Klose verschmitzt. »Die anderen werden Sie heute Abend kennenlernen.«
Die Orgel brach mit einem gewaltigen Crescendo los, und die Menschen strömten ins Gotteshaus. Lisa, Steidle und Frau Klose folgten der Menge hinein. Lisa besuchte selten Kirchen, nur zu Weihnachten und um die gotischen und barocken Kunstwerke zu bewundern. Deshalb ließ sie die Zeremonie mehr oder weniger über sich ergehen. Nebenbei beobachtete sie die Besucher der Kirche. Sie boten ein Bild der Wohlanständigkeit.
Nach dem Segen setzte die Orgel wieder ein und die Menge strömte hinaus. Frau Klose verabschiedete sich bis zum Abend, sie wollte sich noch etwas hinlegen. Das traditionelle Eierwerfen begann. Wer seine hart gekochten Eier am weitesten warf, war Sieger und bekam einen Preis. Lisa fotografierte die Jugend und erfreute sich an deren Lebendigkeit. Auch Steidle schien das Spektakel gut zu gefallen.
Inzwischen war es Mittag geworden. Da sie keinen Hunger verspürten, beschlossen sie, eine kürzere Wanderung zu unternehmen, bevor am Abend das Osterfeuer entzündet würde.
»Ich habe noch eine in petto«, sagte Lisa. »Eine Talwanderung, sie fängt gleich hier an.« Sie wies auf ein Wanderzeichen, das neben der Kirche angebracht war.
»Also gut, denn mal los«, meinte Steidle.
Sie folgten dem Weg ins Bachtal hinein. Das Tal war ziemlich breit, sodass die Aprilsonne es noch erreichte. Der Pfad führte am Waldrand entlang. Im Gras wuchsen Wiesenschaumkraut und Bachnelken. In einigen Teichen standen Forellen bewegungslos unter der Oberfläche, im Wald rief ein Kuckuck.
Rainers Nähe war Lisa in der letzten Zeit immer angenehmer geworden. Er war nicht mehr so ungemütlich wie noch vor Monaten. Der Fall in Niederweiler, der sie ihre letzten Nerven gekostet hatte, hatte sie einander nähergebracht. Während sie einträchtig nebeneinanderher schritten, überlegte sie, warum sie nie ein Paar geworden waren. Der Grund lag auf der Hand, sie beide hatten ihre Freundschaften mit Christine und Robert nicht belasten wollen. Sie selbst fürchtete außerdem, ihren Sohn Julian durch einen neuen Partner zu verwirren und in Loyalitätskonflikte zu bringen. Aber möglicherweise war das nur eine Ausrede, und sie beide waren einfach noch nicht reif für eine neue Beziehung.
»Jetzt würde ich gern mal in deinen Kopf hineingucken«, meinte Steidle und schaute sie von der Seite her an.
»Was meinst du denn, was du dort finden würdest?«
»Och, eine liebevolle Anwandlung deinen Mitmenschen gegenüber. Vielleicht auch für mich.«
Sie wandte sich ihm zu, wollte sehen, ob er den Mund ironisch grinsend verzogen hatte. Hatte er. Sie lachte. »Du kannst nicht damit aufhören, mich zu veräppeln, nicht wahr?«
Er schaute sie treuherzig an und sah dabei aus, als würde er gleich die Hand aufs Herz legen. »Da seien die Waldgeister des Schwarzwalds davor. Ich und dich veräppeln, Lisa? Du weißt doch, dass ich alles immer hundertprozentig ernst meine.«
Jetzt mussten sie beide lachen. Weiter oben im Wald trafen sie auf eine Lichtung, die kreisförmig von Linden und Kastanien umringt war. Am Rand befand sich eine Holzhütte, und neben einem Teich ragte eine Feuerstelle aus behauenen Granitblöcken auf. Der Platz wirkte auf Lisa wie ein Hexentanzplatz oder wie eine Opferstätte der Kelten.
In diesem Augenblick hörte sie ein Hecheln. Ehe sie begriff, was geschah, rannte ein großes Tier auf sie zu, mit dichtem Fell, die Lefzen entblößt. Das Tier stieß ein Knurren aus, bei dem Lisa zusammenzuckte. Ein Wolf, zuckte es durch ihren Kopf. Das Tier war jetzt so nah, dass Lisa die Zeichnung des Fells genau erkannte. Braun und Schwarz. Es war ein Schäferhund. Er hatte sie inzwischen erreicht, knurrte lauter und setzte zum Sprung an.
Steidle lief ein Stück auf ihn zu, und der Hund wich ein paar Schritte zurück. Ein Pfeifen ertönte. Der Hund kniff den Schwanz ein, drehte sich um und trottete in das Dickicht hinter den Linden. Kurze Zeit später erschien ein untersetzter Mann mit einer Lodenjacke, an seinem Filzhut war ein Gamsbart befestigt. Er mochte etwa Mitte vierzig sein. Sein Gesicht mit dem krautigen Schnauzbart war gerötet. Inzwischen führte er den Hund an einer Lederleine. Die Spitze eines Jagdgewehrs ragte aus seinem Rucksack.
»Entschuldigen Sie, wenn mein Hund sich Ihnen genähert hat«, sagte er. Gestatten, mein Name ist Jakob Fehrenbach.«
»Finden Sie es richtig, dass Ihr Hund auf uns losgeht?«, fragte Lisa.
Fehrenbach tätschelte dem Hund den Kopf. »Brav, Wotan, sitz.« Das Tier setzte sich und hechelte. »Der ist harmlos, wissen Sie. Er ist nur neugierig auf die Leute, die hier herumspazieren.«
»Diesen Eindruck hatten wir aber nicht«, fiel Steidle ein. »Er hat uns angegriffen. Außerdem ist er ohne Leine gelaufen.«
Lisa wollte keinen Streit mit Herrn Fehrenbach beginnen, daher sagte sie: »Ist schon okay, er hat uns ja nichts getan.«
Fehrenbach zwinkerte ihr zu. »Einen schönen Tag noch, vielleicht sieht man sich heute Abend im Festzelt.«
Er stapfte davon, und der Hund folgte ihm mit hängender Zunge.
Lisa und Steidle schauten sich an. Als Fehrenbach außer Hörweite war, sagte Lisa: »Die haben schon seltsame Gestalten hier.«
»Und dann der Name von diesem Hund«, meinte Steidle. »Eigentlich ein prächtiges Tier, wenn es richtig gehalten wird. Aber der Fehrenbach scheint ihn zum Jagdhund erzogen zu haben.«
»Hast du etwas gegen Hunde?«, fragte Lisa.
Er verzog das Gesicht. »Als Kind bin ich mal von einem Schäferhund gebissen worden. In die Hand, sie musste genäht werden. Aber ich habe überhaupt nichts gegen Hunde, das sind wunderbare, treue Tiere. Manchmal habe ich nur etwas gegen ihre Besitzer.«
Lisa war die Narbe an seiner Hand bereits früher aufgefallen, ganz feine Linien, die sich weißlich über den Handrücken zogen. Sie hatte immer gedacht, sie rühre von einer Verletzung während seiner dienstlichen Tätigkeit her.
Sie setzten ihre Wanderung fort. In einer langen Kurve schlängelte der Weg sich zurück in das Bachtal. Die Sonne stand schon tief und würde bald hinter den Enzbergen verschwinden. Klosterzell lag wieder vor ihnen. Viele kleine Lichtpunkte geisterten zwischen den Häusern umher. Als sie näherkamen, sah Lisa Kinder, junge Männer und Frauen, die mit brennenden Zunderschwämmchen von Haus zu Haus liefen. Ein heimeliges Gefühl wie an Weihnachten überkam sie.
Nachdem die beiden sich im Apartment etwas ausgeruht hatten, zogen sie sich ihre Mäntel über und pilgerten zurück auf die andere Seite des Flusses. Auf einer Wiese war ein riesiger Holzhaufen aufgeschichtet worden, in gebührender Entfernung davon sah Lisa das Festzelt. Menschen standen plaudernd und trinkend vor dem Zelt. Als sie sich zu ihnen gesellten, entdeckte Lisa auch die Leute, die sie schon mittags vor der Kirche gesehen hatte. Kurz darauf kam Franziska Klose auf sie zu und fragte nach ihrem Nachmittag.
»Wir hatten ein merkwürdiges Erlebnis während unserer Wanderung«, berichtete Lisa. »Im Wald rannte ein Schäferhund auf uns zu, in keiner guten Absicht. In letzter Sekunde pfiff ihn ein Mann mit Gewehr und Jägerhut zurück. Sogar ein Gamsbart war an dem Hut. Er stellte sich als Jakob Fehrenbach vor.«
Franziska verdrehte die Augen. »Der Fehrenbach ist der Besitzer vom Holzsägewerk an der Enz. Hat es von seinem Vater geerbt. Am Ende des letzten Krieges wurde es durch die britischen Bomber vollständig zerstört. Der alte Fehrenbach hat es zwar wiederaufgebaut und es wirft heute ganz gut Geld ab, aber der Mann ist wie seine ganze Familie auf Ausländer schlecht zu sprechen.«
»Gehört er zu der Bürgerinitiative?«, wollte Lisa wissen.
»Ja, so wie Gauss, Meller und viele andere. Sie werden diese Organisation noch kennenlernen. Wie gesagt, übermorgen findet die Versammlung im Ochsen statt.«
Es war inzwischen dunkel geworden. Von der Kirche her näherten sich Jugendliche mit brennenden Zunderschwämmen. Sie sahen aus wie eine lange Reihe von Glühwürmchen. Lisa war beeindruckt und schoss mehrere Fotos von der Szene. Gleichzeitig dachte sie daran, dass die Nazis solche Traditionen für sich genutzt hatten. Sie begeisterten die Jugend mit Fackelumzügen, Lagerleben, Osterfeuern und Wettkämpfen. Die Pfadfinder und die christlichen Jugendgruppen hatten sie bald unter ihre Kontrolle gebracht.
Die Jungen und Mädchen waren inzwischen am Holzstoß angekommen. Sie entzündeten mit den brennenden Schwämmchen das seitlich aufgeschichtete Reisig. Flammen züngelten hervor, es knackte leise. Dann erfasste das Feuer die Holzbohlen und die trockenen Zweige. Es zischte und knallte, immer weiter arbeiteten sich die Flammen empor. Funken stoben in den nächtlichen Himmel. Mit einem Mal stand der ganze Holzhaufen in Brand. Eine Glutwelle ging von ihm aus, sodass die Menschen schrien und zurückwichen. Einige der Umstehenden hatten Fackeln entzündet, die sie hin und her schwenkten. Von der Kirche her ertönte die Melodie eines Posaunenchores.Religiöse Feste und Traditionen waren immer mit Emotionen und manchmal mit düsteren Ritualen verbunden.
Aus dem Zelt drang der Duft nach gebratenem Fleisch und Pommes frites. Lisas Magen knurrte. Das Feuer war inzwischen halb heruntergebrannt, und die meisten Besucher hatten sich ins Festzelt begeben. Als Lisa das Festzelt zusammen mit Steidle und Franziska Klose betrat, waren fast alle Plätze besetzt. Die drei schlenderten durch die Bänke und Tische zur Längsseite, wo das Essen ausgegeben wurde. Lisa holte sich ein Steak, Steidle begnügte sich mit einer roten Wurst. Sie setzten sich in eine abgelegene Ecke.
Lisa ließ ihren Blick umherschweifen und entdeckte bekannte Gesichter. Die Mitglieder der Bürgerinitiative gaben sich umweltbewusst und heimattreu, aber sie strahlten auch etwas anderes aus. Etwas Archaisches, Dunkles, das Lisa nicht einordnen konnte. Der Lärmpegel war inzwischen gestiegen, sodass sie Mühe hatte, sich mit ihren Tischnachbarn zu unterhalten.
Franziska Klose gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich glaube, es wird Zeit heimzugehen«, sagte sie. »Ist alles sehr aufregend für mich. Könnten wir uns morgen Abend im Haus meiner Mutter treffen?«
»Gern. Ich bin noch nicht weit gekommen mit dem Tagebuch. Aber ich werde heute Nacht weiterlesen.«
»Lassen Sie sich Zeit. Das muss man ja erst alles verarbeiten«, meinte Franziska.
Sie stand auf, schüttelte Lisa und Steidle die Hand und winkte einigen anderen zum Abschied zu. Dann bahnte sie sich einen Weg durch das überfüllte Zelt und verschwand. Die Stimmen der Gäste wurden immer lauter, je mehr sie dem Alkohol zusprachen.
Lisa hatte das Bedürfnis, sich ein wenig die Füße zu vertreten und den Kopf auszulüften. Also sagte sie Steidle, der mit einem Tischnachbarn ins Gespräch vertieft war, dass sie eine Weile hinausgehen würde. Er nickte zerstreut in ihre Richtung.
Draußen atmete Lisa auf. Aus dem Zelt vernahm sie einen Tusch, gleich darauf setzten die Trompeten, Posaunen und das Schlagzeug ein. Sie lief in Richtung des Flusses.
Es war inzwischen recht kühl geworden, und das Feuer war bis auf ein Glutnest heruntergebrannt. Zwei Halbwüchsige bewachten es und prosteten sich mit Bierflaschen zu. Sie beachteten Lisa nicht. Über den Bergen war ein Halbmond aufgestiegen und beleuchtete spärlich die Wiese und die Büsche am Fluss.
Lisa schlenderte ein Stück flussaufwärts. Rechts von ihr rauschte die Enz, auf der anderen Seite stand lichter Wald. An einer Stelle, die nicht zugewachsen war, blieb Lisa stehen. Sie beobachtete, wie die Wellen silbrig im Mondschein tanzten. Da sah sie einen größeren, dunklen Gegenstand halb im Wasser, halb am Ufer liegen. Von den Wellen umspült, dümpelte er vor sich hin. Lisa rutschte die Böschung hinunter, fast wäre sie ins Wasser gefallen. Doch sie fing sich wieder und suchte in der Tasche ihrer Jacke nach der kleinen Taschenlampe, die sie immer bei sich hatte. Sie richtete den Strahl der Lampe auf den Gegenstand. Und unterdrückte gleichzeitig einen Schrei.
Es war ein Mensch, ein offensichtlich toter Mann, der mit dem Gesicht nach oben im Wasser lag. Sein Kopf war zur Seite verdreht, und am Hals klaffte eine tiefe, schwarz verschorfte Wunde.
Lisa wurde es flau im Magen. So schnell sie konnte, lief sie zurück zum Zelt und bat Steidle, herauszukommen. In fliegender Eile erzählte sie ihm von ihrem Fund. Beide rannten zu der Stelle, wo sie die Leiche gesehen hatte.
Steidle richtete seine Taschenlampe auf den Toten, zog sein Handy heraus und alarmierte die örtliche Polizei sowie einen Arzt. Dann sprach er mit seiner Kollegin Mathilde Gruner, die so schnell wie möglich kommen wollte. Die Spurensicherung informierte er ebenfalls.
»Wir suchen den Fluss und alle Parkplätze ringsum ab. Ich werde die Besucher des Festzelts befragen, bis Frau Gruner da ist. Du gibst dann morgen zu Protokoll, wie du den Toten gefunden hast. Wir geben die Meldung über den Fund an die dpa raus. Wenn du willst, kannst du heimgehen und schlafen.«
Lisa fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte Kopfschmerzen und sehnte sich nach ihrem Bett. Als sie zurück zum Zelt kam, hörte sie Polizeisirenen und sah die blauweißen Wagen heranbrausen. Gleich würden sie das Farbband um den Tatort spannen und mit der Spurensuche beginnen.
Lisa beneidete Steidle nicht um seinen Job. Sein Urlaub war soeben zu Ende gegangen.
Die Ereignisse hatten sie stark aufgewühlt. Trotzdem beschloss sie, gleich ins Bett zu gehen und mit dem Lesen des Tagebuchs fortzufahren.
Über Nacht hat es geschneit. In dicken, weichen Flocken ist der Schnee heruntergekommen. Als ich morgens aus dem Fenster schaute, hatte sich der Teppich wie ein Leichentuch über den Ort und das Flusstal gebreitet. Die Berge rechts und links des Tales sind eingepudert wie Napfkuchen, die Tannen tragen weiße Häubchen. Es ist entsetzlich kalt im Haus, das Feuer ist heruntergebrannt. Kohlen haben wir schon lange nicht mehr, wir müssen Holz aus dem Wald holen.
Glücklicherweise liegt ein Stapel neben dem Ofen in der Küche, den zünde ich mit altem Zeitungspapier und einem Streichholz an. Schnell breitet sich die Wärme im Raum aus. Ich setze die Kaffeekanne auf die Heizplatte, gebe gemahlene Bucheckern dazu. Das schmeckt zwar nicht wie Kaffee, aber es wärmt den Magen. Bis unsere Eltern, Annemarie und Fred aus ihren Schlafkammern kommen, ist der Kaffee fertig, der Haferbrei ist angewärmt. Sie setzen sich an den Tisch, den ich mit unserem Meißener Geschirr gedeckt habe. Vater spricht ein kurzes Gebet.
Ich betrachte meine Familie und werde von Angst um sie erfasst. Bis jetzt haben wir vom Krieg nicht direkt etwas gespürt, nur dass alles immer knapper wurde. Es gibt schon lange kein Benzin mehr für Vaters Auto, Busse, Bahnen und Kraftfahrzeuge werden mit Holzvergasern angetrieben. Zum Essen haben wir nur wenig. Für Vater ist das eine große Bürde. Außerdem hat er seine Arbeit als Kurdirektor verloren, sitzt oft am Tisch in der Küche und guckt Löcher in die Luft. Mit den tief liegenden grauen Augen, der hohen Stirn und den schmalen, gepflegten Händen ist er immer noch eine stattliche Erscheinung. Wegen seiner Kriegsverletzung hat er oft Schmerzen und kann nicht mehr so schaffen, wie er gern möchte. Eine Kugel hat ihm letztes Jahr in Russland das linke Bein zerfetzt. Er spricht nie über seine Zeit als Soldat.
Mutter ist um einiges kleiner als er. Ihre schmale Gestalt ist in ein Wollkleid gehüllt, die kurzen Haare hat sie aus dem Gesicht gebürstet. Ihre Nase ist spitz geworden. Meine Schwester Annemarie, stupsnasig, sommersprossig und mit blonden Locken, hat ein sonniges Gemüt. Deswegen wird ihr im Ort immer mal wieder etwas zugesteckt. Fred guckt mich aus treuherzigen blauen Augen an. Er ist anfällig für Krankheiten, und auch jetzt läuft ihm der Rotz aus der Nase. Kein Wunder, denn die Jungen müssen auch im Winter in kurzen Hosen gehen. Wer keine benagelten Schuhe mehr hat, wickelt sich Stofffetzen um die Füße. Ich selbst habe nur noch dieses Wollkleid, einen Lodenmantel und ein paar zusammengeflickte Lederschuhe aus besseren Tagen. Mutter beugt sich zu Fred hinüber und wischt ihm mit einem Taschentuch den Schleim ab. Vater räuspert sich und schiebt seinen Teller zur Mitte des Tisches.
»Ich möchte, dass du mich heute nach der Kirche in den Ochsen begleitest, Sigrid«, sagt er und sieht mir in die Augen. »Du sollst erleben, wie die Bevölkerung über den Ausgang des Krieges und über unsere Lage denkt. Derweil kann Annemarie Mutter bei der Zubereitung des Mittagessens helfen.«
Mutter macht ein skeptisches Gesicht. »Ist Sigrid nicht zu jung fürs Wirtshaus?«
»Sie ist dafür nicht zu jung, sie kommt nach mir. Sie hat den gleichen Willen zum Widerstand wie ich und lässt sich nichts gefallen.«